suizid tutorium: medizinische psychologie frank weiss-motz ws 2004/05
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Suizid
Tutorium: Medizinische PsychologieFrank Weiss-Motz
WS 2004/05
Einführung
„Warum bringe ich mich nicht um?“ Beschäftigt die meisten Menschen in ihrem Leben
Suizid in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich bewertet (größte Freiheit vs. größte psych. Einengung, Schuld/Sünde in Religionen)
Religion: Koran/Talmud: Verbot des Suizids, Bibel: keine Verurteilung des Suizids aber kath. Kirche!
Suizidalität in allen Völkern vorhanden
Geschichte des Suizids
Medizin: Suizid als Melancholiesymptom
Seit Mitte 19.Jh: Suizid therapierbar: ESQUIROL, 1838:“Der Selbstmord bietet alle Merkmale der Geisteskrankheit.“Therapie: familiäres Milieu, Selbstwertgefühl stützende Psychotherapie, freiheitliche Behandlung
DURKHEIM,1897: „Der Selbstmord“: soziologisch-epidemiologische Suizidologie
Seit 70er Jahre: neurobiochemische Suizidforschung
Heute: multifaktorielle Bedingtheit der Suizidalität: psychische, soziologische, biologische, spirituell-religiöse Aspekte
Begriffe
Suizidgedanken/geäußerter Suizid Suizidversuch Vollendeter Suizid Erweiterter Suizid/ Doppelsuizid/Massensuizid Chronische Suizidalität (unscharf definiert, häufige suizidale Krisen) Erhöhtes Suizidrisiko (bezogen auf Allgemeinbevölkerung, z.B.
Depressive) Selbstmord: diskriminierende Konnotation Gruppen von Personen die Suizid begehen
Todessuchende Todesinitiatoren Todesverächter Todesherausforderer
Methoden
Harte Erhängen, Erschießen, Sturz In westlicher Gesellschaft eher von Männern bevorzugt
Weiche Vergiften, Medikamenteneinnahme Höhere Überlebenschance In westlicher Gesellschaft eher von Frauen bevorzugt
Art des Suizids bzw. Suizidversuchs (Pajonk et. al., 2001)
Tabletten/Medikamente 51% Alkoholintoxikation 16% Erhängen/Strangulation 16% Pulsadereröffnung 15% Drogen/BTM 5% Sprung von Bauwerk 4% sonstige Intoxikation 3% Schusswaffen 3% KFZ-Abgase 2% Stromschlag 1% unbekannt 1%
Epidemiologie
Suizidrate in BRD bis 80er J: 45/100 000 Allgemeinbevölkerung Dannach absinken der Quote Suizidrate der Männer > als Frauen Suizidversuche Frauen > Männer >60J. rapider Anstieg der Suizidrate, Höhepunkt um 80J. Hohe Dunkelziffer bei S-Versuchen, da nicht meldepflichtig Suizidversuche 2x so häufig bei jüngeren Frauen wie bei jungen
Männern Suizidideen bei 30 % der Heranwachsenden (grobe Schätzung)
Epidemiologie
Suizid und klinische Gruppen (Studie, 1992) Primäre Depression: 66% (Lebenszeitrisiko: 15%) Schizophrenie: 7% (Lebenszeitrisiko: 15%) Alkoholkrankheit: 28% (Lebenszeitrisiko: 5-10%) Patienten mit Suizidversuch (Lebenszeitrisiko: 10-15%)
Risikogruppen: Alte Menschen, z.B. nach Verwitwung Junge Erwachsene Familiäre Probleme Drogenprobleme Traumatische Veränderungsphasen Chronisch Kranke
Suizide - Deutschland (BRD/DDR)
Suizide in Deutschland
0
5.000
10.000
15.000
20.000
1975 1980 1985 1990 1995 1998 1999 2000
Jahr
Hä
ufi
gk
eit m ännlich
weiblich
gesam t
Suizidversuche - Deutschland
Im Gegensatz zu Suiziden werden Suizidversuche aus daten-schutzrechtlichen Gründen nicht mehr erfasst. Angaben über Häufigkeit sind daher Schätzungen aus wissenschaftlichen Studien. Suizidversuche werden häufiger von Frauen als von Männern durchgeführt.
1996: 122/100.000 Männer147/100.000 Frauen
Auf jeden Suizid eines Mannes entfallen 5,5 Suizidversuche, auf jeden Suizid einer Frau 18.
Insgesamt: 48.600 Suizidversuche Männer (pro Jahr) 61.600 Suizidversuche Frauen (Schmidke, 1998)
Suizidraten
Beschäftigung höherer sozialer Status bedeutet auch höheres Risiko sozialer Abstieg erhöht Suizidrisiko Arbeit „schützt“ vor Suizid Ärztinnen haben höchste Rate: 41/100,000 Psychiater > Augenärzte > Anästhesisten Andere: Zahnärzte, Musiker, Vollzugsbeamte, Juristen,
Versicherungsagenten
Suizidraten in N pro 100000 Einwohner
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10
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20
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30
5-14 15-24
25-34
35-44
45-54
55-64
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75-84
85+
Suizide
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10
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40
50
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70
5-14 15-24
25-34
35-44
45-54
55-64
65-74
75-84
85+
Männer Frauen
Suizide
12,4
18,4
21,8
37,3
0
5
10
15
20
25
30
35
40
verheiratet alleinstehend
verwitwet geschieden
Ätiologie und Pathogenese: MODELLE
Psychiatrisch-phänomenologische Beschreibung Bei psych. Erkrankungen, Suizidalität als Symptom
Tiefenpsychologisch-psychodynamische Modelle Lösung eines Aggressionskonfliks, Ausdruck einer
narzistischen Krise, gestörte Selbstwertentwicklung
Lerntheoretisch-verhaltenstherapeutische Modelle Gelerntes Verhalten bei Stress mit dysfunktionalem Ergebnis
Biologische Hypothesen Störung genetischer Faktor: Impulskontrolle, Störung des
zerebralen Serotoninstoffwechsels, Aggressionskrankheit
Soziologische Modelle Suizid in Zusammenhang mit Gesellschaft, Lebensform
Krisenmodell
Suizidaliät als Endpunkt der Zuspitzung einer psychosozial belastenden Situation
Keine psych. Krankheit im engeren Sinne Anpassungs- oder Belastungsreaktion mit emotionaler oder Verhaltensstörung Bisher psych. Unauffällige Persönlichkeit In Vergangenheit Belastungen mit eigenen Bewältigungsstrategien bewältigt Charakteristika:
selbstdestruktive Stile der Konfliktbewältigung depressiver Attributionsstil Neigung zur Selbstentwertung Gefühle der existentiellen Lebensunfähigkeit Modelle für suizidales Verhalten in persönlichem Umfeld
Lebensereignis, das mit bisherigen Strategien nicht mehr zu bewältigen ist, evtl. zusätzliches Versagen äußerer Ressourcen
innerer Spannungszustand
Krankheitsmodell
Suizidalität im Kontext einer psychischen oder physischen Erkrankung
Zeitlicher Zusammenhang Bei reaktiver oder endogener Depression
Schizophrenie, Sucht, Angststörung
Serotoninmangel-Hypothese (Asberg et al., 1976):
Suizidraten
Physische Gesundheit: deutlicher Zusammenhang mit Suizid: Postmortem Studien zeigen, dass 25-75% aller Suizidopfer unter irgendeiner physischen Erkrankung leiden. Der Einflussfaktor der Gesundheit liegt ungefähr bei in 11-51%.
Psychische Gesundheit:Fast 95% aller Personen, die Suizid begehen oder einen Suizidversuch verüben, haben eine psychiatrische Störung.
Stadien der suizidalen Entwicklung (Pöldinger, 1968)
Erwägung Suggestive Momente (Fernsehen, Literatur,Bekannte,
Chatforen im Internet...) Nach innen gerichtete Aggression
Ambivalenz Intervention möglich Hilferufe, Ankündigungen Appelle müssen ernstgenommen, explizit erfragt werden
Entschluss Höchstens indirekte S.-Ankündigung, oft scheinbar
ruhig, gelassen (sieht nach Besserung des Zustandes aus!!)
Grundregeln der Krisenintervention bei Suizidalität
Mensch ist intensivpflichtig, wenn man Suizidalität feststellt (bes. bei Patienten mit psych. Erkrankung) muss man Patient auch gegen seinen Willen stationär unterbringen, sonst: unterlassene Hilfeleistung (EigengefährdungPsychKG)
Braucht Zeit zum Überdenken seiner Situation Auflösung der Einengung Klärung der Ambivalenz Entwicklung positiver Zukunftsperspektiven Arzt/Therapeut:
Gesprächs- und Beziehungsangebot Diagnostik Krisenmanagement und akute Intervention Therapieplanung/Behandlung der Grundstörung
Diagnostik von Suizidalität
Arzt sollte Sensibilität, Kenntnisse bzgl. Gruppen mit erhöhtem Suizidrisiko besitzen
Keine testpsychologische Diagnostik/ biologische Marker zur Klärung von S. vorhanden, daher:
direktes einfühlsames, offenes Gespräch!! Beinhaltet direkte Fragen nach S., evtl. Zugehörigkeit zu
Risikogruppe Frage zur Bereitschaft, wieder Hoffnung zu schöpfen,
Verschieben einer suizidalen Handlung Unterscheiden von aktiv herbeigeführte Phantasien vs. passiv
sich aufdrängende Ideen (Achtung: Psychose?!)
Suizidalitätsitems
Geht es Ihnen manchmal so schlecht, dass Sie auch daran denken, das Leben habe keinen Sinn mehr?
Haben Sie sich jemals so niedergeschlagen gefühlt, dass Sie daran dachten, Selbstmord zu begehen?
Oder hatten Sie über mehr als 2 Wochen den Wunsch zu sterben? Haben Sie jemals konkrete Pläne gemacht, wie Sie Selbstmord begehen
könnten? Haben Sie jemals versucht, Selbstmord zu begehen? Halten Sie Ihre Situation für aussichtslos? Denken Sie ständig nur an Ihre Probleme? Haben Sie noch Interesse an Ihrem Beruf? Ihren Hobbies? Haben Sie Vorstellungen, wie Sie dies tun würden? Haben Sie Vorbereitungen getroffen? Haben Sie mit jemandem über Ihre Absicht gesprochen? Fühlen Sie sich einer religiösen/moralischen Gemeinschaft verpflichtet?
Psychopharmakotherapie
Unterstützende Medikation Dämpfung des Handlungsdrucks Sedierung, Anxiolyse, Entspannung, emotionale
Distanzierung Benzodiazepin-Tranquilizer Nieder- bis mittelpotenten Neuroleptika SSRI (Selektive Serotonin Wiederaufnahme
Hemmer) Vorsicht bei ausschließlicher Antidepressiver Therapie mit
SSRI erhöhtes Suizidrisiko bei Eintritt der Wirkung des Medikaments
Hilfsangebote
Primärprävention In Familie, Schulen, Kirchen
Sekundärprävention Telefonseelsorge Hausarzt Psychiater Seelsorger Kriseninterventionseinrichtungen, z. B. „Die Arche“,
München Selbsthilfegruppen (auch für Angehörige)
Tertiärprävention Rezidivprophylaxe, Reintegration in das Umfeld, Therapie
Umgang mit Suizidanten
NICHT:
werten („ist ja schrecklich“)
beschwichtigen (ist doch alles nicht so schlimm)
zu schnell nach positiven Änderungsmöglichkeiten suchen, sonst fühlt sich der Patient nicht ernst genommen
herunterspielen/bagatellisieren des Patienten mitmachen
als persönliche Provokation auffassen
Umgang mit Suizidanten
SONDERN: Ernst nehmen Genau nachfragen, konkret („sich umbringen“, Selbstmord, Suizid) Nach einem konkreten Handlungsplan fragen (wenn ja dann ist das
Risiko größer) Fragen was den Patienten noch am Leben erhält Verhält sich der Patient bagatellisierend und abweisend bedeutet
das nicht, dass der Suizid überwunden ist Kann sich der Patient nicht deutlich distanzieren, entweder
ambulant einen psychiatrischen Kollegen einschalten oder direkt stationär einweisen, auch gegen ausdrücklichen Willen des Patienten! (PsychKG)
Beispiele für die Gruppentherapiesitzung
Ängste im Umgang mit bestimmten sozialen Situationen oder Personen Schwierigkeiten Forderungen zu stellen oder Forderungen
durchzusetzen Schwierigkeiten die eigene Meinung zu vertreten Schwierigkeiten die Forderungen von anderen abzulehnen Schwierigkeiten im Umgang mit Kritik und im Geben von Feedback Beziehungsprobleme Schwierigkeiten Beziehungen zu beginnen, aufrecht zu erhalten oder
zu beenden Finanzielle Probleme Probleme im Zeitmanagement Umgang mit Krankheiten bei sich selbst und bei anderen Unzufriedenheit mit Situation im Beruf im Studium oder in einem
anderen Lebensbereich