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Leseprobe Bernhard, Thomas Der Wahrheit auf der Spur Die öffentlichen Auftritte Herausgegeben von Wolfram Bayer, Raimund Fellinger und Martin Huber © Suhrkamp Verlag 978-3-518-42214-4 Suhrkamp Verlag

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Page 1: Suhrkamp Verlag · Arthur Rimbaud. Der Dichter Frankreichs war ein wirkliches Element, seine VersewarenausFleischundBlut.HundertJahre sindnichts fr diesen Meister des Wortes, den

Leseprobe

Bernhard, Thomas

Der Wahrheit auf der Spur

Die öffentlichen Auftritte

Herausgegeben von Wolfram Bayer, Raimund Fellinger und Martin Huber

© Suhrkamp Verlag

978-3-518-42214-4

Suhrkamp Verlag

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Thomas BernhardDer Wahrheit auf der Spur

Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilletons

Herausgegeben vonWolfram Bayer, Raimund Fellinger

und Martin Huber

Suhrkamp Verlag

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Erste Auflage 2011� dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung,des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Satz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunnDruck: Pustet, Regensburg

Printed in GermanyISBN 978-3-518-42214-4

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Jean-Arthur RimbaudZum 100. Geburtstag

Verehrte Versammlung,es heißt,wir e h r e n die Dichter nur,wenn sie tot sind,wennder Gruftdeckel oder der nasse Erdhaufen die endg�ltigeTrennung zwischen ihm und uns herbeigef�hrt hat, wennder Schçpfer lyrischer Gedichte in Not und Elend ersticktist, wenn er, wie es so schçn und peinlich in den Nachrufenminderwertiger Geister heißt, s e i n e n Geist aufgegebenhat. Dann findet sich schon, so es Gott will, ein verstaatlich-tes B�ro, das im Adreßbuch zu bl�ttern beginnt, und dasWerk der Nachwelt nimmt seinen Lauf. Es gibt Kr�nze und»Kr�nzchen«, und es entwickelt sich ein am�santes Gesch�ftzwischen Weinlokal und Ministerium, solange, bis entwe-der der Akt des Dichters wieder verschwindet, oder mansich zur Herausgabe seines Werkes entschlossen hat. Es gibtFeiern und Pomp, man entdeckt das Pensum des Toten, zerrtes ans Licht – man »veranstaltet« den Dichter –, meist nur,um sich selbst die Langeweile zu vertreiben, f�r die manschließlich bezahlt wird. Und ist es nicht so (bei uns!), daßnicht der Dichter geehrt wird, sondern der Herr vom Kul-turamt, der die Begr�ßung vornimmt, der Herr Gedichte-Verwalter, der Schauspieler, der Rezitator? So mancher Hçl-derlin oder Georg Trakl w�rde sich im Grabe umdrehen�ber soviel gemachte, aufgepfropfteKultur, �ber sovielKunst-marktgerede, von dem nichts herauskommt als Schamlosig-keit!Es geht darum, an Jean-Arthur Rimbaud zu erinnern. Gottsei Dank, daß er ein Franzose war! Glauben wir also an dieKraft und die Herrlichkeit des dichterischen Wortes, glau-ben wir an das fortdauernde Leben des Geistes, an die Un-

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verw�stlichkeit der Bilder (der Totenbilder und der Visio-nen), wie sie auftauchen zwischen den Bl�ttern von ein paargroßen M�nnern aus den Elementen, wie sie ein Jahrhun-dert nur ein- oder zweimal hervorbringt. T�uschen wir unsnicht, das Gewaltige, Erregende, Aufw�hlende und Beruhi-gende, das Bleibende, w�chst nicht wie der Sauerampfer aufder Sommerwiese! So ein bedeutender Vers,dem der Menschden Blick in die Tiefe verdankt, kommt nicht alle Tage zu-stande, nicht jedes Jahr. Es m�ssen immer etliche TausendB�cher herausgestampft werden, ehe die Maschine einmaleinen solch elementaren Ruck macht, und uns ein,wenn auchnur ein bedeutendes Werk der Weltliteratur liefert. Die im-mer so an der großen Glocke h�ngen und tçnen bis in dieversoffenen Bierstuben, die Zeitschriftendichter und die Ex-portartikler der Literatur, die es auch zuweilen zum Nobel-preis bringen, sind zumeist nur auffrisiertes Gew�sch undModefabrikation. In der Literatur kommt es nur auf das Ur-spr�ngliche an, eben auf das Elementare, auf Leute wie JeanArthur Rimbaud.Der Dichter Frankreichs war ein wirkliches Element, seineVerse waren aus Fleisch und Blut. Hundert Jahre sind nichtsf�r diesen Meister des Wortes, den un�bersetzbaren Rim-baud. Er riß das Leben an sich, unkonventionell, mit derWurzel, packte es zugleich voll Ehrfurcht und Todess�ch-tigkeit. Seine Dichtung ist abgeschlossen, mit dreiundzwan-zig Jahren klappte er sein Buch zu, sein »Trunkenes Schiff«,seine »Erleuchtungen«, seine »Saison in der Hçlle«. Nie mehrr�hrte er die Feder an, um zu dichten, der Ekel vor der Lite-ratur hatte ihn erfaßt. Aber er war fertig, es war genug. »Ab-surde! Ridicule! D�go�tant!« – so wehrte Rimbaud ab,wennman von seinen Versen mit Bewunderung sprach, und ver-suchte, ihn der Literatur in Frankreich zur�ckzugewinnen.Rimbaud wurde am 20. Oktober 1854 in Charleville gebo-ren. Sein Vater war Offizier, die Mutter eine Frau wie jede

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andere, bedacht auf das Wohl des Knaben, aber in dem Au-genblick mißtrauisch und zur�ckgezogen, als es in ihm zug�ren beginnt, als er mit neun Jahren seine ersten Verse heim-bringt von der Schule, seine ersten »Essays«, seine Visio-nen, seine ersten Dichtungen, die zu den besten Frankreichsz�hlen. Im Juli 1870 bekommt er einen ersten Preis f�r diemeisterhaften lateinischen Verse, in die er »Sancho PansasAnsprache an seinen Esel« umgearbeitet hatte. Noch w�h-rend des Studiums schreibt er f�r ein Ardennenblatt undgreift Napoleon und Bismarck mit gleicher Heftigkeit an.Um die Armut der Menschen zu sehen u n d zu leiden, wan-dert er zu Fuß nach Paris, taucht unter in der Menschenein-çde und der Menschenfurcht, und er wirft sich den Gequ�l-ten und Nichtshabenden zwischen den einzelnen Boulevardsan die Brust. In dieser Zeit sollen seine Haare so lang gewe-sen sein wie eine Pferdem�hne,ein Vor�bergehender bot ihmvier Sous an f�r den Friseur, die er, der »Dichter aus Charle-ville«, in Tabak anlegt. Dann ist er Zeuge der Revolution inder Babylon-Kaserne, in dem dichten Gemisch der Rassenund Klassen, und feurig ruft er es aus: »Arbeiter will ichsein! K�mpfer!« – Nach achtt�gigem Kampf erst�rmen dieRegierungstruppen die Hauptstadt, die gefangenen Revolu-tion�re, seine Freunde und Genossen, verbluten. Er selbst,der die erste große Ersch�tterung seines Lebens hinter sichhat, kann wie durch ein Wunder entweichen. Aber in Charle-ville war er nicht mehr zuhause.Rimbaud war M�rtyrer und »Sozialer«, aber niemals Poli-tiker. Er hatte nichts mit der Politik, der Kunstbefremdung,zu tun und gemein. Er war nichts weniger als ein Mensch,und als solcher r�hrte ihn die Vergewaltigung des Geistesauf. In Charleville setzte er sich hin und schrieb die feuri-gen Gedichte »Das trunkene Schiff« – obwohl er das Meernoch nicht kannte –, schrieb »Paris bevçlkert sich wieder«,die Orgie, die Anklage gegen das Geschwulst des Hasses,

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das Gedicht des Pariser Menschenlasters, alles in ihm warEmpçrung, und wenn er den Fluß entlangging, »brauchte erStunden, um sich innerlich zu beruhigen«. Er war siebzehnJahre alt, als er das wunderbare Versgebilde »Die Armen inder Kirche« niederschrieb, mit »klopfendem Herzen, ganzbei den schmutzigen Kindern, die immer auf die hçlzernenEngel schauen und dahinter den Gott vermuten . . .« Rimbaudwar Kommunist, ja, aber nicht der, der auf den Champs-Ely-s�es die Pal�ste anz�nden wollte, sondern ein Kommunistdes Geistes, ein Kommunist seiner Lyrik und seiner bildhaf-ten Prosa.Als er Verlaine, dem einzigen lebenden Dichter Frankreichs,den er verehrte, seine Verse schickt, antwortet ihm diesermit dem klassisch gewordenen Satz: »Venez, ch�re grandeme!« – Und wie erstaunt ist der »Dichter von Paris«, derin den rauchgeschw�ngerten Salons wie ein Gott aus undein ging, als er, anstatt einen »w�rdigen« Mann, den sieb-zehnj�hrigen zerlumpten Jean vor der Wohnungst�r findet.Dieser hatte die »Sensation«, das große brennende Gedicht,hinter sich. Ja, das waren Zeiten!Mit Verlaine begann f�r Rimbaud eine neue Epoche, es wareine tief freundschaftliche und zutiefst menschliche, und siewaren mitsammen nach England gereist, um London ken-nenzulernen, die stinkige Luft des grçßten Hafens der Welt,Mittelengland mit seinen schwarzen Fabriken, waren nachBr�ssel gekommen, um sich – auf Zeit! – zu trennen. Ver-laine mußte »heim« zu seiner Familie, die er, ohne »R�ck-sicht«, wie es heißt, eines Morgens verlassen hatte. Wie ver-schieden waren die beiden Landstreicher, denen es gegçnntwar, ohne Paß durch Europa zu streifen, ohne alles,der Fl�ch-tige, immer ausbrechende Rimbaud,vorw�rts getrieben vonder monumentalen neuen Wirklichkeit, die »es zu verdauengab in der Prosa«, und der weiche, ihm ganz verfallene Ver-laine, der dem Katholizismus, der Rettung, zustrebte, der

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ihm die tiefen Dichtungen verdankt, die geheiligten Liederdes ruhenden Menschen, die der geschlagene Mann im Ge-f�ngnis niederschreibt, nachdem er den jungen Bruder ausCharleville im Streit angeschossen und schwer verletzt hatte.Verlaine war f�r Rimbaud der große Dichter, aber weichund s�chtig, Rimbaud dagegen hatte sich in Verlaine zum»alleinigen Lebensreichtum außer Jesus Christus« geformt.Man darf es nicht falsch verstehen: Verlaine liebte die poeti-sche Kraft seines »Bruders« und das wunderbar klare Ge-sicht Arthurs, nicht mehr.Das Leben der Dichter gehçrt nicht auf die Straße geschleppt,aber Rimbauds Leben ist so gewaltig, so groß, so abgr�ndigund doch so religiçs, wie das Leben eines Heiligen. Er stehtvor uns wie seine Dichtung: abscheulich, wahrhaft, schçnund von Gott!Er war in Deutschland Hauslehrer bei einem Stuttgarter Dok-tor Wagner, streifte durch Belgien und nach Holland. Er ließsich f�r die Kolonialtruppen anwerben und erreichte nachsiebenwçchiger �berfahrt Java. Aber es war ihm mit demMilit�rdienst genauso wenig ernst wie einstmals mit demGedanken, »Missionar zu werden, um die Welt zu sehen«.Als er in Niederl�ndisch-Indien an Land ging, schien es, alsh�tte er sein Ziel erreicht: unerreichbar der abscheulichenZivilisation zu sein! Er machte sich davon, ging nach Bata-via, lebte vom Handgeld, schlug sich durch die neue Land-schaft, lebte mit Tieren und Halbidioten zusammen, betrat1876 ein englisches Schiff,um heimzukehren. Er war f�r eineZeit m�de geworden. Als man an der Insel Helena vorbei-kam, verlangte er, daß man anhalte. Da man seinem Wun-sche nicht nachkam, sprang er einfach ins Meer, um hin�ber-zuschwimmen. Mit knapper Not konnte er, der unbedingtNapoleons Lager habe sehen wollen,wieder an Bord gebrachtwerden. Genau am 31. Dezember war er wieder in Charle-ville.

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Er war zeitlebens ein Abenteurer, und die H�lfte seines Da-seins war er unterwegs. Er hatte sich l�ngst von der Literaturabgewandt, und er schrieb nicht mehr:

»Im Straßenschotter hatt ich meine Schuh zerschnitten,acht Tage lang. In Charleroi macht ich halt.Im ›Gr�nen Cabaret‹ begehrt ich Butterschnittenund Schinken, der beinah zur H�lfte kalt.

Ich dehnte unterm Tische mit Behagendie F�ße aus, sah mir die W�nde anmit ihrer simplen Malerei. O nicht zu sagen,als mir die Magd mit ihrem hohen Busen dann,

mit ihrem frohen Blick, mit ihrem Mund, der lachte,– die hat vor einem Kuß nicht Angst! – auf buntem TellerButterbrot und warmen Schinken brachte,

so rosaweiß, von Knoblauchduft durchw�rzt,und dann den Bierschaum, den ein hellerSp�tsonnenstrahl ums�umt, ins hohe Glas gest�rzt.«

Er genoß nurmehr. Und er ist wieder in Marseille und ver-kauft Schl�sselringe, kommt nach gypten, kehrt wiedernach Frankreich zur�ck und schifft sich schließlich als Ein-k�ufer von Kaffee und Parfum nach Arabien ein. Im No-vember verl�ßt er Arabien und gelangt nach Zeila. In der er-sten Dezemberh�lfte, nach zwanzigt�gigem Ritt durch dieW�ste Somali, kommt er nach Harrar, einer englischen Ko-lonie. Hier wird er Generalagent einer englischen Firma miteinem »Gehalt von 330 Franken, Bekçstigung, Reisekostenund 2% Provision«. Bevor er jedoch Aden verlassen hatte,schrieb er seiner Mutter um wissenschaftliche B�cher. DieKunst war �ber Bord geworfen, er strebte nach anderen

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geistigen Dingen, gleichviel wichtigen, und er studiert imfolgenden Metallurgie, Schiffahrtskunde, Hydraulik, Mine-ralogie, Maurerarbeit, Zimmermannsarbeit, landwirtschaft-liche Maschinen, S�gem�hlen, Bergmanns-Glaser-Tçpfer-Metallgießerhandwerk, artesische Brunnen – alles will ersich zu eigen machen, er hat Hunger wie nie zuvor, selbstals Generalagent! Die Filiale Harrar des Handelshauses ge-langt unter des Dichters Rimbaud Leitung zu großer Bl�te.Ihm selbst gehen die Gesch�fte immer zu schlecht. In sei-nen Briefen schreibt er von Geld und Gold, das man suchenm�sse. Er wird wieder ungeduldig und will nach Tonking,nach Indien und zum Panamakanal. Und er macht nichtsmehr als Gesch�fte, vielleicht nur, um sich zu bet�uben,er handelt mit Kaffee und Waffen, die er ans Rote Meerschickt, mit Baumwolle und Fr�chten – er hatte Frankreichdie schçnsten Jugenddichtungen geschenkt. Und voller Un-gl�ck schreibt er: »Ich langweile mich sehr, ich habe nie je-manden gekannt, der sich so langweilte, wie ich.«1890, als er den Wunsch hatte, sich zu verheiraten, sp�rteer plçtzlich eine Art von Gicht in sich, den Schmerz desKçrpers, den dieser sturmgepeitschte Mensch bisher nichtkannte. Fern von Frankreich, unter Sklaven und Negern, inder stinkenden W�ste. Das Ende nahte mit Riesenschrit-ten. Er selber schrieb �ber seine Krankheit: »Das Klima Har-rars ist kalt, und ich zog aus Gewohnheit fast gar nichts an,eine einfache Tuchhose und ein Wollhemd, und so machteich t�glich unsinnige Ritte von 15-40 Kilometern durch dieschroffen Berge des Landes. Ich glaube, am Knie muß sichein giftiges Leiden entwickelt haben, hervorgerufen durchErm�dung, Hitze und K�lte. Tats�chlich hat es mit einemHammerschlag unter der Kniescheibe begonnen: ein leich-ter Schlag, den ich alle Minuten einmal sp�rte . . . Ich gingherum und arbeitete fleißig weiter, mehr als je, denn ichglaubte an eine gewçhnliche Verk�hlung . . .« Die Untersu-

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chung des englischen Arztes im Hospital in Aden ergab eineweit vorgeschrittene gef�hrliche Gelenksentz�ndung. Rim-baud entschloß sich, sich auf einen nach dem Mittelmeer ab-gehenden Dampfer bringen zu lassen.In Marseille wird sein Bein amputiert. Die alte MadameRimbaud ist bei ihm. »Ich bin ein Kr�ppel«, schreibt er ver-zweifelt, »was kann ein Kr�ppel der Welt n�tzen? Lieberden Tod, nach all dem, was ich schon ertragen habe . . .«Das schreibt er nach monatelangen Qualen, die ihn aufs Bettwarfen. Er leidet an Krebs. Am 23. Juli ließ er sich, wie esseine Schwester beschreibt, zur Familie nach Roche bringen,die sich dort angesiedelt hatte. Dort hoffte er, endg�ltig Ru-he und Schlaf zu finden. Es war 1891. Das Getreide war er-froren, als er heimkam, und beim Anblick des f�r ihn einge-richteten Zimmers rief er aus: »Das ist ja Versailles hier!« –Darauf folgten die furchtbarsten Monate seines Lebens. ImOktober machen sich die ersten Anzeichen des Todes be-merkbar. Noch einmal mçchte er aufbrechen, mit einemBein, nach Indien, oder wenigstens nach Harrar zu den Ne-gern. Er wird schon auf die Bahn gebracht, in den Zug ge-schleppt, muß aber auf der n�chsten Station wieder heraus.Es war die tiefste Verzweiflung eines Menschen. Im »H�pi-tal de la Conception« trug er sich unter dem Namen JeanRimbaud ein. Dann war alles nurmehr Kampf zwischen demLeben, das er w o l l t e , und dem Tode. Er hat wunderbareVisionen, seine »Illuminations« kehren wieder, seine Erleuch-tungen. In der Agonie kehrt der Dichter zur�ck, plçtzlich ister wieder dort, wo er mit dreiundzwanzig Jahren aufgehçrthatte, als er fortlief, wo es ihn anspie aus allen Ecken undEnden, das »Barbarentum der Literatur«, die »Verweich-lichung des Intellekts«. Er ist wieder Dichter – auch wenner nichts mehr schreibt. Er ist wieder da – er w a r dochnicht fort gewesen, nur in Harrar, in gypten, in England, inJava. Es war nur ein Umweg, jetzt sah er die Dichtung aus

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Charleville deutlich vor sich und es war ihm bewußt: sie istg e s c h a f f e n! Sie senkte sich als wunderbarer Trost aufihn herab. »Am 10. November, nachmittags zwei Uhr, warer tot«, notierte seine Schwester Isabelle. Der �ber sovielGottesf�rchtigkeit ersch�tterte Pfarrer gab ihm den Segen.»Ich habe noch nie einen so starken Glauben gesehen«, sag-te er. Dank der Hilfe Isabelles wurde Rimbaud nach Charle-ville gebracht und mit großem Pomp auf dem dortigen Fried-hof begraben. Dort liegt er heute noch neben seiner Schwe-ster Vitalie, unter einem schlichten Marmormonument.Das Werk Rimbauds war immer von jenen bek�mpft, die derWahrheit keine Ehre geben, und trotzdem beginnt es mitdem gl�ckhaften revolution�ren durch und durch dichteri-schen Schulaufsatz des Neunj�hrigen »Die Sonne war nochwarm . . .«, den sein Lehrer und Freund Izambard aufbe-wahrte. Es z�hlt zum Gewaltigsten und ist das Urspr�ng-lichste, das je in franzçsischer Sprache geschrieben wurde,alle miteingeschlossen, die Großen, Racine,Verlaine,Val�ry,Gide und neuerdings Claudel. Seine Dichtung ist nicht nurfranzçsisch, sondern europ�isch,es ist Welt-Dichtung,es sindSpr�che und Weissagungen, Empfindungen und Delirien vonunheimlicher Zauberkraft.Man darf Rimbaud nicht zerreden, man muß ihn lesen,wirken lassen muß man ihn als Ganzes wie einen Traumvon der Erde, man muß seine Welt betreten, wie e r sie be-trat, mit schmutzigen Schuhen und mit hungrigem Magen,einmal auf der Straße nach M�zi�res, dann in Paris, in derAusweglosigkeit. Man muß, wie Rimbaud selbst, in s e i n eK i r c h e n hineinschauen, sein Werk nicht b e t r a c h t e n ,sondern mitleben und mitleiden, einfach anschauen, wie einM�dchen irgendein Ding anschaut, das ihm in den Weg flat-tert.»Morgens um vier im Sommer, dauert / der Liebe Schlafnoch. / Aus den Geb�schen dampfen / D�fte des Festes der

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Nacht . . .« So etwas wird selten gesagt und gar nicht gedich-tet. Das ist ganzer, ersch�tternder, einsamer, weltcharakter-licher Rimbaud. Oder »Ophelia«,die zwei Gedichte, die alleWelt in sich eingeschlossen haben und mit ihr Gott. Da istall das zu finden, was den Heutigen mangelt: Schçnheit undEhrfurcht im wahrsten Sinne, und da ist Verlassenheit undin ihr der ewige und einzige Gott, der große Vater, auchwenn sie ihn noch so aus Rimbauds Versen vertreiben wol-len. Um gl�ubig zu sein, muß man nicht Hostien verschluk-ken, muß man nicht alle Jahre zweimal beichten. Es gen�gt,wenn der Mensch ins Antlitz der Welt schaut, tief hineinin seine Mitte – wie Rimbaud. Man soll niemals �ber die Kir-che spotten, aber man darf die schlechten Priester als schlechtbezeichnen und die niedertr�chtigen Nonnen als niedertr�ch-tig. Man muß aber auch den Glanz und die G�te Gottes prei-sen, wie es Rimbaud getan hat vom Anfang bis zum Ende,mit elementarer Gewalt. Denn was sein Werk so groß macht,das ist seine geschlossene Unfçrmigkeit. Rimbaud war ein-fach der erste, der wie Rimbaud schrieb. Er und keiner da-mals wußte, »daß e s nichts ist, aber daß Er ist, und daßEr immer ist«.Er ist »Shakespeare enfant« – und nicht nur, weil VictorHugo es gesagt hat. Unverg�nglich ist sein »Bateau ivre«,der phantastische Traum.Wo hatte er die sthetik hingewor-fen? Doch auf den großen, sich gegenseitig auffressendenAbfallhaufen der Literatur, der zu allen Zeiten seinen �blenParfumgestank verbreitet: Ihm war das Unwirkliche,Gl�ser-ne eines sp�ten Rilke fern. Er war keusch und tierhaft zu-gleich,und die schçnsten,empfindsamsten Reflexionen stam-men von ihm. Er schrieb nicht auf B�ttenpapier, sondernauf stinkende K�sepakete – aber g e r a d e das war nur nochPoesie. Die »Saison in der Hçlle« war das einzige Werk, daser selber zu Lebzeiten herausbrachte.Verlaine besorgte nachRimbauds Tod eine Gesamtausgabe.

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Die Dichtung sei ihm nicht mehr gewesen wie ein »Befrei-ungsversuch«, ein »Ventil f�r die dr�ngend �bersch�ssigeVitalit�t«, sagte sp�ter Stefan Zweig von ihm. In solche Strç-me aber kann man keine b l o ß e Vitalit�t entladen, Rim-baud nicht, denn sie war ihm keine Zuflucht, die Dichtung,sondern ureigene Heimat. »Religion zwang ihn n i e in dieKnie«, schrieb derselbe Stefan Zweig (der Rimbaud tief ver-ehrte!). Und doch war s e i n e Literatur eine einzige, freilichweltweite, geschichtlich freie, ungebundene, unverfeinerte,im Schmutz und in den zerrissenen Schuhen triumphierendeReligion. Und diese seine Religion brachte ihn auch zu Fall,sie zwang ihn ja in die Knie! – An seiner »Hçllensaison« hingsein ganzes Leben, an seinen »Erleuchtungen« hing sein Herz-schlag. – Der Reichtum in Harrar n�tzte nichts, das ganzeGeld n�tzte nichts, alles, alles n�tzte nichts, nieder sinkter, scheinbar klein wird er letztlich, und nieder k n i e t ersich in Delirien und fleht um die letzte Erleuchtung: um denewigen Vater!Nur wer um den ewigen Vater fleht, hat Aussicht, bestehenzu bleiben, kann sagen, wie Rimbaud gesagt hat: Ich bin im-mer!

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Das Werk von Josef Weinheber

Josef Weinheber: S�mtliche Werke: 1., 2., 3. und 4. Band.Herausgegeben von Josef Nadler und Hedwig Weinheber.Salzburg 1954, Otto M�ller Verlag. Bisher 2900 S., D�nn-druck, je Band dm 17.50, als Einzelband dm 18.20.

Josef Nadler und Hedwig Weinheber, die Witwe des Dich-ters, haben das Werk des Lyrikers Josef Weinheber gesam-melt. Es sollen f�nf B�nde daraus werden, vier sind be-reits erschienen, enthaltend die ersten Gedichte, die Gedich-te und die Romane und die kleine Prosa. Der erste Bandenth�lt die Frucht aus den Jahren 1913 bis 1931, darunterdie Sammlungen »Ich und Du«, »Der dunkle Weg«, »Einer,der mittrank«, »Amores«, »Der einsame Mensch«, »AnnaFrçhlich«, »Von beiden Ufern« und »Boot in der Bucht«.Eine schier unerschçpfliche F�lle der Themen und der Lei-denschaften wird hier offenbar.Der zweite Band umfaßt das Hauptwerk des Lyrikers, die be-kannten Gedichtb�cher »Adel und Untergang«, »O Mensch,gib acht«, »Zwischen Gçttern und D�monen«, »Kammer-musik«, »Wien wçrtlich« und »Hier ist das Wort«. Der Gip-felpunkt der Sprache ist erreicht. Manche loben das letzteBuch »Hier ist das Wort« als das reinste. Im Worte ja, dochdie Dichtung hauchte den »Gçttern und D�monen« denst�rksten Atem ein. In d i e s e m Buch liegt Weinhebers Le-ben und Weinhebers Tod. Nichts schafft mehr Gem�t und�sterreichertum und Deutschtum zugleich als dieses Werk.Die Sprache ist nicht kultiviert, aber pr�chtig angepackt.Dieser dritte Band ist die Essenz eines »verruchten tiefen,sich endlich erschçpfenden Lebens«. Weinheber hat es ge-schafft, hier im dritten Band ist es vollkommen klar. Und

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darum sei �ber den Menschen, �ber die brennende hilfesu-chende Glut,Verzeihen gebreitet, denn jeder hat notwendig,einen Teil wenigstens vergessen zu bekommen.Der dritte Band bringt die drei Romane Weinhebers »DasWaisenhaus«, »Gold außer Kurs« und »Nachwuchs«. Niewar der Dichter ein Mann, der wirklich handfeste Prosaschreiben konnte. Diese drei B�cher sind durchdrungen voneiner großen Liebe zur Armut, wie sie seit Jahrhundertendort, zwischen Ottakring und Heiligenstadt, ihr unschein-bares, tçdliches Dasein fristet. Selbstbiographie und Sehn-sucht sind diese »Romane«, schçne f�r den Wiener, der inihnen zu Hause ist, aber sicherlich fremd dem, der dieseStadt nicht kennt. Schon in St. Pçlten w�rde sie niemandverstehen. Dazu kommt, daß sie sprachlich nicht durchhal-ten und es vor allem an der notwendigen Komposition man-gelt.Der vierte Band sammelt kleine Prosa, Reden, Aufs�tze, Kri-tik und eine Anzahl Gedichte, die zu Lebzeiten des Dichtersin keine Buchausgabe Aufnahme gefunden haben. Weinhe-ber hat �ber die Sprache viel zu sagen gewußt. Immer wiedertaten sich ihm neue Fundgruben auf, neue »Landschaftendes g�ltigen deutschen Wortes«. In den Skizzen und Beschrei-bungen seiner Heimat ist ein seliger Hauch �sterreicher-tum sp�rbar, so in »Wien, das Herz«, einer seiner schçnstenEingebungen. Stadt,Vorstadt und das niederçsterreichischeWeinland werden im wahrsten Sinne des Wortes liebend her-aufbeschwçrt. In den unbekannten Gedichten, von �berall-her gesammelt, ist der Bogen vom Volkslied und dem einfa-chen B�nklgesang bis zu Hymne und Ode gespannt. Hier istder Blick in die Werkstatt des Sprachgewaltigen tief ersch�t-ternd und begl�ckend zugleich. Neben Gelegenheitsversenstehen die Zeugen einer reinen schlackenlosen Dichtung. Inden Kritiken findet sich die Stelle, die von Hans Leifhelm,dem fr�hverstorbenen echten Talent, sagt: »Das ist die gro-

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ße Kunst. Denn nur dort,wo der Mensch sichtbar wird, ebendieser Einzelne, Schwergepr�fte, der die Stimme f�r alle ist,nur dort geschieht von des Geistes Gnaden die Verzaube-rung.«Die Gesamtausgabe scheint sich im kommenden Fr�hjahrzu vollenden. Die D�nndruckausgabe macht Freude, wennman auch den Herausgebern w�nschen mçchte, nicht all-zuviel kleinliche Sorgfalt walten zu lassen. Die vielen An-merkungen, ob in Bleistift geschrieben oder in Tinte, abendsoder morgens, sind zwecklos. Dennoch, hier wurde eine auf-rechte Arbeit geleistet. Das ungeheuere Wagnis, jetzt, neunJahre nach dem Tode Weinhebers, dessen Werk in seiner Ge-samtheit zu bringen, ist gegl�ckt und darf hoch anerkanntwerden. Mit besonderer Spannung und – ruhig offensicht-licher – Freude kann man den letzten Band (Briefe) erwar-ten.

20 16. Februar 1955