twain, mark - meine geheime autobiographie

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  • Mark Twain

    Meine geheime Autobiograph-

    ie

    - Textedition -

    Herausgegeben von Harriet Elinor Smith

    unter Mitarbeit von Benjamin Griffin, Victor Fischer, MichaelB. Frank, Sharon K. Goetz und Leslie Diane Myrick

    Aus dem amerikanischen Englisch von Hans-Christian OeserMit einem Vorwort von Rolf Vollmann

  • ImpressumMark Twain, Meine geheime Autobiographie Textedition

    Die Originalausgabe unter dem TitelAutobiography of Mark Twain.The Complete and Authoritative Edi-tion, Volume Ierschien 2010 bei bei University of California Press, U.S.A.Die amerikanische Ausgabe entstand als eine Verffentlichung des MarkTwain Project der Bancroft Library.Mark Twain Project ist eine eingetragene Marke.

    Mit einer Abbildung

    Die Arbeit des bersetzers am vorliegenden Text wurde vom Deutschenbersetzerfonds gefrdert.

    ISBN 978-3-8412-0490-5

    Aufbau Digital,verffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Oktober 2012 Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, BerlinDie deutsche Erstausgabe erschien 2012 bei Aufbau, einer Marke derAufbau Verlag GmbH & Co. KG 2010 The Regents of the University of CaliforniaPublished by arrangement with University of California Press

  • Lektorat Nele Holdack

    Dieses Werk ist urheberrechtlich geschtzt. Jegliche Vervielfltigungund Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulssig. Das giltinsbesondere fr bersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitungin elektronischen Systemen sowie fr das ffentliche Zugnglichmachenz.B. ber das Internet.Covergestaltung himann, heilmann, hamburgunter Verwendung eines Motivs von William Vander WeydeKonvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,KN digital die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

    www.aufbau-verlag.de

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  • MenBuch lesenInnentitelInhaltsbersichtInformationen zum BuchInformationen zum AutorImpressum

  • InhaltsbersichtVorwort

    Von Rolf VollmannMark Twains Autobiographie

    [Meine Autobiographie][Florentiner Diktate][New Yorker Diktate]

    [Vorlufige Manuskripte und Diktate]

    [Erste Versuche][Die Grant-Diktate][18901897]Vier Skizzen ber Wien[18981905]

  • Wir sollten in Zukunft hier drauen diktieren. Das muss ein Ort der In-spiration sein.

    Mark Twain, Upton House, 1906

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  • VorwortVon Rolf Vollmann

    Wenns nicht gar zu sehr eilt, dann sollten sich auch die ltesten unteruns noch ein bisschen Zeit lassen mit dem Sterben, dies ist nur der ersteBand von Mark Twains bislang geheim gehaltner Autobiographie, zweikommen noch, und es wre doch, so herrlich wie das Ganze losgeht, zuschade, wenn wirs nicht weiter-, nicht auslesen knnten im schnstenFall.

    Selber ist er ja mit der Zeit umgegangen, als htt er davon geerbt wiesonst kein Schreibender, Jahrhunderte, und verfgt testamentarisch,kaum fngt er an mit dem Erzhlen seines Lebens, dass erst ein vollesJahrhundert nach dem Ende dieses Erzhlens und Lebens wir so vielspter noch Lebenden das Vergngen haben sollen, ihm noch einmalStunden, Tage, Wochen lang zuzuhren.

    Das Vergngen davon nmlich, dass es fr uns eines sein mussnach hundert Jahren, ist Mark Twain offenbar berzeugt. Wenn sonsteiner anfngt, sein Leben zu beschreiben, bringen ihn ja besonders zweiProbleme wirklich in die Klemme, nmlich erstens, dass das Ges-chriebne nicht zu spt herauskommt, wenn er selber nichts mehr davonhtte und womglich lngst tot und, ach Gott, ja, vergessen wre und esdann ohnehin kein Verleger mehr drucken wrde; aber zweitens darfsauch nicht zu bald sein, wenn etwa welche noch leben von denen, berdie er endlich gern mal was Wahres sagen mchte; so dass er nun, willers doch herausbringen, solang sie noch leben samt Frauen und Kindernund Enkeln und Anwlten, lgen und das Beste verschweigen muss,oder wieder druckt es kein Verleger.

  • Und da sind nun hundert Jahre ein Ma, als htte ein Kind alleZweifel gelst und gesagt: sag einfach 100 Jahre. Wie ist einer, der da-rauf hrt? Demtig? Selbstbewusst? Grenwahnsinnig? Selberkindisch? Alles wahrscheinlich, also wirklich ein groer Mann, und dav-on berzeugt, dass er einer ist, und das mit Recht, wie wir jetzt zu un-serm Vergngen und Staunen sehn. Und neben dem Vergngen diesesStaunen, das hnelt ein bisschen wirklich dem Gefhl, das wir haben,wenn Homer manchmal von seinen Helden sagt, solche wie sie gb esheute nicht mehr.

    Diese Ferne, die er sich so zu dem genommen hat, was er erzhlt,gibt dem Erzhler nun eine geradezu unbedenkliche Freiheit, und seinerErzhlung jenen Schimmer wunderbarer Ungezwungenheit, der uns vonMinute zu Minute, von Stunde zu Stunde immer faszinierter zuhrenlsst. Zuhren lsst eher als Lesen, und von Minute und Stunde zuMinuten und Stunden eher als von Seite zu Seite Mark Twain hat diesefast unendliche Geschichte nicht selber aufgeschrieben, sondern diktiert,als wr es die spontane Erzhlung, nach der sie klingt. Es kann abernicht daran liegen, zum Beispiel hat sein berhmter Kollege und Zeit-genosse Henry James seine spteren groen Romane ebenfalls diktiert,ohne dabei doch je den ungeheuer komplexen Stil zu verleugnen, denkeine spontane Erzhlung haben kann, und niemals haben will. Undman erinnert sich dann, dass diesen besagten Schimmer schnerUngezwungenheit Mark Twains Romane und Erzhlungen immer schonhatten; und es sieht nun fast so aus, als war dies alles, diese Unbedenk-lichkeit, diese schne Ungezwungenheit, diese Ferne der hundert Jahreund dies wie hingeredete Erzhlen nur ein und dasselbe Wesen einerglcklichen Schriftstellernatur.

    Ab und zu, aber ohne den Leser allzu sehr strapazieren zu wollen,schaltet Mark Twain Reflexionen ein ber das, was er da treibt. Zu den

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  • vorhin genannten Problemen beim Beschreiben des eignen Lebens kom-men ja noch andre dazu, eines ist, dass es zu vorzeitiger grausamerErmdung fhren kann, wenn wir den Selbsterzhler sagen wir mit demvierten Jahr seines Lebens beginnen sehn und wissen, dass er achtziggeworden ist; Goethe, den Mark Twain gut kannte, er war, Mississippirauf und Missouri runter, ein auerordentlich belesener Schriftsteller,Goethe gibt dafr ein hbsches ironisches Beispiel, wenn sein WilhelmMeister der schnen Mariane seine Kindheit erzhlt, und diese dabei,und sie liebt ihn wirklich, wunderbar einschlft. Tagebcher wieder,obgleich sie reine Gegenwart zu sein scheinen, machen durch sagen wirsechzig Jahre hindurch mitunter etwas ungeduldig, vielleicht hier nochobendrein durch das Fehlen jeden Lichts von woandersher, von jetztvielleicht.

    Mark Twain nun, dieser hflichste aller Schreiber, der lieber zehn-mal nachdenkt, eh er einmal den Leser ermden knnte, erfindet nundie eigentlich allerselbstverstndlichste Methode fr sein Vorhaben (beiihm kommen einem alle Methoden wie die simpelsten Selbstverstnd-lichkeiten vor), er beginnt nmlich, sozusagen ein Tagebucherzhler,jedes Mal mit dem, was der Tag, der nun ist, bringt, er berichtet vomTage; und whrend er das tut, schweift er, zufllig, mutwillig, irgendwo-her oder irgendwohin angeregt, weit vom Tag ab zu irgendwelchenGeschichten von damals, und was immer dabei an Erzhltemherauskommt, nachher und im Lauf der Zeit, und wenn der Zuhrer denrichtigen Spa dabei gefunden hat, wird das Erzhlte immer deutlicherzu jener Lebensgeschichte, um die es geht. Whrend noch der Tag, andem erzhlt wird, seine eigne Gegenwart gewinnt, fllt er sich schonmehr und mehr und schner und schner mit der Gegenwrtigkeit deserzhlten Lebens von damals auf.

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  • Es scheint durcheinanderzugehen wie beinahe bei Sterne, dessenTristram Shandy alle ermdende Ordnung vernachlssigt, und zwargleich von Anfang an, nmlich indem er nicht, wie ein ordentlicher Auto-biograph, etwa bei seiner Geburt beginnt, sondern neun Monate vorher,bei seiner fast verunglckten Empfngnis, als die Uhr nicht schlgt: dakann dann nichts mehr gehen, wie es bei ordentlichen Leuten geht.Mark Twain liebte Sterne; Tristram Shandy ist aber ja eine fiktive, eineerfundne Person, kaum ein gutes Vorbild also, sollte man denken, freinen, der sein wirkliches Leben erzhlen will.

    Aber Mark Twain wusste, dass sein gleichsam persnliches ber-dauern jener hundert Jahre wesentlich an seinen Romanen hing, amMississippi und Missouri, an Tom Sawyer, an Huckleberry Finn und allihren Freunden; und fter in seiner Lebenserzhlung, wenn er anbestimmte Jugendgeschichten gert, erinnert er den Leser daran, wieder diese Geschichten schon einmal erzhlt bekommen habe in jenenRomanen, von denen ja jeder auch schon wusste, dass sie ebenso sehreigne wie erfundne Geschichten waren, erzhlte Geschichten. Und wenner nun also sein eignes Leben erzhlte, so war dieses Leben auch das ein-er fiktiven, schon erzhlten halb erfundnen Figur; zwar war das keinganz und gar erfunden erst in die geschriebene, dann in die wirklicheWelt gesetzter Tristram Shandy, aber doch eben immer auch noch etwasandres als blo der, der da erzhlte, immer auch noch ein Tom Sawyer,ein Huckleberry Finn.

    Es ist klar, und ist natrlich auch jedem Leser klar, das derLebenserzhler jetzt, wenn er von Prsidenten, von Geschftsleuten, vonseiner Familie, von Reisen und Reportagen und Vortrgen erzhlt, einandrer ist als blo ein erwachsen gewordener Held seiner Romane. Aberklar ist eben auch, dass kein Leser diesen Zusammenhang jemals ganzaus dem Kopf verlieren wrde, deshalb konnte man ihn ja auch ruhig

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  • von Zeit zu Zeit daran erinnern. Und nun war beides zauberhaft: wennerst derselbe wunderbare Schimmer der unbedenklich leichtenUngezwungenheit auf den alten Bchern und der jetzigen Erzhlung lag,und nun obendrein das Licht der jetzt erreichten Zeit des zusammen-fassenden Erzhlens auch das Damals noch einmal beleuchtete. Unddieser Zauber, daran wird der diktierende Alte mit schner Gewissheitgeglaubt haben, werde auch in hundert Jahren noch wirken.

    Als er irgendwann in diesem ersten Band auf seine Familie kommt,erzhlt er ausfhrlich von seiner so sehr geliebten ltesten Tochter OliviaSusan, Susy genannt. Er erzhlt, wenn man genauer hinsieht, genauerals er selber, lauter solche Geschichten, wie Eltern sie gern, und mitRecht, es sind wahre schne Geschichten, von ihren Lieblingskindernerzhlen, von klugen frhreifen weisen Sachen, die sie gesagt haben, vonschnen Dingen, die sie getan haben, und so weiter. Mark Twain erzhltgerhrt, alles was er da erzhlt ist so ganz anders als was er je von sich inBchern hatte erzhlen knnen, und dann kommt hinzu, dass diese sogeliebte begabte und fast so gegenbildnerische Tochter, lange schonkrnkelnd, starb, mit 24 Jahren, er war grade auf Vortragsreise um dieWelt.

    Noch als junger Teenager hatte Susy angefangen, so etwas wie eineBiographie ihres berhmten Vaters zu schreiben, im Grunde wohl so et-was wie das wahre Leben und Wesen ihres Vaters, der sich niemalsdagegen gestrubt, sondern eher alles dafr getan hatte, die legendreVerkrperung amerikanischen Humors zu sein (ungeachtet aller pro-funden Kritik, die er an den Verhltnissen bte, unerschrocken bte,und natrlich nun erst recht und mit allen Namen in dieser Autobio-graphie: am Rande dies, und Susy wusste davon ja nichts). Die Tochtermachte den ewig reisenden und redenden Mann nun aber zu einemwunderbaren Menschen, einem wunderbaren Vater, und vielleicht kann

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  • man sagen, zu dem, der er gern gewesen wre, wre er nicht mitLeidenschaft der geworden, der er, vielleicht ein bisschen zumLeidwesen seiner Tochter, doch war.

    Und nun machte er etwas, das in dieser naiven Skrupellosigkeit wohlnur ein groer Mann wie er machen konnte: immer wieder zitiert erStze aus der tchterlichen Biographie, wunderbare Stze, liebendverehrende Stze, wie sie kein Beschreiber des eignen Lebens je bersich aufschreiben wrde; er schreibt sie ab, und natrlich relativiert ersie, sie gehen ganz aufs Konto der kindlichen Liebe dieser klugen totenLieblingstochter; aber da stehn sie nun einmal, und eben aus der Feder,aus dem Mund dieses so weisen jungen Mdchens, das ihn schreibendgeliebt hatte wie sonst keiner, ihn in seiner Wahrheit.

    Das ist ein ungeheuerlicher, ein ganz und gar unheimlicher Griff,den er da tut, und immer weniger wissen wir, wer uns da eigentlich nachhundert Jahren noch so sehr bezaubert, dass wir nicht ber den Mis-souri wollen, und jedem raten, mit uns an diesem Ufer zu bleiben, eh dasalles nicht ausgelesen ist.

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  • Mark Twains Autobiographie

  • [Meine Autobiographie]

    Ein frher Versuch

    Die nun folgenden Kapitel sind Bruchstcke eines meiner vielen Ver-suche (nachdem ich bereits in den Vierzigern war), mein Leben zu Papi-er zu bringen.

    Der Versuch beginnt voller Zuversicht, teilt jedoch das Schicksalseiner Brder wird bald aufgegeben zugunsten anderer und neuererInteressen. Das ist nicht verwunderlich, denn der Plan ist der alte, deruralte, rigide und schwierige jener Plan, der mit der Wiege beginntund einen schnurstracks ins Grab treibt, ohne dass einem unterwegsSeitenabstecher erlaubt wren. Wohingegen die Seitenabstecher dochdas eigentliche Leben unserer Lebensreise ausmachen und also auch dasihrer Geschichte ausmachen sollten.

    Meine Autobiographie [Willkrliche Auszge daraus]

    **** So viel zu den frhen Tagen und zum Neuengland-Zweig der Cle-mens. Der andere Bruder lie sich im Sden nieder und ist auf gewisseWeise fr mich verantwortlich. Seinen Lohn, worin auch immer der be-stand, hat er schon vor Generationen eingestrichen. Nach Sden ging ermit seinem besonderen Freund Fairfax und lie sich mit diesem inMaryland nieder, danach aber zog er weiter und siedelte sich in Virginiaan. Das ist jener Fairfax, dessen Nachkommen eine sonderbareAuszeichnung genieen sollten nmlich die, in Amerika geborene eng-lische Earls zu sein. Der Begrnder der Linie war Lord General Fairfaxvon der parlamentarischen Armee zu Cromwells Zeiten. Der Grafentitel,der jngeren Datums ist, fiel den amerikanischen Fairfaxes zu, weil es in

  • England keine mnnlichen Erben gab. ltere Einwohner San Franciscoswerden sich noch an Charley erinnern, den amerikanischen Earl Mitteder sechziger Jahre laut Burkes Peerage der zehnte Lord Fairfax undInhaber irgendeines bescheidenen ffentlichen Amtes in dem neuenBergbauort Virginia City, Nevada. Amerika hat er nie verlassen. Ich kan-nte ihn, aber nur flchtig. Er hatte einen goldenen Charakter, und derwar sein ganzes Vermgen. Er legte seinen Titel ab und schickte ihn indie Ferien, bis seine Umstnde sich so weit verbessert htten, dass siemit dessen Wrde bereinstimmten; aber ich glaube nicht, dass dieseZeit je kam. Er war ein mannhafter Mann und besa wahre Gromut.Eine berhmte und gefhrliche Kreatur namens Ferguson, der immerZank mit besseren Mnnern suchte, als er selbst einer war, brach einesTages einen Streit mit ihm vom Zaun, und Fairfax schlug ihn nieder.Ferguson rappelte sich auf und zog, Drohungen murmelnd, davon. Fair-fax trug keine Waffen und weigerte sich auch jetzt, welche zu tragen, ob-wohl seine Freunde ihn warnten, Ferguson sei ein heimtckischer Typund werde bestimmt frher oder spter auf niedertrchtige Art Rachenehmen. Mehrere Tage geschah nichts; dann berrumpelte Fergusonden Earl und setzte ihm einen Revolver auf die Brust. Fairfax entwandihm die Pistole und wollte ihn erschieen, als der Mann auf die Knie fielund bettelte und sagte: Tten Sie mich nicht ich habe Frau undKinder. Fairfax schumte vor Zorn, doch die flehende Bitte drang insein Herz, und er sagte: Die haben mir nichts getan, und lie denSchurken laufen.

    Hinter den Clemens von Virginia erstreckt sich eine dunkle Prozes-sion von Vorfahren, die bis zu Noahs Zeit zurckreicht. Der berliefer-ung nach waren einige von ihnen zu Elisabeths Zeiten Seeruber und Sk-lavenhalter gewesen. Aber das ist keine Schande, denn Drake, Hawkinsund all die anderen waren es ja auch. Damals galt dies als ein achtbares

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  • Gewerbe, und die Monarchen gaben die Geschftspartner ab. Manchmalhabe ich selbst das Verlangen versprt, Seeruber zu sein. Der Leser,wenn er nur tief genug in sein geheimes Herz schaut, findet dort abervergessen wir, was er dort finden wird. Schlielich schreibe ich nichtseine Autobiographie, sondern meine. Spter, zur Zeit Jakobs I. oderKarls I., war der berlieferung nach einer der ProzessionsteilnehmerBotschafter in Spanien, heiratete dort und schickte einen Strom spanis-chen Blutes herber, um uns zu wrmen. Und der berlieferung nachwar dieser oder ein anderer Geoffrey Clement mit Namen daranbeteiligt, Karl zum Tode zu verurteilen. Ich habe diese berlieferungennicht eigenhndig nachgeprft, teils weil ich trge bin, teils weil ich sodamit beschftigt war, dieses Ende der Linie zu polieren und dafr zusorgen, dass es etwas hermacht; die anderen Clemens jedoch behaupten,sie htten die Prfung vorgenommen und die berlieferungen htten ihrstandgehalten. Deshalb habe ich es stets fr selbstverstndlich gehalten,dass ich es war, der Karl aus seinen Schwierigkeiten half: durch einenVorfahren. Auch meine Instinkte haben mich davon berzeugt. Wannimmer wir einen starken, beharrlichen, unauslschlichen Instinktbesitzen, knnen wir sicher sein, dass er nicht originr ist, sondern er-erbt ererbt aus grauer Vorzeit und verfestigt und vervollkommnetdurch den versteinernden Einfluss der Zeit. Nun, ich bin schon immerund gleichbleibend bitter gegen Karl gewesen und fest davon berzeugt,dass diese Empfindung durch die Adern meiner Urahnen aus demHerzen jenes Richters in mich hineingerieselt ist; denn es ist nicht meineArt, aus persnlichen Grnden bitter gegen Menschen zu sein. Ich binauch gegen Jeffreys nicht bitter. Ich sollte es sein, aber ich bin es nicht.Es zeigt mir, dass meine Vorfahren aus der Zeit Jakobs II. ihm ge-genber gleichgltig waren. Ich wei nicht, warum. Ich konnte es nieherausfinden. Aber genau das zeigt es. Auch gegen Satan war ich immer

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  • freundlich gesinnt. Natrlich ist das ebenfalls ererbt; es muss mir imBlut liegen, denn von mir selbst kann es nicht kommen.

    Und so, bekrftigt vom Instinkt, gesttzt auf die Beteuerungen derClemens, die Akten seien geprft, habe ich mich stets bemigt gefhlt,daran zu glauben, dass jener Geoffrey Clement, der einen Mrtyrerschuf, mein Vorfahr war, und mich seiner mit Wohlwollen, ja mit Stolzzu erinnern. Das wirkte sich nicht gut auf mich aus, denn es hat micheitel gemacht, und das ist ein Charakterfehler. Es hat dazu gefhrt, dassich mich ber Menschen erhob, die mit ihren Vorfahren weniger Glckhatten als ich, und mich gelegentlich dazu bewogen, sie auf ihren Platzzu verweisen und ihnen in Gesellschaft Krnkendes zu sagen.

    Vor mehreren Jahren trug sich in Berlin ein Fall dieser Art zu. Willi-am Walter Phelps war unser Gesandter am Hofe des Kaisers, und einesAbends lud er mich zum Dinner ein, um mich Graf S., einem Ministerdes Kabinetts, vorzustellen. Dieser Adlige hatte einen langen und glan-zvollen Stammbaum. Natrlich wollte ich durchblicken lassen, dass auchich etliche Vorfahren vorweisen konnte; aber ich wollte sie nicht einfachan den Ohren aus ihren Grbern herbeiziehen, und es schien sich keinerechte Gelegenheit zu ergeben, sie auf eine Weise zu erwhnen, die hin-reichend beilufig gewirkt htte. Ich vermute, dass Phelps in dengleichen Schwierigkeiten steckte. Tatschlich sah er hin und wiederbeunruhigt aus so wie jemand aussieht, der rein zufllig einen Vor-fahren anbringen will und dem nicht einfllt, wie er den gebhrendenAnschein von Zuflligkeit erwecken kann. Endlich aber, nach dem Din-ner, unternahm er einen Versuch. Er fhrte uns in seinem Salon umher,zeigte uns die Gemlde und blieb schlielich vor einem primitiven altenKupferstich stehen. Es war ein Bild vom Gerichtshof, der ber Karl I.verhandelte. Da war eine Pyramide von Richtern mit puritanischen Sch-lapphten, darunter drei barhuptige Sekretre, die an einem Tisch

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  • saen. Mr. Phelps legte seinen Finger auf einen der drei und sagte mitfrohlockender Teilnahmslosigkeit:

    Ein Vorfahr von mir.Ich legte meinen Finger auf einen der Richter und erwiderte mit

    tzender Gleichgltigkeit:Ein Vorfahr von mir. Aber das ist nicht weiter wichtig. Ich habe

    auch noch andere.Das war nicht sehr edel von mir. Ich habe es seitdem immer bereut.

    Aber ihm haftet es nun an. Ich frage mich, wie ihm wohl zumute war.Unsere Freundschaft allerdings beeintrchtigte es in keiner Weise, wasbeweist, dass er, ungeachtet seiner bescheidenen Herkunft, groherzigwar. Und mir selbst rechnete ich es hoch an, dass ich darber hinwegse-hen konnte. Ich nderte mein Verhalten ihm gegenber nicht, sondernbehandelte ihn stets als ebenbrtig.

    In einer Hinsicht jedoch war es ein schwieriger Abend fr mich. WieGraf S. hielt Mr. Phelps mich fr den Ehrengast; ich aber hielt michnicht dafr, denn in meiner Einladung stand nichts, was daraufhindeutete. Es war lediglich eine freundliche ungezwungene Mitteilungauf einer Karte. Als man uns zum Essen rief, wurde auch Phelps vonZweifeln heimgesucht. Etwas musste unternommen werden, doch es warnicht der Moment fr Erklrungen. Er versuchte, mich dazu zu bringen,mit ihm den Anfang zu machen, aber ich zgerte; dann versuchte er esmit S., doch auch dieser lehnte ab. Es gab noch einen weiteren Gast, derkeine Anstalten machte. Schlielich begaben wir uns alle auf einmal zuTisch. Jeder strzte sehr schicklich auf einen Sitzplatz zu. Ich ergat-terte den links von Mr. Phelps, der Graf eroberte den gegenber vonPhelps, und der andere Gast musste den Ehrenplatz einnehmen, ihmblieb nichts anderes brig. In der ursprnglichen Unordnung kehrtenwir in den Salon zurck. Ich trug neue Schuhe, die mir zu eng waren.

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  • Um elf weinte ich innerlich, ich konnte nichts dagegen tun, so entsetz-lich waren die Schmerzen. Die Unterhaltung war schon eine Stunde zu-vor erlahmt. S. wurde seit halb zehn am Bett eines sterbenden Offizierserwartet. Schlielich erhoben wir uns aus einem unerklrlichen Impulsheraus und gingen ohne Worte hinunter zur Haustr alle auf einmal,ohne jemandem den Vortritt zu lassen; und so trennten wir uns.

    Der Abend hatte seine Mngel, ich aber hatte einen Vorfahren er-whnt und war zufrieden.

    Zu den Clemens in Virginia gehrten auch der bereits erwhnte Jereund Sherrard. Jere Clemens genoss weithin den Ruf, ein guter Pis-tolenschtze zu sein, und einmal versetzte ihn das in die Lage, sich beieinigen Trommlern beliebt zu machen, die beschwichtigenden Wortenund Argumenten allein keine Beachtung geschenkt htten. Zu der Zeitbefand er sich auf Wahlkampfreise durch den Staat. Die Trommler hat-ten sich vor der Tribne postiert und waren vom Gegner angeheuertworden, um zu trommeln, whrend er seine Rede hielt. Bevor er begann,zog er seinen Revolver, legte ihn vor sich hin und sagte auf seine sanfte,einschmeichelnde Art:

    Ich mchte niemandem etwas zuleide tun und werde versuchen, eszu vermeiden; aber ich habe genau eine Kugel fr jede dieser sechsTrommeln, und falls Sie darauf trommeln wollen, sollten Sie bessernicht dahinter stehen.

    In den Tagen des Brgerkriegs war Sherrard Clemens republikanis-cher Kongressabgeordneter von West Virginia, anschlieend zog er nachSt. Louis, wo der James-Clemens-Zweig der Familie lebte und noch im-mer lebt, und dort wurde er ein hitziger Rebell. Das war nach dem Br-gerkrieg. Als er Republikaner war, war ich Rebell; doch als er Rebell ge-worden war, war ich (vorbergehend) Republikaner geworden. Die Cle-mens haben stets ihr Bestes getan, um die politische Waagschale

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  • auszubalancieren, ganz gleich, welche Umstnde es ihnen bereitenmochte. Ich wusste nicht, was aus Sherrard Clemens geworden war,doch einmal stellte ich Senator Hawley bei einer republikanischenGroveranstaltung in Neuengland vor, und danach erhielt ich einen ver-bitterten Brief von Sherrard aus St. Louis. Er schrieb, die Republikanerdes Nordens nein, die Drecksuhler des Nordens htten die alteAristokratie des Sdens mit Feuer und Schwert weggefegt und es stndemir, einem Blutaristokraten, schlecht an, mit solchen Schweinen zuverkehren. Ob ich vergessen htte, dass ich ein Lambton sei?

    Dies war ein Verweis auf die Familie meiner Mutter. Wie schongesagt, sie war eine Lambton Lambton mit p, doch in der Frhzeitkonnten einige der amerikanischen Lamptons nicht gut buchstabieren,und ihretwegen litt der Name Schaden. Sie kam aus Kentucky, und 1823,als sie zwanzig Jahre alt war und er vierundzwanzig, heiratete sie mein-en Vater in Lexington. Keiner von beiden besa berschssiges Ei-gentum. Sie brachte zwei oder drei Neger mit in die Ehe, sonst nichts,glaube ich. Sie zogen sich in das abgeschiedene Dorf Jamestown in derEinsamkeit der Berge von East Tennessee zurck. Dort kam ihre ersteAusbeute an Kindern zur Welt, da ich aber ein jngerer Jahrgang bin,kann ich mich daran nicht erinnern. Ich wurde zurckgestellt zurck-gestellt bis Missouri. Missouri war ein unbekannter neuer Staat undbentigte Attraktionen.

    Ich glaube, mein ltester Bruder Orion, meine Schwestern Pamelaund Margaret und mein Bruder Benjamin kamen in Jamestown zurWelt. Vielleicht noch andere, aber da bin ich mir nicht sicher. Dassmeine Eltern dorthin gezogen waren, gab dem kleinen Dorf mchtigAuftrieb. Man hoffte, sie wrden bleiben, damit aus dem Dorf eine Stadtwrde. Man nahm an, sie wrden bleiben. Und so kam es zu einem re-gelrechten Aufschwung; doch nach einer Weile zogen sie wieder fort, die

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  • Preise verfielen, und es dauerte viele Jahre, bis Jamestown ein Neuan-fang gelang. Im Vergoldeten Zeitalter, einem meiner Bcher, habe ichber Jamestown geschrieben, aber das beruhte auf Hrensagen, nichtauf persnlicher Kenntnis. Mein Vater lie in der Gegend umJamestown ansehnliche Lndereien zurck 75 000 Morgen. 1 Als er1847 starb, waren sie seit rund zwanzig Jahren in seinem Besitz. DieSteuern waren sehr gering (fnf Dollar im Jahr fr alles), und er hattesie regelmig entrichtet und seinen Besitzanspruch gewahrt. Er hatteimmer gesagt, zu seinen Lebzeiten werde das Land bestimmt nicht mehrwertvoll, irgendwann aber werde es eine komfortable Rcklage fr seineKinder darstellen. Es barg Kohle, Kupfer, Eisen und Holz, und er sagte,im Laufe der Zeit werde die Eisenbahn in diese Region vordringen, unddann werde sein Eigentum nicht nur dem Namen nach, sondern auchder Sache nach Eigentum sein. Auch eine vielversprechende wilde Rebebrachte das Land hervor. Einige Proben davon hatte er Nicholas Long-worth in Cincinnati zugeschickt, um dessen Urteil einzuholen, und Mr.Longworth hatte geantwortet, es liee sich daraus genauso guter Weinkeltern wie aus seiner Catawba-Rebe. All diese Reichtmer bot dasLand, dazu noch l, aber das wusste mein Vater nicht, und selbst wenner es gewusst htte, htte er sich natrlich in jenen frhen Jahren nichtsdaraus gemacht. Das l wurde erst um 1895 entdeckt. Ich wnschte, mirgehrten jetzt ein paar Morgen von diesem Land, dann wrde ich nichtAutobiographien schreiben, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdien-en. Der Auftrag meines sterbenden Vaters lautete: Haltet an dem Landfest und wartet ab; lasst euch durch nichts dazu verlocken, esaufzugeben. Der Lieblingscousin meiner Mutter, James Lampton, derim Vergoldeten Zeitalter als Colonel Sellers auftritt, sagte von diesenLndereien immer und sagte es mit flammender Begeisterung: Diesind Millionen wert Millionen! Zwar behauptete er das von allem und

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  • jedem und irrte immer; diesmal jedoch sollte er recht behalten, wasbeweist, dass ein Mann, der mit einem Prophezeiungsgewehr umher-luft, niemals entmutigt werden sollte: Wenn er seinen Mut behlt undauf alles schiet, was sich ihm bietet, wird er mit Sicherheit irgendwanneinen Treffer landen.

    Viele Menschen hielten Colonel Sellers fr eine Fiktion, eine Erfind-ung, eine extravagante Unmglichkeit und erwiesen mir die Ehre, ihneine Schpfung zu nennen, aber sie irrten. Ich habe ihn nur so zuPapier gebracht, wie er war; er war kein Mensch, der bertrieben wer-den konnte. Die Vorflle, die am extravagantesten wirkten, im Buch wieauf der Bhne, waren keine Erfindungen von mir, sondern Tatsachenaus seinem Leben, und ich war dabei, als sie sich zutrugen. John T. Ray-monds Publikum wre vor Lachen ber die Steckrbenszene fastgestorben; aber so extravagant die Szene auch sein mochte, sie ents-prach doch in all ihren absurden Einzelheiten den Tatsachen. Die Sachegeschah in Lamptons eigenem Haus, und ich war dabei. Ja, ich selbstwar der Gast, der die Steckrben verzehrte. In den Hnden eines groenSchauspielers htte diese jammervolle Szene die Augen auch noch desmnnlichsten Zuschauers mit Trnen getrbt, vor Lachen htten ihm dieRippen weh getan. Aber gro war Raymond nur in humorvollen Darstel-lungen. Darin war er ausgezeichnet, wunderbar mit einem Wort: gro;in allen anderen Dingen war er der Zwerg der Zwerge. Der echte ColonelSellers, wie ich ihn als James Lampton kannte, war ein rhrend schnerGeist, ein mannhafter Mann, ein aufrechter und ehrenwerter Mann, einMann mit einem groen, trichten, selbstlosen Herzen in der Brust, einMann, dazu geboren, geliebt zu werden; und er wurde von allen seinenFreunden geliebt und von seiner Familie angebetet. Das ist das richtigeWort. Fr sie war er nur ein bisschen weniger als ein Gott. Der wahreColonel Sellers stand nie auf der Bhne. Auf der Bhne stand nur die

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  • eine Hlfte von ihm. Die andere Hlfte konnte Raymond nicht spielen,sie berstieg seine Mglichkeiten. Diese Hlfte bestand aus Ei-genschaften, die Raymond ganz und gar abgingen. Denn Raymond warkein mannhafter Mann, er war kein ehrenwerter Mann und auch keinehrlicher, er war hohl und selbstschtig und gewhnlich und ungehobeltund dumm, und wo sein Herz htte sitzen sollen, ghnte Leere. Es gabnur einen einzigen Mann, der den ganzen Colonel Sellers htte spielenknnen, und das war Frank Mayo. 2

    Die Welt steckt voller berraschungen. Sie geschehen auch dann,wenn man am wenigsten damit rechnet. Als ich Sellers in das Buch ein-fhrte, schlug Charles Dudley Warner, mit dem zusammen ich dieGeschichte schrieb, mir vor, Sellers Vornamen zu ndern. Er war zehnJahre zuvor in einem entlegenen Winkel des Westens einem Mann na-mens Eschol Sellers begegnet und fand, dass Eschol genau der richtigeund passende Name fr unseren Sellers sei, da er sonderbar und wun-derlich klang und all das. Der Vorschlag gefiel mir, aber ich gab zubedenken, der Mann knnte auftauchen und Einspruch erheben.Warner sagte, das knne nicht passieren, er sei zweifellos lngst tot, einMann mit solch einem Namen knne nicht lange leben, und ob er nuntot sei oder am Leben, wir mssten den Namen einfach nehmen, es seigenau der richtige und wir knnten auf ihn nicht verzichten. So nahmenwir die nderung vor. Warners Mann war ein gewhnlicher einfacherFarmer. Das Buch war kaum eine Woche alt, da traf ein studierter,herzoglich ausgepolsterter Gentleman von vornehmen Manieren inHartford ein, er war in heibltiger Gemtsverfassung und hatte eineBeleidigungsklage im Blick, und sein Name war Eschol Sellers! Von demanderen hatte er noch nie gehrt und sich ihm bis auf tausend Meilennie genhert. Das Vorhaben des geschdigten Aristokraten war ziemlichkonkret und geschftstchtig: Die American Publishing Company msse

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  • die gedruckte Auflage einstampfen und in den Druckplatten den Namenndern oder mit einer Klage in Hhe von $ 10 000 rechnen. Der Mannnahm das Versprechen des Verlags und viele Entschuldigungen mit, undin den Druckplatten nderten wir den Namen wieder zu Colonel Mul-berry Sellers. Offenbar gibt es nichts, was es nicht gibt. Selbst die Ex-istenz zweier nicht verwandter Mnner, die den unmglichen NamenEschol Sellers tragen, ist ein Ding der Mglichkeit.

    James Lampton schwebte sein Lebtag in einem farbigen Dunst herr-licher Trume und starb am Ende, ohne auch nur einen davon verwirk-licht zu sehen. Ich begegnete ihm zuletzt 1884, sechsundzwanzig Jahrenachdem ich in seinem Haus eine Schssel roher Steckrben verzehrtund sie mit einem Eimer Wasser hinuntergesplt hatte. Er war alt undweihaarig geworden, kam aber genauso frhlich wie eh und je zu mirherein und war noch ganz er selbst. Es fehlte nicht eine Einzelheit: dasglckliche Leuchten in seinen Augen, die berreiche Hoffnung in seinemHerzen, die mitreiende Rede, die wundererzeugende Phantasie dasalles war vorhanden; und ehe ich mich versah, rieb er auch schon seineWunderlampe und lie die geheimen Reichtmer der Welt vor mirfunkeln. Ich sagte bei mir: Ich habe ihn in keiner Weise berzeichnet,ich habe ihn festgehalten, wie er war; und er ist noch ganz derselbe.Cable wird ihn wiedererkennen. Ich bat ihn, mich einen Augenblick zuentschuldigen, und ging in Cables Zimmer nebenan. Cable und ichmachten gerade eine Lesereise durch die Staaten der Union. Ich sagte:

    Ich lass deine Tr offen, damit du zuhren kannst. Da drinnen istein interessanter Mann.

    Ich ging zurck und fragte Lampton, was er denn jetzt so treibe. Erfing an, mir von einer kleinen Unternehmung zu erzhlen, die er mitHilfe seines Sohnes in New Mexico aufgezogen habe: Nur eine kleineSache eine bloe Nebenschlichkeit , teils um mir die Zeit zu

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  • vertreiben, teils um mein Kapital vor Unttigkeit zu bewahren, vor allemaber um den Jungen zu formen um den Jungen zu formen. FortunasRad dreht sich unaufhrlich, vielleicht muss er sich seinen Lebensunter-halt eines Tages selbst verdienen in der Welt sind schon sonderbarereDinge geschehen. Aber es ist nur eine kleine Sache wie gesagt, einebloe Nebenschlichkeit.

    Und so war es auch zu Beginn seiner Erzhlung. Doch unter seinengeschickten Hnden wuchs die Unternehmung und gedieh und dehntesich aus jenseits aller Vorstellungskraft. Nach einer halben Stunde en-dete er, endete mit dieser Bemerkung, die er auf bezaubernd lssige Artfallenlie:

    Ja, unter den heutigen Umstnden ist es nur eine Nebenschlich-keit eine Bagatelle , aber amsant. Sie vertreibt mir die Zeit. DerJunge verspricht sich viel davon, aber er ist jung, weit du, und ver-sponnen; ihm fehlt die Erfahrung, die man mit groen Geschftenmacht, die die Einbildungskraft zgelt und die Urteilskraft schrft. Ichschtze, da stecken zwei Millionen drin, vielleicht drei, aber mehr nicht,glaube ich; trotzdem, fr einen Jungen, weit du, der eben ins Lebentritt, ist das nicht schlecht. Ich mchte nicht, dass er ein Vermgenmacht das kann spter kommen. In dieser Lebensphase knnte ihmdas den Kopf verdrehen und ihm in vielerlei Hinsicht schaden. Dannsprach er davon, dass er seine Brieftasche zu Hause auf dem Tisch imgroen Salon liegengelassen habe, dass die Banken schon geschlossenhtten und

    An dieser Stelle unterbrach ich ihn und bat ihn, Cable und mir dieEhre zu erweisen, bei der Lesung unser Gast zu sein zusammen mit allseinen Freunden, die bereit wren, uns die gleiche Ehre zu erweisen. Ernahm an. Und dankte mir wie ein Frst, der uns eine Gnade gewhrthatte. Seine Rede ber die Eintrittskarten hatte ich deshalb

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  • unterbrochen, weil ich merkte, dass er mich gebeten htte, sie ihm aus-zulegen und ihn die Rechnung tags darauf begleichen zu lassen; und ichwusste, wenn er erst einmal Schulden gemacht htte, wrde er sie beg-leichen, und wenn er seine Kleider dafr verpfnden msste. Nach einerweiteren kurzen Plauderei schttelte er mir herzlich und liebevoll dieHand und empfahl sich. Cable steckte den Kopf zur Tr herein undsagte:

    Das war Colonel Sellers.

    Kapitel

    Wie gesagt, das riesige Flurstck in Tennessee 3 gehrte meinem Vaterzwanzig Jahre lang unangetastet. Als er 1847 starb, begannen wir, esselbst zu verwalten. Vierzig Jahre spter hatten wir es auf 10 000 Mor-gen herunterverwaltet und nichts dafr bekommen, was uns an dieVerkufe erinnert htte.Um 1887 mglicherweise war es frher gin-gen auch die 10 000 Morgen flten. Mein Bruder fand eine Gelegenheit,sie gegen ein Haus mit Grundstck im Stdtchen Corry in den lgebi-eten Pennsylvanias einzutauschen. Um 1894 verkaufte er diese Lie-genschaft fr $ 250. Das war das Ende unserer Lndereien in Tennessee.

    Sollte die kluge Investition meines Vaters darber hinaus auch nureinen Penny Bargeld abgeworfen haben, so kann ich mich daran nichterinnern. Nein, ich bersehe ein Detail. Sie lieferte mir eine Spielwiesefr Sellers und ein Buch. Aus meiner Hlfte des Buches bezog ich $15 000 oder $ 20 000, aus dem Bhnenstck $ 75 000 oder $ 80 000 etwa einen Dollar pro Morgen. Schon seltsam: Ich war noch nicht ge-boren, als mein Vater die Investition ttigte, insofern konnte er nicht be-absichtigt haben, mich zu bevorzugen; und doch war ich das einzigeFamilienmitglied, das je davon profitierte. Im Fortgang werde ich hin

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  • und wieder Gelegenheit haben, das Land zu erwhnen, denn es beein-flusste mehr als eine Generation lang auf die eine oder andere Weise un-ser Leben. Wann immer es um die Dinge dster stand, erhob es sich,streckte seine hoffnungsvolle Sellers-Hand aus, munterte uns auf undsagte: Frchtet euch nicht vertraut mir wartet. So lie es uns hof-fen und hoffen, vierzig Jahre lang, und dann lie es uns im Stich. Es lh-mte unsere Krfte und machte uns zu trgen Visionren, zu Trumern.Immer wrden wir im folgenden Jahr reich werden wir hatten keineVeranlassung zu arbeiten. Es ist gut, sein Leben arm zu beginnen; es istgut, sein Leben reich zu beginnen beides ist gesund. Aber es voraus-sichtlich reich zu beginnen! Wer das nicht erlebt hat, kann sich das Un-heil nicht vorstellen.

    Anfang der dreiiger Jahre zogen meine Eltern nach Missouri; ichwei nicht genau, wann, denn damals war ich noch nicht geboren undkmmerte mich um derlei Dinge nicht. Zu jener Zeit war es eine weiteReise und eine holprige und beschwerliche obendrein. Sie siedelten sichin dem winzigen Dorf Florida in Monroe County an, und dort kam ich1835 zur Welt. Das Dorf bestand aus hundert Einwohnern, und ich ver-mehrte die Bevlkerung um 1 Prozent. Das ist mehr, als der beste Mannin der Geschichte je fr eine Stadt getan hat. Vielleicht ist es nicht geradebescheiden von mir, aber es ist wahr. Es gibt keinerlei Hinweise darauf,dass ein Mensch je so viel getan htte nicht einmal Shakespeare. Aberich tat es fr Florida, und das beweist, dass ich es fr jeden anderen Orthtte tun knnen vermutlich sogar fr London.

    Krzlich schickte mir jemand aus Missouri ein Foto von dem Haus,in dem ich geboren wurde. Bislang habe ich immer behauptet, es sei einPalast gewesen, aber jetzt werde ich mich besser vorsehen.

    Mir ist nur ein Vorfall in Erinnerung, der mit meinem Leben indiesem Haus zu tun hat. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern,

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  • obwohl ich damals erst zweieinhalb Jahre alt war. Die Familie packtealles zusammen und brach in Planwagen in das dreiig Meilen entfernteHannibal am Mississippi auf. Gegen Abend, als man ein Lager aufschlugund die Kinder zhlte, fehlte eines. Das eine war ich. Ich war zurck-gelassen worden. Eltern sollten ihre Kinder stets zhlen, bevor sie auf-brechen. Mir ging es gut, solange ich allein vor mich hin spielte, bis ichfeststellte, dass die Tren verschlossen waren und eine grsslich tiefeStille im Haus brtete. Da wusste ich, dass die Familie fort war und michvergessen hatte. Ganz verngstigt machte ich allen Lrm, zu dem ichfhig war, aber niemand war in der Nhe, und es ntzte nichts. Ich ver-brachte den Nachmittag in Gefangenschaft und wurde erst nach Ein-bruch der Dmmerung befreit, als das Haus schon von Geisternwimmelte.

    Damals war mein Bruder Henry sechs Monate alt. Ich wei noch, wieer da war er eine Woche alt im Freien in ein Feuer lief. Es war be-merkenswert, dass ich mich an ein solches Vorkommnis erinnerte, dassich zutrug, als ich selbst noch so jung war. Und noch bemerkenswerterwar es, dass ich dreiig Jahre an der Illusion festhielt, mich tatschlichdaran zu erinnern denn natrlich hat es sich nie zugetragen; in demAlter htte er nicht laufen knnen. Wenn ich innegehalten htte, umnachzudenken, htte ich mein Gedchtnis nicht so lange mit unmgli-chem Unsinn belastet. Viele Leute sind der Meinung, dass ein Eindruck,der sich dem Gedchtnis eines Kindes in den ersten beiden Lebens-jahren einprgt, keine fnf Jahre vorhalten kann, aber das ist ein Irrtum.Der Vorfall mit Benvenuto Cellini und dem Salamander muss als unver-flscht und glaubhaft akzeptiert werden; und auch jener be-merkenswerte und unbestreitbare Vorgang in Helen Kellers Erinnerung aber davon will ich ein andermal sprechen. Viele Jahre lang glaubteich mich daran zu erinnern, wie ich, als ich sechs Wochen alt war,

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  • meinem Vater half, seinen heien Whiskey zu trinken, aber davon willich jetzt nicht weiter erzhlen; ich bin alt geworden, und mein Gedcht-nis ist nicht mehr so rege wie frher. Als ich jnger war, konnte ich michan alles erinnern, ob es sich nun zugetragen hatte oder nicht; aber meineFhigkeiten lassen nach, und bald wird es so sein, dass ich mich nurnoch an Letzteres erinnern kann. Es ist traurig, so zu verfallen, aber damssen wir alle durch.

    Mein Onkel John A. Charles war Farmer, und sein Haus lag vierMeilen von Florida entfernt auf dem Land. Er hatte acht Kinder und fn-fzehn oder zwanzig Neger und konnte sich auch in anderer Hinsichtglcklich schtzen, besonders in Fragen des Charakters. Einem besserenMann, als er es war, bin ich nicht begegnet. Jedes Jahr war ich zwei oderdrei Monate lang sein Gast, ab dem vierten Jahr, nachdem wir nachHannibal gezogen waren, bis ich elf oder zwlf war. Ich habe ihn oderseine Frau nie bewusst in einem Buch verwendet, seine Farm jedoch er-wies sich in der Literatur ein- oder zweimal als ntzlich. Fr Huckle-berry Finn und Tom Sawyer als Detektiv verlegte ich sie nach Arkansas.Das waren volle sechshundert Meilen, aber das stellte kein Problem dar,es handelte sich um keine sehr groe Farm, vielleicht fnfhundert Mor-gen, aber ich htte es auch dann geschafft, wenn sie doppelt so grogewesen wre. Und was die Moral angeht, so hatte ich keinerlei Beden-ken; wenn die Literatur es erforderlich macht, wrde ich einen ganzenStaat verlegen.

    Fr einen Jungen war sie ein himmlischer Ort, diese Farm meinesOnkels John. Das Haus war ein doppeltes Blockhaus mit einem geru-migen (berdachten) Gang, der es mit der Kche verband. Im Sommerwurde der Tisch mitten in diesem schattigen und luftigen Gang gedeckt,und die ppigen Mahlzeiten ach, ich muss weinen, wenn ich nur darandenke. Gebratenes Hhnchen; Schweinebraten; wilde und zahme

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  • Truthhne, Enten und Gnse; frisch erlegtes Wild; Eichhrnchen,Kaninchen, Fasane, Rebhhner, Prriehhner; selbstgerucherter Speckund Schinken; heie Kekse, heie Rhrkuchen, heie Buchweizen-kuchen, heies Weizenbrot, heie Brtchen, heies Maisbrot; frischgekochte Maiskolben, Bohnen-Mais-Eintopf, Limabohnen, Stangenbo-hnen, Tomaten, Erbsen, irische Kartoffeln, Skartoffeln; Buttermilch,frische Milch, Sauermilch; Wassermelonen, Zuckermelonen,Cantaloupe-Melonen alles frisch aus dem Garten ; Apfelkuchen,Pfirsichkuchen, Krbiskuchen, Apfelkndel, Pfirsichauflauf an denRest kann ich mich nicht mehr erinnern. Wie die Dinge zubereitet wur-den, war vielleicht das Herrlichste daran besonders bei einigen Speis-en. Zum Beispiel dem Maisbrot, den heien Keksen, dem Weizenbrotund dem gebratenen Hhnchen. Im Norden sind diese Dinge nie richtigzubereitet worden ja, soweit ich das beurteilen kann, ist dort nicht ein-mal jemand in der Lage, diese Kunst zu erlernen. Im Norden glaubt manzu wissen, wie man Maisbrot backt, aber das ist ein grotesker Aber-glaube. Vielleicht ist kein Brot der Welt so gut wie das Maisbrot in denSdstaaten und vielleicht kein Brot der Welt so schlecht wie dessen Imit-ation in den Nordstaaten. Im Norden versucht man sich nur seltendaran, ein Hhnchen zu braten, und das ist auch gut so; nrdlich derMason-Dixon-Linie lsst sich diese Kunst nicht erlernen, und in Europaschon gar nicht. Das wei ich nicht vom Hrensagen, sondern aus Er-fahrung. In Europa bildet man sich ein, die Angewohnheit, einige Brot-sorten glhend hei zu servieren, sei amerikanisch, aber das ist zuallgemein gefasst: Es ist eine Angewohnheit im Sden, im Norden allesandere als das. Im Norden wie in Europa gilt warmes Brot als ungesund.Dabei handelt es sich vermutlich um einen genauso ausgeklgeltenAberglauben wie bei dem europischen Aberglauben, Eiswasser sei un-gesund. Europa braucht kein Eiswasser, deswegen trinkt es auch keines;

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  • nichtsdestotrotz ist das europische Wort dafr besser als unseres, dennes trifft die Sache, unseres dagegen nicht. Die meisten europischenSprachen nennen es eisgekhltes Wasser. Unser Wort umschreibtWasser aus geschmolzenem Eis ein Getrnk, das einen nichtssagendenGeschmack hat und mit dem wir kaum Bekanntschaft machen.

    Ich finde es bedauerlich, dass die Welt so viele gute Dinge ablehnt,nur weil sie ungesund sind. Ich bezweifle, dass Gott uns irgendetwasgeschenkt hat, was, in Maen genossen, ungesund ist, ausgenommenMikroben. Trotzdem gibt es Menschen, die sich alles und jedes Essbare,Trinkbare und Rauchbare, das sich einen zweifelhaften Ruf erworbenhat, strengstens versagen. Diesen Preis zahlen sie fr ihre Gesundheit.Und Gesundheit ist alles, was sie dafr bekommen. Wie seltsam das ist.Als verschleudere man sein gesamtes Vermgen fr eine Kuh, die keineMilch mehr gibt.

    Das Farmhaus stand inmitten eines sehr groen Gartens, und derGarten war auf drei Seiten von einem Lattenzaun und auf der Rckseitevon hohen Palisaden umgeben; davor stand das Rucherhaus; hinterden Palisaden war der Obstgarten, und hinter dem Obstgarten lagen dieNegerquartiere und die Tabakfelder. In den Vorgarten gelangte manber eine Stiege aus abgesgten Holzkltzen in unterschiedlicher Hhe;an ein Tor kann ich mich nicht erinnern. In einer Ecke des Vorgartenswuchsen ein Dutzend hohe Hickorybume und ein Dutzend schwarzeWalnussbume, und zur Erntezeit konnte man dort ganze Reichtmerauflesen.

    Etwas weiter unten, auf gleicher Hhe mit dem Haus, stand vor demLattenzaun eine kleine Blockhtte, und dort fiel der bewaldete Hgelsteil ab an den Scheunen, dem Maisspeicher, den Stallungen und derTabakdarre vorbei zu einem klaren Bach, der ber sein kiesiges Betthinwegmurmelte und sich im tiefen Schatten berhngender Zweige

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  • und Reben hin und her wand und hierhin und dorthin hpfte einhimmlischer Ort zum Waten, wo es auch Badestellen gab, die uns ver-boten waren und gerade deshalb oft von uns aufgesucht wurden. Dennwir waren kleine Christenkinder, denen schon frh der Wert verbotenerFrchte beigebracht worden war.

    In der kleinen Blockhtte wohnte eine bettlgerige weihaarige Sk-lavin, die wir tglich besuchten und voller Ehrfurcht betrachteten, dennwir glaubten, dass sie mehr als tausend Jahre alt war und noch mitMoses gesprochen hatte. Die jngeren Neger vertrauten auf diese Zahlenund hatten sie gutglubig an uns weitergegeben. Wir akzeptierten smt-liche Einzelheiten, die wir ber die Alte erfuhren, und so nahmen wir an,dass sie ihre Gesundheit auf der langen Wstenreise aus gypten einge-bt und nicht wiedererlangt hatte. Auf dem Scheitel hatte sie einerunde kahle Stelle, und wir pflegten uns heranzuschleichen, diese in an-dchtigem Schweigen zu bestaunen und uns zu fragen, ob sie wohl vondem Schreck herrhrte, mit ansehen zu mssen, wie der Pharao ertrank.Nach Sdstaatenart nannten wir sie Tante Hannah. Sie war aberglu-bisch wie die anderen Neger und wie diese tief religis. Wie die anderensetzte sie groes Vertrauen ins Gebet und bediente sich seiner in allengewhnlichen Zwangslagen, nicht jedoch in Fllen, wo absolute Gewis-sheit ber den Ausgang geboten war. Wann immer sich Hexen in derUmgebung aufhielten, wickelte sie die Reste ihrer Wolle mit einemweien Faden zu kleinen Bscheln zusammen, was den Hexen unverzg-lich ihre Macht nahm.

    Alle Neger waren unsere Freunde und die in unserem Alter in Wirk-lichkeit Kameraden. Ich sage in Wirklichkeit und verwende den Aus-druck als Einschrnkung. Wir waren Kameraden und doch keine Kam-eraden; Hautfarbe und sozialer Status zogen eine Trennlinie, welchersich beide Parteien unterschwellig bewusst waren und die eine vllige

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  • Verschmelzung unmglich machte. Wir hatten einen treuen undliebevollen guten Freund, Verbndeten und Ratgeber in Onkel Danl,einem Sklaven mittleren Alters, dessen Verstand der beste imNegerquartier war, dessen Mitgefhl tief und warm war und dessenHerz keine Arglist kannte. Er hat mir all die vielen, vielen Jahre gutgedient. Ich habe ihn seit mehr als einem halben Jahrhundert nichtmehr gesehen, und doch habe ich geistig einen guten Teil dieser Zeitseine willkommene Gesellschaft genossen, ihn in Bchern unter seinemNamen und als Jim verewigt und ihn berall mit hingekarrt nachHannibal, auf einem Flo den Mississippi hinab und sogar in einemHeiluftballon quer ber die Sahara , und all das hat er mit jenerGeduld und Gte und Treue ertragen, die sein Geburtsrecht war. Auf derFarm wuchs meine tiefe Zuneigung zu seiner Rasse und meineWertschtzung ihrer besonderen Eigenheiten. Diese Empfindung unddiese Wertschtzung haben sechzig Jahre und lnger jeder Prfungstandgehalten und keine Einschrnkung erfahren. Ein schwarzesGesicht ist mir heute so willkommen wie damals.

    In meiner Schulzeit empfand ich keine Abneigung gegen die Sklaver-ei. Es war mir nicht bewusst, dass etwas daran verkehrt sein knnte. Mirkam nichts dergleichen zu Ohren; die Lokalzeitungen prangerten sienicht an; von der Kanzel wurde uns beigebracht, dass Gott sie billige,dass sie eine heilige Sache sei und ein Zweifler nur in die Bibel zuschauen brauche, um sein Gemt zu beruhigen und um die Angelegen-heit abzuschlieen, wurden die Texte laut vorgelesen. Falls die Sklavenselbst Abneigung gegen die Sklaverei empfanden, dann waren sie klugund sagten nichts. In Hannibal sahen wir nur selten, dass ein Sklaveschlecht behandelt wurde, auf der Farm nie.

    Allerdings gab es in meiner Kindheit einen kleinen Zwischenfall, dermit dem Thema zu tun hatte und der einen nachhaltigen Eindruck bei

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  • mir hinterlassen haben muss, sonst wre er mir nicht all die langsamdahinziehenden Jahre im Gedchtnis geblieben, klar und deutlich,lebhaft und scharf umrissen. Bei uns war ein kleiner Sklavenjunge, denwir von jemandem in Hannibal gemietet hatten. Er stammte von derOstkste Marylands, war seiner Familie und seinen Freunden weggen-ommen und quer ber den halben amerikanischen Kontinent verkauftworden. Er war ein frhlicher Geist, gutartig und sanft und vielleicht daslrmendste Geschpf, das es je gegeben hat. Den lieben langen Tag sang,pfiff, johlte, jauchzte, lachte er es war nervttend, zerstrerisch, uner-trglich. Eines Tages schlielich verlor ich die Geduld, lief wutentbranntzu meiner Mutter und sagte, Sandy habe eine geschlagene Stunde ohneUnterbrechung gesungen, ich knne es nicht lnger aushalten und siemge ihn bitte zum Schweigen bringen. Da traten ihr Trnen in die Au-gen, ihre Lippe zitterte, und sie sagte etwa Folgendes:

    Der arme Kerl, wenn er singt, heit das, dass er sich nicht erinnert,und das trstet mich; aber wenn er schweigt, frchte ich, dass ernachdenkt, und das kann ich nicht ertragen. Er wird seine Mutterniemals wiedersehen; wenn er singt, darf ich ihn nicht daran hindern,sondern muss dankbar dafr sein. Wenn du lter wrst, wrdest dumich verstehen; dann wrde dich der Lrm eines Kindes ohne Freundefroh stimmen.

    Es war eine schlichte Rede, und sie bestand nur aus kleinen Worten,aber sie traf den Kern, und Sandys Lrm beunruhigte mich nicht mehr.Meine Mutter machte nie groe Worte, hatte aber eine natrliche Beg-abung, mit kleinen Worten groe Wirkung zu erzielen. Sie ist fast neun-zig Jahre alt geworden und besa bis zuletzt eine schlagfertige Zunge besonders wenn eine Gemeinheit oder Ungerechtigkeit ihren Zorn er-regte. Mehrere Male kam sie mir in meinen Bchern zugute, wo sie alsTom Sawyers Tante Polly auftaucht. Ich stattete sie mit einem Dialekt

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  • aus und versuchte, mir noch andere Verbesserungen fr sie einfallen zulassen, konnte aber keine finden. Auch Sandy habe ich einmal verwen-det, und zwar in Tom Sawyer. Ich wollte, dass er darin einen Zaunstreicht, aber es gelang mir nicht. Ich kann mich nicht mehr erinnern,wie ich ihn in dem Buch genannt habe.

    Ich sehe die Farm noch vollkommen klar vor mir. Alle Habse-ligkeiten, alle Einzelheiten sehe ich: das Familienzimmer im Haus, miteinem Ausziehbett in der einen Ecke und einem Spinnrad in der anderen einem Rad, dessen schon von weitem zu hrendes an- und abschwel-lendes Klagen fr mich das schwermtigste aller Gerusche war, michheimwehkrank und trbsinnig machte und meine Umgebung mit denwandelnden Geistern der Toten erfllte; den riesigen Kamin, der in Win-ternchten mit lodernden Hickoryscheiten vollgeschichtet war, aus den-en ein zuckriger Saft austrat, der nicht umkam, weil wir ihn abkratztenund vertilgten; die trge Katze, die auf der unebenen Kaminplatte aus-gestreckt dalag; die schlfrigen Hunde, die sich blinzelnd an die Trp-fosten drckten; meine Tante, strickend in der einen Kaminecke, meinOnkel, seine Maiskolbenpfeife rauchend, in der anderen; den tep-pichlosen polierten Eichenholzfuboden, der die tanzenden Flammen-zungen reflektierte und dort, wo heie Kohlefunken gelandet und einesgemchlichen Todes gestorben waren, von schwarzen Markierungengetpfelt war; ein halbes Dutzend Kinder, die weiter hinten im Dmmer-licht umhertobten; hier und da Sthle mit holzgeflochtenem Sitz, einigedavon Schaukelsthle; eine Wiege auer Dienst, aber vertrauensvollwartend; in den kalten frhen Morgenstunden aneinandergeschmiegteKinder in Hemdchen und Leibchen, die die Kaminplatte belagerten undZeit schindeten sie brachten es nicht ber sich, ihr gemtlichesPltzchen zu verlassen, auf den windgepeitschten Gang zwischen Haus

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  • und Kche hinauszugehen, wo das Zinnwaschbecken fr allebereitstand.

    Vor dem vorderen Zaun verlief die Landstrae, im Sommer staubigund ein geeigneter Ort fr Schlangen dort lagen sie gern und sonntensich. Wenn es Klapperschlangen oder Puffottern waren, tteten wir sie;wenn es Schwarze Ratten- oder Schlanknattern waren oder wenn sie zurlegendren Schlammnatternart gehrten, flchteten wir ohne Scham;wenn es Hausschlangen oder Strumpfbandnattern waren, trugenwir sie nach Hause und legten sie als berraschung in Tante PatsysNhkorb, denn sie war voreingenommen gegenber Schlangen, und im-mer wenn sie den Korb auf den Scho nahm und welcheherauszukriechen begannen, verlor sie fast den Verstand. Sie schien sichnie an sie gewhnen zu knnen, obwohl sich ihr zahlreiche Gelegen-heiten boten. Auch fr Fledermuse war sie nicht zu erwrmen und kon-nte sie einfach nicht ertragen; dabei halte ich Fledermuse fr durchausfreundliche Vgel. Meine Mutter, Tante Patsys Schwester, war demsel-ben wilden Aberglauben verfallen. Eine Fledermaus ist wunderbar weichund seidig; ich kenne kein Geschpf, das sich angenehmer anfhlt oderdankbarer wre fr Liebkosungen, wenn man sie nur im richtigen Geistanbietet. Ich wei alles ber diese Coleoptera, weil unsere groe Hhledrei Meilen unterhalb von Hannibal von ihnen zahlreich bevlkert war,und oft brachte ich welche mit nach Hause, um meiner Mutter eineFreude zu machen. An Schultagen hatte ich leichtes Spiel, denn dannwar ich ja in der Schule gewesen und konnte keine Fledermuse herbei-geschafft haben. Sie war keine misstrauische Person, sondern voller Ver-trauen und Zuversicht; und wenn ich sagte: In meiner Manteltaschehab ich was fr dich, steckte sie die Hand hinein. Aber sie zog sie im-mer von selbst wieder heraus; ich brauchte sie nicht erst zu bitten. Eswar bemerkenswert, wie hartnckig sie sich weigerte, unsere

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  • Fledermuse zu mgen. Je mehr Erfahrungen sie mit ihnen machte,desto weniger vermochte sie ihre Einstellung zu ndern.

    Ich glaube, sie war kein einziges Mal in ihrem Leben in der Hhle,whrend alle anderen hingingen. Viele Ausflgler kamen aus betrcht-licher Entfernung stromab- und stromaufwrts, um die Hhle zu be-suchen. Sie erstreckte sich ber mehrere Meilen und stellte eine verwor-rene Wildnis aus tiefen Klften und schmalen Gngen dar. Man konntesich leicht verirren, jeder einschlielich der Fledermuse. Auch ichhabe mich darin verirrt zusammen mit einer Dame, und unsere letzteKerze war schon fast heruntergebrannt, bevor wir in der Ferne die um-hertanzenden Lichter der Suchmannschaft erblickten.

    Einmal hatte sich der Mischling Indianer Joe darin verirrt undwre verhungert, wenn der Vorrat an Fledermusen ausgegangen wre.Aber das war so gut wie unmglich; es gab eine Unmenge von ihnen. Erhat mir die Geschichte erzhlt. In dem Buch Tom Sawyer habe ich ihnschlielich verhungern lassen, doch das geschah im Interesse der Kunst;in Wirklichkeit kam es nicht so weit. General Gaines, unser ersterStadtsufer, bevor Jimmy Finn seinen Platz einnahm, war eine Wochelang darin verlorengegangen und steckte am Ende sein Taschentuchdurch das Loch einer Hgelspitze bei Saverton, mehrere Meilen strom-abwrts vom Eingang der Hhle, und jemand sah es und grub ihn aus.Die Geschichte stimmt bis auf das Detail mit dem Taschentuch. Ich kan-nte ihn jahrelang, und er besa gar keins. Aber vielleicht wars ja auchseine Nase. Die htte Aufmerksamkeit erregt.

    Die Hhle war ein gespenstischer Ort, denn sie barg einen Leichnam den Leichnam eines jungen Mdchens von vierzehn Jahren. Er befandsich in einem glsernen Zylinder, umhllt von einem kupfernen, undhing von einer Halterung herab, die einen schmalen Gang berspannte.Der Krper war in Alkohol eingelegt, und es hie, dass Nichtsnutze und

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  • Raufbolde ihn an den Haaren heraufzogen, um in das tote Gesicht zublicken. Das Mdchen war die Tochter eines Chirurgen von auerordent-lichen Fhigkeiten und hohem Ansehen aus St. Louis, einesExzentrikers, der viele seltsame Dinge vollfhrte. Er selbst hatte dasarme Mdchen an diesen verlassenen Ort gebracht.

    Er war nicht nur Chirurg, sondern auch praktischer Arzt, und in Fl-len, wo Arzneien allein nicht halfen, entwickelte er andere Heilmeth-oden. Einmal entzweite er sich mit einer Familie, deren Hausarzt er war,und danach zog sie ihn nicht mehr zu Rate. Aber es kam eine Zeit, da ernoch einmal gerufen wurde. Die Dame des Hauses war schwer krankund von ihren rzten bereits aufgegeben worden. Er trat ins Zimmer,blieb reglos stehen und besah sich die Szenerie. Er hatte seinen groenSchlapphut auf und einen Viertelmorgen Ingwerkuchen unter dem Arm,und whrend er sich gedankenvoll umschaute, brach er groe Stckevon seinem Kuchen ab, mampfte vor sich hin und lie die Krmel aufseine Brust und zu Boden rieseln. Die Frau lag blass und bewegungslosmit geschlossenen Augen da; um das Bett war die Familie gruppiert undschluchzte leise in der feierlichen Stille, einige stehend, andere kniend.Bald nahm der Arzt die Medizinflschchen zur Hand, beschnffelte sieverchtlich und schleuderte sie zum offenen Fenster hinaus. Als alleentsorgt waren, trat er ans Bett, legte der sterbenden Frau seinen Ing-werkuchen auf die Brust und sagte barsch:

    Was schluchzt ihr Idioten? Der Schwindlerin fehlt nichts. StreckenSie die Zunge heraus!

    Das Schluchzen verstummte, die verrgerte Trauerversammlungnderte ihr Verhalten und begann den Arzt fr sein grausames Betragenin dieser Kammer des Todes zu rgen, doch mit einer Explosion lster-licher Beschimpfungen unterbrach er sie und sagte:

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  • Eine Meute schniefender Hornochsen, glaubt ihr, ihr knnt michmein Handwerk lehren? Ich sage euch doch, der Frau fehlt nichts sieist nur trge. Was sie braucht, ist ein Beefsteak und eine Waschschssel.Mit ihrer verdammten gesellschaftlichen Dressur

    Da richtete sich die sterbende Frau im Bett auf, und ihre Augensprhten vor Kampfeslust. Sie schttete ihr ganzes gekrnktes Wesenber den Arzt aus ein Vulkanausbruch, begleitet von Blitz und Donner,Wirbelwinden und Erdbeben, Bimsstein und Asche. Es war genau dieReaktion, die er haben wollte, und sie wurde gesund. Das war der ver-storbene Dr. McDowell, dessen Name ein Jahrzehnt vor dem Br-gerkrieg im Tal des Mississippi so bekannt war und so hohes Ansehengenoss.

    Kapitel

    Hinter der Strae, auf der sich die Schlangen sonnten, begann ein dicht-es junges Dickicht, durch das eine Viertelmeile weit ein schwachbeleuchteter Pfad fhrte; aus dem Schummerlicht gelangte man un-versehens auf eine groe, ebene Prrie, die von wilden Erdbeerpflanzenbedeckt, mit Prrienelken berst und auf allen Seiten von Wldernumgeben war. Die Erdbeeren dufteten und schmeckten kstlich, und inder Erntezeit kamen wir meist schon in der khlen Frische des frhenMorgens an diese Stelle, wenn auf dem Gras noch die Tautropfen glitzer-ten und die Wlder vom Gesang der ersten Vgel widerhallten.

    Am Waldhang zur Linken hingen die Schaukelseile. Sie bestandenaus der Rinde junger Hickorystmme. Wenn sie zu trocken wurden, war-en sie gefhrlich. Gewhnlich rissen sie genau dann, wenn sich ein Kindzehn, fnfzehn Meter hoch in der Luft befand, und deshalb musstenjedes Jahr so viele Knochen zusammengeflickt werden. Ich selbst hatte

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  • nie Pech, aber von meinen Cousins kam keiner ungeschoren davon. Eswaren acht, und irgendwann hatten sie sich insgesamt vierzehn Armegebrochen. Immerhin verursachte es so gut wie keine Kosten, denn derArzt wurde jahrweise bezahlt $ 25 fr die ganze Familie. Ich erinneremich an zwei rzte in Florida, Chowning und Meredith. Nicht nur be-handelten sie eine ganze Familie fr $ 25 pro Jahr, sie versorgten sieauch mit Arzneien, und zwar grozgig. Nur die ausgewachsenste Per-son konnte eine volle Dosis verkraften. Das Hauptgetrnk war Rizinusl.Die Dosis betrug einen halben Schpflffel, dem ein halber SchpflffelNew-Orleans-Zuckerrohrsirup beigegeben wurde, damit man das l hin-untersplen konnte und damit es besser schmeckte, was es nicht tat. Dasnchste Hausmittel war Kalomel; danach Rhabarber; dann Kermesbeer-en. Anschlieend schrpfte man den Patienten und legte ihm Senfp-flaster auf. Es war ein schreckliches Regime, und doch war die Sterber-ate niedrig. Das Kalomel regte fast immer den Speichelfluss des Patien-ten an und kostete ihn einige Zhne. Zahnrzte gab es nicht. Wenn dieZhne von Karies befallen waren oder sonst wie schmerzten, gab es nureins: Der Arzt holte seine Zange und zog ihn heraus. Blieb der Kiefer un-versehrt, war das nicht sein Verdienst.

    Bei gewhnlichen Krankheiten wurde kein Arzt hinzugezogen, diebernahm die Gromutter der Familie. Jede alte Frau war eine rztin,sammelte in den Wldern ihre eigenen Arzneien und konnte Mittelchenmischen, die die lebenswichtigen Organe eines gusseisernen Hundeswach gerttelt htten. Und dann war da noch der indianische Medizin-mann: ein dunkler Wilder, Relikt seines Stammes, bestens bewandertin den Mysterien der Natur und den geheimen Eigenschaften vonKrutern. Die meisten Hinterwldler hatten groes Vertrauen in seineHeilkrfte und konnten von Wundern berichten, die er vollbracht hatte.Auf Mauritius, in der fernen Einsamkeit des Indischen Ozeans, gibt es

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  • jemanden, der unserem indianischen Medizinmann vergangener Zeitenentspricht. Er ist Neger und hat keine rztliche Ausbildung genossen,und doch gibt es eine Krankheit, deren er Herr geworden ist und die erheilen kann, whrend die rzte es nicht vermgen. Liegt ein Fall vor,schickt man nach ihm. Es handelt sich um eine sonderbare tdlicheKinderkrankheit, und der Neger heilt sie mit einer Krutermischung, dieer selbst herstellt, nach einem Rezept, das von seinem Vater und seinemGrovater auf ihn gekommen ist. Keinen anderen lsst er es sehen. DasGeheimnis der Bestandteile behlt er fr sich, und man frchtet, dass ersterben wird, ohne es je preisgegeben zu haben; dann wird Bestrzungherrschen auf Mauritius. 1896 haben mir die Leute dort davon erzhlt.

    Auch eine Gesundbeterin hatten wir in jenen frhen Tagen. IhrFachgebiet waren Zahnschmerzen. Sie war eine alte Farmersfrau undwohnte fnf Meilen von Hannibal entfernt. Sie legte dem Patienten dieHand an das Kinn und sprach: Vertraue!, und die Heilung erfolgteprompt. Mrs. Utterback. Ich kann mich noch gut an sie erinnern.Zweimal bin ich, hinter meiner Mutter auf dem Pferd sitzend, zu ihrgeritten und habe einer erfolgreichen Behandlung beigewohnt. Die Pa-tientin war meine Mutter.

    Wenig spter zog Dr. Meredith nach Hannibal und wurde unserHausarzt. Mehrere Male hat er mir das Leben gerettet. Trotzdem war erein redlicher Mann und meinte es gut. Lassen wirs dabei bewenden.

    Man hat mir immer gesagt, ich sei ein krnkliches, aufflliges, an-strengendes und launenhaftes Kind gewesen und htte whrend der er-sten sieben Jahre meines Lebens hauptschlich von den Mitteln derSchulmedizin gelebt. Ich fragte meine Mutter danach, als sie schon altwar im achtundachtzigsten Lebensjahr:

    Ich nehme an, du hast dir all die Zeit Sorgen um mich gemacht?Ja, die ganze Zeit.

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  • Aus Angst, ich wrde nicht berleben?Nach einer nachdenklichen Pause offenbar um sich die Tatsachen

    ins Gedchtnis zurckzurufen:Nein, aus Angst, du wrdest berleben.Es klingt wie ein Plagiat, aber vermutlich war es keins.Das Landschulhaus stand drei Meilen von der Farm meines Onkels

    entfernt auf einer Waldlichtung und bot Platz fr nahezu fnfundzwan-zig Jungen und Mdchen. Im Sommer besuchten wir die Schule ziemlichregelmig ein- oder zweimal die Woche; in der Khle des Morgensliefen wir die Waldwege hin und am Ende des Tages in der Dmmerungwieder zurck. Alle Schler brachten ihr Mittagessen in Krben mit Maiskndel, Buttermilch und andere Kstlichkeiten , setzten sich dam-it in den Schatten der Bume und verzehrten es. Dies ist der Teil meinerSchulbildung, auf den ich mit grter Zufriedenheit zurckblicke. Anmeinem ersten Schultag war ich sieben Jahre alt. Eine dralle Fn-fzehnjhrige, angetan mit herkmmlichem Sonnenhut und Kattunkleid,fragte mich, ob ich Tabak benutze sie meinte, ob ich Tabak kaue. Ichverneinte. Damit erntete ich ihren Hohn. Sie erstattete der ganzenGruppe Bericht und sagte:

    Hier ist ein Siebenjhriger, der keinen Tabak kauen kann.An den Blicken und den Bemerkungen, die dieser Satz hervorrief,

    merkte ich, dass ich ein Etwas niederer Art war; es beschmte michmalos, und ich beschloss, mich zu bessern. Aber ich erreichte nur, dassmir bel wurde; ich konnte das Tabakkauen einfach nicht erlernen.Tabak rauchen lernte ich recht gut, doch das stimmte niemanden ver-shnlich, und ich blieb ein armer Tropf ohne jeden Charakter. Ich sehntemich danach, respektiert zu werden, vermochte aber nicht aufzusteigen.Kinder haben nur wenig Verstndnis fr die Schwchen der anderen.

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  • Bis ich zwlf oder dreizehn war, hielt ich mich, wie gesagt, einen Teildes Jahres auf der Farm auf. Die Zeit, die ich mit meinen Cousins dortverbrachte, war voller Zauber, und so sind auch meine Erinnerungendaran. Ich kann mir das feierliche Zwielicht und das Geheimnis derWlder ins Gedchtnis rufen, den Geruch von Erde, den schwachen Duftder Wildblumen, den Schimmer von regennassem Laub, das Platschender Tropfen, wenn der Wind die Bume schttelte, das ferne Klopfen derSpechte und das gedmpfte Trommeln der Fasane in der Abgeschieden-heit des Waldes, den flchtigen Anblick aufgescheuchter wilderGeschpfe, die durchs Gras huschen all das kann ich mir ins Gedcht-nis rufen, bis es mir so wirklich und so gesegnet erscheint wie damals.Ich kann mir die Prrie ins Gedchtnis rufen, ihre Einsamkeit und ihrenFrieden, einen riesigen Habicht, der mit ausgebreiteten Schwingen re-glos am Himmel hing, und das Blau des Himmelsgewlbes, das sichdurch die Fransen der Flgelfedern zeigte. Ich sehe die Wlder in ihremHerbstkleid, die Eichen rtlich, die Hickorybume golden berzogen,Ahorne und Sumachs feuerrot leuchtend, und hre das Rascheln derabgefallenen Bltter, wenn wir hindurchstapften. Ich sehe die blauenTrauben der wilden Weinreben, die im Blattwerk der Schsslinge hin-gen, und erinnere mich an ihren Geschmack und an ihren Geruch. Ichwei noch, wie die wilden Brombeeren aussahen und schmeckten; dasGleiche gilt fr die Pawpaws, die Haselnsse und die Dattelpflaumen;und ich spre noch den prasselnden Regen aus Hickory- und Walnssenauf meinem Kopf, wenn wir im frostigen Morgengrauen unterwegs war-en, um uns mit den Schweinen um sie zu balgen, und die Windste sieschttelten und herunterrissen. Ich wei noch, wie hbsch die Fleckenwaren, die die Brombeeren hinterlieen, wie wenig sich die Flecken, diedie Walnussschalen hinterlieen, aus Seife und Wasser machten und wiewiderstrebend sie beides ber sich ergehen lieen. Ich kenne den

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  • Geschmack des Ahornsafts, wei, wann man ihn zapfen muss, wie mandie Trge und Bottiche aufstellt, den Saft einkocht und den gewonnenenZucker stibitzt; auch um wie viel besser stibitzter Zucker schmeckt alsehrlich ergatterter, was immer die Frmmler dazu meinen. Ich wei, wieeine vorzgliche Wassermelone aussieht, wenn sie zwischen Krbis-reben und Squashgemse ihr pralles Rund sonnt; ich wei, wie man fest-stellt, ob sie reif ist, ohne sie anzuschneiden; ich wei, wie einladend sieaussieht, wenn sie sich in einem Kbel Wasser unter dem Bett abkhltund wartet; ich wei, wie sie aussieht, wenn sie auf dem groengeschtzten Gang zwischen Haus und Kche auf dem Tisch liegt, wenndie Kinder sich um das Schlachtopfer drngen und ihnen das Wasser imMunde zusammenluft; ich wei noch das knackende Gerusch, das siemacht, wenn das Vorlegemesser an einem Ende hineinfhrt, und sehenoch vor mir, wie der Riss vor der Klinge entlangluft, wenn das Messersie bis zum anderen Ende spaltet; ich sehe noch, wie die Hlften ausein-anderfallen, das ppige rote Fruchtfleisch und die schwarzen Kernezutage treten und das Herz sich offenbart, ein Leckerbissen fr dieAuserwhlten; ich wei, wie ein Junge hinter einem meterlangen Stckdieser Melone aussieht, und wei, wie er sich fhlt, denn ich bin dabeigewesen. Ich kenne den Geschmack der ehrlich ergatterten Wassermel-one und den Geschmack der mit List ergaunerten Wassermelone. Beideschmecken gut, aber die Erfahrenen wissen, welche besser schmeckt. Ichkenne den Anblick der grnen pfel, Pfirsiche und Birnen an den Bu-men und wie unterhaltsam sie sind, wenn sie im Bauch eines Menschenrumoren. Ich wei, wie die reifen aussehen, wenn sie unter den Bumenzu Pyramiden gestapelt liegen, und wie hbsch sie sind und wieleuchtend ihre Farben. Ich wei, wie ein gefrorener Winterapfel in einerKiste im Fasskeller aussieht, wie schwer man hineinbeien kann, wieeinem vor Klte die Zhne weh tun und wie gut er trotz allem schmeckt.

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  • Ich kenne die Neigung lterer Leute, die fleckigen pfel den Kindern zugeben, und frher wusste ich, wie man sie mit ihren eigenen Waffenschlgt. Ich kenne den Anblick eines Apfels, der an einem Winterabendzischend auf dem Herd brt, und wei, wie trstlich es ist, ihn hei zuessen mit etwas Zucker und reichlich Sahne. Ich wei von der heiklenund geheimen Kunst, Hickorynsse und Walnsse auf einem Bgeleisenmit dem Hammer so aufzubrechen, dass die Kerne unversehrt bleiben,und wei, wie die Nsse in Verbindung mit Winterpfeln, Cider undDoughnuts die alten Geschichten und die alten Scherze der alten Leuteneu und kurzweilig und bezaubernd klingen lassen und den Abend ver-treiben, ehe man sichs versieht. Ich erinnere mich an den Anblick vonOnkel Danls Kche an ganz besonderen Abenden meiner Kindheit undsehe die um den Herd gescharten weien und schwarzen Kinder,whrend der Feuerschein auf ihren Gesichtern spielt und die Schattenan den Wnden in Richtung der hhlenartigen Dsternis des hinterenTeils zucken, und ich hre, wie Onkel Danl die unsterblichen Geschicht-en erzhlt, die Onkel Remus Harris bald darauf in seinem Buch versam-meln sollte, um die Welt damit zu begeistern; und ich spre die gruseligeFreude, die mich durchfuhr, wenn die Zeit gekommen war, um dieGespenstergeschichte vom Goldenen Arm zu hren und auch dasBedauern, das mich berfiel, denn sie war stets die letzte Geschichte desAbends, und danach kam nichts mehr auer dem unwillkommenen Bett.

    Ich erinnere mich an die nackte Holztreppe im Haus meines Onkels,an die Linkskurve am Treppenabsatz und an die Balken und die Dachs-chrge ber meinem Bett, an die Quadrate aus Mondschein auf demFuboden und an die weie kalte Schneewelt, die sich drauen vor demvorhanglosen Fenster bot. Ich erinnere mich an das Heulen des Windesund an das Beben des Hauses in strmischen Nchten, wie geborgenund behaglich man sich fhlte, wenn man lauschend unter den Decken

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  • lag, und wie der pulvrige Schnee durch die Fensterritzen hereinrieselteund sich in kleinen Hufchen auf dem Fuboden sammelte und dasZimmer am Morgen eisig kalt aussah und das ungestme Verlangenaufzustehen falls es berhaupt vorhanden war zgelte. Ich erinneremich, wie dster das Zimmer im Dunkel des Mondes war und wie ange-fllt mit gespenstischer Stille, wenn man mitten in der Nacht zufllig er-wachte und aus den geheimen Kammern der Erinnerung vergesseneSnden strmten und gehrt werden wollten; und wie schlecht gewhltdie Stunde fr derlei Geschfte schien; wie trostlos das Rufen der Euleund das Heulen des Wolfes waren, wehklagend vom Nachtwindherbergetragen.

    Ich erinnere mich an das Wten des Regens auf dem Dach in Som-mernchten und wie angenehm es war, dazuliegen, zu lauschen und sichber die weie Pracht der Blitze und das majesttische Drhnen undKrachen des Donners zu freuen. Es war ein uerst zufriedenstellendesZimmer; es gab einen Blitzableiter, den man vom Fenster aus erreichte,ein bezauberndes und flatterhaftes Ding, an dem man in Sommerncht-en hinab- und heraufklettern konnte, wenn Pflichten anfielen, dieUngestrtheit wnschenswert machten.

    Ich erinnere mich an die nchtlichen Waschbren- und Beutelratten-jagden mit den Negern, an die langen Mrsche durch die schwarze Fin-sternis der Wlder und an die Aufregung, die einen jeden befeuerte,wenn das ferne Gebell eines erfahrenen Hundes meldete, dass die Beuteauf einen Baum getrieben worden war; dann das wilde Gekraxel undGestolper durch Gestrpp und Gebsch und ber Wurzeln, um die Stellezu erreichen; danach das Anznden eines Feuers und das Fllen desBaumes, der Freudentaumel der Hunde und der Neger und die seltsameSzenerie, zu der sich das alles im roten Feuerschein fgte ich erinnere

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  • mich gut an all das und an das Vergngen, dass jeder Einzelne daranfand mit Ausnahme des Waschbren.

    Ich erinnere mich an die Taubenzeit, wenn die Vgel zu Millionenherbeigeflogen kamen, die Bume bedeckten und mit ihrem Gewicht dieZweige brachen. Sie wurden mit Stcken erschlagen; Feuerwaffen wur-den weder bentigt noch benutzt. Ich erinnere mich an die Eich-hrnchenjagden und an die Prriehhnerjagden und an dieTruthahnjagden und all das; wie wir morgens, wenn es noch dunkel war,aufstanden, um diese Expeditionen zu unternehmen, und wie kalt undtrbe es war und wie oft ich bedauerte, dass ich gesund genug war, ummitzumachen. Wenn das Blechhorn ertnte, kamen doppelt so vieleHunde angelaufen wie bentigt wurden, und in ihrer Frhlichkeit jagtenund tollten sie umher, stieen manch einen um und machten unentwegtberflssigen Lrm. Auf einen Befehl hin verschwanden sie in Richtungder Wlder, und wir stapften durch die schwermtige Dsternis stummhinter ihnen her. Doch bald darauf stahl sich das Morgengrauen ber dieWelt, die Vgel meldeten sich zu Wort, dann ging die Sonne auf undbergoss alles mit Licht und Trost, ein jedes Ding war taufrisch undduftig und das Leben wieder eine Wohltat. Nach dreistndigem Umher-streifen kehrten wir angenehm erschpft zurck, berladen mit Jag-dwild, ausgehungert und gerade rechtzeitig zum Frhstck.

    Kapitel

    Mein Onkel und seine groen Jungen jagten mit dem Gewehr, der Jng-ste und ich mit einer Schrotflinte einer kleinen einlufigen Schrot-flinte, die unserer Kraft und Gre angemessen war, nicht viel schwererals ein Besen. Wir trugen sie abwechselnd jeder immer eine halbeStunde. Ich war nicht in der Lage, damit etwas zu treffen, probierte es

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  • aber gern. Fred und ich jagten kleineres Wildgeflgel, die anderen jagtenRotwild, Eichhrnchen, wilde Truthhne und dergleichen. Jim und seinVater waren die besten Schtzen. Sie erlegten Habichte und Wildgnseund hnliche Tiere im Flug; Eichhrnchen verwundeten oder tteten sienicht, sie betubten sie. Wenn die Hunde ein Eichhrnchen auf einenBaum trieben, huschte es hinauf, sprang auf einen Ast und drckte sichflach dagegen in der Hoffnung, sich auf diese Weise unsichtbar zumachen was ihm aber nicht gelang. Man konnte seine abstehendenkleinen Ohren sehen. Seine Nase konnte man zwar nicht sehen, manwusste aber, wo sie sich befand. Dann erhob sich derjenige Jger, derseinem Gewehr keine Ruhe gnnen wollte, zielte lssig auf den Ast undversenkte eine Kugel direkt unterhalb der Nase des Eichhrnchens, undschon fiel das Tier herab, unverletzt, aber bewusstlos; die Hunde scht-telten es, es war tot. Manchmal, wenn die Entfernung zu gro und derWind nicht richtig berechnet war, durchschlug die Kugel den Kopf desEichhrnchens; dann durften die Hunde nach Belieben mit ihm ver-fahren der Jger sah sich in seinem Stolz verletzt und wollte es nicht inseine Jagdtasche stecken.

    Im ersten schwachen Grau des Morgens stolzierten in groen Her-den die wrdevollen Wildtruthhner umher, dazu aufgelegt, sich geselligzu zeigen und Einladungen zum Gesprch mit anderen Ausflglern ihrerArt zu erwidern. Der Jger verbarg sich und imitierte den Truthahnruf,indem er Luft einsog durch den Beinknochen eines Truthahns, der frh-er einmal einen derartigen Ruf beantwortet und gerade noch langegenug gelebt hatte, um ihn zu bereuen. Es gibt nichts, was so tuschendecht einen Truthahnruf hervorbringt wie dieser Knochen. Sehen Sie,wieder so eine Niedertracht der Natur; sie ist voll davon; meist wei sieschlichtweg nicht, was ihr lieber ist ihr Kind zu verraten oder es zubeschtzen. Im Fall des Truthahns ist sie vllig verwirrt: Sie schenkt ihm

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  • einen Knochen, der dazu genutzt werden kann, ihn in Schwierigkeiten zubringen, und sie stattet ihn mit einer List aus, sich aus den Schwi-erigkeiten wieder zu befreien. Wenn eine Putenmutter auf eine Ein-ladung antwortet und feststellt, dass es ein Fehler war, sie anzunehmen,tut sie dasselbe wie eine Rebhuhnmutter sie entsinnt sich einer frher-en Verabredung, tut so, als lahme sie, und luft hinkend und humpelnddavon; zugleich sagt sie zu ihren unsichtbaren Kindern: Haltet euchversteckt, rhrt euch nicht, zeigt euch nicht; ich bin zurck, sobald ichdiesen schbigen Schuft aus dem County vertrieben habe.

    Wenn jemand unwissend und vertrauensselig ist, kann diese unmor-alische Finte lstige Folgen haben. Eines Morgens folgte ich einer offen-bar lahmen Truthenne durch einen betrchtlichen Teil der VereinigtenStaaten, denn ich glaubte ihr und konnte mir nicht vorstellen, dass sieeinen kleinen Jungen tuschen wrde, noch dazu einen, der ihr ver-traute und sie fr ehrlich hielt. Ich hatte die einlufige Schrotflintedabei, wollte die Henne aber lebend fangen. Oft war ich ihr dicht auf denFersen, und dann strzte ich mich auf sie, aber immer, wenn ich denentscheidenden Sprung wagte und meine Hand dorthin ausstreckte, woeben noch ihr Hinterteil gewesen war, war es pltzlich nicht mehr da,sondern fnf oder sechs Zentimeter weiter, und wenn ich auf dem Bauchlandete, streifte ich gerade noch die Schwanzfedern eine knappeSache, aber doch nicht knapp genug; will sagen nicht knapp genug, umErfolg zu haben, aber knapp genug, um mir weiszumachen, dass ich esbeim nchsten Mal schaffen wrde. Sie wartete immer ein Stck weitervorn auf mich und tat so, als sei sie ganz erschpft und msse sich aus-ruhen, was eine Lge war, aber ich glaubte ihr, denn ich hielt sie nochimmer fr ehrlich, lange nachdem ich htte anfangen sollen, an ihr zuzweifeln, lange nachdem ich htte argwhnen sollen, dass sich einedelmtiger Vogel so nicht auffhrt. Ich folgte und folgte und folgte ihr,

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  • strzte mich in regelmigen Abstnden auf sie, stand auf, klopfte mirden Staub ab und nahm meine Reise mit geduldiger Zuversicht wiederauf, einer Zuversicht, die wuchs, denn an der Vernderung von Klimaund Vegetation konnte ich ablesen, dass wir in die Hhenlagen gerieten,und da sie nach jedem Sprung etwas erschpfter und etwas entmutigterwirkte, nahm ich an, dass ich am Ende als Sieger hervorgehen wrde,dass der Wettkampf nur eine Frage des Durchhaltevermgens wre undich ohnehin den Vorteil auf meiner Seite htte, weil sie lahmte.

    Im Laufe des Nachmittags begann auch ich zu ermden. Keiner vonuns beiden hatte gerastet, seit wir zu unserem Ausflug aufgebrochenwaren, was mehr als zehn Stunden zurcklag, auch wenn wir zuletztnach jedem Sprung eine Weile pausiert hatten. Ich tat so, als msste ichber etwas nachdenken, und sie tat so, als msste sie ber etwas anderesnachdenken, aber keiner von uns beiden war aufrichtig, und beide war-teten wir darauf, dass der andere das Spiel beendete, hatten es abernicht wirklich eilig damit, denn diese kurzen, flchtigen Ruhepausenwaren uns beiden sehr willkommen. Es kann gar nicht anders sein, wennman sich seit Tagesanbruch Scharmtzel liefert und in der Zwischenzeitkeinen Bissen zu sich nimmt; wenigstens ich nicht, denn manchmal,wenn sie auf der Seite lag, sich mit einem Flgel zufchelte und um dieKraft betete, aus dieser Schwierigkeit herauszufinden, kam zufllig einGrashpfer vorbei, dessen Zeit gekommen war, und das war gut fr sieund gnstig, aber ich hatte nichts den ganzen Tag lang nichts.

    Als ich schon sehr mde war, gab ich mein Vorhaben, sie lebend zufangen, mehr als einmal auf und wollte sie schieen, doch ich tat esnicht, obwohl es mein Recht war, denn ich glaubte nicht daran, sie zutreffen; auerdem hielt sie jedes Mal, wenn ich die Flinte hob, inne undposierte, und das stimmte mich argwhnisch. Vielleicht wusste sie

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  • Bescheid ber mich und meine Treffsicherheit, und mir lag nicht daran,mich irgendwelchen Bemerkungen auszusetzen.

    Ich bekam sie nicht zu fassen. Als sie das Spiel schlielich leid war,hob sie fast unter meiner Hand ab, flog schwirrend und sirrend wie eineGranate in die Hhe, landete auf dem hchsten Ast eines groenBaumes, lie sich dort nieder, schlug die Beine bereinander und blicktelchelnd auf mich herab. Sie schien zufrieden, mich so verblfft zusehen.

    Ich war beschmt, und ich hatte mich verlaufen; als ich abersuchend durch die Wlder irrte, stie ich auf eine verlassene Blockhtteund fand dort eine der besten Mahlzeiten vor, die ich mein Lebtag zumir genommen habe. Der unkrautberwucherte Garten war voll reiferTomaten, und diese verschlang ich gierig, obwohl ich bis dahin nicht vielfr sie briggehabt hatte. Seither ist mir nicht fter als zwei-, dreimal et-was untergekommen, was so kstlich war wie diese Tomaten. Ich a siemir ber und probierte erst in meinen mittleren Jahren wieder welche.Inzwischen kann ich sie zwar essen, mag aber ihren Anblick nicht. Ichvermute, wir alle haben uns irgendwann schon einmal an etwas ber-gessen. Ein andermal, unter dem Druck der Umstnde, verspeiste ichnahezu ein ganzes Fass Sardinen, da nichts anderes zur Hand war, dochseitdem ist es mir gelungen, ohne Sardinen auszukommen.

    Der jngste Versuch

    1904 in Florenz schlielich verfiel ich auf die richtige Art, eine Autobio-graphie zu schreiben: Beginne an einem beliebigen Zeitpunkt deinesLebens; durchwandre dein Leben, wie du lustig bist; rede nur ber das,was dich im Augenblick interessiert, lass das Thema fallen, sobald dein

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  • Interesse zu erlahmen droht; und bring das Gesprch auf die neuere undinteressantere Sache, die sich dir inzwischen aufgedrngt hat.

    Mach auerdem aus der Erzhlung eine Kombination von Autobio-graphie und Tagebuch. Auf diese Weise erreichst du, dass die anschau-lichen Dinge der Gegenwart mit Erinnerungen an hnliche Dinge ausder Vergangenheit kontrastiert werden, und solche Kontraste besitzeneinen ganz eigenen Reiz. Eine Kombination von Tagebuch und Autobio-graphie interessant zu machen, dazu braucht es kein Talent.

    Und so habe ich den richtigen Plan gefunden. Er macht meine Arbeitzu einem Vergngen zu einem reinen Vergngen, einem Spiel, einemZeitvertreib, und das ganz und gar mhelos. Zum ersten Mal in derGeschichte ist jemand auf den richtigen Plan verfallen.

    Der endgltige (und richtige) Plan

    Ich werde einen Text verfassen, der der Autobiographie vorausgehensoll; ebenso ein Vorwort, das besagtem Text folgen soll.

    Was fr einen winzig kleinen Bruchteil des Lebens machen die Tatenund Worte eines Menschen aus! Sein wirkliches Leben findet in seinemKopf statt und ist niemandem bekannt auer ihm. Den ganzen Tag undjeden Tag mahlt die Mhle seines Hirns, und seine Gedanken (die nichtsanderes als die stumme Artikulierung seiner Gefhle sind) sind seineGeschichte, nicht jene anderen Dinge. Seine Taten und seine Worte sindlediglich die sichtbare dnne Kruste seiner Welt mit ihren vereinzeltenSchneegipfeln und ihren leeren Wasserwsten, und die machen einen sounbedeutenden Teil seiner Masse aus! eine bloe Haut, die sie um-hllt. Seine Masse ist verborgen sie und ihre vulkanischen Feuer, diewten und brodeln und niemals ruhen, nicht bei Tag und nicht bei

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  • Nacht. Diese sind sein Leben, sie sind nicht aufgezeichnet und knnenauch nicht aufgezeichnet werden. Jeder Tag wrde ein ganzes Buch mitachtzigtausend Wrtern fllen dreihundertfnfundsechzig Bcher imJahr. Biographien sind nur die Kleider und Knpfe des Menschen dieBiographie des Menschen kann nicht geschrieben werden.

    Vorwort. Wie aus dem Grab

    I

    In dieser Autobiographie werde ich stets im Hinterkopf behalten, dassich aus dem Grab spreche. Ich spreche buchstblich aus dem Grab, dennwenn das Buch aus der Druckerpresse kommt, werde ich tot sein. Jeden-falls werden um genau zu sein neunzehn Zwanzigstel des Bucheserst nach meinem Tod in Druck gehen.

    Aus gutem Grund spreche ich aus dem Grab statt mit lebendigerZunge: So kann ich frei reden. Wenn ein Mann ein Buch schreibt, dassich mit seinem Privatleben befasst ein Buch, das gelesen werden soll,whrend er noch am Leben ist , scheut er davor zurck, seine Meinungganz freimtig zu uern; alle seine Versuche, dies zu tun, schlagen fehl,und er erkennt, dass er etwas probiert, was einem Menschen ganz undgar unmglich ist. Das aufrichtigste, offenste und privateste Produkt desmenschlichen Verstandes und Herzens ist ein Liebesbrief; der Schreiberbezieht seine grenzenlose Freiheit der uerung und des Ausdrucks ausdem Gefhl, dass kein Fremder je sehen wird, was er da schreibt.Manchmal wird dieses Versprechen irgendwann gebrochen; und wenner seinen Brief gedruckt sieht, ist ihm uerst unbehaglich zumute, under erkennt, dass er sich niemals mit demselben Ma an Aufrichtigkeit of-fenbart htte, htte er gewusst, dass er fr die ffentlichkeit schreibt. Er

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  • kann in dem Brief nichts finden, was nicht wahr, aufrichtig und ehren-wert wre, dennoch wre er weit zurckhaltender gewesen, wenn ergewusst htte, dass er fr den Druck schreibt.

    Mir schien, ich knnte so frank und frei und schamlos wie einLiebesbrief sein, wenn ich wsste, dass das, was ich schreibe, niemandzu Gesicht bekommt, bis ich tot und nichtsahnend und gleichgltig bin.

    II

    Meine Herausgeber, Erben und Rechtsnachfolger sind hiermit angew-iesen, in der ersten Auflage smtliche Charakterisierungen von Freun-den und Feinden auszulassen, die die Gefhle der charakterisierten Per-sonen oder ihrer Familien und Verwandten krnken knnten. DiesesBuch ist kein Rachefeldzug. Wenn ich unter jemandem ein Feuer an-znde, dann nicht nur wegen des Vergngens, das es mir bereitet, diesenMenschen braten zu sehen, sondern weil er die Mhe lohnt. Es handeltsich also um ein Kompliment, eine Auszeichnung; mge er es mirdanken und den Mund halten. Die Kleinen, die Gemeinen, die Unwrdi-gen brate ich nicht.

    In der ersten, zweiten, dritten und vierten Auflage mssen alle ver-nnftigen Meinungsuerungen ausgelassen werden. In einem Jahrhun-dert mag es einen Markt fr derartige Waren geben. Es besteht keineEile. Warten wirs ab.

    III

    Die Auflagen sollten im Abstand von fnfundzwanzig Jahren erscheinen.Viele Dinge, die in der ersten ausgelassen werden mssen, werden frdie zweite geeignet sein; viele Dinge, die in beiden ausgelassen werden

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  • mssen, werden fr die dritte geeignet sein; in der vierten oder zu-mindest der fnften kann die ganze Autobiographie ungekrzterscheinen.

    Mark Twain

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  • [Florentiner Diktate]Hier beginnen die Florentiner Diktate

    [John Hay]

    Florenz, Italien, 31. Januar 1904Vor einem Vierteljahrhundert besuchte ich John Hay, den heutigen

    Auenminister, in New York, und zwar in Whitelaw Reids Haus, das Hayeinige Monate lang bewohnte, whrend Reid in Europa Ferien machte.Hay gab, ebenfalls vorbergehend, Reids Zeitung heraus, die New YorkTribune. Zwei Vorflle von jenem Sonntag sind mir besonders gut inErinnerung geblieben, und ich glaube, ich werde sie hier verwenden, umetwas zu veranschaulichen, was mir am Herzen liegt. Einer der Vorflleist nebenschlich, und ich wei kaum, weshalb er sich so viele Jahre inmeinem Kopf festgesetzt hat. Ich muss ihn mit ein, zwei Worten ein-leiten. Ich kannte John Hay schon viele Jahre. Ich kannte ihn, als ernoch ein unbedeutender junger Leitartikler fr die Tribune zur Zeit Hor-ace Greeleys war und das Drei- oder Vierfache des Gehalts verdienthtte, das er bezog, wenn man die Qualitt der Arbeiten bedenkt, dieseiner Feder entstammten. In jener Anfangszeit war er ein Bild voneinem Mann: schne Gesichtszge, vollendete Gestalt, anmutige Krper-haltung und Bewegung. Er verstrmte einen Charme, der mir, dem un-wissenden und unerfahrenen Westst