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KYBERNETIK UND "GESELLSCHAFTSWISSENS CHAFT" IN DER DDR Von J . Wolfgang Gorlich Zum BegrifJ der Kybernetik Die Kybernetik ist nach Norbert Wiener die Wissenschaft von der Regelung und N acllridlteniibertragung im Lebewesen und in der Masdline 1. Ein Kollektiv unter der Leitung von H. Kortum, Jena, unterzog die gegenwartig vorliegenden Definitionen dieser jiingsten Disziplin einer Analyse. Sie fiihrte bei den mehr als hundert gesammelten Definitionen zu einer Klassifizierung nadl neun ver- sdliedenen Merkmalen, aus weidler folgende Formulierung als Ergebnis emp- fohlen wurde: "Kybernetik ist die Wissensdlaft von der Steuerung von Pro- zessen und Systemen aller Art (1335*, S. 165) 2." Nadl Georg Klaus, dem Vor- kampfer fiir die Kybernetik in der DDR, umfaBt die Kybernetik vier Haupt- bestandteile: den system-, regel-, informations- und spieltheoretisdlen Aspekt, wobei der Systemaspekt der primare ist. Er definiert: "Die Kybernetik ist die Theorie der dynamisdlen, selbstregulierenden und selbstorganisierenden Systeme {1357, S. XII)." Die Kybernetik im neuen Programm der SED "Der umfassende Aufbau des Sozialismus in der Deutsdlen Demokratisdlen Republik, der seinen theoretisdlen Niedersdllag in dem vom VI. Parteitag der Sozialistisdlen Einheitspartei Deutsdllands besdllossenen Programm gefunden hat, stellt den marxistisdlen Philosophen groBe Aufgaben ... In dem Teil des Programms, der der Rolle der Wissensdlaft bei der umfassenden Verwirklidlung des Sozialismus gewidmet ist, heiBt es deshalb: ,Die Kybernetik ist besonders zu fordern' {1326, S. 693)." Damit madlt Georg Klaus darauf aufmerksam, daB die SED die Kybernetik, die lange Zeit in der DDR als "idealistisdle Pseudo- wissensdlaft" abgelehnt wurde (vgl. 1370), als eine fiir den Aufbau des Sozialis- mus besonders forderungswiirdige Disziplin anerkannt und herausgestellt hat. 1m bereits zitierten Artikel (1326) wird das fUr den "umfassenden" Aufbau des Sozialismus besonders widltige Element der Kybernetik vornehmlidl darin * Die in Klammern gesetzten ersten Zahlen beziehen sim auf die in der Bibliographie am Ende des Heftes aufgefiihrten Publikationen. P. C. Ludz (ed.), Studien und Materialien zur Soziologie der DDR © Westdeutscher Verlag Opladen 1971

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Page 1: Studien und Materialien zur Soziologie der DDR || Kybernetik und „Gesellschaftswissenschaft“ in der DDR

KYBERNETIK UND "GESELLSCHAFTSWISSENS CHAFT"

IN DER DDR

Von J . Wolfgang Gorlich

Zum BegrifJ der Kybernetik

Die Kybernetik ist nach Norbert Wiener die Wissenschaft von der Regelung und N acllridlteniibertragung im Lebewesen und in der Masdline 1. Ein Kollektiv unter der Leitung von H. Kortum, Jena, unterzog die gegenwartig vorliegenden Definitionen dieser jiingsten Disziplin einer Analyse. Sie fiihrte bei den mehr als hundert gesammelten Definitionen zu einer Klassifizierung nadl neun ver­sdliedenen Merkmalen, aus weidler folgende Formulierung als Ergebnis emp­fohlen wurde: "Kybernetik ist die Wissensdlaft von der Steuerung von Pro­zessen und Systemen aller Art (1335*, S. 165) 2." Nadl Georg Klaus, dem Vor­kampfer fiir die Kybernetik in der DDR, umfaBt die Kybernetik vier Haupt­bestandteile: den system-, regel-, informations- und spieltheoretisdlen Aspekt, wobei der Systemaspekt der primare ist. Er definiert: "Die Kybernetik ist die Theorie der dynamisdlen, selbstregulierenden und selbstorganisierenden Systeme {1357, S. XII)."

Die Kybernetik im neuen Programm der SED

"Der umfassende Aufbau des Sozialismus in der Deutsdlen Demokratisdlen Republik, der seinen theoretisdlen Niedersdllag in dem vom VI. Parteitag der Sozialistisdlen Einheitspartei Deutsdllands besdllossenen Programm gefunden hat, stellt den marxistisdlen Philosophen groBe Aufgaben ... In dem Teil des Programms, der der Rolle der Wissensdlaft bei der umfassenden Verwirklidlung des Sozialismus gewidmet ist, heiBt es deshalb: ,Die Kybernetik ist besonders zu fordern' {1326, S. 693)." Damit madlt Georg Klaus darauf aufmerksam, daB die SED die Kybernetik, die lange Zeit in der DDR als "idealistisdle Pseudo­wissensdlaft" abgelehnt wurde (vgl. 1370), als eine fiir den Aufbau des Sozialis­mus besonders forderungswiirdige Disziplin anerkannt und herausgestellt hat.

1m bereits zitierten Artikel (1326) wird das fUr den "umfassenden" Aufbau des Sozialismus besonders widltige Element der Kybernetik vornehmlidl darin

* Die in Klammern gesetzten ersten Zahlen beziehen sim auf die in der Bibliographie am Ende des Heftes aufgefiihrten Publikationen.

P. C. Ludz (ed.), Studien und Materialien zur Soziologie der DDR© Westdeutscher Verlag Opladen 1971

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gesehen, "daB sie den Wissensmaften, mit denen sie in Beriihrung tritt, ... ein wamsendes MaB an F()rmalisierung und Mathematisierung bringt" (1326, S. 694). Formalisierung, Mathematisierung die gewiB einen neuen Entwick­lungszug moderncr Wissensmaften iiberhaupt marakterisieren und den Struk­tur- wie Informationsaspekt der Wirklimkeit zur GeItung bring en, werden als unentbehrlidI fiir den Aufbau des Sozialismus angesehen. Daher kann nam Klaus die Aufgabe umfassender soziologismer Untersumungen und ihrer philoS()phisooen Verallgemeinerungen beziehungsweise der BewaItigung der gegenwartigen politism-sozialen Probleme in der DDR nur gelost werden, "wenn entspremende mathematisme beziehungsweise kybernetisch-soziolo­gische (Hervorhebung vom Verfasser) Modelle gefunden werden. Mit den allgemeinen Satzen des historismen Materialismus allein - das ist das eine Extrem - oder mit rein empirismer Datensammlung und -verarbeitung - das ware das andere Extrem - ist die Aufgabe nimt zu losen (1326, S. 694)."

1m Ringen des Mensmen um die Herrsmaft iiber die Natur erhaIt die indu­strielle Nutzung des Struktur- und des Informationsaspektes gegeniiber der Beherrsmung der stofflimen und der energetismen Seite der materiellen WeIt nam Klaus eine vorrangige Bedeutung. Diese Nutzung erreimt in der Kyberne­tisierung der Produkti()ns- und Wirtsmaftsprozesse ihre maximale Effektivitat, wodurm die temnisme Mamt des Mensooen ihren namhaItigsten Wirkungsgrad erreimt 3•

Fiir den Aufbau des Kommunismus ist indes der "sozialistisme Mensoo", dem die Arbeit das erste Lebensbediirfnis geworden ist, V()raussetzung. Die Arbeit hingegen kann nam Klaus "erst dann erstes Lebensbediirfnis der Mensooen werden, wenn ihr einerseits die sozialistisooen Produktionsverhaltnisse zu­grunde liegen, sie aber andererseits ihre smweren korperlimen Formen und ihre monotonen, sooematisooen, korperlimen und geistigen Seiten abgestreift hat. Das erste ist in unserer Deutsooen Demokratisooen Republik bereits voll­zogen, das zweite befindet sim im ProzeB der Gestaltung. Gerade dabei aber helfen Kybernetik und Automatisierung wesentlim mit. Diese Saooe der Wirk­samkeit der Kybernetik muS Thema der Zusammenarbeit von Kybernetikern, historismen Materialisten und marxistisooen Sozi()logen werden (1326, S. 700)."

Namdem Klaus die Kybernetik in ihrer Bedeutung fUr Biol()gie, Medizin, Padagogik, fUr die Leitung des Staates und der Volkswirtsmaft dargelegt hat, verweist er absmlieSend auf das paradigmatisme Verhaltnis von Kybernetik und politismer Okonomie. Am Beispiel der politisooen Okonomie sieht er den methodololl:ismen Modellfall gesmaffen, "der zeigt, daB Gesellschaftswissen­smaften sowohl der Mathematisierung und Formalisierung zuganglioo sind als auoo der Methode des Experiments" (1326, S. 707).

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Zur Entwicklung der Kybernetik in der DDR

Dem gegenwiirtig so ernsten Bemiihen um die Kyhernetik in der DDR als eines der wiclItigsten wissenschaftliclIen Ereignisse der Gegenwart und als eine der eindru<ksvQllsten einzelwissensclIaftliclIen Bestiitigungen des dialektisehen Materialismus (vgl. 1320, S. 5-7) war ein langjiihriges Desinteresse gegen die von der "hiirgerliclIen" WissensclIaft erarheitete neue Disziplin vorausgegangen. Erst im April 1961 entsclIloB man sich zu einer ersten wissensclIaftlichen Be­ratung iiher das Thema: "Kyhernetik - Philosophie - Gesellschaft" (vgl. 1370). Der Hinweis auf den Rii<kstand der DDR auf dem Gehiet der Kyhernetik zog sich wie ein roter Faden durch alle Referate und Diskussionen. "In der DDR ist, was die Entwi<klung und Anwendung der Kyhernetik hetrifft, ein Tempo­verIust zu verzeichnen ... Die Diskussion hat aum die harte Tatsame an den Tag gehraclIt, daB wir in der DDR hei der Verhreitung und Anwendung der Kyhernetik ohne jeden Zweifel einen hetriiclItliclIen Terminverlust hahen (1370, S. 5-7) 4."

NaclIdem die Kyhernetik auclI im Rahmen der Dokumente des XXII. Partei­tags der KPdSU zu den vollkommensten Mitteln fiir die materiell-teclInisehe Basis des Kommunismus geziihlt wird (1325), erkliirte man sie aueh in der DDR als eine "ihrem W esen naclI spezifisch kommunistische Wissensehaft".

Die ZeitsclIrift "WirtsclIaftswissensclIaft" iihernahm nom im Dezemherheft einen wegweisenden Artikel von V. S. Nemcinov "Planung und Kybernetik" (1356). Darin fordert der Autor, daB "ein ganzes Netz VQn Olwnomisch-mathe­matischen und okonomisch-kybernetischen Laboratorien hei den Akademien ... , bei den groBen Volkswirtschaftsriiten und in den groBten Hochschulen, Univer­sitiiten und polyteclInisclIen Instituten gesclIaffen werden muB". Sie haben "teclInisclI-okonomische Produktionsmodelle und okonomisch-mathematische Planmodelle der gesellschaftlimen Produktion" zu konstruieren. Denn nur oie gewiihrleisten den im Entwurf des neuen Programms der KPdSU vorgeschenen Vbergang "zu einem hoher organisierten gesellsclIaftlichen System, in dem das Prinzip des demokratisclIen Zentralismus vollkommen verwirklieht wird".

Was die Organisation der ForsclIungsarheiten anf dem Gebiet der Kyhernetik in der DDR angeht, so hemiingelt H. Michael (1353, S. 34 ff.), daB die okonomi­sclIen Institutionen der Deutschen Akademie der Wissenschaften erst naclI einem Hinweis der Leitung der StaatliclIen Plankommission (Dezemher 1960) ihre Aufmerksamkeit diesen Fragen zuwandten. 1m Rahmenperspektivplan fiir die wirtschaftswissenschaftliche ForsclIung wurde dementsprechend der Forschungs­hereich "Anwendung mathematisclIer Methoden in okonomisclIen Untersuchun­gen und in der Planung" aufgenommen, und es wurden dariiher hinaus zur Untersuchung der einzelnen Teilgehiete seclIs FQCsclIungsgemeinschaften gehil-

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det, denen sich bei anderen Institutionen fiinf weitere Forschungsgemeinschaf­ten anschlossen 5. Anfang 1961 formierte sich beim Forschungsrat eine Kommis­sion zur Entwicklung des maschinellen Redlllens in der DDR. Eine weitere Kommission des wissenschaftlichen Beirats fiir Wirtschaftswissenschaften beim Staatssekretariat fiir das Hoch- und Fachschulwesen forderte eine stiirkere mathematische Grundausbildung aller Okonomen, vor allem auf dem Gebiet der Optimierung und der maschinellen Datenverarbeitung.

Gegenwiirtig werden nur am Institut fiir mathematische Statistik der Leip­ziger Universitiit jiihrlich einige Wirtschaftsmathematiker ausgebildet. Die im Friihjahr 1961 gegriindete Kommission fUr Kybernetik beim Generalsekretiir der Deutschen Akademie der Wissenschaften setzte sich als Aufgabe, Stand und Entwicklungstendenzen der Kybernetik zu ermitteln und Empfehlungen fur ihre Forderung auszuarbeiten. An der Universitiit lena wurde der erste Lehr­stuhl fUr Kybernetik eingerichtet, und Spezialvorlesungen an den Hoch- und Fachschulen iiber Mathematik auf der Grundlage kybernetischer Fragestellung sind intensiviert worden. Auch ist die Herausgabe einer mehrsprachigen Zeit­schrift fiir Kybernetik in Angriff genommen worden (1353, S. 36; 1371, S. no).

Die Autoren G. Klaus und R. Thiel kommen zum Ergebnis, daB "der kyber­netische Charakter gesellschaftlicher Systeme nicht eine Randerscheinung der Geschichte ist, sondern wesentlich mit dem dialektischen Wesen des Geschichts­prozesses zusammenhiingt" (1333, S. 57). 1m Miirz 1962 eroffnete das Institut fiir Wirtschaftswissenschaften an der Akademie der Wissenschaften eine Konfe­renz mit dem Thema "Kybernetische Aspekte und Methoden in der Okonomie" (1344). Sie galt als Vorkonferenz fUr die im Oktober 1962 abgehaltene Kyber­netik-Konferenz der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1350). Der gleichen Vorbereitung diente die yom Institut fur Angewandte Mathematik und. Mechanik der Deutschen Akademie der Wissenschaften yom 20. bis 23. Miirz 1962 veranstaltete Tagung "Mathematik und physikalisch-technische Probleme der Kybernetik" (1371). Die kybernetische Modellierung gesellschaft­licher Vorgiinge wurde in den Referaten "Elektrische Modelle in der Kyber­netik", "Kybernetische Modelle in der Demographie" und "Kybernetische Pro­bleme in der praktischen Analysis und der Unternehmungsforschung" behandelt.

In der Bilanz "Kybernetische Forschung in der DDR" (1323) wird festgestellt, daB im Bereich der "Gesellschaftswissenschaften" noch weitgehend Desinteresse fiir die neue Disziplin vorherrscht. Die mit den Methoden der Mathematik und Kybernetik wenig vertrauten "Gesellschaftswissenschaftler" werden ermahnt, umzulernen. Zu erwiihnen bleibt noch, daB die am 16. und 17. Oktober 1962 in Berlin tagende Hauptkonferenz der Deutschen Akademie der Wissenschaften

mit dem Thema "Die Bedeutung der Kybernetik fiir Wissenschaft, Technik und Wirtschaft in der DDR" (1350) durch weitere Teilkonferenzen mit den Themen

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"PhiIosophie und Kybernetik", "Politische Okonomie und Kybernetik", "Psychologie und Kybernetik" und "Medizin, Biologie und Kybernetik" vor­bereitet wurde. In seiner BegriiBungsansprache erklarte G. Rieniicker, daB "wir die Kybernetik nicht einfach als ein intellektuelles Diskussionsobjekt be­trachten diirfen, sondern daB sie ein wichtiges Element der Produktivkraft Wissenschaft ist ... ein geeignetes Instrument, mit dem die Produktivitat unse­rer materiellen und geistigen Arbeit sehr gesteigert werden kann" (1341, S. 13).

Angesichts des Riilkstandes, den die Kybernetik in der DDR zu verzeiclmen hat, verwies Rieniicker darauf; daB "die sozialistische Gemeinschaft eine Garan­tie dafiir ist, daB wir den Tempoverlust aufholen und in der internationalen Entwilklung einen wiirdigen Platz einnehmen werden". Die Gesamtkonferenz, auf der Dr. ]. Behr das Referat "Wirtschaftswissenschaften und Kybernetik" hielt, biIdete laut Bericht "den a~Berlich sichtbaren AbschluB der Etappe der Durchsetzung der Kybernetik in deJ' Wissenschaft unserer Republik. Gleichzeitig fiihrte sie auch hiniiber zu der neuen Phase, in der es nicht mehr in erster Linie um Anerkennung und Nichtanerkennung, sondern um den Gewinn meBbarer Erfolge in samtlichen Bereichen geht (1350, S. 1578)."

Das Schilksal der Kybe~netik in der DDR laBt sich kritisch dahingehend zu­sammenfassen: Spater als in fast allen anderen industriell fortgeschrittenen Landern fand die Kybernetik in der DDR Eingang und Anerkennung. Sie durch­lief - ahnlich den anderen modernen wissenschaftlichen Disziplinen (Relativi­tats- und Quantentheorie, mathematische Logik und Semantik) - die Phasen von der Ablehnung als "idealistischer Pseudowissenschaft" bis zur Anerkennung als der kommunistischen Wissenschaft. Diese Entwilklung wurde mit dem Stan­dardargument gerechtfertigt, daB "einige" Vertreter des dialektischen Materia­lismus das im Grunde materialistische Wesen der neuen, im Westen erarbeiteten Disziplin mit der idealistischen Interpretation, die westliche Ideologen ihr haben angedeihen lassen, verwechselten.

Exkurs: Kontroversen uber den Begriff der In/ormation in der DDR

Wie in der Physik der Begriff der Energie eine zentrale Rolle spielt, so der Begriff der Information in der Kybernetik. Wiewohl der Mechanismus kyber­netischer Systeme durch Energie aufrechterhalten wird, wird ihre Funktions­tiichtigkeit allein durch die Information bestimmt. In ihr ist das Spezifische der Funktionsweise aller selbstregulierenden Systeme erfaBt.

Der Begriff "Information" ist jedoch so umfassend, daB er heute in vielen wissenschaftlichen Zweigen angewandt wird, so in der Mathematik, der Fern­meldetechnik, der Biologie, der Soziologie. Er ist verbunden mit der mathe­matischen Wahrscheinlichkeitsrechnung, mit dem thermodynamischen Begriff

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der Entropie, mit dem Begriff der Kommunikation (Linguistik, Psychologie), mit dem Begriff der Organisation, dem Begriff des Algorithmus (1380, S. 478). "In der vollendetsten Form", so formulieren es Kybernetiker in der DDR, "wurde die Theorie der Information in der Arbeit ,Mathematische Theorie der Kommunikation' von Claude Shannon entwic:kelt" (1365, S. 610). An der mathe­matischen Behandlung der Information ist fiir die Aut()ren in der DDR von allgemeinem Interesse, "daB bei Festlegung ihres MaBes (H = - fipilog2Pi) als wesentlichstes Bestimmungsstiic:k eine Beziehung zwischen Wahrscheinlichkeiten angesehen wird" (1365, S. 626). Die qualitative Erfassung der Information sah man erst ermoglicht, "als man den Begriff Zufall im Zusammenhang mit der Anwendung der ihm verwandten Begriffe aus der Wahrscheinlichkeitstheorie richtig verstand und sich dariiber klar wurde, daB die Messung des Informations­betrages mit dem Problem der Messung der Ordnung einer Ereignisf()lge eng verbunden ist; keine zufiillige Ereignisfolge kann eine Information iibermitteln, sondern nur eine bestimmte Ordnung von Signalen" (1365, S. 610).

Da in dieser mathematisch gehaltenen Wahrscheinlichkeitsbehandlung der Information vom materiellen Kontext abgesehen wird, ergab sich als MaB des Ordnungsgrades der Begriff der Entt·opie. 1m Unterschied zur Thermodynamik jedoch, in die der Begriff der Entropie als MaB der Unordnung eingefiihrt wurde, dient er in der Informationstheorie als MaB der Ordnung. Je hoher demnach der Ordnungsgrad einer Ereignisfolge ist, das heiBt je groBer der Wert der Entropie ist, urn so mehr Informationen sind zum Beispiel in einem Text beziehungsweise in einer Ereignisfolge enthalten. Da die Informationsentropie iihnlich wie die der Thermodynamik keine konstante GroBe ist, erkannte man, daB sie - umgekehrt zur Thermodynamik - nur abnehmen und niemals zu­nehmen kann; das heiBt Informationen gehen verloren.

Die Bestimmung der Information in Termini des Ordnungsgrades, der Entro­pie, exakt dargestellt in der hekanJ.1ten Shannonschen Formel (H n = - fipilog 2 pi) erfaBt in ihrer mathematischen Fassung naturgemaB nur den syntaktischen Aspekt der Information. Der semantische Gehalt, die Designata, das heiBt die Bedeutungsseite, was die Information darstelle, hleiht unheriic:ksichtigt. Da das Stehenhleihen auf dieser Ebenc, verbunden mit dem Ansprueh, damit iiher die Inf()rmation alles Saghare ausgesprochen zu haben, nach der Konzep­tion des dialektischen Materialismus Neopositivismus hedeutet (1364, S. 250), hemiihten sich die "Gesellschaftswissenschaftler" in der DDR urn eine die quan­titative Bestimmung ehenso aufrechterhaltende wie sie priizisierende qualitative Erfassung der Information. Man erfaBte sie mit dem in gleicher Weise von der Mathematik erarheiteten und spater von der mathematischen Logik verwende­

ten Begriff der Isomorphie. "Der Sinn des Begriffes Information erschopft sich

in der isomorphen tJbereinstimmung zwischen dem auBeren Ereignis und dem

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Signal. Also kann man sagen, daB der Begriff der Isomorphie geeignet ist, den Begriff der Information qualitativ zu erfassen ... Wesentlid:J. ist, daB der physi­kalisd:J.e ProzeB eine bestimmte Vielfalt von Zustanden annehmen und somit eine Ordnung in sid:J. bilden kann, die der Ordnung der Informationsquelle identisd:J., d. h. isomorph ist (1365, S. 613)."

Daran kniipften sid:J. in der DDR weitere "Spekulationen" iiber die Information als einer spezifisd:J.en Form einer allgemeinen Eigensd:J.aft der Materie, der Wider­spiegelung 6• "Die Information ist eine geordnete Widerspiegelung, Rausd:J.en hingegen ist ungeordnete Widerspiegelung (Novik, in: 1363)." "Die Information kann iiberhaupt nur als Widerspiegelung auBerer Ereignisse in der Struktur, in Form irgendeines materiellen Prozesses verstanden werden ... Der Informa­tionsprozeB verlauft deshalb, weil sid:J. der WiderspiegelungsprozeB voll­zieht (1365, S. 618)."

Weiter besd:J.aftigte die Sowjetwissensd:J.aftler die Frage: ,,1st der Begriff der Information eine Bezeid:J.nung fiir das Ideelle oder fiir das MaterielIe? Oder ist sie irgendein ,Drittes' (1365, S. 616; 1375, S. 321; 1326, S. 711)?" Hinzuzufiigen bleibt, daB H. Vogel (Rostock) die sid:J. auf einen Gedanken Lenins stiitzende Interpretation der Information als eine Form der Widerspiegelung ablehnt 1.

Er ist der Meinung, "der Hinweis auf den Gedanken Lenins, daB die gesamte Materie eine Art Widerspiegelungsfahigkeit besitze, lost das Problem nid:J.t ... Eine Information spiegelt aud:J. nid:J.t immer etwas im Sinne der Erkenntnis­theorie wider, sondern in unbelebten Systemen vertritt sie nur etwas, fungiert sie an Stelle von etwas anderem. Diese rein materielle funktionelle Stellvertre­tung ist nid:J.t gleid:J.zusetzen mit erkenntnistheoretisd:J.er Widerspiegelung (1375, S. 323)."

Neuerdings bemiiht sid:J. W. Thimm, den Begriff der Information praziser zu fassen. Er bezeid:J.net in seiner Studie "Zum Verhaltnis von BewuBtsein und In­formation" (1373) aIle bisherigen Informationstheorien als "Signal" -Theorien, "weil die inhaltlid:J.e, bedeutungsmaBige Seite durd:J. sie nieht erfaBt und das ,semantisd:J.e Problem' nid:J.t gelost ist". Dnter Information solI nur die Bedeu­tungsbeziehung zwisd:J.en Signal und BewuBtsein bezeid:J.net werden. "Wie das BewuBtsein ohne Materie nid:J.t existent ist, so aud:J. die Information nieht ohne BewuBtsein." Dnd da nad:J. dem Autor BewuBtsein ohne Beziehung zwisd:J.en Objekt und Subjekt nid:J.t vorstellbar ist, diese Beziehung aber in der Bedeutung der Semantik und damit in der Information besteht, "ware das BewuBtsein demnad:J. ohne Information nid:J.t denkbar, und der BewuBtseinsinhalt scheint nid:J.ts anderes zu sein als eine bestimmte Menge Information, eine gespeid:J.erte Menge von Bedeutungsbeziehungen (1373, S. 858)." Thimm zieht die - vor­laufig hypothetisd:J.e - Sd:J.luBfolgerung, "daB die Information das Wesen des BewuBtseins iiberhaupt ausmacht".

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Die Hilfe der Kybernetik fur den Aufbau des "wissenschaftlichen Sozialismus"

Die Fragen, die die Kybernetik den "Gesellschaftswissenschaftlern" in der DDR stellte, bezogen sim einmal auf die Existenz kybernetisc:her Systeme in der Gesellsc:haft und zum anderen auf die Anwendung mathematisc:her Begriffe und Methoden in den "Gesellsc:haftswissensc:haften" (1333) 8. Mit dies en Fragen setzt sieh unter anderen G. Klaus in seinem Werk "Kybernetik in philosophi­seher Sieht" (1320, S.490) auseinander. Bei seiner Dntersumung kybernetismer GesetzmaBigkeiten in den mensmlimen Beziehungen (1320, S. 450) 9 weist er dar­auf hin, daB "die Kybernetik der mensmliehen Beziehungen" selbst noeh viel interessanter ist als die der kompliziertesten Rechenmasmine. "Wir finden hier eine fast unersmopflime Fiille, auf d ynamismer Wemselwirkung beruhehder ,Feed-back-Systeme' (1320, S. 450)." Diese sind nam Klaus selbst in den alltag­limen zwismenmensmlimen Beziehungen, wie etwa innerhalb der Familie, oder innerhalb eines Arbeitskollektivs als aum innerhalb der kompliziertesten Weehselwirkungen zwismen Klassen und Staaten vorhanden. "Hier gibt es Regelmec:hanismen, die Stabilitat erzeugen, hier findet Informationsaustauseh und Informationsumwandlung statt (1320, S. 450)." Dnter Zuhilfenahme kyber­netismer Methoden auf dem Gebiet der "Gesellsmaftswissensmaften" versprimt sim der Autor eine betraehtlime Vertiefung der Erkenntnisse.

Die angeblim SQ stiirmisehe Entwicklung der Produktivkrafte im Sozialismus fordere von den "Gesellsmaftswissensmaftlern", so betonen es immer wieder die Verantwortliehen der Partei, eine engere Zusammenarbeit mit den Natur­wissenschaftlern und Temnikern, "um zum Beispiel die Kybernetik nieht nur im Bereim der materiellen Produktion, sondern aum auf andere Gebiete des gesellsmaftlimen Lebens anzuwenden" (1312, S. 407). Diese Anwendung mame es notwendig, die gesellsmaftliehen Prozesse in den Strukturen zu erfassen, die dafiir Sorge tragen, daB zwismen 'der Vielfalt gesellschaftlicher Beziehungen InfQrmationen iiber den jeweiligen Zustand ausgetausmt werden. Dabei werde die Kenntnis der Gesetze der Namrimteniibertragung und der Informationsver­arbeitung fiir die Leitung gesellsmaftlieher Prozesse und damit "fiir die Stabili­tat des Staates gegeniiber inneren und auBeren, zufalligen und systematismen Storungen mehr und mehr zur gesellsmaftlimen N otwendigkeit (1316, S. 786 f.)." Da naeh der Lehre des Kommunismus die gesamte Staatspolitik eine auf wissen­smaftlimer Grundlage beruhende, zielbewuBte Regulierung der Gesamtgesell­smaft anstrebt, wird "die Politik der marxistism-leninistismen Parteien bzw. der sozialistismen Staaten als ein Stiick angewandter Kybernetik" (1320, S.316) betrachtet. In kybernetismer Simt ersmeint somit "der wissensmaftlime Sozialismus als eine auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus betriebene Anwendung der Kybernetikauf die Gesellsmaft" (1320, S. 316).

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Politische Okonomie, Soziologie und Kybernetik

Die politisOOe Okonomie, die siOO mit der "Basis" der gesellsOOaftliOOen Pro­zesse besOOiiftigt, wird naOO G. Klaus und R. Thiel (1333) durOO die Kybernetik zu einer neuen qualitativen Stufe, "die den Planungsaufforderungen des Sozia­lismus-Kommunismus adiiquat ist", emporgehoben. Als wesentliOO wird dabei eraOOtet, daB die volle Ausnutzung der neuartigen mathematisOOen und teOOni­sOOen Hilfsmittel nur der PlanwirtsOOaft des Sozialismus offensteht, wiihrend sie im "Kapitalismus" nur in besOOeidenen TeilbereiOOen mogliOO ist 10. Interessant ist der wissensOOaftstheoretisOOe Hinweis, wonaOO die von Windelband vor­genommene und im Westen noOO weitgehend geltende Gegeniiberstellung von Geistes- und NaturwissensOOaften durOO die Anwendung der Kybernetik auf die "GesellsOOaftswissensOOaften" erkenntnistheoretisOO unhaltbar geworden sein soIl.

Dm eine differenziertere Anwendung der Kybernetik auf die gesellsOOaft­liOOen Prozesse zu ermogliOOen, wird in einer Studie (1358) das Verhiiltnis von marxistischer Soziologie und Kybernetik sowie das Verhiiltnis beider zur politi­sOOen Okonomie untersuOOt. Wiihrend die politische Okonomie nach Ansicht der Autoren "den grundlegenden BereiOO des GesellsOOaftlimen untersuOOt 11, er­forsmen andere GesellsOOaftswissensOOaften bestimmte Seiten, die vom Dnter­suOOungsgegenstarul der politisOOen Okonomie versOOieden sind. Aufgabe der Soziologie ist es nun niOOt, ledigliOO eine numerisOOe Zusammenfassung ... ein­zeIner gesellsOOaftswissensOOaftliOOer FaOOdisziplinen vorzunehmen oder deren Ergebnisse zusammenzufassen ... Es geht vielmehr um allseitige Erforschung der gesellschaftliOOen WirkliOOkeit in ihren verschiedellen Zusammenhiingen." Als Arbeitshypothese fUr soziologisOOe ForsOOungen wird von den Autoren fol­gender GegenstandsbereiOO umrissen: "Ausgehend von der letztlichen Bedingt­heit der Gesellschaft als Ganzes durOO ihre okonomische Struktur, ist es Auf­gabe der marxistisOOen Soziologie, die Beziehungen zwisOOen den verschiedenen Sphiiren des gesellsOOaftliOOen Lebens und dem Gesamtkomplex der auf ein be­treffendes konkretes Objekt wirkenden Faktoren mit dem Ziel zu erforschen, die hierbei wirkenden GesetzmiiBigkeiten aufzude<ken (1358, S. 1634) 12."

Die politisOOe Okonomie ist, will sie niOOt in Allgemeinheiten ste<kenbleiben, naOO AnsiOOt der Autoren auf soziologische DntersuOOungen unmittelbar an­gewiesen. Dabei kommen im Sinne der Autoren Kybernetik und Soziologie darin iiberein, daB siOO beide mit den mogliOOen Verhaltensweisen siOO selbst regulierender Systeme und den inneren Zusammenhiingen in solchen Systemen besOOiiftigen (1358, S. 1638). DaB eine Anwendung der Kybernetik in der Sozio­logie nur dann von Nutzen sein kann, wenn die Besonderheiten der gesellschaft­lichen Systemzusammenhiinge berii<ksiOOtigt werden, in denen als das Spezi-

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fische der handelnde Mensch in je konkreten gesellschaftlichen Situationen steht, wird von den Autoren wohl eingeriiumt. Dieser Forderung meint man indes be­reits dadurch Rechnung tragen zu konnen, indem die staatlichen Planungs- und Leitungsorgane als die regelnde Komponente und die sozialistische Volkswirt­schaft als die geregelte Komponente eines kybernetischen Systems angenommen werden. Und da die mathematische Modellierung nicht nur okonomischer, son­dem gesamtgesellschaftlicher wie auch spezifisch soziologischer Zusammenhiinge als moglich und unerliiBlich angesehen wird, ist auch "das enge Zusammenwirken von politischer Okonomie, Soziologie und Kybernetik bei der konkret-kom­plexen Erforschung der gesellschaftlichen Entwicldung nicht nur moglich, son­dern notwendig" (1358, S. 1649).

Den Beleg fUr diese These solI eine Arbeit abgeben, die den Versuch unter­nimmt, an zehn in dem Werk von Karl Marx "Das Kapital" dargestellten oko­nomischen Zusammenhiingen den Nachweis ihres kybernetischen Charakters zu fUhren (1333). Den Schwerpunkt der Analyse verlegen die Autoren darauf zu zeigen, daB die erwiihnten Zusammenhiinge ebenso geschlossene (das ResuItat der Ursachen wirkt auf die Ursachen zuriick) wie tendenziose, das heiBt den Zufall zugunsten der Notwendigkeit verarbeitende beziehungsweise die Not­wendigkeit, das heiBt die Tendenz gegeniiber den Zufiillen durchsetzende Systeme sind. Bei der Erorterung des bekannten Marxschen Schemas G -W - G schreiben die Autoren: ,,1m Kauf fur den Verkauf ... sind Anfang und Ende dasselbe ... Der Zyklus G - W - G begriindet also eine Tendenz. Er braucht nur ein einziges Mal in Bewegung gesetzt zu werden, um sich stiindig aufs neue zu entziinden. Der ProzeB ist ,objektiv' auf das Ziel ge­richtet, sich am Leben zu erhalten. Die Ursache - niimlich der Start des Zyklus - verliert sich nicht in der Wirkung 13. Die Wirkung besteht vielmehr in einem Neusetzen der Anfangsbedingungen, die Ursache wirkt auf sich selbst zuriick, und der Start - einmal gegeberi - wird zur Ursache seiner selbst (1333, S. 33£.)." Die vollstiindige Form des Prozesses G - W - G' (wobei G' = G + Ao), so meinen die Autoren, besagt nur, daB sich der eingesetzte Wert (G) vermehrt (G') und in der Bewegung I G(h±~ in Kapital verwandelt wird; das heiBt, der Zuwachs wird nicht als zu beseitigende Storung, sondern wird dem prozessieren­den Wert zue:eschlae:en. so daB sich der ProzeB auf hoherer Stufe regeneriert (Zeichen dafiir , <±l '). Durch das Schema G-W-G' solI daher zum Ausdruck ge­bracht werden, "daB sich der ZirkulationsprozeB vollzieht, indem sich seine Not­wendigkeit, das heiBt sein tendenzhaftes Wesen, vermittels des Zufalls durchsetzt. Es wird ja nur gefordert, daB der ProzeB durch eine Ware vermittelt wird. Wel­cher Art aber diese Ware ihrem Gebrauchswert nach ist, ist fiir den ProzeB viillig gleichgiiltig und unwesentlich, mithin also zufiillig. Beriicksichtigt man noch das Verhiiltnis von Tendenz und Zufall in der Zirkulation, so wird der Charakter

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des Prozesses nom deutlidler, der in einer Verarbeitung der Zufalle durm die Automatik, das heiBt das Wesen und damit durm die innere Notwendigkeit des Systems, hervorgebramt wird (1333, S. 341)."

Zusammenfassend erklaren die Autoren in ihrer Arbeit "Ober die Existenz kybernetismer Systeme in der Gesellsmaft", daB aIle behandelten okonomismen Zusammenhange Systeme sind, die folgende Eigensmaften aufweisen:

1. "Jedes System ist eine Einheit von Gegensatzen, die miteinander in Wem· selwirkung stehen ... Die Daseinsweise der Systeme besteht in der standigen gegenseitigen Beziehung der Pole aufeinander und auf sim selbst und·ist daher Selbstbewegung. "

2. "Durm die Riidcbeziehung jedes Poles auf sim selbsi wird eine Tendenz, eine Zielstrebigkeit begriindet. Die Zielstrebigkeit existiert objektiv; sie hat mit bewuBter Zielstrebigkeit nimts zu tun."

3. "Die untersumten Systeme bzw. Widerspriime sind gekennzeimnet durm die Einheit von Notwendigkeit und Zufall; sie verarbeiten bestimmte Klassen von zufalligen Ereignissen (1333, S. 47)."

Zum Namweis der Isomorphie (Strukturidentitat) zwismen den von den Autoren erorterten okonomismen Systemen und jedem kybernetismen System wird auf die drei marakteristismen Merkmale eines jeden kybernetismen Systems verwiesen: 1. Auf den Regelkreis mit seiner Einheit von RegIer und Regelstredce; 2. auf die Regelung selbst als auf das Gewahrleisten des Einhal­tens eines Zieles (des Sollwertes); 3. auf die dynamisme Einheit von Notwen­digkeit und Zufall vermoge des Verarbeitens des Zufalls zugunsten der Not­wendigkeit (1333, S. 48-55).

Die Autoren besmlieBen ihre Analyse mit der Feststellung, daB "der kyber­netisme Charakter gesellsmaftlimer Systeme nimt eine Randersmeinung der Gesmimte ist, sondern wesentlich mit dem dialektismen Wesen des Gesmimts­prozesses zusammenhangt" (1333, S. 57).

Zum Verhiiltnis zwischen Mathematik und "Gesellschaftswissenschaft"

Seit dem 12. Plennm des ZK der SED (16. bis 19. Marz 1961), auf dem die Dringlimkeit der Anwendung mathematismer Methoden in der Plallung und Leitung der Volkswirtsmaft propagiert wurde, breitete sim in einigen Zeit­smriften eine intensive Aufklarung mit dem Ziel aus, die Mathematik, ohne welme die Kybernetik nimt anwendbar ist, aum fiir die "Gesellsmaftswissen­smaften", besonders fiir die politisme Okonomie, frumtbar zu mamen. Eine Be­ratung der Sektion Wirtsmaftswissensmaften der Deutsmen Akademie der Wis­sensmaften am 27. September 1961 befaBte sim eindringlim mit dies em Tbema. Der Vorsitzende der Sektion, Alfred OelBner, betonte, daB "angesimts der

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rasdlen Entwicldung der sozialistisdlen Produktionsverhaltnisse und der groBen Aufgahen des wirtsdlaftlidlen Aufhaus in den sozialistisdlen Landern, der er­reidlten Reife der marxistisdl-Ieninistisdl-politisdlen Okonomie, der Entwick­lung der Mathematik und der Redlentedlnik die Anwendung mathematisdler Methoden in der Okonomie moglich und notwendig geworden ist" (1349, S.1880).

In der starkeren Hinwendung der politisdlen Okonomie zur Mathematik gehe es gar nidlt darum, erlauterte H. Michael, "eine neue okonomisdle Diszi­plin, etwa eine ,sozialistisdle Okonometrie' zu schaffen. Die dringende Forde­rung der Gegenwart lautet vielmehr, in allen okonomischen Untersuchungen die qualitativen Untersudlungen mit der vollstandigen quantitativen Erfassung zu verhinden und dadurdl ein Leistungsoptimum in der wissensdlaftlidlen Arheit zu erreidlen (1349, S. 1882 ff.)."

Da die Mathematik im Zusammenhang mit der Anwendung der Kyhernetik auf die "Gesellschaftswissensmaften" in erster Linie als ein "System von Be­griffen und Methoden" angesehen wird (1366, S. 24), wird die Forderung vieler "GeseIlsdlaftswissensdlaftler": "erst die MeBharkeit simern, dann Mathematik anwenden", als Empirismus ahgelehnt. Fur die nutzvolle Anwendung der Mathe­matik als Instrument der Erkenntnis okon<>misdler Prozesse seien indes ein­deutige und prazise okonomisdle Begriffe vonnoten(I334, S. 988; 1353, S. 26; 1349, S. 1884; 1366, S. 33). Dieses Charakters enthehrten, nam der Ansidlt von R. Thiel (1366, S. 35 f.), die tragenden Begriffe marxistisdler Politokon<>mie, allen voran der der "okonomismen Proportionalitat". So sieht sim R. Thiel genotigt, "unter Benutzung mathematisdler Gesidltspunkte uherhaupt erst zu einem Begriff der okonomischen Proportionalitat zu kommen" (1366, S. 35). Ausgehend von der Vorstellung uher die Proportionalitat zweier veranderlicher GroBen y(t) = x(t) wird betont, daB "man zum Beispiel die Proportionalitat von Arheitsproduktivitat A(t) und Lohn L(t) darin erblicken wird, daB A(t) > L(t) fUr aIle t > to' wenn man davon ausgeht, daB zu dem Zeitpunkt to die Relation A(t) = L(t) hestanden hat. Die Arheitsproduktivitat muB sdlnel­ler wadlsen als der Lohn, die Wachstumsquote oder die Gesdlwindigkeit der Veranderung muB bei der Arbeitsproduktivitat groBer sein als beim Lohn dA (t) dL (t) -- > -- (1366 S 36) " dt dt ,..

Bliehe die Gesmwindigkeit der Bewegung einer okonomismen GroBe nidlt fur aIle t konstant dergestalt, daB sie sidl mit einer hestimmten Gesmwindigkeit verandere, so ist dieser Umstand durdl die zweite Ahleitung nam der Zeit, das heiSt durdl den zweiten Differentialquotienten darzustellen. Die Anderungs­gesdlwindigkeit der Besdlleunigung einer okonomischen Veranderlidlen ware mittels des dritten Differentialquotienten darzustellen. Und da fUr die Dar­stellung kybernetisdler Systeme die hoheren Differentialquotienten unent-

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behrlim seien, "kann man sim so eine ganze Folge von Differentialquotienten zunehmender Folge vorstellen. Vnter dies em Gesimtspunkt gesehen", so folgert der Autor, "ist die EinfUhrung von Differentialquotienten hoherer Ordnung in okonomism-mathematisme Betramtungen prinzipiell selbstverstandlim und nur eine Frage der Prazision" (1366, S. 35).

Falls dagegen eine Vielzahl okonomismer Prozesse fUr gewisse Intervalle stagnieren und in einzelnen Punkten Spriinge aufweisen soHte, so da8 man derartige FaIle der Theorie als typism zugrunde legen mii8te, ware es sinnlos, "die Ahleitungen einzufUhren, uud es ware iiherhaupt unmoglim, den Begnff der Gesmwindigkeit zu benutzen".

Dem Eiuwand, daB Differentialgleimuugen lediglim Funktionszusammen­hange und nimt aum smon Kausalzusammenhange abbildeten 14, begegnet man dadurm, daB es geniige, dem zeitlimen Wertverlauf eines okonomismen Pro­zesses mittels einer Koordinieruug den eines zweiten Prozesses zuzuordnen. Fiir diese Koordinierung iuteressiere mathematism nur, "eine der heiden Funk­tionen aus der Kenntnis der anderen und der Differentialgleimung zu bestim­men" (1366, S. 43). Ohn.e Zweifel unterliegen die von deJ; Kybernetik unter­sumten Zusammenhange zwismen Prozessen diesem allgemeinen Koordinie­rungstyp, so daB sim nach Auffassung des Autors folgendes Smema aufstellen lieBe: Das System selbst, als der im Wandel der Ersmeinpngen relativ stabil sim durmsetzende Faktor, wird durm die DifferentialgleicllUng dargesteHt, wahrend die Funktion x(t) den Verlauf des auf das System einwirkenden Prozesses und yet) das Verhalten des Systems bei der Einwirkung x(t) wiedergeben, Kyber­netism ware dann x(t) die EingangsgroBe (input) und yet) die Ausgangsgro8e (output), wahrend die Differentialgleimung den Verlauf des Prozesses nam einer Rimtung, vom Eingang zum Ausgang besmreibt. Da ein solmes "Eingang­Ausgang-System" der Kompliziertheit und Vermasmung politokonomismer und geseHsmaftspolitismer Zusammenhange kaum geremt werden kann, verweist man einmal darauf, daB zwei solmer Systeme zu einem einzigen Riickkopplungs­kreis zusammengesmaltet werden konnen - wobei der Ausgang yet) des ersten Systems der Eingang des zweiten ist und der Ausgang des zweiten zum Eingang x(t) des er.sten addiert oder subtrahiert wird - und zum anderen, da8 Riick­kopplungskreise mit einer kompliziert vermasmten Struktur durm eine einzige Differentialgleimung dargestellt werden konnen - wohei x(t) beziehungsweise yet) Eingangs- heziehungsweise AusgangsgroBen des Gesamtsystems werden (1366, S. 43) 15.

Kybernetik und Verflechtungsbilanzen

An bestimmten mathematismen Verfahren werden gegenwartig in der DDR die Matrizenremnung zur Vntersumung der Verflemtungsbilanzen und die

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line are Programmierung zur Optimierung okonomisdter Prozesse intensiviert. In einer Artikelserie unter dem Thema "Kybernetik und Verfledttungs­bilanzen" madtt G. Klaus (1327) 16 darauf aufmerksam, daB "im Pro gramm­entwurf der Sozialistisdten Einheitspartei Deutsdtlands nidtt nur die Kyber­netik in bedeutsamen Zusammenhangen erwahnt wird, sondern es wird audt an vie len Stellen auf Probleme eingegangen, die direkt oder indirekt mit der Kybernetik und ihren Anwendungen zusammenhangen. Dabei handelt es sidt insbesondere um Aussagen iiber vermasdtte Regelkreise, iiber selbstoptimie­rende Regelmedtanismen und iiber kybernetisdte Riickkopplungsschemata der versdtiedensten Art. Die universelle Wedtselwirkung in einer sozialistisdten, als komplexes kybernetisdtes System aufgefaBten Volkswirtsdtaft laBt sich, wie wir heute wissen, am besten mit Hilfe der Tedtnik der Verfledttungsbilanzen und - was nur das mathematisdte Aquivalent dieser Methode ist - der Matrizen­theorie aus dem Bereidt der linearen Algebra darstellen (1327, 1. Folge, S. 15)."

Yom vollen Einsatz der Matrizenredtnung erhofft sidt G. Klaus eine umfas­sendere Beherrsdtung der Verfledttungsbilanzen und damit eine exaktere Planungsmoglidtkeit der sozialistisdten Volkswirtsdtaft. Die Tatigkeit der Lei­tungs- und Planungsorgane des sozialistischen Staates im wirtschaftlidten Be­reidt wiirde optimiert. "Die Mathematisierung und ,Kyh.ernetisierung' der Len­kung und Planung der Volkswirtsdtaft gibt", so unterstreidtt G. Klaus, "eine groBere tJbersidtt iiber das Wirken der objektiven okonomisdten Faktoren, ver­einfadtt das ganze System der Leitung und eroffnet einen breiteren und leidt­teren Zugang zu diesem gesellsdtaftlidten Komplex" (1327, 1. Folge, S. 16).

Die Nutzung der in einem Modell dargestellten Zusammenhange fiir die Pla­nung der richtigen Proportionen der einzelnen okonomisdten wie gesellsdtafts­politisdten Faktoren wird von den Kybernetikern als erster Sdtritt der Kyher­netisierung der gesellsdtaftlidten Prozesse angesehen. Ein zweiter Sdtritt be­stehe in der Ausnutzung der Optimierungsberedtnungen. Hierbei kommen, wie es in einem Aufsatz "Zur Anwendung mathematischer Methoden und redten­tedtnisdter Verfahren in der Okonomie" (1353) heiBt, "besonders folgende, in den letzten Jahren entwickelte Methoden zur Anwendung: a) die ,line are Pro­grammierung' oder besser ,line are Optimierung'. Man versteht hierunter mathe­matisdte Methoden zur Beredtnung der Maxima oder Minima einer linearen Funktion mehrerer Veranderlidten, die einem System von Gleichungen und Ungleichungen geniigen ... ; b) die ,dynamisdte Programmierung' (bei Investi­tionen und Grundfonds - der Verfasser) ... ; c) die ,Theorie der Spiele' 11 ••• ;

d) die ,Theorie der Bedienung' oder ,Theorie der Warteschlangen' ... (1353 S.26f.)."

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Kybernetik und Statistik

Rimtiges Regeln erfordert genaue Kenntnis der RegelgroBe. Wird die Volks­wirtsmaft als ein multistabiLes 18 kybernetismes System aufgefaBt, in dem die Leitungwrgane als der RegIer und die Produktion beziehungsweise der Inve­stitionsumfang, die Akkumulation oder der Konsum als zu regelnde GroBen ersmeinen, dann liegt es nahe, die Statistik im Rahmen der volkswirtsmaft­limen Regelkreise als die Riickkopplung zu betraroten, die den RegIer iiber den tatsamlimen Zustand der RegelgroBe informiert. Eine angemessene "Kyber­netisierung" der Statistik kann aber erst dann gelingen, wenn eine entspre­mende "Mathematisierung" der okonomisroen Statistik vorausgegangen ist. In dem bereits zitierten Artikel bemangelt Rainer T.hiel (1353), daB die Statistik der "Gesellsmaftswissensroaften" in der DDR "lediglim eine gewisse Kultivie­rung der okonomisroen Datenerfassung" hervorgebramt hat, ohne jedom die erforderliroen Scluitte zur Mathematisierung ihrer Disziplin getan zu haben. "Die Autoren bevorzugen Beispiele und meiden weitgehend selbst einfaroe mathematische Begriffe, sogar dort, wo die Beziige - etwa zur mathematismen Statistik - ganz offensimtlim sind ... Die Statistik als Institution zum Be­smaffen und Aufbereiten von Zahlenmaterial wird daher neue Impulse bekom­men, wenn die traditionellen okonomismen Fragestellungen durm mathe­matism-kybernetische Gesimtspunkte weiterentwickelt werden (1353, S. 33)." Thiel raumt ein, "daB es in Gestalt der Statistik eine Disziplin gibt, die dem Zahlenmaterial und den ersten Schritten seiner Aufbereitung ihr Gesimt zu­wendet. Aber es ist notwendig, festzustellen, daB die Statistik dabei stehen­geblieben ist und trotz erkannter Notwendigkeit einerseits, den AnsmluB an die mathematische Analyse herzusteIlen, sim andererseits davon isoliert, den AnschluB nicht ausfiihrt und auf eine Inspiration ihrer Begriffsbildung durch entsprechende Begriffe aus der Analysis verzichtet hat" (1353, S. 38).

Der Frage der Entspremungen zwischen statistischen und kybernetischen Kategorien geht K. J. Richter nam (1360). Angeregt durch einen Hinweis von K. Adam 19, sieht er den Begriff der Information (in der kybernetischen Theorie) und den der Statistik (in der statistischen Theorie) als einander zugeordnet. Die von Adam geauBerte Auffassung, daB die Statistik zu einer allgemeinen Wissen­schaft von der Information tendiert, solI auch in der DDR gepriift werden.

Dariiber hinaus halt Richter den kybernetischen Begriff der Organisiertheit und den statistischen Begriff der Korrelation fiir vergleichbar. Dergestalt, daB "die in der Korrelationstheorie zu behandelnden FaIle der Abhangigkeit zwi­schen zwei statistismen Merkmalsreihen sich nunmehr als ein Sonderfall des allgemeinen kybernetischen Begriffs der Organisiertheit ergeben" (1360, S. 38).

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Zur Soziologie der "MenscJt-Maschine-Symbiose"

Die Kybernetik bra rote es zuwege, daB ein bei den marxistisro-Ieninistisroen "GeseIlsroaftswissensroaftlern" lange Zeit in den Hintergrund gedrangter Marxsroer Grundbegriff wieder ins Lirot der Aufmerksamkeit ruckte. Es ist der mit dem Wesen der Arbeit im Zusammenhang stehende Grundbegriff der Entfremdung. "Die Kybernetik ... laBt uns nirot nur in vielen Bereiroen sroQn Bekanntes in neuem Lirot ersroeinen", so beginnt G. Klaus seinen Artikel (1321) iiber das Problem der Arbeit, "sondern wirft auro in fast allen Gebieten, mit de~en sie in Beriihrung kommt, neue Fragestellungen auf". Eines der Probleme, zu dem uns die Kybernetik etwas zu sagen habe, sei die Frage naro dem Wesen der Arbeit. "Wenn siro in der Arbeit das eigentliroe Wesen des Mensroen zeigt, so ist es unvermeidliro, daB aIle gesellsroaftliroen, teronisroen und wissensroaft­liroen Tatsaroen, die auf dieses Wesen wirken, ... unser starkstes Interesse her­vorrufen ... Es ist bekannt, daB die Klassiker des Marxismus einen groBen Teil ihrer Sroriften eben diesem Wesen der Arbeit gewidmet haben. Die Unter­suroungen reiroen von der Darlegung des Begriffes der Entfremdung iiber die ,Kritik des Gothaer Programms' von Karl Marx bis zu den letzten Arbeiten Lenins. Es ist zweckmaBig, unsere Darlegung mit einer Neueinsroatzung des Entfremdungsbegriffs zu beginnen (1321, S. 166)."

Diese Neueinsroatzung sei mit der teronisroen Seite der Kybernetik gegeben, die die Automatisierung der korperliroen und geistigen Arbeit einsrolieBe und "das PrQblem des Verhaltnisses von sroopferisroer und sroematisroer Arbeit in nie geahnter Sroarfe" stelle (1321, S. 346). Dieses von der Kybernetik her­gestellte "Problem der Untersroeidung von sroopferisroer und sroematisroer Arbeit ist keinesfalls nur eine Frage der Erkenntnistheorie, sondern es ist auro in hohem MaBe ein gesellsroaftliroes Problem" (1321, S. 345).

tlbergehen wir diese erkenntnistheoretisroe Seite, mit der siro Klaus ein­gehend befaBt, und lenken unsere Aufmerksamkeit auf das soziologisroe Mo­ment des Problems: "Kybernetik - sroematisroe und sroopferisroe Arbeit?" Mit dem "sozialistisroen Eigentum an den Produktionsmitteln" sei naro marxistisro-Ieninistisroer Auffasssung die gesellsroaftliroe Entfremdung auf­gehoben. Es blieben aber zunarost noro sekundare Folgen dieser Entfrem­dung. Klaus nennt sie "teronisroe Entfremdung". Sie beinhaltet ein Doppeltes: einmal die "Unterordnung unter die Arbeitsteilung" und zum anderen "den Zwang zur sdlematisroen, unsroopferisroen Routinearbeit". Die Kyhernetik wie die durro sie teronisro ermoglirote Vollautomatisierung der Produktionspro­zesse sroafften indes die V Qraussetzungen dafiir, daB auro die teronisroe Ent­fremdung des Mensroen aufgehoben werde.

"Die Aufhehung dieser teronisroen Entfremdung wird uns durro die Kyber-

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netik und die Automatisation entsdteidend erleidttert. Damit werden die tedt­nisdten Voraussetzungen fUr den massenhaften tJhergang von der medtanisdten, routinemaBigen zur sdtopferisdten Arheit getan." Es ware jedoch einseitig zu sagen, unterstreidtt der Autor, "daB die Kyhernetik und Automatisation fiir sidt diesen Aufsdtwung hewirken konnen. Grundlegend sind audt hier Ande­rungen des BewuBtseins, die sidt in einem neueu Verhaltnis zur Arheit und damit zu einem neuen Verhaltnis des Menschen zur Maschine auBern (1321, S.356)."

Mit diesem neueu Verhaltnis hesdtaftigt sidt G. Klaus in einem hreit ange­legten Artikel (1329). Den von den sowjetisdten Autoren Lajapun6v und Kitov gepragten Begriff "Mensch-Masdtine-Symhiose" stellt Klaus in groBere kyher~ netische Zusammenhange, da er "groBe Bedeutung fiir die marxistisch-Ienini­stisdte Soziologie gewinnen wird" (1329, S. 885). Das Verhaltnis von Mensdt und Masdtine im Rahmen der von uns hehandeiten Symhiose ware nadt Klaus "ein spezieller Fall der allgemeinen kyhernetisdten Theorie von System und Um­gehung, der allgemeinen Spieltheorie" (1329, S. 895).

Fiir die Gestaltung der Symhiose Mensdt und Masdtine spiele das kyher­netisdte Verstarkerprinzip eine hedeutende Rolle. Diene dodt die Maschine der Verstarkung und Vervielfaltigung der Kraft und der Madtt des Mensdten. Dahei konne dieses System als Verhaltnis zwisdten System und RegIer erfaBt werden, "wohei die Gesamtheit heider ein geregeites System" hilde (1329, S. 888). In der Entwiddung der Symhiose Mensdt-Masdtine iihernehme der Mensdt immer mehr nur die Funktion eines Reglers, so daB er sidt sdtlieBlidt nur nodt als "Regier hoherer Ordnung" hetatige.

Ein neuer Ahsdtnitt der Symhiose wird durch die tedtnisdten Systeme mit Lernmatrix eroffnet. Diese Automaten imitieren nidtt nur irgendein optimales Verhalten des Mensdten, sondern optimieren ihr Verhalten selhst, indem sie den jeweilig Qptimalen Algorithmus selhst erarheiten. Damit erhalt der Mensdt erstmalig die Gelegenheit, nehen den ProduktionsprozeB zu treten, um so erst eigentlidt Herr dieses Prozesses zu werden. "Diese Perspektive", vermerkt G. Klaus, "entspridtt der ohjektiven Tendenz der Entwiddung der Symhiose von Mensdt und Masdtine im kyhernetischen Sinne" (1329, S. 896).

Die letzte Phase dieser Entwiddung leiteten nadt Klaus die von John v. Neumann und W. R. Ashby ausgearheiteten Entwiirfe ein. Danadt ist es der Kyhernetik moglidt, Systeme zu hauen, die ihren Konstrukteuren iiherlegen sind. Die von dem Mensdten gesetzten Ziele werden mit Hilfe dieser tedtnisdten Systeme auf eine neue Weise erreidtt. Der Mensdt erteilt ihnen nidtt nur den Zielauftrag, sondern dariiher hinaus den Auf trag, den Weg, der zu diesem Ziel fiihrt, selhst zu optimieren. Die aite Symhiose von Mensdt und Masdtine ware damit aufgelost. Weder wird sidt der Mensdt wie hisher dem Rhythmus der

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Masmine anpassen, nom wird sich die Masmine den mensch lichen Fahigkeiten anpassen mussen. Die Symbiose "Mensch-Mas chine" nimmt eine neue Gestalt an, da der Mensch an dieser Symbi()se nur noch mit sol chen Eigenschaften teil­nehmen wird, die von keinem temnischen System je ubernommen werden konnen. "Solche Eigenschaften sind moralische (Hervorhebung yom Verfasser) Eigenschaften, sind die Eigenschaften, die den Mensmen als gesellsmaftliches Wesen marakterisieren (1329, S. 903 ff.)." Wahrend der Mensch seine adap­tiven Eigenschaften in der Vergangenheit dahingehend benutzen muBte, Mangel seiner nimt vollautomatisierten technismen Systeme auszugleichen, wird er nun diese Eigenschaften fUr Ziele und Zwecke einsetzen, die jenseits jedes moglichen technischen Systems liegen. "Damit wird das, was wir ,technische Entfremdung' nannten (Hervorhebung yom Verfasser), endgultig aufgehoben."

Hatte die Intelligenz immer mehr oder weniger das Privileg der schopfe­rismen Arbeit besessen, so wird nach Klaus "in der gesellsmaftlichen Entwick­lung dieses Privileg ein Privileg aller Menschen und hort damit auf, ein Privileg zu sein" (vgl. 1321, S. 344 ff.). Die technische Basis fur diese Entwicklung bietet die Kybernetik - als die" Wissensmaft des Morgen".

Zusammenfassung

Die Kybernetik perfektioniert gewiB die Herrsmaftstechnik uber "Plan­erfullungssysteme". Sie hat jedoeh keinerlei Belegkraft fUr die Wahrheit des sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus. Dnd dies aus folgenden Grunden: Ais eine Formalwissenschaft, die ganzlieh yom stoffliehen, energetischen wie jeglichem inhaltlichen K()ntext abstrahiert und lediglich die allgemeinsten Prin­zipien, die den Funktionen eines jeden selbstregulierenden Systems zugrunde liegen, erforscht, laBt sie sich ohne Zweifel in jedem Regelungsbereich operativ­instrumental verwenden. Diese Instrumentalitat bleibt jedoch neutral gegen­uber dem Bereich geschichtlicher, gesellschaftspolitismer und schon gar philo­sophischer Wahrheiten. Die Gesetze der Kybernetik werden daher nieht, wie es S. M. Saljutin erklart (1330, S. 66), zu Bestandteilen der Philosophie. Sodann sind die "Feed-back-" beziehungsweise kybernetischen Strukturen wohl stabil sim durchhaltende Wemselwirkungsstrukturen, ohnp auch schon dialektische Strukturen zu sein. Denn die GesetzmaBigkeiten der Regelkreise sind keine EntwicklungsgesetzmaBigkeiten im Sinne des dialektisehen und historischen Materialismus.

Bereits V. Stoljarov verweist in seiner Besprechung des Kybernetikbuehes von G. Klaus (1364) darauf, daB man zu unstatthaften Vereinfamungen greifen muB, um die Kybernetik als "experimentelle Dialektik" herauszustellen. Die

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von Klaus als Modell dialektiseher Widerspriiehe bezeiehneten Formeln f(x) = e-X sin X; f(x) = eX sin x; f(x) = sin X bleiben in rein auBerliehen Analogien stedten. Die erste und dritte Formel bilden wohl eine kybernetisehe, das heiBt gesehlossene Rii<kkopplungsstruktur, jedoeh keine dialektisehe Struktur abo Systeme mit solehen Strukturen sind namlieh so stabil, daB in ihnen das zweite dialektisehe Gesetz, der gesetzmaBige "Sprung" in eine neue Qualitat, nieht erfolgen kann. Die zweite Formel mit dem positiven "Feed-badt" ermoglieht allein einem System das Obersehreiten seiner Grenzen. Jedoeh ist diese Ober­windung der eigenen MaBgrenzen keine dialektisehe, da sie keine Entwicklung involviert. Sie vollzieht sieh nieht naeh dem dritten Gesetz der negatio nega­tionis, das im Sinne der Sowjetmarxisten ein Wesensbestandteil eines jeden dialektisehen Prozesses ist (1311, S; 305 ff.). Aueh die Systeme mit Lernmatrix, die ihr Verhalten selbst optimieren, ergeben keine Prozessualitat durch Riick­kehr zum Ausgangspunkt auf hohel'er Ebene, das heiBt, sie unterliegen in ihrer "Entwi<klung" ebenfalls nieht dem dialektiseh notwendigen Gesetz der negatio negationis.

In dies em Sinne stellt aueh S. M. Saljutin fest, daB die Kybernetik keinerlei Belegkraft fiir den dialektisehen Materialismus abgeben kann, da sie in keiner Hinsieht Entwi<klungsgesetze darstellt (1330, S. 63). Saljutin raumt zwar ein, daB die allgemeinsten Regelungsprinzipien der Kybernetik fiir die materia­listisehe Philo sophie von groBer Bedeutung seien, erklart aber: "All das heiBt nieht, daB die Gesetze der Kybernetik Gesetze der Dialektik sind."

Der Hinweis von G. Klaus, "daB die Steuerung der gesellsehaftliehen Prozesse immer dann an Intensitat zunimmt, wenn ein Gesellsehaftssystem instabil zu werden droht" (1320, S. 481), belegt, wider Willen, die These, daB die "sozia­listische" Gesellsehaft, da sie zunaehst einem Maximum an staatlieh manipulier­ter Steuerung, Lenkung und Kontrolle zustrebt, von sim aus ein homst instabi­les System ist. Sie wiirde, sim selbst iiberlassen, zerfallen, falls sie nieht dureh die Befehlsgewalt der Partei und dureh die Maehtmittel des Staates kiinstlich "geregelt" wiirde. 1m sieh selbst regelnden Feld der fiir kybernetisehe Systeme bestimmenden Weehselwirkungen zwisehen Notwendigkeit und Zufall wiirden die "sozialistisehen" Systeme den zerstorenden Einfliissen des Zufalls anheim­fallen, wenn nieht ihre "Notwendigkeit" eine von der Partei kiinstlieh gesetzte und mit den Maehtmitteln des Staates durehgesetzte ware. Die Regelteehnik der Kybernetik zeigt so, daB die "sozialistisehen" Gesellsehaftssysteme gerade keine auf unausweiehlieh sieh durehsetzenden Gesetzesnotwendigkeiten beruhende und sieh stabilisierende Systeme sind. Sie sind kiinstliche Gebilde, gleiehsam sekundare Systeme, die naeh MaBgabe einer durehrationalisierten Leistungsord­nung naeh dem Willen der Partei mit den Maehtmitteln des Staates "kyberne­tiseh" geregelt werden. Wer die Maeht hat, die Gesellsehaft als einen groBen

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438 J. Wolfgang Giirlich

Planerfullungsmemanismus weitgehend in die Hand zu bekommen, wird sim der Kybernetik als dem wissensmaftlimen Instrumentarium fur die Regelung arbeitsteiliger Leistungssysteme mit Erfolg bedienen konnen. Die Notwendig­keit dagegen, die Kybernetisierung und damit die Stabilisierung der "sozialisti­smen" Gesellschaft durm die Befehlsgewalt der Partei mit den Machtmitteln des Staates durmzufUhren, offenbart dem Kybernetiker, daB hinter dieser Notwen­digkeit gerade keine objektiv realen GesetzmaBigkeiten der Gesmimte stehen. In ihr offenbart sich lediglim der zielsetzende und die Gesellsmaft auf dieses Ziel mit den Maehtmitteln des Staates lenkende Wille der Partei. Die These, daB "die systematisehe Anwendung kybernetiseher GesetzmaBigkeiten auf die Gesellsehaft als Ganzes nur dann sinnvoll ist, wenn diese Gesellsehaft eine sozia­listisme ist und wenn die Kybernetik der gesellsehaftliehen Vorgange organiseh mit den entspreehenden Modifikationen in das System des Marxismus-Leninis­mus integriert wird" (1320, S. 213), besteht unter diesen Voraussetzungen zu Remt. Sie belegt daruber hinaus, daB der Kommunismus als ungestume Naeh­holbewegung der Industrialisierung weitgehend ein auf gesellsehaftlicher Ebene zur Institution verfestigter Industrierationalismus ist, der nur dort sein Werk "kyhernetism" vollenden kann, wo der Staat mit seinen drei Grundgewalten lediglieh zum Exekutivorgan eines Parteiwillens entmaehtet ist 20.

Der Behauptung einiger Autoren in der DDR, daB Kybernetik und Auto­mation nur die M oglichkeit des Dbergangs zur Wirkliehkeit sozialistisch-sehopfe­riseher Arheit eroffnen, ist zuzustimmen. ledoeh ist ein Realisationsfaktor unerlaBlieh, der diesen Dhergang in die Wege leitet. Dieser Faktor rekrutiert sim, nam Klaus, weder hereits aus dem materiellen Sein des Entwick.lungsstan­des der Produktionskrafte nom aus der hloBen Wirksamkeit sozialistischer Pro­duktionsverhaltnisse. Der Dhergang zur Wirklichkeit hangt primar von der wirksamen politiseh-ideologischen Sehulung des BewuBtseins der Mensehen unter der Leitung der Partei ah.

Damit wird die Erkenntnis hestatigt, daB in der sozialen Realitat Moglichkeit und Wirkliehkeit nieht "ohne wei teres" zusammenfallen. Es wird daruher hin­aus illustriert, daB Kybernetik und Automation nieht einmal eine solche Mog­lichkeit fUr das sozialistische BewuBtsein eroffnen, daB sie es exklusiv als die allein und einzig zu verwirklichende Moglichkeit offen lieBen. Eine solche Mog­limkeit muBte sim ja notwendig im Siune von unvermeidbar, das heiBt spontan aus den Faktoren des materiellen Seins (Automation und Kybernetik) unter sozialistismen Produktionsverhaltnissen verwirklichen. Die Notwendigkeit aber, im Sinne der UnerlaBlimkeit, das BewuBtsein unter der Leitung der Partei iiberhaupt erst einmal politisch-ideologism zu schulen, damit es sich als "sozia­listismes" BewuBtsein betatigen kann, zeigt, daB die von der Kybernetik dazu eroffnete Mogliehkeit lediglieh eine unter vielen anderen ist.

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Kybemetik und "Gesellsmaftswissenschaft" in der DDR 439

DaB smlieBlim eine nam dem Muster eines Planerfiillungssystems aufgebaute Leben80rdnung die durm die Kybernetisierung der Industrie gewahrte Freiheit lediglim als "Rekreation der Produktivkrafte", als Erholung und Smulung fUr die Arbeitsordnung gelten lassen kann, ist nur folgerimtig. MuSe im klas­sismen Sinn als ein der Nutzung entzogenes und von all em Zweckdienlimen be­freites Tun hat hier keinen Raum. Die Kybernetisierung kann grundsatzlim nur Freizeit gewahren. Die Freiheit, sie in emte MuBe zu verwandeln, ist der Sowjetunion und den Liindern des Ostblocks ob der Identitiit von Leistungs­und Lebensordnung prinzipiell verwehrt, dem Westen bleibt sie als Aufgabe offen.

Anmerkungen

1 Vgl. den Titel seines Hauptwerkes: Cybernetics or Control and Communication in the Animal and in the Mamine, Nelli; York-Paris 1948.

2 Das sowjetisme Akademiemitglied A. N. Kolmogorov definiert: "Die Kybemetik besmiiEtigt sim mit dem Studium von Systemen beliebiger Art, die in der Lage sind, Informationen auf· zunehmen, zu speimern, zu verarbeiten und sie zur Steuerung und Regelung zu benutzen" (in: 1340, S. 16). Von den 100 gesammelten Definitionen (vgI. 1335) entsmeiden sim 24 fiir die Fassung: Kybernetik = Informationstheorie. I. A. Poleta;ev definiert in seinem Bum "Signal" (russ.; deutsm: 1357, S. XI): "Die Kybemetik ist die WissensmaEt von den Steuerungsprozessen und dem ProzeB der Signaliibertragung in Masminen und Lebewesen." Dies ist fast wortlim die Definition Norbert Wieners.

8 Diese temnisme Mamt iiber die Natur zu erlangen, ist die Kybernetik insofern berufen, da sie, nam Klaus, "a18 eine Wis8en8maEt de8 Handelns", der Veriinderung der Welt (1331, S. 20) entstanden ill.

• Ein Artikel de8 "Neuen Deutsmland" (1376) wei8t darauf hin, daB "tiefergehende Artikel zu ge8ellsmaEtlimen und philosophi8men Fragen der Kybernetik leider in der DDR nom 8ehr diinn gesiit sind".

I Zu folgenden Themen wurden For8mung8gemein8maEten gebildet: (1) Grundlegende theoreti8me Fragen der Anwendung der Mathematik in der Okonomie; (2) Anwendung mathematismer Methoden bei der Auf8tellung und AU8wwtung der Volk8'

wirtsmaEtlimen Ge8amtbilauz; (3) Anwendung mathemati8mer Methoden in der Grundstoff-Industrie; (4) Anwendung mathemati8mer Methoden in der Metallverarbeitenden Indu8trie; (5) Anwendung mathematismer Methoden in der Okonomie des Transport- und Namrimten­

wesen8; (6) Anwendung mathematismer Methoden in der Arbeitsokonomik. Weiterhin bestehen bei folgenden Institutionen For8mungsgemeinsmaEten und Arbeitskreise:

(7) ArbeitsgemeinsmaEt zur Anwendung mathematismer Methoden in der Agrarokonomik bei der Deut8men Akademie der LandwirtsmaEtswi8sensmaEten;

(8) Bauokonomism-mathematisme Arbeitsgruppe des Zentralen Arbeitskreises "Elektroni-8mes Remnen im Bauwesen" bei der Deut8men Bauakademie;

(9) Kommission fiir statisti8me Qualitiit8kontrolle, Sektion Angewandte Mathematik und Memanik der Deutsmen Akademie der Wi88ensmaEten;

(10) Arbeitsgruppe fiir die mathemati8me Weiterentwicklnng der okonomi8m-mathemati8men Methoden, Sektion Angewandte Mathematik und Memanik der Deut8men Akademie der Wis8ensmaEten;

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440 J. Wolfgang Gorlick

(11) Arbeitsgruppe Lomkartentedmik beim Institut fUr Verwaltungsorganisation und Biiro· temnik.

Stand: August 1962 (nam 1353, S. 36). 8 Die sowjetisme Kontroverse wird ausfiihrlim abgehandelt bei Helmut Dahm, Die Dialektik

im Wandel der Sowjetphilosophie (Abhandlungen des Bundesinstituts zur Erforsmung des Marxismus·Leninismus [Institut fiir Sowjetologie], Band 2), Koln 1963, S, 58---61.

7 V.I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus. Kritisme Bemerkungen iiber eine reaktionare Philosophie (Biimerei des Marxismus·Leninismus, Band 6), Berlin 1949, S. 82, auBert den Gedanken: "Es ist aber logism anzunehmen, daB die ganze Materie eine Eigen. smaft besitzt, die dem Wesen nam der Empfindung verwandt ist, die Eigensmaft der Wider· spiegelung ...

s Es ist verstandlim, daB sim auf der Grundlage des historismen Materialismus die Haupt. problematik verlagert auf die Fragen, ob und inwieweit okonomisme Zusammenhiinge als kybernetisme Systeme darstellbar sind. Dabei spitzt sim die Problematik auf den Punkt zu, ob diese Zusammenhiinge mathematism modellierbar und damit auf ein Kalkiil abbildbar sind, ohne in ihrer Spezifik als okonomische Prozesse EinbuBe zu erIeiden.

9 Die Voraussetzung fUr die Anwendung der Kybernetik auf die Sozialstruktur sieht Klaus u. a. in den durch formalisierende Abstraktionen entstandenen Grundbegriffen der Kybernetik. Wegen ihres hohen Abstraktionsgrades - vergleichbar den Begriffen der Mathematik - sind sie geeignet, das Gemeinsame der Bereiche des Gesellschaftlichen, Okonomischen, Biologismen und Technismen zu erfassen, ohne die qualitativen Grenzen dieser Bereime zu verwismen.

10 Der aus einander widerspremenden Interessen erwachsende Konkurrenzkampf im "Kapitalis. mus" liiBt, nam Meinung der Marxisten, keine Festlegung entspremender Sollwerte beziehungs. weise FiihrungsgroBen in den in Frage kommenden Regelkreisen zu.

11 Bekanntlim wild die politisme Okonomie definiert als die Wissensmaft von der Ent· wicklung der gesellsmaftlimen Produktionsverhaltnisse. Sie erforsmt nur die gesellschaftlicke Seite der Produktion, wahrend die tedmische Seite von der Naturwissensmaft und Temnik behanaelt wird.

12 Mit der "biirgerlichen Soziologie" hat, nach Ansimt der Autoren, die "marxistisme Soziologie" nur den Namen gemein; vgl. hierzu ausfiihrlich: Peter Christian Ludz, Soziologie und empirische Sozialforschung in der DDR, in dies em Heft.

131m Gegensatz zum ProzeB des Verkaufs, um zu kaufen (W·G·W), der sim in der Wirkung verliert, sofern sein MaB und Ziel au8er ihm, namlich in der Konsumtion, der Befriedigung hestimmter Bediirfnisse, liegen.

1.4 Wahrend die Kausalitiit eine intension ale Relation ist, sind mathematische Funktions· gesetze lediglich extensional. Sie verdeutlimen einen Spezialfall von Bedingungszusammen. hangen.

15 Da kybernetisches Verfahren vornehmlich modelltheoretisches Verfahren ist, bleibt als Ausgangspunkt fiir die Anwendung mathematischer Methoden auf gesellschaftspolitische Bereime die Ausarbeitung eines mathematischen Modells. Weist man nach, daB zwischen einem kyher. netischen Modell Mk und einem gesellschaftspolitischen Bereich Bp Isomorphien (Struktur. Identitiiten) vorhanden sind, so lassen sich die in Mk erfaBten Funktionszusammenhange und methodismen Prinzipien "ohne wei teres" auf Bp iibertragen. Erhiilt nun Mk eine technische Modellierung, so gibt:

[I" (Mk, Bp) . Is (Mk, Mil] = = = Is (Bp, Mt), wobei Is die Isomorphie, das Zeichen "." die konjunktive und das Zeichen ,,===" die implikative Relation bezeichnen. An Mt lassen sich demnach gesellschaftspolitische "Experi. mente" ausfUhren. (V gl. 1333, S. 57).

18 Georg Klaus setzt sich in diesen Artikeln mit dem Buch von Vladimir Kadlec (1913) auseinander.

17 Die fiir das Verstiindnis von kybernetischen Systemen so aufschluBreiche "Theorie der Spiele", die Struktur und Funktion des bewuBten Gegeneinanders von zwei Partnern in ihren wahrscheinlichen Verhaltensweisen erfaBt, wird yom Autor nur als eine fiir die kapitalistisme Okonomie typisme Erscheinung angesehen. Bei der sozialistischen Wirtschaft lieBe sich diese Methode sinnvoll nur beim EinfluB von N aturerscheinungen auf okonomische Vorgiinge anwenden.

18 Das ist ein System, das aus ultrastabilen, d. h. zu verschiedenen Verhaltensweisen fiihigen Teilsystemen zusammengeschaltet ist.

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Kybemetik und "Gesellschaftswissenschaft" in der DDR 441

19 Adolf Adam u. a., Anwendung der Matrizenrechnung auf wirtschaftliche und statistische Prohleme, Wiirzhurg 1959.

20 Norbert Wiener ist in seinem Buch: The Human Use of Human Beings, New York 1954, zwar der Auffassung, daB die psychologischen Voraussetzungen fiir die Anwendung von "Beherrschungsmaschinen", d. h. Elektronenrechnern, die so programmiert sind, .daB sie in jeder Situation die MaBnahmen hezeichnen, deren Anwendung den jeweils Herrschenden die hesten Chancen, ihre jeweiligen Ziele zu erreichen, gewiihrt, in unserer freien Gesellschaft nicht gegehen wiiren. Die Simulatics-Forscher indes wissen hereits zu herichten, daB die noch so komplexen Prozesse unserer industriell-dynamischen Gesellschaft, auch ohne gleichzeitige empirische Analyse, an einem eigens dafiir konstituierten Modell rasch, zuverliissig und anniihernd vollstiindig dargestellt und somit heherrrscht werden konnen. In der amerikanischen Literatur triigt dieses Verfahren den Namen "computer simulation". Von dieser Simulations­technik, die eine wichtige Rolle hei der Entwiddung des "operations research" spielte, soli einer der fiihrenden amerikanischen Sozialwissenschaftler, H. D. Lasswell, erkliirt hahen, sie stelle fiir die Sozialwissenschaften einen iihnlichen Durchhruch dar wie die Atomhomhe in den Naturwissenschaften (vgI. dazu: Friedrich Pollock, Die sozialen und okonomischen Auswir­kungen der Anwendung des Elektronenrechners in der hochindustrialisierten Gesellschaft, in: Zeugnisse. Theodor W. Adorno zum sechzigsten Gehurtstag, im Auf trag des Instituts fiir Sozial­forschung herausgegehen von M. Horkheimer, Frankfurt am Main 1963, S. 378 ff.).