türkische juden in deutschland - anne frank zentrum...opfer der ns-judenverfolgung kontakte zu...

6
1 Leon Veissid > Schwerpunktthemen > Türkische Juden in Deutschland Während der Zeit der Weimarer Republik lebten im Deutschen Reich etwa 700 türkische Juden, die große Mehrheit in Berlin. In Hamburg existierte bereits seit dem 16. Jahrhundert eine bedeutende sephardische Gemeinde. Auch die Städte Chemnitz, Frankfurt, Köln, Mannheim, München, und Stuttgart waren ein Lebensmittelpunkt für viele Juden aus dem Osmanischen Reich beziehungsweise aus der Türkei. Selbst in kleineren Städten wie Wernigerode im Harz lebten in der Zwischenkriegszeit Einige. Sepharden sind Juden, deren Vorfahren einst auf der Iberischen Halbinsel lebten. Nach ihrer Vertreibung im 15. und 16. Jahrhundert siedelten sie zum großen Teil im Osmanischen Reich an. Eine dieser Familien war die Familie Veissid. Sie lebten in Konstantinopel, bis sie 1903 entschieden, nach Berlin auszuwandern. Schon 1905 hatten einige sephardische Kaufleute den »Israelitisch- Sephardischen Verein zu Berlin« gegründet. Während und nach dem Ersten Weltkrieg zogen weitere Juden aus der Türkei nach Berlin. Die Gemeinde wuchs. Anfang der Zwanzigerjahre gehörten etwa 150 Familien dem sephardischen Verein an, der auch als sozialer Treffpunkt fungierte. Die türkisch-sephardische Gemeinde in Berlin bildete damals die größte sephardische Gemeinde in Deutschland. Zu den Gründern der türkisch-jüdischen Gemeinde gehörten zahlreiche bekannte Teppichhändler. Die meisten von ihnen stammten aus Konstantinopel. Als Teppiche Ende des 19. Jahrhunderts Teil der bürgerlichen deutschen Wohnkultur wurden, boomte der Teppichhandel. Von 1894 bis 1912 stieg die Einfuhr von Orientteppichen aus dem Osmanischen Reich um das 900-fache. Auch in Hamburg und München existierten bekannte, von türkischen Juden geführte Teppichhäuser. Das Teppichgeschäft bot einer ganzen Zahl von ärmeren Juden aus der Türkei Arbeit, zum Beispiel als Teppichstopfer und Teppichreiniger. Leon Veissid Schwerpunktthemen Türkische Juden in Deutschland Die Konferenz von Evian Türkische Juden in Deutschland www.annefrank.de/mensch Sephardische Synagoge in Berlin Tiergarten Eigene Gemeindestrukturen Typische Berufe

Upload: others

Post on 05-Jul-2020

6 views

Category:

Documents


1 download

TRANSCRIPT

Page 1: Türkische Juden in Deutschland - Anne Frank Zentrum...Opfer der NS-Judenverfolgung Kontakte zu nicht-jüdischen Türken Einige Ritualgegenstände der jüdischen Religion Leon Veissid

1Leon Veissid > Schwerpunktthemen > Türkische Juden in Deutschland

Während der Zeit der Weimarer Republik lebten im Deutschen Reich etwa 700 türkische Juden, die große Mehrheit in Berlin. In Hamburg existierte bereits seit dem 16. Jahrhundert eine bedeutende sephardische Gemeinde.

Auch die Städte Chemnitz, Frankfurt, Köln, Mannheim, München, und Stuttgart waren ein Lebensmittelpunkt für viele Juden aus dem Osmanischen Reich beziehungsweise aus der Türkei. Selbst in kleineren Städten wie Wernigerode im Harz lebten in der Zwischenkriegszeit Einige.

Sepharden sind Juden, deren Vorfahren einst auf der Iberischen Halbinsel lebten. Nach ihrer Vertreibung im 15. und 16. Jahrhundert siedelten sie zum großen Teil im Osmanischen Reich an. Eine dieser Familien war die Familie Veissid. Sie lebten in Konstantinopel, bis sie 1903 entschieden, nach Berlin auszuwandern.

Schon 1905 hatten einige sephardische Kaufleute den »Israelitisch-Sephardischen Verein zu Berlin« gegründet. Während und nach dem Ersten Weltkrieg zogen weitere Juden aus der Türkei nach Berlin. Die Gemeinde wuchs. Anfang der Zwanzigerjahre gehörten etwa 150 Familien dem sephardischen Verein an, der auch als sozialer Treffpunkt fungierte. Die türkisch-sephardische Gemeinde in Berlin bildete damals die größte sephardische Gemeinde in Deutschland.

Zu den Gründern der türkisch-jüdischen Gemeinde gehörten zahlreiche bekannte Teppichhändler. Die meisten von ihnen stammten aus Konstantinopel. Als Teppiche Ende des 19. Jahrhunderts Teil der bürgerlichen deutschen Wohnkultur wurden, boomte der Teppichhandel. Von 1894 bis 1912 stieg die Einfuhr von Orientteppichen aus dem Osmanischen Reich um das 900-fache. Auch in Hamburg und München existierten bekannte, von türkischen Juden geführte Teppichhäuser. Das Teppichgeschäft bot einer ganzen Zahl von ärmeren Juden aus der Türkei Arbeit, zum Beispiel als Teppichstopfer und Teppichreiniger.

Leon Veissid

SchwerpunktthemenTürkische Juden in Deutschland Die Konferenz von Evian

Türkische Juden in Deutschland

www.annefrank.de/mensch

Sephardische Synagoge in Berlin Tiergarten

Eigene Gemeindestrukturen

Typische Berufe

Page 2: Türkische Juden in Deutschland - Anne Frank Zentrum...Opfer der NS-Judenverfolgung Kontakte zu nicht-jüdischen Türken Einige Ritualgegenstände der jüdischen Religion Leon Veissid

2Leon Veissid > Schwerpunktthemen > Türkische Juden in Deutschland

Auch im Tabakhandel und in der Zigarettenproduktion, die zur gleichen Zeit einen enormen Aufschwung erlebten, waren türkische Juden aktiv. Die Türkei war einer der Hauptlieferanten von Rohtabak für Deutschland. Auch die Einfuhr landwirtschaftlicher Güter bot orientalischen Juden Chancen, zum Beispiel der Import von Trockenfrüchten, Nüssen und Fellen.

Durch Firmenakten, Geschäftsanzeigen und andere Quellen haben wir deutlich mehr Informationen über wohlhabende türkische Juden als über ärmere. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Mehrheit der türkischen Juden reich war. Im Gegenteil: Aus Frankreich, Belgien und Italien wissen wir, dass sich die Mehrheit der türkisch-jüdischen Immigranten als einfache Arbeiter oder Straßenhändler durchschlug.

Türkisch-jüdische Geschäftsleute aus dem Kreis des Israelitisch-Sephardischen Vereins gehörten gleichfalls zu den Gründern und aktiven Mitgliedern der Türkischen Handelskammer für Deutschland. Sie wurde im Dezember 1927 gegründet und hatte ihren Sitz am Lützowufer, in unmittelbarer Nähe des sephardischen Vereins.

Privat unterhielten einige der türkischen Juden enge Verbindungen zu türkischen Vertretern aus dem Umfeld der Botschaft. Andere besuchten den türkischen Club. Der Teppichhändler Albert Aflandary schmückte das Fenster seines Ladens mit Halbmond und Stern, den Symbolen der türkischen Flagge. Dies tat auch Leon Veissid. Davisco Asriel trug eine kleine Anstecknadel mit der türkischen Fahne.

Nachdem die Nationalsozialisten 1933 die Regierung übernommen hatten, wurden auch die türkischen Juden von ihnen verfolgt. Mit Boykottaktionen, Berufsverboten und immer weiteren Beschränkungen und Verboten grenzten die Nazis die Juden aus der Gesellschaft aus. Sie nahmen ihnen nach und nach jede Lebensgrundlage. Die Situation der türkischen Juden war widersprüchlich. Als Ausländer unterlagen sie einer Reihe diskriminierender Beschränkungen durch das Ausländerrecht. Durch das Zusammenwirken von antijüdischer und Ausländergesetzge-bung waren sie folglich in besonderem Maße benachteiligt. Hingegen konnten sie teilweise von ihrem Status als Ausländer profitieren, da sie als türkische Staatsangehörige einem rechtlichen Schutz unterstanden. Der Rechtsschutz war durch internationale und bilaterale Abkommen – zum Beispiel durch den deutsch-türkischen Niederlassungsver-trag – garantiert.

Allerdings entzog die Türkei während der 30er und 40er Jahre den meisten der im Ausland lebenden türkischen Juden die Staatsangehörigkeit. Sie galten nun als »staatenlos«. Als Staatenlose hatten sie keine Fluchtmöglichkeit in ein anderes Land. Allein aus Berlin wurden mehr als hundert türkische Juden von den Nazis in Todeslager deportiert und ermordet.

Opfer der NS-Judenverfolgung

Kontakte zu nicht-jüdischen Türken

Einige Ritualgegenstände der jüdischen Religion

Page 3: Türkische Juden in Deutschland - Anne Frank Zentrum...Opfer der NS-Judenverfolgung Kontakte zu nicht-jüdischen Türken Einige Ritualgegenstände der jüdischen Religion Leon Veissid

3Leon Veissid > Schwerpunktthemen > Die Konferenz von Evian

Seit der Regierungsübernahme der NSDAP Ende Januar 1933 wurden jüdische Menschen in Deutschland Schritt für Schritt ihrer sämtlichen Rechte beraubt und aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Allein zwischen 1933 und 1937 traten 135 antijüdische Gesetze in Kraft. Als Folge dessen verließen schon 1933 etwa 35.000 Juden Deutschland, auch in den folgenden Jahren waren es jeweils etwa 20.000. Viele Juden klammerten sich zunächst an die Hoffnung, dass sich die Situation wieder beruhigen würde. Deutschland war ihr Heimatland, sie waren hier aufgewachsen, Deutsch war ihre Muttersprache; ihr Besitz, ihre Freunde, ihre Umgebung waren hier. Schließlich mussten sie feststellen, dass sich die Situation keineswegs »beruhigte«, sondern immer schlimmer wurde.

Doch je schlimmer die Unterdrückung und je größer die Zahl der betroffenen Juden wurde, umso schwieriger wurde es für sie, ein Fluchtland zu finden. Immer mehr Staaten erließen Einreiseverbote, sperrten ihre Grenzen, internierten bereits eingereiste Flüchtlinge in Lagern oder schoben sie über die Grenze ins nächste Land ab. Die von den Nazis verhängten Arbeitsverbote für Juden und weitere Maßnahmen zu ihrer Enteignung führten zur Verarmung der meisten Juden, die in Deutschland geblieben waren. Laut einer Verordnung vom Juni 1938 durften sie bei der Ausreise aus Deutschland nur noch Bargeld in Höhe von zehn Reichsmark mitnehmen. Auch dies machte es immer schwerer, ein Aufnahmeland zu finden, da kein Land bereit war, mittellose Flüchtlinge aufzunehmen.

Vor diesem Hintergrund regte der US-Präsident Franklin D. Roosevelt eine internationale Tagung an. Auf ihr sollte erörtert werden, wie jüdischen Flüchtlingen geholfen werden konnte. Vom 6. bis 15. Juli 1938 berieten sich Delegierte aus 32 Ländern und Vertreter dutzender jüdischer Hilfsorganisati-onen im französischen Kurort Evian. Doch die Vertreter sämtlicher Länder – mit Ausnahme der Dominikanischen Republik – trugen wortreiche Begründungen vor, warum ihr Staat nicht in der Lage sei, weitere Verfolgte aufzunehmen. Die Konferenz war ein beschämendes Zeugnis von Desinteresse und Ignoranz gegenüber der Not der Menschen.

Verzweifelt versuchten die Juden, auf legalen oder illegalen Wegen aus Deutschland zu fliehen. Die meisten der jüdischen Deutschen waren erst in die unmittelbaren Nachbarländer geflohen. Nachdem Nazi-Deutschland diese überfallen und besetzt hatte, boten auch sie keinen sicheren Schutz mehr. Viele emigrierten daher nach Übersee.

Die Konferenz von Evian

Die Konferenz von Evian

Flucht ins Niemandsland

Jüdische Emigration und Flucht aus dem Dritten Reich

Der amerikanische Abgesandte Myron Taylor wirbt für die Gründung eines internationalen

Komitees, um die Emigration von Juden zu ermöglichen.

Page 4: Türkische Juden in Deutschland - Anne Frank Zentrum...Opfer der NS-Judenverfolgung Kontakte zu nicht-jüdischen Türken Einige Ritualgegenstände der jüdischen Religion Leon Veissid

4Leon Veissid > Schwerpunktthemen > Die Konferenz von Evian

Wochenlang standen sie vor Konsulaten lateinamerikanischer Länder, um ein Visum für irgendein Land in Übersee zu bekommen. Sie bezahlten oft ihr letztes Geld für eine Schiffspassage, bei der häufig nicht einmal feststand, ob und wo die Passagiere an Land gehen konnten.

Das bekannteste Beispiel eines solchen Schiffes, das mit jüdischen Flüchtlingen im Niemandsland zwischen verschiedenen Staaten hin- und herfuhr, ist die St. Louis. Leon Veissid war kurz vor der St. Louis mit einem anderen Schiff in Havanna angekommen. Die Familie Veissid durfte aufgrund ihrer türkischen Pässe einreisen. Leon Veissid erlebte kurz darauf, wie mit den Flüchtlingen der St. Louis umgegangen wurde.

Mehr als 900 jüdische Flüchtlinge verließen am 13. Mai 1939 an Bord der St. Louis den Hamburger Hafen. Doch ihre Reise wird zu einer Irrfahrt. Als das Schiff am 27. Mai in Havanna ankommt, verweigert ihnen die kubanische Regierung die Einreise. Nur 29 Passagiere dürfen an Land gehen, die Visa der übrigen Passagiere werden von der Regierung nicht anerkannt.

Eine Woche lang ankert das Schiff vor dem Hafen in Havanna, während der Kapitän und Vertreter jüdischer Hilfsorganisationen mit der kubanischen Regierung verhandeln, um doch noch eine Einreisegenehmigung für die Passagiere zu erwirken. Auch die US-Regierung verweigert den Flüchtlingen die Aufnahme. Die Reederei in Hamburg ordnet die Rückkehr des Schiffes nach Hamburg an.

Die Passagiere an Bord sind verzweifelt und unter keinen Umständen bereit, nach Deutschland zurückzukehren. Eine große Anzahl der Flüchtlinge kündigt einen kollektiven Selbstmord an, sollte das Schiff sie nach Deutschland zurückbringen. Aufgrund der verzweifelten Petitionen der Flüchtlinge gewähren Belgien, Holland, Frankreich und England ihnen schließlich Aufnahme. Die Passagiere können am 17. Juni in Antwerpen (Belgien) von Bord gehen. Eine trügerische Sicherheit. Ein knappes Jahr später

Die Irrfahrt der St. Louis

Die St. Louis im Hafen von Havanna im Juni 1939

Page 5: Türkische Juden in Deutschland - Anne Frank Zentrum...Opfer der NS-Judenverfolgung Kontakte zu nicht-jüdischen Türken Einige Ritualgegenstände der jüdischen Religion Leon Veissid

5Leon Veissid > Schwerpunktthemen > Die Konferenz von Evian

überfällt NS-Deutschland die westlichen Nachbarstaaten. Fast die Hälfte der ehemaligen St.-Louis-Passagiere kommt in den Konzentrationslagern von Auschwitz, Sobibor und Bergen-Belsen ums Leben.

Hintergrund für die massenhafte Emigration waren die Verbote und Schikanen und Abwertungen, mit denen jüdische Menschen täglich konfrontiert waren. Naziorganisationen wie die SA organisierten Boykottaktionen vor jüdischen Läden, Juden wird die Ausübung zahlreicher Berufe untersagt, jüdische Jugendliche aus Schulen und Universitäten gedrängt, immer neue Verbote folgen: das Baden im Freibad, die Benutzung von Fahrrädern, das Halten von Haustieren, der Besitz von Radios, der Besuch von Kinos, die Benutzung von Bussen, das Sitzen auf Parkbänken und noch viele mehr. Eheschließungen und Liebesbeziehungen zwischen Juden und Nichtjuden wurden verboten. Sportvereine und Kegelklubs schließen ihre jüdischen Mitglieder aus. An Ortseinfahrten, Parks und Gaststätten hängen Schilder, die Juden den Zutritt untersagten. Die gesetzlichen und bürokratischen Verbote wurden ergänzt durch Hänseleien, Schikanen und tätliche Angriffe seitens der meisten nichtjüdischen Deutschen, oft sogar der Nachbarn oder (ehemaligen) Kollegen.

Im März 1938 marschiert die deutsche Wehrmacht, begleitet von SS und Polizei, in Österreich ein. Österreich wird Teil des Deutschen Reiches. Der Einmarsch der Deutschen in Wien wird begleitet von brutalen Misshandlungen der jüdischen Bevölkerung: Sie wurden von ihren Nachbarn verprügelt, mussten mit Zahnbürsten die Straßen reinigen oder die Plünderung ihrer Läden mit ansehen. Hunderte begehen Selbstmord.

Fortan gelten die antisemitischen Bestimmungen auch für die in Österreich lebenden Juden. Auch andere Staaten, wie Italien und Rumänien, erlassen antijüdische Gesetze.

Gründe für die jüdische Massenemigration aus Deutschland

Page 6: Türkische Juden in Deutschland - Anne Frank Zentrum...Opfer der NS-Judenverfolgung Kontakte zu nicht-jüdischen Türken Einige Ritualgegenstände der jüdischen Religion Leon Veissid

Impressum

Herausgeber:Anne Frank ZentrumRosenthaler Str. 39, 10178 BerlinTelefon: 030/2888 656-00Fax: 030/2888 656-01E-Mail: [email protected]: www.annefrank.de© Anne Frank Zentrum, Dezember 2012

Das vollständige Impressum finden Sie auf der Website zum Projekt: www.annefrank.de/mensch