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Leseprobe Bakker, Gerbrand Birnbäume blühen weiß Roman Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch 4170 978-3-518-46170-9 Suhrkamp Verlag

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Page 1: Suhrkamp Verlag · »Birnbumeblhenweiß,nichtrosa«,behauptetGerson.Sein Vater widerspricht, die lteren Brder, die Zwillinge Klaas und Kees, flachsen, die Stimmung im Auto ist gut

Leseprobe

Bakker, Gerbrand

Birnbäume blühen weiß

Roman

Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch 4170

978-3-518-46170-9

Suhrkamp Verlag

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»Birnb�ume bl�hen weiß, nicht rosa«, behauptet Gerson. SeinVater widerspricht, die �lteren Br�der, die Zwillinge Klaasund Kees, flachsen, die Stimmung im Auto ist gut. Bis ander n�chsten Kreuzung der Unfall passiert. Als Gerson ausdem Koma aufwacht, spielen Farben f�r ihn keine Rolle mehr.Er hat sein Augenlicht verloren, und nichts ist mehr, wie eswar.

Gerbrand Bakker erz�hlt in Birnb�ume bl�hen weiß die un-gewçhnliche und ber�hrende Familiengeschichte dreier Br�-der – »eine literarische Entdeckung« (S�ddeutsche Zeitung).

Gerbrand Bakker, 1962 in Wieringerwaard geboren, stu-dierte niederl�ndische Sprach- und Literaturwissenschaft inAmsterdam, arbeitete als �bersetzer von Untertiteln und istDiplomg�rtner. Zuletzt erschienen die Romane Juni (2010)und Oben ist es still (2008). Letzterer ist mit zahlreichen Prei-sen ausgezeichnet worden.

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Gerbrand BakkerBirnb�ume bl�hen weiß

RomanAus dem Niederl�ndischen von

Andrea Kluitmann

Suhrkamp

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Die niederl�ndische Originalausgabe erschien 1999

unter dem Titel Perenbomen bloeien wit beiUitgeverij Piramide, Amsterdam, und 2001 auf Deutsch

beim Patmos Verlag, D�sseldorf.2007 erschien eine vom Autor durchgesehene Neuauflage

– Grundlage des vorliegenden Bandes –bei Uitgeverij Cossee, Amsterdam.� 1999 und 2007 Gerbrand Bakker

und Uitgeverij Cossee BV, Amsterdam

Umschlagfoto: � Angela Kraft

suhrkamp taschenbuch 4170

Erste Auflage 2010

� der deutschen AusgabeSuhrkamp Verlag Berlin 2010

Suhrkamp Taschenbuch VerlagAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das

des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.Satz: H�mmer GmbH, Waldb�ttelbrunn

Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimPrinted in Germany

Umschlag: Gçllner, Michels, ZegarzewskiISBN 978-3-518-46170-9

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Birnb�ume bl�hen weiß

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Schwarz

Fr�her haben wir es gespielt. Wir haben es jahrelanggespielt. Bis vor einem halben Jahr, das war das letz-te Mal. Danach hatte es keinen Sinn mehr. Wir fingenimmer draußen an, an der alten Buche, die vor demWohnzimmerfenster steht. Die Buche war der Start-punkt. Wir legten eine Hand auf die Rinde, und meis-tens war es Klaas, der abz�hlte. Klaas ist der �ltestevon uns. Klaas ist zehn Minuten �lter als Kees. Gersonist drei Jahre j�nger als wir und kam alleine, er hat kei-nen Zwillingsbruder. Er hat Zwillingsbr�der. Das sindwir, Klaas und Kees.Bevor Klaas anfing abzuz�hlen, nannte einer von unsdas Ziel. K�chent�r. Kopfweiden. H�hnerstall. Manch-mal auch ein Ziel weiter weg. Stacheldraht zwischenden beiden Grundst�cken neben unserem Haus. Klo-fenster vom Nachbarn. Ab und zu auch ein lebendigesZiel. Vater. Hund. Der Nachteil dieser Ziele war, dasssie sich bewegten. Vor allem das Ziel Hund konnte pro-blematisch sein. Derjenige, der in seinen Ohren amschçnsten pfiff, gewann. Nicht, weil er das Ziel erreichthatte, sondern weil das Ziel ihn erreichte.Gerson hatte immer die schwierigsten Ziele. Ziele, zudenen man ewig unterwegs war, mit Kurven und mitHindernissen. Mit Balken �ber dem Graben und Elek-troz�unen. Str�uchern. Grabsteinen. Ganz bestimmtenGrabsteinen, deren Inschriften man schließlich mitden Fingern entziffern musste. Gerson war oft aufdem kleinen Friedhof, der schr�g gegen�ber von unse-rem Haus auf einem H�gel lag. Ein uralter Friedhof,

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auf dem nur selten ein neuer Grabstein hinzukam. Erkannte alle Grabsteine auswendig, von vorne bis hin-ten. Wir nicht. Wenn er sich einen Grabstein zum Zielauserkoren hatte, mussten wir den Text mit unserenFingern lesen, und das ist nicht einfach.»Drei, zwei, eins, los«, sagte Klaas, wie immer sehrlangsam. Bei drei schlossen wir die Augen. Bei zweiund eins versuchten wir, uns das Haus und die Um-gebung wie ein Foto vorzustellen. Aber wie langsamKlaas auch abz�hlte, wir hatten nie genug Zeit, das Fo-to abzuziehen. Auf den Fotos in unseren Kçpfen gab esimmer graue, verschwommene Flecken. Diese Fleckenwaren die Orte, die wir blind nur mit viel M�he fan-den. Bei los nahmen wir die H�nde vom Baumstamm.W�hrend der ersten vorsichtigen Schritte stießen wirimmer gegeneinander. Wir suchten ja alle drei dassel-be Ziel. Aber nach den ersten Schritten trennten sichunsere Wege. Wir hatten verschiedene Fotos in unse-ren Kçpfen, wir gingen in unterschiedliche Richtun-gen. Wir versuchten, lautlos zu gehen. Nichts sollteuns ablenken, und nichts sollte den anderen verraten,wo wir waren.Wenn es nicht windig war, herrschte eine enorme Stil-le. Gerade weil wir versuchten, die Schritte der an-deren zu hçren, sauste es in unseren Ohren. Wenn eswindig war, raste der Wind immer mit Orkankraftdurch die B�ume. Von welchem Baum kam welchesGer�usch? Das prasselnde S�useln, das stammte vonder einsamen Pappel neben dem Schuppen. Das schar-fe, kurze Rauschen mussten die gestutzten Weidensein, die am Graben neben unserem Haus standen.Das d�nne, fast knisternde Sausen gehçrte zu der Ze-

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der im Garten. Der Wind wies uns die Richtung, wirlernten die Ger�usche der B�ume unterscheiden.

Keiner mogelte, da waren wir uns sicher, das hattenwir abgesprochen. Wenn einer von uns aus Versehendie Augen aufmachte – das kann ganz leicht passie-ren –, rief er: »Ich bin aus«, und die beiden anderenmachten weiter.»Ihr seid zu zweit«, sagte Gerson ab und zu, »ich mussalles alleine machen.«Was er damit meinte, wollten wir wissen.»Weiß nicht«, sagte er.»Denkst du etwa, dass wir heimlich gucken?«, fragteKlaas.»Nein. Aber ihr sp�rt einander. Ich glaube, dass ihrsogar mit geschlossenen Augen wisst, wo der andereist.«»Quatsch«, sagte Kees. »Ich weiß nicht, wo Klaas ist,und ich habe keine Ahnung, wo du bist.«Gerson starrte dann br�tend vor sich hin und sagteeine Weile nichts mehr. Wir sagten auch nichts. Wirwussten, dass er noch etwas sagen w�rde, wie langees auch manchmal dauern mochte. Gerson beneideteuns. Er f�hlte sich çfter alleine, besonders wenn wirzu dritt waren.»Du weißt nicht, wo Klaas ist, aber du hast keine Ah-nung, wo ich bin. Das ist nicht dasselbe.«»Ich meinte aber wohl dasselbe«, sagte Kees.»Ja, ja.«»Ja.«»Ich will noch mal neu anfangen«, sagte Gerson.Und dann gingen wir zur�ck zur Buche. Wieder nann-

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te einer das Ziel, wieder z�hlte Klaas sehr langsamab, und wieder nahmen wir die H�nde vom Baum-stamm.

Wir spielten es oft, fr�her. Wir haben es unser Lebenlang gespielt. Gerson konnte es gar nicht abwarten,endlich richtig laufen zu kçnnen. Als wir f�nf warenund mit dem Spiel anfingen, sahen wir ihn manchmal,bevor wir die Augen schlossen, weinend auf der brei-ten Fensterbank stehen. Mit seinen Klebeh�ndchenrieb er die beschlagenen Fenster wieder blank. Wennes windstill war, konnten wir sogar sein Gebr�ll hçren.So gerne wollte er bei uns sein. Bei seinen großen Br�-dern, die die Augen fest zukniffen und dann mit aus-gebreiteten Armen in ungef�hr dieselbe Richtung tor-kelten.Es war kurz nach seinem vierten Geburtstag, als wirihn zum ersten Mal mitspielen ließen. Damals undviele Male danach mogelten wir. Wenn wir die Augenzuhatten, sahen wir n�mlich nicht, ob er in den Grabenlief. Er konnte damals schon gut laufen und auch gutsprechen. Aber als er die H�nde auf den Buchenstammlegte und die Augen schloss, sagte er nur ein einzigesWort. Wir verstanden ihn kaum.»Was hast du gesagt, Gerson?«, fragte Klaas, der schonmit dem Abz�hlen angefangen hatte.»Schwarz«, sagte Gerson. Sogar w�hrend wir redeten,machte er die Augen nicht auf. Er hatte sie so fest zu-gekniffen, dass seine Wangen fast seine Augenbrauenber�hrten und wir seine stumpfen Milchz�hne deut-lich sehen konnten. »Schwarz«, sagte er noch einmal.Er hatte dem Spiel einen Namen gegeben.

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Wir wurden nicht besser. Wir nicht und Gerson nicht.Egal, wie oft wir Schwarz spielten, auch nicht, als wirein paarmal hintereinander dasselbe Ziel finden muss-ten. Es blieb schwierig. Selbst nach dem zehnten Malging man immer noch nicht blind auf die Regentonnezu. Es war jedes Mal anders. Das hatte, glauben wir,mit den Ger�uschen zu tun. Jedes Mal waren andereGer�usche da. Viel Wind oder eine leichte Brise, einvorbeifahrendes Auto, Vçgel, vor allem die Reiher, dieso laut aus den hohen B�umen am Friedhof kreischenkonnten, Pferde auf der anderen Seite des Grabens,die anfingen zu traben, sobald sie uns sahen. Oderdas Wetter. Sonne, Nieselregen, Platzregen, Schnee,Hagel. Es war jeden Tag anders. Immer wenn wirSchwarz spielten, fingen wir sozusagen von vorne an.Als wenn die Zeit, die wir mit offenen Augen verbrach-ten, das Spiel stçrte.

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Ferien

Unser Vater hatte ein sehr altes, sehr kleines Auto. Fr�-her hatten wir mal zwei Autos, das sehr alte, sehrkleine und ein großes gl�nzendes. Unsere Mutter wareines Tages in dem großen gl�nzenden weggefahren,und wir hatten beide nie wiedergesehen.»Sie ist im Ausland«, sagte unser Vater, der Gerardheißt. »Bei einem anderen Mann. Einem ausl�ndischenMann.« Wir waren alt genug, unseren Mund zu hal-ten, aber Gerson, der daf�r noch nicht alt genug war,fragte: »Warum?«Wir bekamen f�nf Karten pro Jahr von ihr. Zu unserenGeburtstagen und zu Neujahr. Viel stand nicht darauf.Herzlichen Gl�ckwunsch zum Geburtstag! oder Alles Guteim neuen Jahr! Wir schickten ihr nie eine Karte zur�ck,weil wir nicht wussten, wohin wir sie schicken sollten.»Warum wissen wir das nicht?«, wollte Gerson wissen.Gerard antwortete, dass sie uns ihre neue Adresse niegeschrieben hatte. Auf der ersten Karte und auf allenfolgenden klebte eine italienische Briefmarke. Auslandwar Italien, und ausl�ndischer Mann war Italiener. Ge-rard hatte abendelang durch eine Lupe auf den Post-stempel gestarrt, aber er konnte nicht lesen, was dortstand. Sp�ter hatte er es noch ein paarmal versucht,und letztendlich hatte er es aufgegeben. »Sie macht esabsichtlich«, sagte er, »es ist wirklich jedes Mal un-lesbar.«W�hrend Gerard so lange starrte, bis ihm die Tr�nenkamen, saßen wir zu dritt �ber die Italienkarte imAtlas gebeugt. Kees zeigte auf St�dte und Dçrfer, und

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wenn sie nicht zu schwierig waren, las Gerson ihreNamen laut vor. »Ist sie da?«, fragte er bei Mailand.»Wohnt sie vielleicht in Rom?«, fragte er bei Rom. »Istsie denn hier?«, fragte er bei Neapel. Kees’ Zeigefingerbewegte sich immer weiter gen S�den, und Klaas sagteimmer wieder: »Das wissen wir nicht, Gerson.«»Aber sie muss doch irgendwo sein. Wo ist sie denn?Warum schreibt sie uns das nicht? Ist Italien ein schç-nes Land? Was sprechen die Leute da? Ist Mama zu Be-such bei jemandem? Wann kommt sie wieder?« DieFragen hçrten nur auf, wenn der Atlas zugeklapptwurde.

Unser Hund heißt Daan. Er ist ein rauhaariger Jack-Russel-Terrier. Gerard hatte ihn gekauft. »Der passtgut hierher, so ein kluger kleiner Hund auf demHof«, sagte er, »vielleicht kann er Maulw�rfe fangen.«Daan mochte keine Maulw�rfe, und Ratten und M�useschon gar nicht. Er hatte Angst vor ihnen. Er hatte auchAngst vor Gr�ben und der Straße, aber das war prak-tisch, er w�rde nicht ertrinken und nicht unters Autokommen. Daan liebte Mutter und Gerson. Obwohl Ge-rard ihn ausgew�hlt und gekauft hatte, mochte Daanihn nicht besonders, und uns benutzte er auch nurdazu, sich Stçcke und Tennisb�lle durch den Gartenwerfen zu lassen. Es ist seltsam, warum so ein Hundaus unerkl�rlichen Gr�nden an bestimmten Menschenh�ngt. Meistens an einem einzigen Menschen, aberDaan hing an Mutter und an Gerson.Er hat monatelang, vor allem gegen Abend, leise jau-lend vor der Hintert�r gesessen. Gerard und wir konn-ten nichts daran �ndern, nur von Gerson ließ er sich

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trçsten. Der setzte sich dann auf den Fußboden, denR�cken gegen die Waschmaschine gelehnt, und fingan, mit Daan zu reden. Ellenlange Geschichten erz�hlteer ihm, �ber alles Mçgliche. Es war egal, was er sagte,es ging um den Ton seiner Stimme. Er streichelte Daannicht und fl�sterte ihm keine Koseworte ins Ohr, son-dern redete so lange auf ihn ein, bis Daan ihm ge-gen die Brust sprang und ihm das Gesicht ableckteund wild mit seinem kurzen Schwanz wackelte, wasl�cherlich aussah, weil Jack-Russel-Terrier fast kei-nen Schwanz haben. Eines Tages ging Gerson nichtin die Waschk�che, als wir Daan vom Wohnzimmeraus leise winseln hçrten. »Gerson, tu endlich was andem Hund«, sagte Gerard, den das Gewinsel so nervçsmachte, dass er sich nicht mehr auf das Fernsehpro-gramm konzentrieren konnte.»Nein«, sagte Gerson. »Er muss etwas tun.«Eine Weile sp�ter rannte Daan ins Zimmer. Er rutschteauf dem Parkett aus und schlitterte ein St�ckchen wei-ter. Schließlich bekam er seine Pfoten auf dem Teppichwieder in den Griff, machte einen Riesensprung undlandete auf Gersons Schoß. Dort drehte er sich ein paar-mal um sich selbst, bellte einmal kr�ftig und legte sichdanach ruhig hin. »So«, sagte Gerson, »jetzt ist er fertigmit dem Trauern. Er hat es vergessen. Jetzt weiß er,dass Mama nie mehr wiederkommt.«Gerard schaute sehr seltsam drein, als Gerson dassagte.

»Vier M�nner in einer alten Klapperkiste.« Das sagteGerard immer, wenn wir zu viert im Auto irgendwohinfuhren. Wir mussten dann an spannende, altmodische

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Abenteuerb�cher f�r Jungen denken. In Gerards Zim-mer lagen stapelweise Abenteuerb�cher. Er hatte sievon seinem Vater bekommen, unserem Opa. Wir durf-ten sie zwar lesen, aber wenn wir ein Buch aushat-ten, mussten wir es sofort wieder in sein Zimmer le-gen. An Freunde ausleihen, danach durften wir nichtmal fragen. »Es sind Erbst�cke«, sagte Gerard, »damitmuss man sorgf�ltig umgehen.« Wir hatten ihn im Ver-dacht, dass er die B�cher selbst auch noch las, vor al-lem, nachdem Mutter verschwunden war.Das Auto war alt und klein, aber gut in Schuss. Es warhellblau oder hellgr�n, dar�ber gingen die Meinungenauseinander. Vielleicht sind alle M�nner farbenblind.Gerard und Kees sagten, dass das Auto blau sei, Klaasund Gerson hielten es f�r gr�n. Weil wir nicht der-selben Meinung waren, hatten wir uns auf einen Kom-promiss geeinigt. Einen Kompromiss, den Gerson vorJahren benannt hatte. In der Zeit, als er schon ziemlichgut sprechen konnte, kurz nachdem wir ihn zum ers-ten Mal bei unserem Spiel hatten mitmachen lassen,ging Gerard mit ihm �ber den Hof und durch denGarten.»Welche Farbe haben die Bl�tter?«, fragte Gerard.»Gr�n«, sagte Gerson, ohne zu zçgern.»Und die Regentonne?«»Schwarz.«»Nein.«»Braun?«»Das ist besser.«»Schwarz ist, wenn wir bei der Buche sind«, sagteGerson.»Genau«, sagte Gerard. »Und der Himmel �ber dir?«

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»Blau.« Gerson drehte den Kopf. »Und ein bisschenweiß«, f�gte er hinzu.Als sie vor dem Auto standen, erschien eine tiefe Falte�ber Gersons Nase.»Ja, sag’s nur«, dr�ngte Gerard.Gerson dachte noch einen Moment nach und sagtedann: »Schnodder.«»Schnodder?«Das Auto war schnodderfarben und blieb schnodder-farben.

Oft waren wir �brigens zwei M�nner in einer altenKlapperkiste. Oder drei M�nner in einer alten Klap-perkiste. Gerson und wir hatten unsere R�der. WennGerard einkaufen ging oder Str�ucher in der G�rtnereibesorgte, fuhren wir nie alle drei mit, weil die Eink�ufeoder die Str�ucher sonst nicht ins Auto gepasst h�tten.So klein war es.Gerard reparierte das Auto selbst und wusch und po-lierte es regelm�ßig, wenn er freihatte jedenfalls. Ge-rard arbeitet bei so einem Betrieb mit drei schwierigenenglischen Namen. Weil alles englisch ist, seine Arbeitund sein Chef, wissen wir nicht genau, was er macht.Wir wissen wohl, dass er viel arbeitet, manchmal auchabends oder am Wochenende. Vielleicht ist unsereMutter darum mit einem anderen Mann weggegan-gen, weil Gerard so oft nicht zu Hause war.Wir halfen ihm ab und zu, das Auto zu waschen, aberwir machten immer was falsch oder nicht gut genug.»Die Radkappen gehçren auch dazu«, seufzte Gerard.»Und das Nummernschild.« Der Autowaschtag, meis-tens ein Samstag, war ein vertrauter Tag. Wir waren

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alle vier draußen, Daan rannte hin und her und drehteseine Runden, die ihn aber nie weiter wegf�hrten alsbis zur Straße oder zu den Gr�ben, die das Haus umge-ben. Wir spielten Schwarz, was besonders schwierigwar, weil das Auto und Gerard im Weg standen. Mit-tags aßen wir Pfannkuchen, die wir reihum backten.Im Winter, wenn wir es draußen zu kalt fanden, saßenwir zu dritt im Wohnzimmer und lasen oder schautendurch das große Fenster nach draußen, wo man Gerarddurch die Dampfwolken hindurch kaum erkennenkonnte. Er sang immer, wenn er das Auto wusch. So-gar wenn er sich w�rmte, indem er die Arme um sichschlug, hçrte er nicht auf zu singen, was seltsam klang.Wir wissen nicht, ob es mçglich ist, aber wenn es mçg-lich ist, dann liebte Gerard sein schnodderfarbeneskleines Auto. Er wollte, dass auch wir das Auto liebten,darum hatte er immer was zu meckern, wenn wir mitdem Gartenschlauch und dem Staubsauger daran her-umwerkelten. Aber wir, und auch Gerson, liebten lie-ber unsere Mutter. Unsere Mutter, die eines Tages indem großen gl�nzenden Auto weggefahren und niemehr zur�ckgekommen war.

Trotz seines hektischen Jobs nahm Gerard im Sommerimmer zwei oder drei Wochen frei. Wenn wir in Urlaubfuhren, saßen wir zu viert im Auto. Taschen standenzwischen unseren Beinen, Schlafs�cke versperrten dieSicht durch die R�ckscheibe. Der kleine Kofferraumwar vollgestopft mit Campingsachen. Die Klappe gingnicht mehr zu und war mit einem Tau an der Anh�n-gerkupplung festgebunden. Zum Gl�ck ist Daan einkleiner Hund, er passte immer noch irgendwie hin-ein.

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Beim Beladen des Autos musste man planm�ßig vor-gehen, Schritt f�r Schritt, Tasche f�r Tasche. Wennwir einmal saßen, waren wir vçllig eingeklemmt undkonnten uns nur noch in eine Richtung bewegen, n�m-lich samt Auto nach vorne, rauf auf die Autobahn.Gerard fuhr immer auf der ganz rechten Fahrbahn.Nicht, weil er das so gerne wollte, sondern weil es nichtanders ging. Er konnte niemanden �berholen, nichtmal die Lastwagen, die nur 80 fahren d�rfen, aber im-mer schneller fahren. Außerdem wackelte das winzigeAuto im Windschatten der großen Lastwagen derma-ßen hin und her, dass es lebensgef�hrlich war.Uns stçrte es nicht, dass wir immer auf der rechtenSpur fuhren. So sahen wir wenigstens noch was vonder Landschaft. Gerson fand es auch okay. Er hatte imAuto immer ein wenig Angst, vor allem auf der Auto-bahn, wo ihm von den vorbeiflitzenden Autos schwind-lig wurde.Als Gerard ein paarmal auf der linken Fahrbahn fuhr,weil es nicht anders ging, verursachten die Autos, diein rasendem Tempo auf ihn zufuhren, Gerson Schweiß-ausbr�che.»Wohin fahren all die Leute bloß?«, fragte er niemandBestimmten, jedes Mal wenn wir eine weite Reisemachten. »Kçnnen die nicht ganz normal zu Hausebleiben?«Der Einzige, den es eher stçrte, dass wir nicht schnellerfahren konnten, war Gerard. Je l�nger wir unterwegswaren, desto tiefer beugte er sich �bers Steuer. Ohnedass er selbst es merkte, schaukelte er manchmal sogarhin und her, als wenn er das Auto mit seinem Kçrper-gewicht vorantreiben wollte.

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»Gerard«, sagte Gerson dann.»Was?«»Du schaukelst hin und her.«»Ja, ja, ich bin ein wenig steif geworden vom langenSitzen.«»Ja, ja.«Danach ging es wieder eine Weile gut.

Man sollte meinen, dass wir jeden Sommer Urlaub inItalien machten. Man weiß schließlich nie, wen mandort trifft. Aber nein, es war und blieb Frankreich. Imeinen Jahr zum Atlantik, im n�chsten quer durch diePyren�en. Vor zwei Sommern waren wir in der Pro-vence, in S�dfrankreich. Wir und Gerson hatten imSchwimmbad von Avignon geschwommen und saßenmit roten Chloraugen am Campingtisch. Gerard brei-tete die Karte aus, wir planten die Route f�r den n�chs-ten Tag.»Was f�r einen Maßstab hat die Karte?«, fragte Gerson.»Eins zu f�nfhunderttausend«, antwortete Gerard.»Was bedeutet das?«, fragte Gerson. »Wie viel Zenti-meter sind ein Kilometer?«»Ein Zentimeter sind f�nf Kilometer.«Wir sahen ihn rechnen. »Italien ist nur hundertf�nfzigKilometer von hier entfernt.«»Ja und?«, fragte Gerard.»Wenn wir morgen fr�h um neun Uhr losfahren, sindwir um elf in Italien.«»Was sollen wir in Italien? Wir machen Urlaub inFrankreich.«»Ich will es mir gerne mal anschauen, wir sind jedenSommer in Frankreich.« Gerson sah uns an.

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»Ja«, sagte Klaas, »wir wollen auch nach Italien.«Gerard stieß einen tiefen Seufzer aus. »Glaubt ihr dennwirklich, dass eure Mutter dort steht, sobald wir �berdie Grenze fahren?«»Darum geht’s nicht«, sagte Klaas. »Italien ist be-stimmt ein schçnes Land.«»Italien ist ein abscheuliches Land«, sagte Gerard. »Esist dort bullenheiß, Italiener sind �ußerst unangeneh-me, laute Leute, die nichts lieber machen, als einenauf diesen l�cherlichen Motorrollern �ber den Haufenzu fahren, es gibt keine anst�ndigen Klos, sondern Lç-cher im Boden, �ber die man sich hocken muss, manbekommt eine Lebensmittelvergiftung oder auf jedenFall schlimmen Durchfall, sie sprechen nur Italienischund weigern sich, Englisch oder was auch immer zu re-den, sie haben st�ndig Waldbr�nde, die sie meistensselbst entfachen, die Z�ge sind immer zu sp�t, alleund alles ist immer zu sp�t, die Kellner sind unfreund-lich, wenn man auf einer Terrasse sitzt und sein Geldnicht am Kçrper festgekettet hat, ist es schon geklaut,und wenn man ins Museum will, ist es immer undewig geschlossen, weil gerade restauriert wird.«»Bist du eigentlich schon mal in Italien gewesen?«,fragte Gerson.»Ich bin doch nicht verr�ckt!«»Ist schon gut«, sagte Kees. »Wir fahren also nicht nachItalien.«»Schade«, sagte Klaas. »Wir hatten gerade so viel Lustdarauf bekommen.«»Und ob wir nach Italien fahren«, sagte Gerard. »Mor-gen fr�h um acht Uhr.«

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