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RA 2010, HEFT 6 ÖFFENTLICHES RECHT -305- Öffentliches Recht Standort: Baurecht Problem: Nachbarrechtsschutz gegen Dispens VGH MANNHEIM, BESCHLUSS VOM 30.11.2009 8 S 1903/09 (NVWZ-RR 2010, 179) Problemdarstellung: Im vorliegenden Fall ging es um die Frage, in wel- chem Umfang sich ein Nachbar gegen den einem Bau- herrn nach § 31 II BauGB bewilligten Baudispens mit einer Anfechtungsklage nach § 42 I, 1. Fall VwGO (bzw. mit einem vorläufigen Rechtsschutzantrag nach § 80a VwGO) gerichtlich wehren kann. A. Vorausgeschickt sei, dass der Nachbar nur eine Verletzung zu seinen Gunsten drittschützender Nor- men rügen kann. Bezüglich sonstiger, nicht drittschüt- zender Normen wäre er weder klagebefugt nach § 42 II VwGO, noch könnte er in seinen Rechten verletzt sein, wie es § 113 I 1 VwGO für die Begründetheit seiner Klage fordert. B. Als durch die Baugenehmigung verletzte drittschüt- zende Normen kommen bei einem Baudispens nach § 31 II BauGB zunächst und vor allem die Normen in Betracht, von denen der Bauherr befreit wurde. Viel- fach wird es sich um Festsetzungen eines Bebauungs- plans handeln, denn auf diese bezieht sich der Wort- laut des § 31 II BauGB (es gibt aber auch Normen, die auf § 31 II BauGB verweisen, z.B. § 34 II BauGB). Wird der Bauherr also von einer nachbarschützenden Festsetzung des Bebauungsplans befreit, kann sich der Nachbar hiergegen stets mit der Rüge wehren, die Be- freiung sei zu Unrecht erfolgt. Ein Hauptbeispiel dürf- ten die Baugebiete i.S.d. §§ 2-14 BauNVO sein: Diese werden in zahllosen Bebauungsplänen festgesetzt, und ihre drittschützende Wirkung ist allgemein anerkannt. C. Wie aber, wenn - wie hier - die Baugenehmigung nach Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung erteilt wurde? Dann kommt zunächst § 31 II BauGB selbst in Betracht, welcher die “nachbarli- chen Interessen” durchaus erwähnt. Anerkannt ist al- lerdings, dass der Norm nur sehr eingeschränkter Drittschutz zukommt, nämlich in Verbindung mit dem sog. “Gebot der Rücksichtnahme”. Danach ist auf nachbarliche Interessen (nur) Rücksicht zu nehmen, wenn ein qualifizierter und individualisierter Eingriff in die Rechte des Nachbarn vorliegt. An einem indivi- dualisierten Eingriff fehlt es jedoch, wenn es dem Nachbarn lediglich um einen Gebietserhaltungs- anspruch geht, d.h. er nicht behaupten kann, dass gera- de sein Grundstück besonders unter nachteiligen Fol- gen des Bauvorhabens zu leiden haben wird, sondern es ihm vielmehr darum geht, die Eigenart der Umge- bung insgesamt zu erhalten. D. In diesem Fall - also kein Dispens zu nachbarschüt- zenden Festsetzungen (oben B.) und kein Rücksicht- nahmegebot aus § 31 II BauGB (oben C.) kam das OVG Hamburg (BauR 2009, 1556) auf die Idee, § 15 I 1 BauNVO ins Spiel zu bringen. Danach sind Bau- vorhaben im Einzelfall unzulässig, wenn von ihnen Störungen ausgehen können, die “der Eigenart des Baugebiets widersprechen”. Nach Ansicht des OVG Hamburg kann daraus auch ein Gebietserhaltungsan- spruch in dem hier behandelten Fall entstehen. E. Dieser Ansicht tritt der VGH Mannheim in der vor- liegenden Entscheidung mit überzeugenden Argumen- ten entgegen. § 15 I 1 BauNVO erfasst nach seinem eindeutigen Wortlaut nur Vorhaben, die nach den §§ 2-14 BauNVO zulässig sind, während es hier gerade um Fälle geht, die nach §§ 2-14 BauNVO unzulässig sind (sonst bedürfte es ja keines Dispenses). Allenfalls käme in Betracht, § 15 I 1 BauNVO in Verbindung mit dem Rücksichtnahmegebot anzuwenden. Dass nicht nur § 31 II BauGB, sondern auch § 15 I BauN- VO das Gebot der Rücksichtnahme innewohnt, ist seit BVerwG, NJW 1984, 138, 139 allgemein anerkannt. Aber damit wäre dem Nachbarn hier nicht geholfen, denn wenn er eine dem Rücksichtnahmegebot genü- gende qualifizierte und individualisierte Beeinträchti- gung seines Grundstücks behaupten könnte, wäre er schon aus § 31 II BauGB drittgeschützt (oben C.), ei- nes Rückgriffs auf § 15 I 1 BauNVO bedürfte es also gar nicht mehr. Der VGH Mannheim verwirft daher auch diese Möglichkeit. Prüfungsrelevanz: Baunachbarrechtliche Klausuren bilden den Schwer- punkt baurechtlicher Fallgestaltungen im ersten und zweiten juristischen Staatsexamen. Für den Examens- erfolg in solchen Klausuren ist entscheidend zu wis- sen, welche baurechtlichen Normen in welchem Um- fang Drittschutz vermitteln. Die vorliegende Entschei- dung besitzt in diesem Bereich besondere Relevanz, weil sich zwei Oberverwaltungsgerichte streiten. Der Gebietserhaltungsanspruch (hierzu grundlegend: BVerwGE 94, 151) hat in jüngerer Vergangenheit vor

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RA 2010, HEFT 6ÖFFENTLICHES RECHT

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Öffentliches Recht

Standort: Baurecht Problem: Nachbarrechtsschutz gegen Dispens

VGH MANNHEIM, BESCHLUSS VOM 30.11.2009

8 S 1903/09 (NVWZ-RR 2010, 179)

Problemdarstellung:

Im vorliegenden Fall ging es um die Frage, in wel-chem Umfang sich ein Nachbar gegen den einem Bau-herrn nach § 31 II BauGB bewilligten Baudispens miteiner Anfechtungsklage nach § 42 I, 1. Fall VwGO(bzw. mit einem vorläufigen Rechtsschutzantrag nach§ 80a VwGO) gerichtlich wehren kann.

A. Vorausgeschickt sei, dass der Nachbar nur eineVerletzung zu seinen Gunsten drittschützender Nor-men rügen kann. Bezüglich sonstiger, nicht drittschüt-zender Normen wäre er weder klagebefugt nach § 42II VwGO, noch könnte er in seinen Rechten verletztsein, wie es § 113 I 1 VwGO für die Begründetheitseiner Klage fordert.

B. Als durch die Baugenehmigung verletzte drittschüt-zende Normen kommen bei einem Baudispens nach §31 II BauGB zunächst und vor allem die Normen inBetracht, von denen der Bauherr befreit wurde. Viel-fach wird es sich um Festsetzungen eines Bebauungs-plans handeln, denn auf diese bezieht sich der Wort-laut des § 31 II BauGB (es gibt aber auch Normen, dieauf § 31 II BauGB verweisen, z.B. § 34 II BauGB).Wird der Bauherr also von einer nachbarschützendenFestsetzung des Bebauungsplans befreit, kann sich derNachbar hiergegen stets mit der Rüge wehren, die Be-freiung sei zu Unrecht erfolgt. Ein Hauptbeispiel dürf-ten die Baugebiete i.S.d. §§ 2-14 BauNVO sein: Diesewerden in zahllosen Bebauungsplänen festgesetzt, undihre drittschützende Wirkung ist allgemein anerkannt.

C. Wie aber, wenn - wie hier - die Baugenehmigungnach Befreiung von einer nicht nachbarschützendenFestsetzung erteilt wurde? Dann kommt zunächst § 31II BauGB selbst in Betracht, welcher die “nachbarli-chen Interessen” durchaus erwähnt. Anerkannt ist al-lerdings, dass der Norm nur sehr eingeschränkterDrittschutz zukommt, nämlich in Verbindung mit demsog. “Gebot der Rücksichtnahme”. Danach ist aufnachbarliche Interessen (nur) Rücksicht zu nehmen,wenn ein qualifizierter und individualisierter Eingriffin die Rechte des Nachbarn vorliegt. An einem indivi-dualisierten Eingriff fehlt es jedoch, wenn es demNachbarn lediglich um einen Gebietserhaltungs-anspruch geht, d.h. er nicht behaupten kann, dass gera-

de sein Grundstück besonders unter nachteiligen Fol-gen des Bauvorhabens zu leiden haben wird, sondernes ihm vielmehr darum geht, die Eigenart der Umge-bung insgesamt zu erhalten.

D. In diesem Fall - also kein Dispens zu nachbarschüt-zenden Festsetzungen (oben B.) und kein Rücksicht-nahmegebot aus § 31 II BauGB (oben C.) kam dasOVG Hamburg (BauR 2009, 1556) auf die Idee, § 15 I1 BauNVO ins Spiel zu bringen. Danach sind Bau-vorhaben im Einzelfall unzulässig, wenn von ihnenStörungen ausgehen können, die “der Eigenart desBaugebiets widersprechen”. Nach Ansicht des OVGHamburg kann daraus auch ein Gebietserhaltungsan-spruch in dem hier behandelten Fall entstehen.

E. Dieser Ansicht tritt der VGH Mannheim in der vor-liegenden Entscheidung mit überzeugenden Argumen-ten entgegen. § 15 I 1 BauNVO erfasst nach seinemeindeutigen Wortlaut nur Vorhaben, die nach den §§2-14 BauNVO zulässig sind, während es hier geradeum Fälle geht, die nach §§ 2-14 BauNVO unzulässigsind (sonst bedürfte es ja keines Dispenses). Allenfallskäme in Betracht, § 15 I 1 BauNVO in Verbindungmit dem Rücksichtnahmegebot anzuwenden. Dassnicht nur § 31 II BauGB, sondern auch § 15 I BauN-VO das Gebot der Rücksichtnahme innewohnt, ist seitBVerwG, NJW 1984, 138, 139 allgemein anerkannt.Aber damit wäre dem Nachbarn hier nicht geholfen,denn wenn er eine dem Rücksichtnahmegebot genü-gende qualifizierte und individualisierte Beeinträchti-gung seines Grundstücks behaupten könnte, wäre erschon aus § 31 II BauGB drittgeschützt (oben C.), ei-nes Rückgriffs auf § 15 I 1 BauNVO bedürfte es alsogar nicht mehr. Der VGH Mannheim verwirft daherauch diese Möglichkeit.

Prüfungsrelevanz:Baunachbarrechtliche Klausuren bilden den Schwer-punkt baurechtlicher Fallgestaltungen im ersten undzweiten juristischen Staatsexamen. Für den Examens-erfolg in solchen Klausuren ist entscheidend zu wis-sen, welche baurechtlichen Normen in welchem Um-fang Drittschutz vermitteln. Die vorliegende Entschei-dung besitzt in diesem Bereich besondere Relevanz,weil sich zwei Oberverwaltungsgerichte streiten.

Der Gebietserhaltungsanspruch (hierzu grundlegend:BVerwGE 94, 151) hat in jüngerer Vergangenheit vor

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allem deshalb Schlagzeilen gemacht, weil dasBVerwG den Streit darüber, ob dieser auch Eigentü-mern zukommt, deren Grundstücke außerhalb des be-treffenden Gebiets liegen, in dem Sinne entschiedenhat, dass dies nicht der Fall sein soll (vgl. Vertiefungs-hinweise).

Am Rande sei noch darauf hingewiesen, dass dasBVerwG in der oben erwähnten Entscheidung(BVerwG, NJW 1984, 138) nicht nur für den hier in-teressierenden § 15 I 1 BauNVO, sondern für § 15 IBauNVO insgesamt anerkannt hat, dass ihm das “Ge-bot der Rücksichtnahme” innewohnt. Dies gilt alsoauch für § 15 I 2 BauNVO, wenn ein Vorhaben trotzseiner grundsätzlichen Vereinbarkeit mit den §§ 2-14BauNVO im Einzelfall “unzumutbar” für den Nach-barn ist.

Vertiefungshinweise:

“ Zur Gegenansicht: OVG Hamburg, BauR 2009,1556

“ Gebietsbewahrungsanspruchs in Gebieten nach § 30BauGB und § 34 II BauGB: BVerwGE 94, 151; 101,364; BVerwG, NVwZ-RR 1997, 463; NVwZ 2000,679

“ Streit über die Erstreckung des Gebietsbewahrungs-anspruchs auf Gebietsnachbarn: OVG Münster,NVwZ-RR 2003, 818 (dafür); BVerwG, RA 2008, 269= NVwZ 2008, 427 und VGH München, RA 2007, 299= BayVBl 2007, 334 (beide dagegen)

“ Zum “Gebot der Rücksichtnahme” aus § 15 I 2BauNVO: BVerwG, RA 2001, 453 = NVwZ 2001, 813

“ Weitere Entscheidungen zum Rücksichtnahmege-bot: VGH Mannheim, RA 2006, 137 = NVwZ-RR2006, 89 (Garage); OVG Münster, RA 1999, 242 =NWVBl 1999, 141 (Stellplätze); VG Karlsruhe,NVwZ-RR 2000, 144 (Spielplatz)

Kursprogramm:“ Examenskurs: “Windkraft contra Nachbarschaft”

Leitsatz:Bei der Erteilung einer Befreiung nach § 31 IIBauGB von einer nicht nachbarschützenden Fest-setzung eines Bebauungsplans hat der Nachbarkeinen Gebietserhaltungsanspruch aus § 15 I 1BauNVO, sondern nur einen Anspruch auf Würdi-gung seiner nachbarlichen Interessen.

Sachverhalt:Der Ast. legte gegen eine dem Beigel. erteilte Bauge-nehmigung Widerspruch ein und begehrte die Anord-nung der aufschiebenden Wirkung seines Wider-spruchs. Das VG lehnte den Antrag ab. Auch die Be-schwerde des Ast. gegen diese Entscheidung blieb

erfolglos.

Aus den Gründen:Die zulässige Beschwerde des Ast. ist nicht begründet.Das VG hat zu Recht den Antrag, die aufschiebendeWirkung des Widerspruchs des Ast. gegen die demBeigel. erteilte Baugenehmigung vom 16. 6. 2009 zumAbbruch eines bestehenden Wohngebäudes und zurErstellung eines Mehrfamilienwohngebäudes mit sie-ben Wohneinheiten und einer Tiefgarage anzuordnen,abgelehnt, weil nach der im Verfahren des vorläufigenRechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung dieangefochtene Baugenehmigung keine Rechte des Ast.verletzt. Die im Beschwerdeverfahren dargelegtenGründe, auf deren Prüfung der Senat nach § 146 IV 6VwGO beschränkt ist, geben zu einer Änderung desBeschlusses des VG keinen Anlass.

A. Kein Drittschutz aus den Festsetzungen des Bebau-ungsplans gegen die BaugenehmigungEine Rechtsverletzung des Ast. folgt zunächst nichtdaraus, dass die Ag. die angefochtene Baugenehmi-gung unter Befreiung (§ 31 II BauGB) von Festset-zungen der Ortsbausatzung der Stadt S. vom 25. 6.1935 (OBS) erteilt hat. Das VG hat mit ausführlicher,an die Rechtsprechung des Senats anknüpfender Be-gründung dargelegt, dass sämtliche Festsetzungen, vondenen Befreiung erteilt wurde, nicht dem Schutz desAst. zu dienen bestimmt sind. Hiergegen wendet sichdie Beschwerde auch nicht.

B. Kein Drittschutz aus § 31 II BauGB i.V.m. demRücksichtnahmegebot gegen den BaudispensDie erteilte Befreiung selbst verletzt keine Rechte desAst. Nach der gefestigten Rechtsprechung desBVerwG hat der Nachbar bei der Erteilung einer Be-freiung nach § 31 II BauGB von einer nicht nachbar-schützenden Festsetzung eines Bebauungsplans überden Anspruch auf Würdigung nachbarlicher Interessenhinaus keinen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreieEntscheidung der Baugenehmigungsbehörde (vgl.BVerwG, NVwZ-RR 1999, 9 m.w. Nachw.). An die-sem Grundsatz ist festzuhalten. Ihm entspricht imÜbrigen auch der von der Beschwerde erwähnte Be-schluss des beschließenden Gerichtshofs (VGH Mann-heim, NVwZ-RR 2008, 159 = VBlBW 2008, 147), derentgegen der Auffassung des Ast. keine Fortentwic-klung oder auch nur Modifizierung der genanntenRechtsprechung enthält. Denn in diesem Beschlussheißt es ausdrücklich, dass sich Gebietsanlieger aufdie objektive Rechtswidrigkeit einer Befreiung nichtberufen könnten, § 31 II BauGB aber drittschützendeWirkung mit dem Gebot der Würdigung nachbarlicherInteressen entfalte. Diesen rechtlichen Maßstab hat imvorliegenden Fall auch das VG seiner Entscheidung zuGrunde gelegt.

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Anhaltspunkte dafür, dass das Vorhaben des Beigel.zu Lasten des Ast. rücksichtslos sein könnte, lassensich der Beschwerde nicht entnehmen. Der Ast. kriti-siert im Hinblick auf die Befreiung lediglich, dass dieGrundzüge der Planung nicht eingehalten und die Ab-weichungen städtebaulich nicht vertretbar seien, undgreift damit nur nicht seinem Schutz dienende Tatbe-standselemente des § 31 II BauGB auf.

C. Kein Drittschutz aus § 15 I 1 BauNVO Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs desAst. ist auch nicht im Hinblick auf § 15 I 1 BauNVOanzuordnen. Nach dieser Vorschrift sind die in den §§2-14 BauNVO aufgeführten baulichen und sonstigenAnlagen im Einzelfall unzulässig, wenn sie nach An-zahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Ei-genart des Baugebiets widersprechen.

I. Gebietserhaltungsanspruch

1. Ansicht des OVG HamburgDer Ast. meint, diese Vorschrift sei auch im vorlie-genden Fall anwendbar, und weist in diesem Zusam-menhang auf eine Entscheidung des OVG Hamburg(OVG Hamburg, NJOZ 2009, 3854) hin. Darin heißtes, der einem Eigentümer eines in einem Plangebietgelegenen Grundstücks unabhängig von konkretenBeeinträchtigungen kraft Bundesrechts zustehendeGebietserhaltungsanspruch werde nicht nur dann ver-letzt, wenn ein im Baugebiet seiner Art nach all-gemein unzulässiges Vorhaben ohne die erforderliche(rechtmäßige) Befreiung nach § 31 II BauGB von derArt der baulichen Nutzung zugelassen werde, sondernauch, wenn ein im Baugebiet seiner Art nach allge-mein zulässiges Vorhaben genehmigt werde, obwohles im Einzelfall gem. § 15 I 1 BauNVO nach Anzahl,Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenartdes Baugebiets widerspreche.

2. Ansicht des VGH MannheimEntgegen der Auffassung des OVG Hamburg ist esjedoch nicht zulässig, ein Bauvorhaben, das unter Be-freiung von nicht nachbarschützenden Festsetzungengenehmigt wurde, auf den Rechtsbehelf eines Nach-barn hin nicht nur am Maßstab des – im Übrigen auchin § 15 I 1 BauNVO enthaltenen (vgl. BVerwG,NVwZ 2002, 1384) - Rücksichtnahmegebots zu mes-sen, sondern darüber hinaus auch noch zu prüfen, obdas Vorhaben mit dem Gebietserhaltungsanspruch desNachbarn im Einklang steht. Denn § 15 I BauNVO istgerade nicht unmittelbar einschlägig, wenn ein Vorha-ben den Festsetzungen des maßgeblichen Bebauungs-plans - hier: der Ortsbausatzung der Stadt S. - wider-spricht, sondern findet nur dann Anwendung, wennein Vorhaben im Einklang mit den Festsetzungen ei-nes Bebauungsplans steht oder wenn es wenigstens im

Wege einer Ausnahme gem. § 31 I BauGB zugelassenwerden könnte. Die Vorschrift dient dem Schutz derNachbarschaft vor Störungen durch Bauvorhaben, diezwar grundsätzlich nach den §§ 2-14 BauNVO zuläs-sig wären, aber wegen der besonderen Verhältnissedes konkreten Bauvorhabens der Eigenart dieses Bau-gebiets widersprechen oder die Umgebung unzumut-bar stören. Während§ 31 II BauGB den § 30 BauGBerweitert, führt § 15 I BauNVO zu einer Verengung,indem er die Zulässigkeit von Vorhaben gegenüberden Festsetzungen des Bebauungsplans einschränkt(vgl. BVerwGE 82, 343; 128, 118).Auf dieser Grundlage stellt der aus § 15 I 1 BauNVOherzuleitende Gebietserhaltungsanspruch dann keinenPrüfungsmaßstab dar, wenn sich ein Nachbar gegenein Vorhaben wendet, das nach den Festsetzungen desBebauungsplans - hier: der als Bebauungsplan fortgel-tenden Ortsbausatzung - weder allgemein noch aus-nahmsweise zulässig ist. Denn bei einer solchen recht-lichen Ausgangslage kann § 15 I 1 BauNVO seinerFunktion, die Zulässigkeit von Vorhaben im Einzelfalleinzuschränken, gerade nicht gerecht werden, weil dasVorhaben bereits nach dem Bebauungsplan selbst un-zulässig ist (vgl. BVerwG, NJW 1990, 1192), so dasseine (weitere) Einschränkung seiner Zulässigkeit nichtin Betracht kommt. Vielmehr beurteilt sich Letztereallein nach § 31 II BauGB; diese Vorschrift verweistjedoch nicht auf § 15 I 1 BauNVO und den daran an-knüpfenden Gebietserhaltungsanspruch, sondern ver-mittelt Nachbarschutz allein durch das Rücksichtnah-megebot.

II. Gebot der RücksichtnahmeAuch eine Prüfung des Gebietserhaltungsanspruchs inentsprechender Anwendung des § 15 I 1 BauNVOkommt im vorliegenden Fall nicht in Betracht. Soweitim Falle einer unter Verstoß gegen eine nicht nachbar-schützende Festsetzung eines Bebauungsplans erteil-ten Baugenehmigung § 15 I BauNVO entsprechendanzuwenden ist, gilt dies nur für das Gebot der Rüc-ksichtnahme, nicht aber für den von dem Ast. geltendgemachten Gebietserhaltungsanspruch und auch nurdann, wenn von der in Rede stehenden Festsetzungkeine Befreiung erteilt wurde (vgl. hierzu BVerwG,NJW 1990, 1192; 89, 69). Denn diese entsprechende Anwendung des § 15 IBauNVO findet ihren Grund darin, dass aus dem Feh-len einer gesetzlichen Regelung über den Drittschutzgegenüber einer Baugenehmigung, die unter Verlet-zung nicht nachbarschützender Vorschriften erteiltworden ist, nicht folgt, dass der Nachbar schutzlos ist,wenn er durch das genehmigte Bauvorhaben unzumut-bar beeinträchtigt wird. Wenn schon gegenüber Bau-genehmigungen, die in Übereinstimmung mit denFestsetzungen des Bebauungsplans erteilt wordensind, eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots gel-

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tend gemacht werden kann, so muss dies im Ergebniserst recht im Hinblick auf Baugenehmigungen gelten,die diesen Festsetzungen widersprechen (BVerwG,NJW 1990, 1192). Im Hinblick auf Baugenehmigun-gen, die unter Befreiung von nicht nachbarschützen-

den Festsetzungen erteilt worden sind, ist der Nachbarindessen nicht schutzlos, weil das Rücksichtnahmege-bot bereits im Rahmen des § 31 II BauGB Berücks-ichtigung findet. Einer entsprechenden Anwendungdes § 15 I 1 BauNVO bedarf es daher nicht.

Standort: Baurecht Problem: Rechtsschutz gegen Teilbaugenehmigung

OVG HAMBURG: BESCHLUSS VOM 28.12.2009

2 BS 202/09 (NVWZ-RR 2010, 389)

Problemdarstellung:

Im vorliegenden Fall ging es um die Frage, mit wel-chen Einwendungen ein Nachbar im (Anfechtungs-)prozess gegen eine Teilbaugenehmigung gehört wird.Dass er als Dritter nur klagebefugt i.S.d. § 42 IIVwGO ist, soweit er eine Verletzung eigener, d.h. zuseinen Gunsten drittschützender Normen geltend ma-chen kann, sei dabei vorausgesetzt.

A. Selbstverständlich kann der Nachbar bereits derTeilbaugenehmigung die Verletzung aller zu seinenGunsten drittschützenden Normen entgegen halten,die durch das teilweise genehmigte Bauvorhabenselbst verletzt werden. Wird beispielsweise ein Bau-antrag für ein Wohnhaus mit Doppelgarage gestelltund zunächst nur das Wohnhaus genehmigt, könnteder Nachbar ohne weiteres rügen, dass das Wohnhausdie Abstandsfläche zu seinem Grundstück verletze.

B. Wie aber, wenn er eine Verletzung nachbarschüt-zender Normen rügt, die nicht schon durch das teil-weise genehmigte, sondern erst durch das weitereVorhaben verletzt würden (im obigen Beispiel alsoetwa, wenn nicht das schon genehmigte Wohnhaus,sondern die weiter geplante Doppelgarage die Ab-standsfläche verletzte)? Der Nachbar wird regelmäßigein elementares Interesse daran haben, dass die Bau-arbeiten auch für den genehmigten Teil erst gar nichtbeginnen, wenn am Ende die gesamte Anlage bau-rechtswidrig ist. Das OVG Hamburg kommt ihm eingutes Stück weit entgegen: Soweit die Teilbaugeneh-migung wenigstens faktisch eine Entscheidung übernoch zu genehmigenden Teile vorweg nehme, könneder Nachbar sie auch mit der Rüge anfechten, die fak-tische Vorwegnahme verletze ihn in seinen Rechten.Äußerste Grenze eines solchen Vorgehens sei aber derBauantrag: Was nicht einmal beantragt sei, könne inkeinem Fall Prüfungsmaßstab sein.

Prüfungsrelevanz:Die Entscheidung ist für Drittrechtsbehelfe gegenTeilbaugenehmigungen wichtig, da sie deren Zulässig-keit (Klagebefugnis aus § 42 II VwGO bei der An-fechtungsklage und in analoger Anwendung auf vor-läufige Rechtsschutzverfahren nach § 80a VwGO)

ebenso betrifft wie deren Begründetheit (nach § 113 I1 VwGO muss der Kläger in seinen Rechten verletztsein, sodass sich der Prüfungsmaßstab bei Drittanfech-tungen auf eine Prüfung der drittschützenden Normenreduziert). In einer Klausur könnte etwa zunächst derRechtsschutz gegen eine umfassende Baugenehmi-gung abgeprüft und dann in einer Abwandlung gefragtwerden, wie der Fall läge, wenn erst ein Teil des Vor-habens genehmigt worden sei.

Vertiefungshinweise:“ Zur Befreiung von nicht nachbarschützenden Wir-kungen: VGH Mannheim, NVwZ-RR 2010, 179

“ Rechtsschutz gegen Abstandsflächenverstoß beiGrenzgarage: OVG Koblenz, NVwZ-RR 2010, 385

Leitsätze:1. Ergeht auf einen Bauantrag zunächst eine Teil-baugenehmigung, ist die verwaltungsgerichtlichePrüfung in einem Nachbarstreit nicht auf den In-halt der Teilbaugenehmigung beschränkt, sonderndarf sie auch Wirkungen des Vorhabens erfassen,über die mit der Teilbaugenehmigung faktisch eineVorentscheidung getroffen worden ist.2. Die im Nachbarstreit zu überprüfenden Wirkun-gen des Bauvorhabens finden ihre äußerste Grenzejedoch in dem bei der Bauaufsichtsbehörde zurGenehmigung gestellten Vorhaben. Mögliche Er-weiterungen, für die (noch) kein Bauantrag gestelltworden ist, bleiben unberücksichtigt.

Sachverhalt:De beigeladene Bauherr beabsichtigt, auf den Flurs-tücken 2953, 2955 und 2013 der Gemarkung [...] eineLager- und Produktionsstätte zu errichten, deren Ge-nehmigung er bei der Antragsgegnerin beantragt hat.Ihm wurden zunächst Teilbaugenehmigungen erteilt,um folgende Arbeiten verrichten zu können: Baufeld-vorbereitung (Rodung), Erdarbeiten, Ausheben derBaugrube, Herstellung von Gebäudesicherungsmaß-nahmen an den vorhandenen Hallen, Herstellung derFundamente einschließlich Tiefgründung, und Aus-führung der Rohbauarbeiten bis Oberkante Kellerge-schoss.Gegen diese Teilbaugenehmigungen wendet sich derAntragsteller in der Hauptsache und im Wege des vor-läufigen Rechtsschutzes, über den er einen Baustopp

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zu erreichen versucht. Er ist dabei der Ansicht, diePrüfung der Rechtmäßigkeit der Teilbaugenehmigungsei nicht nur im Umfang der bereits genehmigten Ar-beiten, sondern unter Einbeziehung des gesamten ge-planten Vorhabens vorzunehmen.Nachdem das VG seinen Antrag gem. §§ 80a, 80 VVwGO auf Anordnung eines Baustopps abgelehnt hat-te, blieb auch die Beschwerde hiergegen ohne Erfolg.

Aus den Gründen:Die mit der Beschwerde dargelegten Gründe, auf de-ren Überprüfung das Beschwerdegericht gemäß § 146Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen esnicht, die erstinstanzliche Entscheidung zu ändern undden Antragstellern nach §§ 80 a, 80 Abs. 5 VwGOvorläufigen Rechtsschutz gegen die der Beigeladenenerteilten Teilbaugenehmigungen vom 9. März 2009,28. April 2009 und 9. Juli 2009 nebst Ergänzungsbe-scheiden Nr. 1 und 2 vom 28. April 2009 und 13. Juli2009 zu gewähren. Zutreffend ist das Verwaltungs-gericht davon ausgegangen, dass die angefochtenenBescheide nachbarschützende Vorschriften nicht ver-letzen und deshalb dem Interesse der Beigeladenen ander unverzüglichen Verwirklichung ihres Vorhabensgegenüber dem Suspensivinteresse der Antragstellerder Vorrang gebührt. [...]

A. Einbeziehung geplanter, ungenehmigter Bau-abschnitte in die Prüfung1. Entgegen der Auffassung der Antragsteller hat dasVerwaltungsgericht seiner Entscheidung nicht deshalbeinen falschen Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt, weiles bei der Frage nach einer Verletzung des Rücksicht-nahmegebots den zweiten und dritten Bauabschnitt dervon der Beigeladenen auf den Flurstücken 2953, 2955und 2013 der Gemarkung [...] geplanten Lager- undProduktionsstätte außer Betracht gelassen hat. ZuRecht ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen,dass die Antragsteller im vorliegenden Verfahren zwarnicht allein auf solche Einwendungen beschränkt sind,die sich auf die durch die Teilbaugenehmigungen zu-gelassenen Teile der Bebauung beziehen, das weitereBauvorhaben aber nur insoweit eine Rolle spielt, alsdie Beigeladene bereits dessen Genehmigung bean-tragt hat und mit den Teilbaugenehmigungen faktischeine Vorentscheidung bezüglich der Zulässigkeit derweiteren Teile der beantragten Bebauung getroffenworden ist. Der zweite und dritte Bauabschnitt der von der Bei-geladenen geplanten sukzessiven Bebauung derGrundstücke sind danach gegenwärtig ohne Belang,weil insoweit noch nicht einmal ein Bauantrag vor-liegt. Ein Bauantrag und Bauvorlagen, welche die vor-läufige Feststellung ermöglichen, ob das Vorhabengrundsätzlich genehmigungsfähig ist, gehören zu denformellen Voraussetzungen für die Erteilung einer

Teilbaugenehmigung (vgl. Alexejew, HBauO, § 72Rn. 131). Ohne Bauantrag nebst entsprechenden Bau-vorlagen ist das weitere Vorhaben weder hinreichendkonkretisiert noch überhaupt der Bauaufsichtsbehördezur Beurteilung überantwortet. Die mit den angefoch-tenen Teilbaugenehmigungen verbundenen und auchim Nachbarstreit beachtlichen Vorwirkungen findendaher in dem bislang nur zur Genehmigung gestelltenVorhaben in Gestalt des ersten Bauabschnitts ihre äu-ßerste Grenze. Das gilt im Übrigen umso mehr, alsauch die Antragsgegnerin ausdrücklich die Auffassungvertritt, dass eine Genehmigung der weiteren Bauab-schnitte nur auf der Grundlage eines Bebauungsplansin Betracht kommt, der sich zur Zeit jedoch noch alsEntwurf im Aufstellungsverfahren befindet.Aus der mit der Beschwerdebegründung angeführtenRechtsprechung, insbesondere dem Beschluss desVerwaltungsgerichtshofs Kassel vom 11. Dezember1995 (BRS 58 Nr. 192), ergibt sich nichts anderes.Soweit dort begrifflich auf das “Gesamtbauvorhaben”abgestellt wird, ist nicht ersichtlich, dass damit auchsolche Bauabschnitte gemeint sein könnten, für die -wie hier - noch nicht einmal ein Bauantrag gestelltworden ist.

B. Verweis auf Rechtsschutzmöglichkeiten gegennachfolgende GenehmigungenSoweit die Antragsteller rügen, dass der vom Verwal-tungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegtePrüfungsmaßstab zu einem Verstoß gegen § 37 Abs. 1HmbVwfG führe, ist ein solcher Verstoß nicht nach-vollziehbar. Inwieweit die TeilbaugenehmigungenBindungswirkungen für weitere Baumaßnahmen ent-falten, lässt sich durch Auslegung jeweils ohne weite-res ermitteln. Sollten die Antragsteller - worauf ihrVorbringen hindeutet - eine Verkürzung ihrer Nach-barrechte befürchten, wenn sich die Betrachtung imvorliegenden Verfahren auf den ersten Bauabschnittbeschränkt, so ist diese Besorgnis unbegründet. Inso-weit übersehen sie, dass - wie oben dargelegt - mit denangefochtenen Teilbaugenehmigungen noch keinerleiBindungswirkung in Bezug auf den zweiten und drit-ten Bauabschnitt verbunden ist. Sollte die BeigeladeneBaugenehmigungen für jene Bauabschnitte beantragenund die Antragsgegnerin diese erteilen, so stehen denAntragstellern hiergegen alle Rechtsschutzmöglich-keiten offen und wird die Frage der Rücksichtslosig-keit des Vorhabens unter Berücksichtigung der dannin Rede stehenden tatsächlichen und rechtlichen Ver-hältnisse zu beurteilen sein. Insoweit ist es allein dasRisiko der Beigeladenen, wenn sie die Errichtung ih-rer insgesamt geplanten Lager- und Produktionsstätteauch verfahrensmäßig in mehrere selbstständige Bau-abschnitte aufteilt. [...]

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Standort: VwGO Problem: Rechtsmittelbelehrung bei elektronischer Kommunikation

OVG BERLIN-BRANDENBURG, BESCHL. V. 22.04.2010

2 S 12.10 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:

A. Seit 2005 sieht § 55a VwGO in der Verwaltungs-gerichtsbarkeit die Möglichkeit vor, mit dem Gerichtdurch Übermittlung elektronischer Dokumente zukommunizieren. Dies gilt nach § 55a I 3 VwGO grds.auch für Schriftsätze, bei denen eine Schriftform vor-geschrieben ist, wenn eine qualifizierte elektronischeSignatur nach § 2 Nr. 3 SignaturG verwendet wird.

Allerdings muss der elektronische Kommunikations-weg im Zuständigkeitsbereich des jeweiligen Gerichtsdurch Rechtsverordnung ausdrücklich eröffnet wer-den, § 55a I 1 VwGO. Von dieser Möglichkeit habenbisher der Bund und die Länder Berlin, Brandenburg,Bremen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz undSachsen-Anhalt Gebrauch gemacht, wobei die einzel-nen Regelungen unterschiedlich und - da in der Er-probungsphase - teilweise fragmentarisch und/oderbefristet sind (in NRW besteht die Möglichkeit zurelektronischen Kommunikation in der Verwaltungs-gerichtsbarkeit bspw. gegenwärtig nur vor dem OVGMünster und beim VG Minden; die Regelung ist fer-ner bis zum 31.12.2010 befristet, vgl. VO über denelektronischen Rechtsverkehr bei den Verwaltungs-gerichten und den Finanzgerichten im Lande Nord-rhein-Westfalen - ERVVO VG/FG - vom 23.11.2005,GV NRW S. 926).

B. Dem OVG Berlin-Brandenburg, vor dem ebenfallsdie Möglichkeit elektronischer Kommunikation be-steht (VO über den elektronischen Rechtsverkehr imLand Brandenburg vom 14.12.2006 (GVBl II, S. 558),stellte sich nun die Frage, ob eine Rechtsbehelfsbeleh-rung i.S.d. § 58 II VwGO unrichtig ist, die nur auf dieNotwendigkeit der Einhaltung einer Schriftform hin-weist, wenn tatsächlich auch die elektronische Formmöglich ist.

I. Vorausgeschickt sei, dass § 58 I VwGO eine Beleh-rung über die Form überhaupt nicht vorschreibt. Eshandelt sich mithin um einen fakultativen Zusatz. Al-lerdings entspricht es - soweit ersichtlich - einhelligerAuffassung, dass auch ein fakultativer Zusatz eineRechtsbehelfsbelehrung unrichtig macht, wenn er a)fehlerhaft und b) die Wahrnehmung der Rechte desBetroffenen zu erschweren geeignet ist. Dieser An-sicht schließt sich auch das OVG Berlin-Brandenburgohne weitere Begründung an.

II. Ob die Rechtsbehelfsbelehrung unrichtig i.S.d. § 58II VwGO ist, hängt davon ab, wie man die elektroni-sche Kommunikationsform einstuft:

1. Vereinzelt wird vertreten, die elektronische Form

sei bloß ein Unterfall der Schriftform (Pa-landt/Ellenberger, BGB, § 126 a Rn 1). Wäre dies zu-treffend, schlösse die Belehrung über die Schriftformdie elektronische Form ein, wäre somit nicht unrichtig.

2. Diese Ansicht kann jedoch nicht überzeugen, da dieAnforderungen an die elektronische Kommunikationvöllig andere sind als an die Schriftform (Papierformund Unterschrift einerseits, elektronische Form undqualifizierte Signatur nach dem SignaturG anderer-seits). Zudem ist der Empfängerhorizont zu beachten:der Bürger wird sich unter “schriftlich” nicht ohneweiteres ein elektronisches Dokument vorstellen. Des-halb überzeugt die Gegenansicht, welche die elektro-nische Form für eine eigenständige, neben der Schrift-form in Betracht kommende Alternative hält (BGHNJW 2008, 2649). Konsequenterweise muss dieRechtsbehelfsbelehrung dann auch auf “schriftlichoder in elektronischer Form i.S.d. § 55a VwGO” lau-ten; verschweigt sie die zweite Alternative, obschonsie besteht, ist die Rechtsbehelfsbelehrung unrichtigmit der Folge, dass die Jahresfrist des § 58 II VwGOgilt. Diese Auffassung vertritt auch das OVG Berlin-Brandenburg in seiner vorliegenden Entscheidung,übrigens ohne die Gegenansicht auch nur zu erwäh-nen.

Prüfungsrelevanz:

Die Entscheidung ist wichtig für die Zulässigkeit allerform- und fristgebundenen gerichtlichen Rechtsbehel-fe im Geltungsbereich des § 55a VwGO und solltedaher zumindest in den betreffenden Bundesländernzur Kenntnis genommen werden. Aber auch in denBundesländern, in denen bisher keine § 55a I 1 VwGOentsprechende Umsetzungsverordnung ergangen ist,könnte eine Klausur vor dem BVerwG spielen, mitdem die elektronische Kommunikation ebenfalls mög-lich ist (VO des Bundes über den elektronischenRechtsverkehr beim Bundesverwaltungsgericht undbeim Bundesfinanzhof vom 26.11.2004 - BGBl I, S.3091), sodass die Problematik mit der Rechtsbehelfs-belehrung auch hier nicht völlig ohne Bedeutung ist.

Vertiefungshinweise:“ Unrichtige RMB bei Nichtbelehrung über elektro-nische Form: VG Trier, Teilurteil vom 22.09.2009 - 1K 365/09 (unveröffentlicht)

“ Zum Gesetz über die Verwendung elektronischerKommunikationsformen in der Justiz: Viefhues, NJW2005, 1009; Fischer-Dieskau, MMR 2003, 701; vgl.auch BFH , DStRE 2007, 515 mit Anm. Fi-scher-Dieskau/Hornung, NJW 2007, 2897

“ Weitere Fälle zu Problemen mit der RMB:

RA 2010, HEFT 6ÖFFENTLICHES RECHT

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BVerwG, RA 2002, 633 = BayVBl 2002, 678 (richtig,aber trotzdem unrichtig); VG Darmstadt, RA 2000,321 = NVwZ 2000, 591 und OVG Lüneburg, RA2007, 367 = NVwZ-RR 2007, 431 (unrichtig gewor-den); OVG Münster, RA 2000, 443 = NWVBl 2000,264 (Verwaltungsakt mit Doppelwirkung); OVGGreifswald, RA 1999, 485 = NVwZ-RR 1999, 476(Amt statt Behörde); OVG Frankfurt/Oder, RA 2004,369 = NVwZ-RR 2004, 315 (Rechtsträger statt Behör-de)

Kursprogramm:“ Examenskurs: “Das Stuckateurgewerbe”

Leitsatz (der Redaktion):Besteht die Möglichkeit, eine Beschwerde auch inelektronischer Form mit einer qualifizierten elek-tronischen Signatur im Sinne des Signaturgesetzesbei Gericht zu begründen, so ist eine Rechts-behelfsbelehrung unrichtig erteilt i.S.d. § 58 IIVwGO, die lediglich auf die Notwendigkeit einerschriftlichen Begründung hinweist.

Sachverhalt:Die Antragstellerin wendet sich mit ihrer Beschwerdegegen einen Beschluss des Verwaltungsgerichts dieAblehnung ihres Antrages auf Verlängerung ihrerAufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer selbstständi-gen Tätigkeit und die im streitgegenständlichen Be-scheid zugleich verfügte Abschiebungsandrohung be-treffend. Dieser Beschluss des Verwaltungsgerichtsenthält eine Rechtsbehelfsbelehrung, in welcher dieAntragstellerin darüber belehrt wird, dass eine Be-schwerde gegen den Beschluss “innerhalb eines Mo-nats nach Bekanntgabe der Entscheidung schriftlich zubegründen” sei. Die Beschwerde wurde innerhalb derMonatsfrist des § 146 IV 1 VwGO nicht begründet.

Aus den Gründen:

A. ZulässigkeitEs kann offen bleiben, ob die Beschwerde mangelsAngabe einer ladungsfähigen Anschrift der Antrag-stellerin, die - ausweislich der Feststellungen des An-tragsgegners vom 17. März 2009 und ihrer eigenenAngaben vom 27. April 2009 - derzeit unbekanntenAufenthalts ist, bereits unzulässig ist (§ 82 Abs. 1 Satz1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - analog).Denn die Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg,weil sie entgegen § 146 Abs. 4 Satz 1, Satz 3 VwGOnicht begründet worden ist (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6VwGO).

I. Notwendiger Teil der RechtsbehelfsbelehrungZwar ist die Monatsfrist für die Begründung der Be-

schwerde (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) gemäß § 58Abs. 1 VwGO nicht in Gang gesetzt worden. Nachdieser Vorschrift beginnt die Frist für ein Rechtsmitteloder einen anderen Rechtsbehelf nur zu laufen, wennder Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Ver-waltungsbehörde oder das Gericht, bei denen derRechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die ein-zuhaltende Frist schriftlich oder elektronisch belehrtworden ist.

II. Fakultativer Teil der RechtsbehelfsbelehrungEine Rechtsmittelbelehrung ist nach der Rechtspre-chung des Bundesverwaltungsgerichts nicht nur dannfehlerhaft, wenn sie die in § 58 Abs. 1 VwGO zwin-gend geforderten Angaben nicht enthält. Sie ist esvielmehr auch dann, wenn ihr ein unrichtiger oder ir-reführender Zusatz beigefügt ist, der geeignet ist, beimBetroffenen einen Irrtum über die formellen oder ma-teriellen Voraussetzungen des in Betracht kommendenRechtsbehelfs hervorzurufen und ihn dadurch abzuhal-ten, den Rechtsbehelf überhaupt, rechtzeitig oder inder richtigen Form einzulegen (vgl. BVerwG, vom 21.März 2002 - 4 C 2.01 -, DVBl. 2002, 1553 m. w. N.).

1. Fehlerhafte Belehrung über die FormIn diesem Sinne irreführend ist der in der der Antrag-stellerin erteilten Rechtsbehelfsbelehrung enthalteneHinweis, dass die Beschwerde innerhalb eines Monatsnach Zustellung des Beschlusses schriftlich zu begrün-den ist. Denn er ist nach dem objektiven Empfänger-horizont geeignet, den Eindruck zu erwecken, dass dieBeschwerde nicht in elektronischer Form begründetwerden kann, obwohl seit dem 1. Januar 2010 dieMöglichkeit besteht, die Begründung bei dem erken-nenden Gericht auch in elektronischer Form mit einerqualifizierten elektronischen Signatur im Sinne desSignaturgesetzes auf dem [...] veröffentlichten Kom-munikationsweg (vgl. Verordnung über den elektro-nischen Rechtsverkehr mit der Justiz im Lande Berlinvom 27. Dezember 2006, GVBl. 1183 in der Fassungder Zweiten Änderungsverordnung vom 9. Dezember2009, GVBl. S. 881) einzureichen (vgl. VG Trier, Ur-teil vom 22. September 2009 - 1 K 365/09.TR -, juris,Rn. 25, 28).

2. Erschwernis für den BetroffenenDie Verweisung auf das Erfordernis, die Begründungschriftlich einzureichen, erschwert dem Betroffenendie Rechtsverfolgung in einer vom Gesetz nicht ge-wollten Weise. Es ist durchaus denkbar, dass die Ein-reichung der Beschwerdebegründung in elektronischerForm - für den Beteiligten persönlich ebenso wie fürdessen Bevollmächtigten - eine erhebliche Vereinfa-chung der Einlegung bzw. rechtzeitigen Einlegung desRechtsbehelfs gegenüber der Einreichung durch Ein-wurf in den Gerichtsbriefkasten, per Post bzw. Boten

ÖFFENTLICHES RECHTRA 2010, HEFT 6

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oder Fax darstellt (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. De-zember 1978 - 6 C 77.78 -, BVerwGE 57, 188, 190 f.m. w. N.).

III. SubsumtionWeiter ist auch die Jahresfrist, die § 58 Abs. 2 VwGOfür den vorliegend gegebenen Fall einer im Sinne die-ser Vorschrift unrichtig erteilten Belehrung vorsieht,noch nicht abgelaufen. Die Antragstellerin hat jedochkeinen Anspruch darauf, diese Frist im vorläufigenRechtsschutzverfahren auszuschöpfen, da die imstreitgegenständlichen Bescheid verfügte Ab-schiebungsandrohung - wie ihr bekannt - nach zwi-schenzeitlichem Ablauf der Ausreisefrist vollstreckbarist und ihr durch das Beschwerdegericht unter Fristset-zung Gelegenheit gegeben worden ist, abschließendvorzutragen. Hinzu kommt, dass der Verfahrensbe-vollmächtigte der Antragstellerin diese bereits im Ver-waltungsverfahren und im verwaltungsgerichtlichenVerfahren vertreten hat, sodass er mit den hier maß-geblichen Sach- und Rechtsfragen vertraut ist (vgl.OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. Juni2008 - OVG 12 S 87.08 -).

B. BegründetheitUnabhängig davon ist auch nicht ersichtlich, dass dasprivate Interesse der Antragstellerin an der Ausset-zung der Vollziehung des Bescheides des Antragsgeg-ners vom 13. Februar 2009 in der Fassung vom 19.Februar 2009 das öffentliche Vollzugsinteresse über-wiegt. Die Ablehnung ihres Antrages auf Verlänge-rung ihrer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einerselbstständigen Tätigkeit (§ 21 der Aufenthaltsgeset-zes - AufenthG -) erweist sich nach summarischer Prü-fung als offensichtlich rechtmäßig. Einem ent-sprechenden Anspruch der Antragstellerin steht - wiein dem angefochtenen Beschluss des Verwaltungsge-richts zutreffend im Einzelnen ausgeführt (S. 3 BA) -bereits entgegen, dass die allgemeine Regelerteilungs-voraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts (§5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) nach derzeitigem Sach- undStreitstand nicht erfüllt ist, ohne dass Anhaltspunktefür atypische Umstände vorgetragen oder sonst er-sichtlich wären, die eine Abweichen vom Regelfallbegründen könnten. Schließlich spricht auch nichts fürdie Rechtswidrigkeit der im streitgegenständlichenBescheid verfügten Abschiebungsandrohung.

Standort: § 60 VwGO Problem: Überholende Kausalität

OVG BERLIN-BRANDENBURG, BESCHL. V. 08.02.2010

10 S 64/09 (NVWZ-RR 2010, 376)

Problemdarstellung:

Nach § 60 I VwGO ist auf Antrag Wiedereinsetzungin den vorigen Stand zu gewähren, wenn der Antrag-steller eine gesetzliche Frist unverschuldet versäumthat. Im vorliegenden Beschluss des OVG Ber-lin-Brandenburg ging es um die Frage, ob eine solcheWiedereinsetzung auch dann zu gewähren ist, wennzwar ein Verschulden des Antragstellers vorliegt (hier:Übersendung des Schriftsatzes an das falsche Ge-richt), sodann jedoch ein weiterer Fehler der Gerichtshinzutritt (hier: verzögerte Weiterleitung an das zu-ständige Gericht). Das OVG bejaht dies jedenfallsdann, wenn ohne hinzutreten des Fehlers des Gerichtsdie Frist nicht versäumt worden wäre. Zu Begründungführt es aus, dass dann das Verschulden des Antrag-stellers nicht kausal für die Fristversäumnis gewesensei, weil der von ihm in Gang gesetzte Kausalverlauf“überholt” worden sei.

Prüfungsrelevanz:Die Begründung des OVG Berlin-Brandenburg istzwar angreifbar, weil das Verschulden des Antragstel-lers auch bei überholender Kausalität sehr wohl äqui-valent kausal für das Fristversäumnis ist (hätte er den

Schriftsatz direkt an das zuständige Gericht übersen-det, wäre die Frist auch nicht versäumt worden), sieentspricht aber der Rspr. des BVerfG und BVerwG zudieser Frage (vgl. Vertiefungshinweise) und sollte da-her beherzigt werden.

Am Rande erwähnt sei, dass im vorliegenden Fall ei-gentlich gar kein Verschulden des Antragstellers vor-lag, sondern ein solches seines Rechtsanwalts. Dieseswird ihm jedoch über §§ 173 VwGO i.V.m. 85 II ZPOwie ein eigenes zugerechnet. Beachte: Dies gilt aus-drücklich nur für das Verschulden “des Bevollmächtig-ten” (§ 85 II ZPO), nicht etwa für ein solches seinerBüroangestellten (BGH NJW 1995, 1682). Versäumtalso eine Bürokraft die rechtzeitige bzw. richtigeÜbersendung eines fristgebundenen Schriftsatzes,trifft deren Verschulden den Antragsteller nicht. Indiesen Fällen wird allerdings kritisch zu prüfen sein,ob nicht gleichwohl ein zurechenbares Verschuldendes Bevollmächtigten vorliegt, typischerweise in Formeines Auswahl-, Überwachungs- oder Organisations-verschuldens. Die Gerichte sind in diesem Punkt ex-trem streng. So soll es z.B. ein Überwachungsver-schulden des Rechtsanwalts darstellen, wenn er nichtkontrolliert, ob die Mitarbeiterin eine Telefaxnummerkorrekt eingegeben hat (BGH NJW 2007, 2778).

Vertiefungshinweise:

“ Zur Wiedereinsetzung bei überholender Kausalität:

RA 2010, HEFT 6ÖFFENTLICHES RECHT

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BVerfGE 93, 99, 115 f.; BVerwG VwRR BY 2000,235; NVwZ 2007, 3797; BGH NJW 2007, 2778

“ Unverschuldetes Hindernis bei § 60 VwGO:BVerwG NVwZ-RR 2010, 36

“ Wiedereinsetzung bei Versäumung der Berufungs-zulassungsantragsfrist: VGH München NVwZ-RR2009, 901

Kursprogramm:“ Examenskurs: “Schiefe Schieferplatten”

Leitsatz:Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist inden Fällen “überholender Kausalität” zu gewäh-ren, wenn ein zunächst fälschlich an das erstins-tanzliche Gericht übersandter, erkennbar fristge-bundener Schriftsatz (Beschwerdebegründung)von diesem nur mit der Fachpost - dem erfah-rungsgemäß langsamsten Übermittlungsweg - stattmit der Post oder einem vergleichbaren Postdienst-leister weitergeleitet wird und dadurch erst nachAblauf der Beschwerdebegründungsfrist bei demRechtsmittelgericht eingeht.

Sachverhalt:Die Ast. wehrt sich im vorliegenden Verfahren gegendie mit Bescheid des Ag. vom 28. 5. 2009 unter An-ordnung der sofortigen Vollziehung und Zwangsgel-dandrohung in Höhe von 1000 Euro verfügte Nut-zungsuntersagung ihres Wochenendhauses als Wohn-haus. Ihren Antrag auf Wiederherstellung bzw. An-ordnung der aufschiebenden Wirkung des Wider-spruchs hat das VG mit Beschluss vom 30. 9. 2009abgelehnt, der dem Verfahrensbevollmächtigten derAst. am 6. 10. 2009 zugestellt worden ist. Hiergegenrichtet sich die vorliegende Beschwerde. Die an das VG adressierte Beschwerdebegründungging dort am 4.11.2009 ein. Unter demselben Datumw u r d e d e r S c h r i f t s a t z a n d a s O V G B e r -lin-Brandenburg mit der Fachpost weitergeleitet. Aufden gerichtlichen Hinweis vom 12.11.2009, dass dieBeschwerdebegründung erst am 10.11.2009 und damitnach Ablauf der Frist beim OVG eingegangen sei, hatdie Ast. mit Schriftsatz vom 2.12.2009 (Eingang beimOVG Berlin-Brandenburg am 3.12.2009) Wiederein-setzung in den vorigen Stand beantragt. Dem Antragwurde stattgegeben.

Aus den Gründen:Die Beschwerde ist zulässig. Der Ast. wird auf ihreninnerhalb der einmonatigen Wiedereinsetzungsfrist (§60 II 1 Halbs. 2 VwGO) gestellten Antrag vom2.12.2009 gem.§ 60 I VwGO Wiedereinsetzung in denvorigen Stand gewährt, weil sie (letztlich) ohne Ver-schulden gehindert war, die Beschwerdebegründungs-

frist (§ 146 IV 1 VwGO) einzuhalten.

A. Verschulden des Prozessbevollmächtigten der ASt.Zwar hat die Ast. diejenige Sorgfalt außer Acht gelas-sen, die geboten und zumutbar gewesen wäre, um ei-nen rechtzeitigen Eingang der Beschwerdebegründungbeim OVG Berlin-Brandenburg zu gewährleisten, weilsie durch die fälschliche Adressierung des Schriftsat-zes vom 3. 11. 2009 an das VG Cottbus und dessenÜbersendung im zeitlichen Randbereich des Fristab-laufs (nur) mit der Post zunächst die Ursache für dieFristversäumnis gesetzt und diese damit angebahnthat.

B. Verschulden des VGEs spricht jedoch alles dafür, dass durch die Weiterlei-tung des Schriftsatzes vom 3.11.2009 durch das VG(nur) mit der Fachpost ein zusätzlicher Fehler des Ge-richts hinzugekommen ist, auf dem letztlich die Frist-versäumnis beruht.

C. Wiedereinsetzung bei “überholender Kausalität”In einem solchen Fall ist ein vorangegangenes Ver-schulden mangels Kausalität unbeachtlich, wenn derSchriftsatz bei einer Weiterleitung im “ordentlichenGeschäftsgang” aller Voraussicht nach das Rechts-mittelgericht noch fristgerecht erreicht hätte (vgl.BVerwG, NVwZ-RR 2003, 901).

I. Nachwirkende Fürsorgepflicht des iudex a quoSo ein Fall “überholender Kausalität” liegt hier vor.Ist das angegangene Gericht zwar nicht für dasRechtsmittelverfahren zuständig, jedoch vorher mitdem Verfahren befasst gewesen, folgt aus der nach-wirkenden Fürsorgepflicht des erstinstanzlichen Ge-richts für die Prozessparteien, dass es fristgebundeneSchriftsätze des Rechtsmittelverfahrens, die bei ihmeingereicht werden, im Zuge des ordentlichen Ge-schäftsgangs an das Rechtsmittelgericht weiterleitenmuss (vgl. BVerfG, NJW 2001, 1343). Dies hat dasVG zwar noch am selben Tag getan. Hierbei musstedie von ihm gewählte Übermittlung mit der Fachpostjedoch ausscheiden, weil der Schriftsatz vom 3. 11.2009 schon in dem Text des Eingangssatzes einenHinweis auf die mit Schreiben vom 20. 10. 2009 ein-gelegte Beschwerde und damit - unter Einrechnungder vierzehntägigen Beschwerdefrist (§ 147 I 1VwGO) - auf einen höchstwahrscheinlich kurz bevor-stehenden Ablauf der insgesamt einmonatigen Be-schwerdebegründungsfrist (§ 146 IV 1 VwGO) ent-hielt. Davon, dass die Beschwerde eventuell sehr früh-zeitig nach dem Beginn des Fristablaufs eingelegtworden sein könnte und damit ausnahmsweise nochgenügend Zeit bis zum Fristablauf verbleiben würde,konnte jedenfalls nicht ohne Weiteres ausgegangenwerden. Wäre die Handhabung der Weiterleitungs-

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pflicht im ordentlichen Geschäftsgang von einer der-artigen, der regelmäßigen Erfahrung widersprechen-den Annahme abhängig, würde das Prozessgrundrechtauf ein faires Verfahren vielfach leer laufen (vgl.BVerwG, NVwZ-RR 2003, 901).

II. Wahl des ÜbermittlungswegesZwar geht die nachwirkende Fürsorgepflicht nicht soweit, dass das VG dem Prozessbevollmächtigten dieVerantwortung für die Einhaltung der Formalien voll-ständig abnehmen, Telefonate führen oder das Telefaxbemühen muss (vgl. BVerfG, NJW 2001, 1343). Ein“ordentlicher Geschäftsgang” liegt jedoch dann nichtmehr vor, wenn das vorinstanzliche Gericht einenSchriftsatz auf einem Wege weiterleitet, der seineFristgebundenheit unberücksichtigt lässt und deshalbvernünftigerweise für die Übersendung solcherSchriftsätze nicht in Betracht kommt. Dies ist bei derWahl eines gerichtseigenen Kurierdienstes für dieWeiterleitung fristgebundener Schriftsätze der Fall,weil die Übermittlung auf diesem Wege erfahrungs-gemäß wesentlich länger dauert, als bei der auch heute

noch vorherrschenden Versendung mit der Post. Dennbei einer Übersendung mit der Post oder einem ver-gleichbaren Postdienstleister kann ganz überwiegenddamit gerechnet werden, dass eine Sendung am nächs-ten Tag, spätestens aber am zweiten Arbeitstag nachder Absendung beim Empfänger eingeht (vgl. hierzu:BVerwG, NVwZ-RR 2003, 901; BGH, NJW-RR2008, 930).

III. SubsumtionWäre im vorliegenden Fall dieser Weg gewählt wor-den, hätte die am 4.11.2009 weitergeleitete Beschwer-debegründung vom 3.11.2009 noch rechtzeitig am6.10.2009 bei dem Rechtsmittelgericht eingehen kön-nen. Wird von dieser naheliegenden Möglichkeit keinGebrauch gemacht, und tritt eine Fristversäumnis ein,so ist diese als unverschuldet anzusehen.Dies gilt auch dann, wenn die Ast. zunächst einen vonihr zu vertretenden Fehler begangen hat, aber ein zu-sätzlicher Fehler des Gerichts hinzugekommen ist, aufdem letztlich die Fristversäumnis beruhte (vgl.BVerwG, NJW 2007, 3797).

IMPRESSUM

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RA 2010, HEFT 6ZIVILRECHT

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Zivilrecht

Sonderbeitrag:Auswirkungen des neuen Verbraucherkreditrichtlinien-Umsetzungsgesetzes

auf Ausbildung und Praxis - ein Überblick

I. EinleitungMit dem Verbraucherkreditrichtlinien-Umsetzungs-gesetz vom 29. Juli 2009 (BGBl I, 2355), in Kraft seit11.6.2010, wurden die Richtlinie 2008/48/EG desEuropäischen Parlaments und des Rates vom 23. April2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhe-bung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates (Verbrau-cherkreditrichtlinie) sowie der zivilrechtliche Teil derRichtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlamentsund des Rates vom 13. November 2007 über Zah-lungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung derRichtlinie 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie97/5/EG (Überweisungsrichtlinie) in deutsches Rechtumgesetzt. Dadurch werden das Widerrufsrecht der §§355 ff. BGB sowie das Verbraucherkreditrecht nach§§ 488 ff. BGB modifiziert. Zielsetzung war es, beim Verbraucher zunächst einenechten Binnenmarkt sowie ein höheres Verbraucher-schutzniveau im Wege der Vollharmonisierung zuschaffen. Rechtspolitische Erwägungen im Hinblickauf die Finanzmarktkrise oder riskante Finanzproduktestanden im Zuge der Umsetzung nicht zur Debatte.Angesichts der erheblichen Normenflut, die sich inzahlreichen Gesetzen auswirkt sowie etlicher Querver-weisungen ist ein nur schwer überschaubares Regel-werk geschaffen worden. Die Aussage, dass aufgrundder diffusen Regelungen auch der professionelleRechtsanwender vom „Drehschwindel“ (Derleder,NJW 09, 3195) befallen werden mag, erscheint jedochübertrieben. Nachfolgend soll ein Überblick über die examenswe-sentlichen Änderungen gegeben werden. Insoweit sol-len unter II. die wesentlichen Punkte der Neuordnungdes Verbraucherwiderrufsrechts, unter III. einige mar-kante Änderungen des Verbraucherkreditrechts aufge-zeigt werden. Abschließend erfolgt unter IV. eine Dar-stellung der Übergangsvorschriften mit nachfolgenderSynopse.

II. Änderungen zu §§ 355 ff., 312 BGB:1. Die zweiwöchige Widerrufsfrist des § 355 BGBfindet sich nunmehr in Abs. 2 S.1 unter Anpassung derTerminologie der Richtlinien in Form von “14 Ta-gen”. Der Inhalt der Widerrufsbelehrung ist über denVerweis des § 355 III 1 BGB vor allem dem neu ge-

schaffenen § 360 BGB zu entnehmen.

2. Eine wesentliche Änderung beinhaltet § 355 II 2BGB, die man sozusagen als “ebay-Klausel” bezeich-nen könnte. Danach reicht bei Fernabsatzverträgeneine „unverzüglich nach Vertragsabschluss in Text-form mitgeteilte“ Belehrung aus, womit sich der bis-herige Streit erledigt hat. “Unverzüglich” bedeutetnach der Gesetzesbegründung am Tage nach Vertrags-schluss. Das gilt aber nur dann, wenn der Unterneh-mer den Verbraucher vor Abgabe von dessen Ver-tragserklärung gem. Art 246 § 1 I Nr. 10 EGBGB be-reits auf der Internetseite in deutlicher Weise über dasUnternehmen, Gesamtpreise und Kosten sowie dasRecht zum Widerruf, etc. informiert hat. Art. 246 § 1 INr. 2 - 10 EGBGB übernimmt im Wesentlichen diebisherigen Regelungen des § 1 I Nr. 1 -12 BGB InfoVund teils Inhalte des § 312 c I 1 BGB. Zu beachten isthier, dass eine nachträgliche Belehrung nur für diesogenannten Internetauktionen gilt. Für normale Inter-netshops greift diese Befugnis nicht, da hier bereitsunproblematisch vor oder bei Vertragsschluss in Text-form über die Rechte belehrt werden kann. Bei Fernabsatzverträgen beginnt nach wie vor die Wi-derrufsfrist nicht zu laufen, sofern der Verbrauchernicht spätestens beim Eingang der Ware (bei Dienst-leistung nicht vor Vertragsschluss, etc.) in Textformdie Informationspflichten über die Identität des Unter-nehmens sowie die weiteren Einzelheiten (Kosten,Gesamtpreise, Widerrufsrechte) zukommen lässt. §355 III 1 BGB verweist insofern nunmehr auf Art 246§ 1, 2 EGBGB. Letztere Norm ersetzt § 1 I, IV BGBInfoV und entspricht insofern § 312 c II 2, 3 BGB a.F.

3. Bedeutsam ist auch die Vorschrift des neu geschaf-fenen § 359 a I BGB, wonach die Vorschriften des §358 I – IV BGB (verbundene Verträge) auch dann an-zuwenden sind, wenn die Ware oder Dienstleistungaus dem widerrufenen Vertrag im Verbraucherdarle-hensvertrag genau angegeben ist. Erforderlich ist al-lerdings eine Identifizierbarkeit des finanzierten Ge-schäftes. Betroffen hiervon ist aber lediglich das Wi-derrufsrecht. Der Einwendungsdurchgriff nach § 359BGB ist hingegen nicht anwendbar. In diesem Fall istalso eine „wirtschaftliche Einheit“ im Sinne von § 358

ZIVILRECHTRA 2010, HEFT 6

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II BGB entbehrlich. In Folge der Erweiterung dürftekünftig damit zu rechnen sein, dass Darlehensgebermöglichst auf eine genauere Bezeichnung des finan-zierten Gegenstandes verzichten werden.

III. Änderungen des Verbraucherkreditrechtesund der sonstigen Finanzierungshilfen, §§ 491 ff.BGB1. Abgesehen von einigen leichten sprachlichen Modi-fikationen ist nicht mehr von einem Darlehen „übereinen bestimmten Zeitraum mit festem Zinssatz“, son-dern von einem „Darlehen mit gebundenem Sollzins-satz“ die Rede. Die Definition dieses Sollzinssatzesbefindet sich in § 489 V BGB n. F.

2. Neu eingefügt sind in § 492 II BGB Ausschlusstat-bestände, in denen die Verbraucherschutzvorschriftennicht gelten; etwa, wenn sich die Haftung auf einenzum Pfand übergebene Sache beschränkt (§ 492 II Nr.2 BGB) oder in denen nach Nr. 3 „der Darlehensneh-mer das Darlehen binnen drei Monaten zurückzuzah-len hat und nur geringe Kosten vereinbart wordensind“.

3. Neu eingefügt ist ebenfalls § 491 I a BGB wonachder Darlehensgeber vorvertragliche Informations-pflichten schuldet. Form und Inhalt finden sich durchVerweis im neu eingefügten Art. 247 § 1 ff. EGBGB.Die Verletzung dieser vorvertraglichen Informations-pflichten hat durchaus erhebliche Folgen. So könnenAnsprüche aus § 280 I BGB ggf. i. V. m. §§ 311 II,241 II BGB in Frage kommen oder Fehler den Darle-hensnehmer zur Anfechtung des Vertrages berechti-gen. Auch wird der Beginn der Widerrufsfrist hinausgezö-gert. Mit dem neu gefassten § 495 II Nr. 2 BGB be-ginnt die Widerrufsfrist nicht vor Vertragsschluss,womit sich der bisherige Streit erübrigt hat.

4. Durch zahlreiche Einfügungen haben sich auch diebisherigen Normen zum Zahlungsaufschub und Finan-zierungsleasing der §§ 499 – 506 BGB verschoben.Diese sind nunmehr neu gefasst in den §§ 506 ff.BGB. Neu gefasst ist insbesondere § 499 II BGB, derbislang für Finanzierungsleasingverträge und Verträ-ge, die die Lieferung einer Sache oder Leistung gegenTeilzahlung zum Gegenstand haben. Neu ist ebenfallsdie Erläuterungspflicht des Kreditinstitutes nach § 491a III BGB, wonach der Darlehensgeber verpflichtet ist,dem Darlehensnehmer vor Abschluss des Darlehens-

vertrages eine angemessene Erläuterung zur Optimie-rung des zu vergebenden Kredits erteilen muss. Auchdies soll der weiteren Überschuldungssituation vonPrivatkonsumenten entgegenwirken. Der Kreditgeberist nunmehr gehalten, bei erkennbarer Beeinträchti-gung des Existenzminimums auf eben diesen Punkthinzuweisen. Gleiches gilt für die in § 509 BGB fest-geschriebene Bonitätsprüfung, die zumindest gravie-rende Mängel im Hinblick auf die Kreditwürdigkeitausschließen soll.

5. Ebenfalls neu gefasst ist § 500 I 1 BGB wonach derDarlehensnehmer dem Kredit ganz oder teilweise beiunbefristeten Verträgen kündigen kann, bzw. gem. §500 II BGB jederzeit ganz oder teilweise vorzeitigerfüllen kann. Hier kommt ihm eine Kostenermäßi-gung nach § 501 BGB zugute. Er muss jedoch im Ge-genzug eine Vorfälligkeitsentschädigung nach § 502BGB entrichten. Allerdings ist § 489 III BGB zu be-achten, wonach eine Kündigung als nicht erfolgt gilt,wenn der Darlehensnehmer den Darlehensbetrag nichtbinnen von zwei Wochen nach Wirksamwerden derKündigung zurückzahlt.

IV. Inkrafttreten und Synopsen1. Gem. Art. 229 § 22 II EGBGB gelten für alle vomVerbrKrRL-UG erfassten Schuldverhältnisse, die vordem 11.06.2010 entstanden sind, die Vorschriften desBGB und der BGB InfoV in der bis dahin gültigenFassung. Das betrifft mithin Haustürgeschäfte, Fern-absatzverträge, Darlehen, Verbraucherdarlehen, ent-geltliche Finanzierungshilfen und Ratenlieferungsver-träge (siehe auch den neu eingefügten Art. 246EGBGB, der Regelungen über die Art und Weise, In-halt und Form von Fernabsatzverträgen zum Gegen-stand hat und weitgehend inhaltsgleich an die Stelleder BGB InfoV tritt).

2. Anders für unbefristete Verbraucherdarlehnsver-träge, die vor diesem Zeitpunkt geschlossen wurden.Hier gelten nach Art. 229 § 22 III EGBGB teilweiseauch die neuen Vorschriften.

3. Für Verbraucherverträge, die die Ausführung vonZahlungsvorgängen zum Inhalt haben, gelten die neu-en Vorschriften der §§ 675 c - 676 c BGB sowie Art.248 EGBGB bereits für Verträge, die ab dem31.10.2009 geschlossen wurden (Art. 229 § 22 IEGBGB).

RA 2010, HEFT 6ZIVILRECHT

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4. Synopse zu §§ 312 ff, 355 ff. BGB für Verträge ab dem 11.6.2010:

Alt (für Verträge bis zum 10.6.2010) Neu (für Verträge ab dem 11.6.10)

§ 355 I 1 dito

§ 355 I 2 Widerrufserklärung und -frist “Zwei Wochen” gestrichen

§ 355 I 2 durch “Widerrufsfrist” ersetzt § 355 II 1 ”Widerrufsfrist beträgt 14 Tage, wenn bei Vertrags-schluss eine dem § 360 I (hier finden sich Einzelhei-ten zur Widerrufsbelehrung Anschrift, Fristbeginnetc.) entsprechende Widerrufsbelehrung in Textformmitgeteilt wird.

§ 355 II 1 “Fristbeginn... nach Belehrung in Textform [...] An-schrift des Widerrufsempfängers, Fristbeginn” etc.

§ 355 III 1“Fristbeginn... nach Belehrung in Textform gem. §360 [...]

(-) § 355 II 2 (sozusagen ebay-Klausel)Bei Fernabsatzverträgen reicht eine “unverzüglichnach Vertragsschluss in Textform mitgeteilte” Be-lehrung, wenn der Unternehmer den Verbrauchergem. Art. 246 § 1 I Nr. 10 EGBGB (Informations-pflichten bei Fernabsatzverträgen zum Unternehmen,Laufzeiten von Verträgen, Preisen, Kosten, Wider-rufsrechten etc; ersetzt ab 11.6.10 BGB Info- V § 1 INr. 1 - 12, II, III) informiert hat. Nach der Gesetzesbegründung bedeutet unverzüg-lich: am Tag nach dem Vertragsschluss

§ 355 II 2 bei nach Vertragsschluss mitgeteilter Widerrufsbe-lehrung : Frist 1 Monat

§ 355 II 3 bei nach dem nach S. 1 oder S. 2 maßgeblichem Zeit-punkt mitgeteilten Widerrufsbelehrung: Frist 1 Mo-nat

(-) § 355 II 4Bei Verletzung von Informationspflichten bei Fern-absatzverträgen bei Dienstleistungen oder Warenlie-ferungen, die spätestens bei Erfüllung zu erteilensind, ebenfalls Widerrufsfrist 1 Monat, Art. 246 § 2 I1 Nr. 2 EGBGB (ersetzt ab 11.6.10 BGB InfoV § 1IV 1 Nr. 1 - 3; II entspricht § 312c II 2, 3; III über-nimmt BGB InfoV § 1 IV 2, 3 )

§ 355 II 3Bei schriftlichem Vertragsschluss Fristbeginn nichtvor Übergabe des Vertrages [...]§ 355 II 4 Beweislast beim Unternehmer [...]

§ 355 III 2 i.V.m. § 360dito

§ 355 III 3dito

§ 355 III 1 Widerrufsrecht erlischt spätestens nach 6 Monaten§ 355 III 2Beginn bei Lieferung von Waren nicht vor deren Ein-gang

§ 355 IV 1 dito§ 355 IV 2 dito

ZIVILRECHTRA 2010, HEFT 6

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§ 355 III 3unbefristet bei fehlerhafter Widerrufsbelehrung oderbei Fernabsatzverträgen über Finanzdienstleistungenbei Verstößen gegen Mitteilungspflichten nach §312c II Nr.1

§ 355 IV 3ditoaber statt § 312 c II Nr. 1 nunmehr Art. 246 § 2 I 1Nr. 1 und S. 2 Nr. 1-3 EGBGB

§ 357 III 1 Wertersatzpflicht bei Verschlechterungbei entsprechender Belehrung bei Vertragsschluss

§ 357 III 2§ 357 III 3

durch neu eingefügten § 357 III 2 ergänzt: Da wegen § 355 II 2 bei Fernabsatzverträgen eine“unverzüglich nach Vertragsschluss in Textform mit-geteilte” Belehrung ausreicht, reicht auch hier eineunverzügliche Belehrung über Wertersatz nach Ver-tragsschluss aus (nach dem neu eingefügten § 357 III2), wenn der Verbraucher vor Abgabe seiner Willens-erklärung durch Fernkommunikationsmittel (also oh-ne Textform) bereits darauf hingewiesen wurde.§ 357 III 3 dito§ 357 III 4 dito

§ 359 S.2 Keine Einwendungen bei verbundenenVerträgen, wenn das finanzierte Entgelt 200,- i nichtüberschreitet.

§ 359 a IVdito§ 359 S.2 lautet jetzt: gilt nicht für Vertragsänderun-gen, die der Verbraucher und der Unternehmer nachAbschluss des Verbraucherdarlehens treffen.

§ 359 a I, neu eingefügtDie Vorschriften des § 358 I- IV (verbundene Ver-träge) sind auch dann anzuwenden, wenn die Wareoder Dienstleistung aus dem widerrufenen Vertrag imVerbraucherdarlehensvertrag genau angegeben sind.(Anm.: das bedeutet nur eine Gleichstellung bezüg-lich des Widerrufsrechts. Der Einwendungsdurchgriffnach § 359 ist hingegen nicht anwendbar!)§ 359 a II neu eingefügt:§ 358 II, IV gelten entsprechend für Zusatzleistun-gen, die in unmittelbaren Zusammenhang mit demDarlehen abgeschlossen wurden.

§ 360 ersetzt weitgehend die Belehrungspflichten des§ 355 II 1 a.F.§ 360 III Die Widerrufsbelehrung genügt den Anforderungen,wenn das Muster der Anlage 1 zu Art 246 EGBGB inTextform verwendet wird.Das Muster muss allerdings noch durch Änderungs-gesetz in Kraft gesetzt werden. Bis dahin gilt auchnach dem 11.6.2010, dass der Unternehmer das Risi-ko einer fehlerfreien Widerrufsbelehrung selbst zutragen hat (vgl. Bülow, NJW 2010, 1713).

§ 312 II: die erforderliche Belehrung über dasWiderrufs- oder Rückgaberecht muss auf die Rechts-folgen des § 357 I, III hinweisen

§ 312 II 1 Belehrung gem. § 360 über Widerrufs-oder Rückgaberecht § 312 II 2 Hinweis auf § 357 I, III

§ 312 c I, Art. 240 EGBGB, § 1 IV BGB InfoV, § 312 c II

§ 312 c I, II a.F. zusammengefasst in § 312 c I, Art.246, §§ 1, 2 EGBGB

RA 2010, HEFT 6ZIVILRECHT

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§ 312 d II Widerrufsrecht beginnt nicht vor Erfüllungder Informationspflichten nach § 312 c II...

§ 312 d II Widerrufsrecht beginnt nicht vor Erfüllungder Informationspflichten nach Art. 246, § 2 i.V.m. §1 I, II EGBGB [...]

5. Synopse zu §§ 491 ff. BGB für Verträge ab dem 11.6.2010:

Alt (für Verträge bis zum 10.6.2010) Neu (für Verträge ab dem 11.6.10)

§ 489 (Ordentliches Kündigungsrecht)bei Darlehen über einen bestimmtem Zeitraum mitfestem Zinssatz

bei “Darlehen mit gebundenem Sollzinssatz” (Def.Sollzins neu eingefügt in § 489 V)

§ 491 I: Es gelten bes. Vorschriften für Verbraucher-darlehen “vorbehaltlich der Absätze 2 und 3...”

“soweit nicht in den Abs. 2 oder 3 oder in den §§ 503- 505 nicht anderes bestimmt ist”

§ 491 II 5 (Ausschlusstatbestände)Nr. 1 Darlehen unter 200,- i

§ 491 II Nr. 1: ditoneu eingefügt:Nr. 2 bei denen sich die Haftung auf eine zum Pfandübergebene Sache beschränktNr. 3 “bei denen der Darlehensnehmer das Darlehenbinnen drei Monaten zurückzuzahlen hat und nur ge-ringen Kosten vereinbart sind”

(-) § 491 I aDarlehensgeber schuldet vorvertragliche Informa-tionspflichten über die Einzelheiten aus Art. 247EGBGB in der dort vorgesehenen Form und ange-messene Erläuterungen

§ 492 I 1Schriftform

§ 492 Idito

§ 492 I 2 - 5(keine elektronische Form..., und in S.5 Nr. 1 - 7 An-gaben zu Zinsen, Art und Weise der Rückzahlung...)

Aufgehoben und ersetzt durch § 492 II“Der Vertrag muss die Angaben nach Art. 247 §§ 6 -13 des EGBGB enthalten”

§ 492 I a II Definition des effektiven Zinssatzes Art. 247 § 3 II EGBGB

(-) neu angefügt § 492 VErklärungen des Darlehensgebers nach Vertrags-schluss bedürfen der Textform

§§ 492 a, 493 ersetzt durch 493

§ 494 I 5 Nichtigkeit von Vertrag und Vollmacht beiNichteinhaltung der Schriftform oder wenn eine derin § 492 I 5 Nr. 1- 6 vorgeschriebenen Angaben fehlt

§ 494 I (wegen Streichung des § 492 I 5 Nr. 1 - 6 in-folge der obigen Neufassung des § 492 II)werden die Wörter “§ 492 I 5 Nr. 1 - 6" ersetzt durch “Art. 247 §§ 6 und 9 - 13 EGBGB”

§ 494 II 1 Heilung bei Inanspruchnahme dito

§ 494 II 2 Ermäßigung des zugrunde gelegten “Zinssatzes” aufden gesetzlichen Zinssatz

§ 494 II 2 zugrunde gelegten “Sollzinssatz”

§ 495 I (Widerrufsrecht nach § 355) § dito

ZIVILRECHTRA 2010, HEFT 6

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§ 495 II neu gefasst “§§ 355 - 359 a gelten mit der Maßgabe, dass1. An die Stelle der Widerrufsbelehrung die Pflicht-angabe nach Art. 247 § 6 II des EGBGB tritt,2. Die Widerrufsfrist auch nicht vor Vertragsschlussbeginnt [...]

§§ 499 - 506 (Zahlungsaufschub, Leasing) neu gefasst in §§ 506 - 510

(-) §§ 499 - 505: Neuregelungen zu den Themen: Kündi-gungsrecht des Darlehensgebers, Kündigungsrechtdes Darlehensnehmers, Kostenermäßigung, Vorfäl-ligkeitsentschädigung, Immobiliardarlehensverträge,Überziehungsmöglichkeit, geduldete Überziehung

§ 499 I entgeltlicher Zahlungsaufschub von mehr als3 Monaten§ 499 II für Finanzierungsleasingverträge und Ver-träge, die die Lieferung einer Sache oder Leistunggegen Teilzahlung zum Gegenstand hat, [...]

gelten vorbehaltlich des Absatzes 3 die in §§ 500 -504 geregelten Besonderheiten

§ 506 I dito, aber jeder entgeltlicher Zahlungsauf-schub (Anm.: erfasst wird also nunmehr auch einZahlungsaufschub bis zu 3 Monaten!)§ 499 II neu gefasst in § 506 II:“Verträge, zwischen einem Unternehmer und einemVerbraucher über die entgeltliche Nutzung eines Ge-genstandes gelten als entgeltliche Finanzierungshilfe,wenn vereinbart ist, dass1. der Verbraucher zum Erwerb des Gegenstandesverpflichtet ist,2. der Unternehmer vom Verbraucher den Erwerb desGegenstandes verlangen kann (Anm. Andienungs-recht beim Leasingvertrag)3. Der Verbraucher bei Beendigung des Vertrags füreinen bestimmten Wert des Gegenstandes einzuste-hen hat. (Anm.: für Finanzierungsleasingverträgewird nunmehr umfassend auf die §§ 491 ff. verwie-sen; die in §§ 500 f. a.F. genannten Ausnahmen sindentfallen).§ 506 III: “gelten vorbehaltlich des Absatzes 4 zu-sätzlich die in §§ 507 und 508 geregelten Besonder-heiten”

§ 502 Rechtsfolgen von Formmängeln § 507

§ 503 Rückgaberecht § 508

(-) § 509 Pflicht zur Prüfung der Kreditwürdigkeit

§ 505 Teilzahlungsverträge § 510 I dito mit Ergänzung:“§ 492 I gilt nicht bei Belehrung in Textform unver-züglich nach Vertragsschluss”§ 510 II 1 Nichtigkeit§ 510 II 2 Heilung§ 510 II 3 Barzahlungspreis -> gesetzlicher Zinssatz

§ 506 Verbot abweichender Vereinbarungen zuLasten eines Verbrauchers

§ 511 dito mit Einfügung, “soweit nicht ein anderes bestimmtist”

§ 507 Anwendung auf Existenzgründer, es sei denn... über 50.000,- i.

§ 512 Anwendung auf Existenzgründer, es sei denn... über 75.000,- i.

RA 2010, HEFT 6ZIVILRECHT

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Standort: Deliktsrecht Problem: Verletzung des APR

BGH, URTEIL VOM 29.10.2009

I ZR 65/07 (WRP 2010, 780)

Problemdarstellung:

Um die erstmalige Erscheinung ihrer Sonntagsausgabeam 30.09.2001 zu bewerben ließ die Bekl. – dieFrankfurter Allgemeine Zeitung – eine Ausgabe derZeitung auf einem Plakat abbilden. Die Zeitung ist aufder Abbildung zusammengerollt, so dass nur ca. dasobere Drittel der Titelseite zu sehen ist. Hierauf istmittig der Name der Zeitung zu sehen. Darunter befin-det sich links eine Fotografie des damaligen Bundes-außenministers Joschka Fischer und rechts ein Por-traitfoto des Kl., dem Tennisspieler Boris Becker.Dem Portraitfoto des Kl. ist die Schlagzeile „Derstrauchelnde Liebling“ und die Seitenangabe „S. 17“zugeordnet. Das Werbeplakat wurde von derBekl.vom 10.09.2001 bis zum 31.03.2002 verwendet.

Die Abbildung des Kl. erfolgte ohne dessen Einwil-ligung. Die abgebildete Ausgabe der Zeitung wurdenur zur Werbezwecken produziert; bedruckt war dahernur die Titel- und die Rückseite. Redaktionelle Beiträ-ge enthielt die Ausgabe nicht. Insbesondere erschiender angekündigte Beitrag über den Kl. nicht.

Der Kl. meint, durch die Abbildung in seinem Rechtam eigenen Bild verletzt zu sein. Er verlangt Zahlungeiner fiktiven Lizenzgebühr von rd. 2,4 Mio. i.

Prüfungsrelevanz:Das Begehren nach einer fiktiven Lizenzgebühr kannwegen fehlender vertraglicher Beziehungen zwischenden Parteien nur als deliktisches Schadensersatzbegeh-ren ausgelegt werden. In Betracht kommt ein An-spruch des Kl. aus § 823 BGB i.V.m. dem Allgemei-nen Persönlichkeitsrecht aus Art. 1 I, 2 I GG (APR) inseiner Ausgestaltung als Recht am eigenen Bild. DasAPR ist ein „sonstiges Recht“ i.S.d. § 823 I BGB. Eshandelt sich um einen sog. offenen Tatbestand dar,dessen Verletzung im Einzelfall durch eine umfassen-de Güter- und Interessenabwägung festgestellt werdenmuss. Bezgl. des Rechts am eigenen Bild, ist das Er-fordernis dieser Abwägung sogar eigens im KUG nor-miert: Nach dem Grundsatz des § 22 S. 1 KUG dürfenBildnisse von Personen nur mit deren Einwilligungverbreitet werden. Hiervon macht § 23 I Nr. 1 KUGjedoch eine Ausnahme, wenn es sich um Bildnisse ausdem Bereich der Zeitgeschichte handelt. Da § 23 IIKUG von dieser Ausnahme wiederum eine Rückaus-nahme macht, wenn dies die berechtigten Interessenfordern, ist eine Abwägung zwischen den widerstrei-tenden Interessen vorzunehmen.

Hier eröffnet sich in einer Prüfung die Möglichkeit,

Wertungen der Rechtsordnung – insbesondere aus denGrundrechten – einfließen zu lassen.

Zugunsten der Bekl. stritt hier die Pressefreiheit desArt. 5 I 2 GG, deren Schutz sich auch auf die Wer-bung zur Einführung eines neuen Presseerzeugnissesstützt. Insbesondere darf auf dem Titelblatt eines Pres-seerzeugnisses mit dem Bildnis einer prominentenPerson geworben werden, wenn dieses eine demSchutz der Pressefreiheit unterliegende Berichterstat-tung über die betreffende Person enthält (BGH, WRP1995, 613 [614]). Der angekündigte Artikel über denKl. war hier jedoch nie erschienen. Eine Abbildungder Person kann aber dennoch zulässig sein, wenn siedem Zweck dient, die Öffentlichkeit über die Gestal-tung und Thematik einer neuen Zeitung zu informie-ren.

Der Kl. kann demgegenüber zwar einen Eingriff insein Persönlichkeitsrecht geltend machen; dieser istaber nicht von entscheidender Intensität. Denn aus derWerbeanzeige ergibt sich nicht, dass der Kl. sich mitder Bekl. oder von dieser vertriebenen Produkten iden-tifiziert – es findet insoweit kein Imagetransfer statt.Die Portraitaufnahme des Kl. ist überdies neutral undstellt ihn optisch nicht ungünstig dar. Auch dieSchlagzeile „Der strauchelnde Liebling“ ist nicht alsHerabsetzung zu verstehen.

Insgesamt überwog damit das Interesse der Bekl. aneiner Darstellung. Jedoch gilt dies nach dem Senatnicht unbegrenzt. Denn jedenfalls in einem angemes-senen Zeitraum nach dem erstmaligen Erscheinen derZeitung ist es der Bekl. zumutbar gewesen, mit eineranderen (einer echten) Ausgabe der Zeitung zu werbenund den Eingriff ins Persönlichkeitsrecht des Kl. da-mit zu beenden. Der Senat billigt der Bekl. hier ein„Werberecht“ mit dem Bildnis des Kl. für einen Mo-nat zu, so dass ab dem 01.11.2001 ein überwiegendesIn

teresse des Kl. zu bejahen ist. Insofern besteht ab die-sem Zeitpunkt auch ein entsprechender Anspruch auffiktive Lizenzgebühr.

Die Entscheidung zeigt, wie leicht eine zivilrechtlicheProblematik mit zivilrechtsfremden Aspekten verbun-den werden kann. In der zivilgerichtlichen Rechtspre-chung sind derartige Konstellationen in der jüngerenVergangenheit häufig vorgekommen (vgl. z.B. OLGFrankfurt, RA 2009, 708; BAG, RA 2010, 15; BGH,RA 2009, 801), so dass hiermit in einer Klausurdurchaus zu rechnen ist.

Vertiefungshinweise:

“ § 823 i.V.m. Art. 1 I GG: BGH, RA 2009, 708

“ § 823 i.V.m. APR: BGH, NJW 1961, 1914; BGH,

ZIVILRECHTRA 2010, HEFT 6

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NJW 1966, 1214; BGH, VersR 1979, 53; BVerfG,NJW 2002, 3767

Leitsätze:1. Die Werbung für eine geplante Zeitung mit derTitelseite eines Testexemplars, auf der eine promi-nente Person abgebildet ist, verletzt nicht alleindeshalb deren Recht am eigenen Bild, weil keineAusgabe der Zeitung erscheint, die eine der An-kündigung entsprechende Berichterstattung ent-hält.2. Eine solche Werbung verletzt das Recht am eige-nen Bild allerdings von dem Zeitpunkt an, zu demes dem Werbenden möglich und zumutbar ist, dieAbbildung der Titelseite des Testexemplars durchdie Abbildung der Titelseite einer tatsächlich er-schienenen Ausgabe der Zeitung zu ersetzen.

Sachverhalt:Der Kläger ist der bekannte Tennisspieler Boris Be-cker. Die Beklagte gibt die Frankfurter AllgemeineSonntagszeitung heraus.Vor dem Erscheinen der Erstausgabe am 30. Septem-ber 2001 stellte die Beklagte der Fachöffentlichkeitein Testexemplar der Frankfurter Allgemeinen Sonn-tagszeitung vor. Dieses Testexemplar ist in der Wer-bekampagne zur Einführung der Zeitung vom 10. Sep-tember 2001 bis zum 31. März 2002 in zusammenge-rollter Form - wie eine Zeitung in Zeitungsrohre ge-steckt zu werden pflegt - abgebildet. Die Abbildungzeigt den oberen Teil der Titelseite mit dem Namender Zeitung. Darunter ist links eine Fotografie des da-maligen Bundesaußenministers Fischer und rechts einPortraitfoto des Klägers zu sehen. Neben dem Bild desKlägers befinden sich die Schlagzeile „Der straucheln-de Liebling“ und der Untertitel „mühsame Versuche,nicht aus der Erfolgsspur geworfen zu werden - Seite17“.Die Werbung erschien auf verschiedenen Werbeträ-gern und in unterschiedlicher Gestaltung. Sie zeigtestets eine Abbildung des Testexemplars der Zeitungund enthielt oft einen Werbeslogan mit dem Wort„Sonntag“, wie etwa „Die schönsten Seiten des Sonn-tags“.Das Original des in der Werbekampagne abgebildetenTestexemplars der Zeitung zeigte neben einer ausge-arbeiteten Titel- und Rückseite nur das vorgeseheneLayout; es enthielt keine redaktionellen Beiträge unddamit auch nicht den auf der Titelseite für Seite 17angekündigten Bericht. Ein solcher Bericht erschienauch in keiner späteren Ausgabe der Zeitung. Die Ver-öffentlichung des Fotos erfolgte ohne Einwilligungdes Klägers.Der Kläger ist der Ansicht, die Beklagte habe mit derungenehmigten Verwendung seines Bildnisses in ihrer

Werbekampagne sein Recht am eigenen Bild verletzt.Er nimmt die Beklagte auf Zahlung einer fiktiven Li-zenzgebühr in Höhe von 2.365.395,55 i in Anspruch.

Aus den Gründen:

A. Ausführungen des Berufungsgerichts [8] Das Berufungsgericht hat angenommen, die Be-klagte sei dem Kläger dem Grunde nach gemäß § 823Abs. 1 BGB, § 823 Abs. 2 BGB i.V. mit §§ 22, 23KUG und § 812 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 BGB zur Zahlungeiner fiktiven Lizenzgebühr verpflichtet, weil sie mitder Veröffentlichung seines Bildnisses in ihrer Werbe-kampagne in rechtswidriger und schuldhafter Weise insein Recht am eigenen Bild eingegriffen und damit aufseine Kosten einen vermögenswerten Vorteil erlangthabe.[11] Die Werbekampagne sei bereits ab dem 10. Sep-tember 2001 und nicht erst ab dem Zeitpunkt des Er-scheinens der Erstausgabe am 30. September 2001unzulässig. Die Beklagte habe vor dem 30. September2001 zwar nur in der in Rede stehenden Art und Wei-se mit einer zu diesem Zeitpunkt noch nicht existentenZeitung werben können. Sie sei jedoch bereits ab dem10. September 2001 verpflichtet gewesen, das abge-bildete Exemplar ab dem 30. September 2001 tatsäch-lich auf den Markt zu bringen, weil sie davon profi-tiert habe, dass sich die Aufmerksamkeit der potentiel-len Erwerber gerade wegen der Abbildung des be-kannten Klägers auf das Produkt gerichtet habe. ImÜbrigen sei es der Beklagten möglich und zumutbargewesen, ihre Werbung ab dem Erscheinen der Zei-tung am 30. September 2001 umzustellen, und in derWerbung eine tatsächlich erschienene Ausgabe ab-zubilden.

B. Entscheidung des BGH [12] Die Revision der Beklagten hat teilweise Erfolg.Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils soweitdieses dem Kläger dem Grunde nach Ansprüche auchfür die Zeit vom 10. September 2001 bis zum 31. Ok-tober 2001 zugesprochen hat. Dem Kläger steht dergeltend gemachte Anspruch auf Zahlung einer fiktivenLizenzgebühr aus § 823 Abs. 1 BGB, § 823 Abs. 2BGB i.V. mit §§ 22, 23 KUG und aus § 812 Abs. 1Satz 1 Fall 2 BGB nur für die Zeit vom 1. November2001 bis zum 31. März 2002 zu.

I. § 23 I Nr. 1 KUG[15] Die Beklagte kann sich grundsätzlich auf dieAusnahmebestimmung des § 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG fürBildnisse aus dem Bereich der Zeitgeschichte berufen.Der Begriff der Zeitgeschichte ist, um der Bedeutungund Tragweite der Pressefreiheit Rechnung zu tragen,nicht allein auf Vorgänge von historischer oder politi-scher Bedeutung zu beziehen, sondern vom Informa-

RA 2010, HEFT 6ZIVILRECHT

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tionsinteresse der Öffentlichkeit her zu bestimmen(BVerfGE 101, 361, 392; vgl. BGHZ 178, 213 Tz. 10m.w.N.). Der Anwendungsbereich des § 23 Abs. 1 Nr.1 KUG ist daher eröffnet, wenn die Werbeanzeigenicht ausschließlich den Geschäftsinteressen des mitder Abbildung werbenden Unternehmens, sonderndaneben auch einem Informationsinteresse der Öffent-lichkeit dient (vgl. BGHZ 169, 340 Tz. 15 - Rücktrittdes Finanzministers; BGH GRUR 2009, 1085 Tz. 26 -Wer wird Millionär?). Die vom Kläger beanstandetenWerbeanzeigen enthalten nach den Feststellungen desBerufungsgerichts zumindest auch eine Informationder Allgemeinheit über die Gestaltung und den Inhaltder neuen Zeitung der Beklagten.

II. Persönlichkeitsrecht des Kl. vom Berfungsgerichtüberbewertet [18] Die Revision rügt [jedoch] mit Erfolg, das Beru-fungsgericht habe dem Persönlichkeitsrecht des Klä-gers zu großes Gewicht beigemessen. Das Berufungs-gericht hat angenommen, die Werbung der Beklagtennutze den Image- und Werbewert des außerordentlichprominenten Klägers in erheblichem Maße aus. Dievon ihm getroffenen Feststellungen tragen diese Beur-teilung indes nicht.

1. Maßstab für die Gewichtung des Eingriffs[19] Das Gewicht des Eingriffs in das allgemeine Per-sönlichkeitsrecht einer prominenten Person, die ohneihre Einwilligung in einer Werbeanzeige abgebildetwird, bemisst sich vor allem nach dem Ausmaß, indem die Werbung den Werbewert und das Image derPerson ausnutzt. Besonderes Gewicht hat ein solcherEingriff, wenn die Werbung den Eindruck erweckt,die abgebildete Person identifiziere sich mit dem be-worbenen Produkt, empfehle es oder preise es an (vgl.BGHZ 169, 340 Tz. 19 - Rücktritt des Finanzminis-ters, m.w.N.). Erhebliches Gewicht kommt einem der-artigen Eingriff auch dann zu, wenn durch ein unmit-telbares Nebeneinander der Ware und des Abgebilde-ten in der Werbung das Interesse der Öffentlichkeit ander Person und deren Beliebtheit auf die Ware über-tragen wird, weil der Betrachter der Werbung einegedankliche Verbindung zwischen dem Abgebildetenund dem beworbenen Produkt herstellt, die zu einemImagetransfer führt (BGH GRUR 2009, 1085 Tz. 31 -Wer wird Millionär?, m.w.N.). Dagegen hat der Ein-griff geringeres Gewicht, wenn die Abbildung einerprominenten Person in der Werbung weder Empfeh-lungscharakter hat noch zu einem Imagetransfer führt,sondern lediglich die Aufmerksamkeit des Betrachtersauf das beworbene Produkt lenkt.

2. Vorliegend keine Identifikation / kein Imagetransfer[20] Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststel-lungen des Berufungsgerichts erweckt die Darstellung

des Klägers auf der Titelseite der abgebildeten Zei-tung nicht den Eindruck, der Kläger identifiziere sichmit der beworbenen Sonntagszeitung, empfehle sieoder preise sie an. Die Abbildung des Klägers hat viel-mehr das Ziel, das große Interesse der Allgemeinheitan seiner Person zum Zweck der Absatzförderung aufdie beworbene Zeitung zu lenken. Die Werbung mitdem Foto des Klägers erschöpft sich demnach in einerbloßen Aufmerksamkeitswerbung für die Sonntags-zeitung der Beklagten, ohne den Werbewert oder dasImage des Klägers darüber hinaus auszunutzen.

3. Eingriff in die einfachrechtlich geschützten Be-standteil des Rechts am eigenen Bild[21] Der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Klä-gers betrifft lediglich die - nur einfachrechtlich ge-schützten - vermögenswerten Bestandteile des allge-meinen Persönlichkeitsrechts einschließlich desRechts am eigenen Bild und berührt nicht die - auchverfassungsrechtlich gewährleisteten - ideellen Be-standteile des allgemeinen Persönlichkeitsrechts desKlägers (vgl. BGHZ 143, 214, 218 ff. - Marlene Diet-rich; BVerfG, Kammerbeschl. v. 22.8.2006 - 1 BvR1168/04, GRUR 2006, 1049, 1050 f. = WRP 2006,1361; BGHZ 169, 340 Tz. 21 - Rücktritt des Finanz-ministers). Bei der verwendeten Fotografie handelt essich um eine kleine, neutrale Porträtaufnahme, die denKläger optisch nicht ungünstig darstellt. Die Schlag-zeile und der Untertitel sind nach den Feststellungendes Berufungsgerichts nicht als Herabsetzung zu ver-stehen, sondern spielen aus der Sicht des Durch-schnittsbetrachters der Werbung auf Erfolge undMisserfolge des Klägers nach Abschluss seiner Ten-niskarriere an. Die beanstandete Werbung beschädigtdas Ansehen des Klägers daher nicht, auch wenn sieseine persönlichen Probleme zum Gegenstand hat undihn nicht unbedingt in einem günstigen Licht erschei-nen lässt

III. Pressefreiheit nicht ausreichend berücksichtigt[22] Die Revision beanstandet zu Recht, dass das Be-rufungsgericht der Pressefreiheit der Beklagten zu ge-ringes Gewicht beigemessen hat.

1. Abbildung auch ohne korrespondierende Bericht-erstattung möglich [25] Die Werbung mit der Abbildung einer prominen-ten Person auf dem Titelblatt einer Zeitung kann ent-gegen der Ansicht des Berufungsgerichts aber auchohne eine diese Abbildung rechtfertigende Bericht-erstattung im Innern oder auf dem Titelblatt der Zei-tung zulässig sein, wenn sie dem Zweck dient, die Öf-fentlichkeit über die Gestaltung und die Thematik ei-ner neuen Zeitung zu informieren.[26] Da die Freiheit zur Gründung und Gestaltung vonPresseerzeugnissen im Zentrum der Pressefreiheit

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steht (BVerfGE 97, 125, 144 m.w.N.), erstreckt sichderen Schutz in besonderem Maße auf die Werbungzur Einführung eines neuen Presseerzeugnisses. EinVerlag hat ein erhebliches und berechtigtes Interesse,im Rahmen einer solchen Einführungswerbung mit derAbbildung eines Titelblatts zu werben, um den Wer-beadressaten das Aussehen und die Ausrichtung derneuen Zeitung vor Augen zu führen und es ihnen da-mit zu ermöglichen, das einzuführende neue Presse-erzeugnis von bestehenden ähnlichen Presseerzeugnis-sen zu unterscheiden. Der Schutz des Art. 5 Abs. 1Satz 2 GG umfasst deshalb die Werbung mit der Ab-bildung einer Titelseite, die die Öffentlichkeit bei-spielhaft über Gestaltung und Inhalt des neuen Presse-erzeugnisses informiert.

2. Ergebnis[27] Die gebotene Abwägung der betroffenen Inter-essen ergibt, dass im Streitfall der Pressefreiheit derBeklagten gegenüber dem Persönlichkeitsrecht desKlägers in der Zeit vom Beginn der Werbekampagnezur Einführung der Zeitung am 10. September 2001bis zum Ablauf eines Monats nach dem Erscheinender Erstausgabe am 30. September 2001 - also in derZeit vom 10. September 2001 bis zum 31. Oktober2001 - größeres Gewicht zukommt.

IV. Jedoch: Zeitliche Einschränkung [32] Da die Werbung der Beklagten das Persönlich-keitsrecht des Klägers nicht unerheblich beeinträch-

tigt, war die Beklagte allerdings gehalten, nach demErscheinen der Erstausgabe am 30. September 2001,sobald es ihr möglich und zumutbar war, nicht mehrdas Testexemplar, sondern ein erschienenes Exemplarihrer Zeitung in der Werbekampagne abzubilden. Esist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass dies derBeklagten nicht möglich gewesen wäre. Sie kann sichauch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass ihr einekurzfristige Umstellung der Werbekampagne nichtzumutbar gewesen wäre. Bereits bei der Planung derWerbekampagne hätte sie sich auf eine Änderung desAnzeigenmotivs einstellen können und müssen. Dannwäre es ihr mit zumutbarem Aufwand möglich gewe-sen, innerhalb eines Monats nach Erscheinen der Erst-ausgabe in der Einführungswerbung die Abbildungdes Testexemplars der Zeitung durch die Abbildungder Erstausgabe oder einer Folgeausgabe zu ersetzen.Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts deutenvon der Beklagten vorgelegte Varianten der Werbungdarauf hin, dass die Beklagte „zeitnah“ zum Erschei-nen der Erstausgabe auch mit tatsächlich erschienenenAusgaben der Zeitung geworben hat und demnach zueiner Umstellung der Werbekampagne in der Lagewar. Die Beklagte war daher - mit Rücksicht auf dasbeeinträchtigte Persönlichkeitsrecht des Klägers -nicht berechtigt, das Testexemplar der Sonntagszei-tung mit der Porträtaufnahme des Klägers - wie ge-schehen - auch in der Zeit vom 1. November 2001 biszum 31. März 2002 in ihrer Werbung zu verwenden.

Standort: Schuldrecht Problem: Schadensersatz / Unterlassung

BGH, URTEIL VOM 12.05.2010

I ZR 121/08 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:

Die Kl. vermarktet den Tonträger „Sommer unseresLebens“ mit einer Aufnahme des Künstlers SebastianHämer. Sie beauftragte die L. AG mit der Überwa-chung des Titels im Internet. Am 08.09.2006 um 18.32Uhr erfasste dieses Unternehmen einen Nutzer miteiner bestimmten IP-Adresse, der zu diesem Zeitpunktden Tonträger „Sommer unseres Lebens“ anderenTeilnehmern der Tauschbörse „eMule“ zum Herunter-laden anbot. Nach Auskunft der Deutschen TelekomAG war die IP-Adresse zum fraglichen Zeitpunkt demInternetanschluss des Bekl. zugeordnet. Im Zeitpunktder Erfassung der IP-Adresse befand sich der Bekl. imUrlaub; sein Computer stand in einem abgeschlosse-nen Büroraum.

Die Kl. hat vom Bekl. verlangt, es zu unterlassen, denbetreffenden Musiktitel in Online-Tauschbörsen be-reitzustellen. Ferner hat sie den Bekl. auf Schadens-ersatz (150 i) sowie auf Erstattung von Abmahnkos-

ten (325,90 i) zuzüglich Zinsen in Anspruch genom-men.

Das Landgericht hat den Bekl. weitgehend antrags-gemäß verurteilt. Die Berufung des Bekl. hat zur Ab-weisung der Klage geführt. Mit ihrer Revision verfolgtdie Kl. ihre Klageanträge weiter. Die Revision hat imWesentlichen Erfolg.

Prüfungsrelevanz:

Die Rechtsprechung zur Haftung von W-LAN-An-schlussinhabern war bislang recht uneinheitlich. Dievorliegende Entscheidung des BGH schafft ein wenigRechtssicherheit. Die Thematik berührt zwar insbe-sondere Bereiche des Urheberrechts, das regelmäßignicht examensrelevant ist. Doch gerade aufgrund derMedienwirksamkeit des Urteils mag die Problematikdurchaus in einer mündlichen Prüfung abgefragt wer-den. Lässt man die Besonderheiten des Urheberrechtsaußen vor, betrifft die Entscheidung nämlich vorwie-gend Fragen der Störereigenschaft (ähnlich § 1004BGB) und der Verhaltenspflichten von W-LAN-An-schlussinhabern.

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I. An das Herunterladen und Bereitstellen von urhe-berrechtlich geschützten Musiktiteln über Onli-ne-Tauschbörsen kann der Berechtigte drei Rechts-folgen knüpfen: 1. Unterlassung, 2. den Ersatz des ausder Urheberrechtsverletzung resultierenden Schadensund 3. den Ersatz der entstandenen Abmahnkosten.Der Unterlassungs- und Schadensersatzanspruch resul-tiert aus § 97 I, II UrhG. Der Anspruch auf Ersatz derAbmahnkosten folgt aus den Grundsätzen der GoA.Denn derjenige, der vom Störer die Beseitigung einerStörung bzw. Unterlassung verlangen kann, hat nachständiger Rechtsprechung im Urheberrecht grundsätz-lich einen Anspruch auf Ersatz seiner Aufwendungengem. §§ 683 S. 1, 670 BGB, soweit er bei der Stö-rungsbeseitigung hilft und im Interesse und im Ein-klang mit dem wirklichen oder mutmaßlichen Willendes Störers tätig wird (BGH, NJW 1970, 243 undNJW 2002, 1494). Hierfür streitet im Ergebnis auch §12 I 2 UWG, wonach Ersatz für die erforderlichenAufwendungen einer berechtigen Abmahnung ver-langt werden kann (LG Köln, K&R 2010, 280). DieAbmahnkosten entsprechen den Kosten der Rechts-verfolgung und bemessen sich daher nach dem Streit-wert; die Höhe wird gem. § 13 RVG i.V.m. Nr. 2300VV RVG aus einer 1,3 fachen Geschäftsgebühr be-rechnet.

II. Die entscheidende Frage war, ob und wie der Bekl.für die Urheberrechtsverletzung haftet, zu der er sichim Urlaub befand. Der Senat verneint zunächst eineBeteiligung des Bekl. als Täter oder Teilnehmer ander Urheberrechtsverletzung. Interessant ist in diesemZusammenhang, dass der BGH die Übertragbarkeitder sog. Halzband-Entscheidung (BGH, NJW 2009,1960) auf die hier vorliegende Situation ablehnt. Dieswurde von der wohl überwiegenden Ansicht in Recht-sprechung und Schrifttum bislang anders gesehen.Nach der Halzband-Entscheidung muss der Inhabereines eBay-Mitgliedskontos sich so behandeln lassen,als habe er selbst gehandelt, wenn er das Konto nichthinreichend vor dem Zugriff Dritter gesichert hat undes von einem Dritten benutzt wird, ohne dass der Kon-toinhaber dies veranlasst oder geduldet hat (Rn. 16 desUrteils). Die Übertragbarkeit dieser Entscheidungscheitert daran, dass nach Ansicht des Senats derIP-Adresse keine mit einem eBay-Konto vergleichbareIdentifikationsfunktion zukommt. Die IP-Adresse istkeinem konkreten Nutzer zugeordent, sondern bloßdem Anschlussinhaber, der grundsätzlich dazu berech-tigt ist, beliebigen Dritten Zugriff auf seinen Internet-anschluss zu gestatten. Insgesamt scheiterte damit einauf § 97 UrhG gestützter Schadensersatzanspruch derKl..

Der Unterlassungsanspruch und der Anspruch auf Er-satz der Abmahnkosten waren jedoch begründet. Dennauf Unterlassung kann – unabhängig von Täter- oder

Teilnehmerqualität – in Anspruch genommen werden,wer in irgendeiner Weise willentlich und adäquat kau-sal zur Verletzung des geschützten Rechts beiträgt (soschon BGH, NJW-RR 2002, 83 und NJW-RR 2008,1136). Der Bekl. hatte hier insoweit zur Verletzungbeigetragen, als er es unterlassen hatte, seinenW-LAN-Anschluss hinreichend zu sichern. Zwar be-stand eine sog. WPA1-Verschlüsselung, doch hatteder Bekl. das werkseitig voreingestellte Stan-dard-Passwort übernommen anstatt ein persönlichesPasswort einzusetzen. Insgesamt fordert der Senat,dass die marktüblichen Sicherungsmaßnahmen ergrif-fen werden, um den Anschluss vor dem Zugriff Dritterzu schützen. Hierzu zählt er neben dem persönlichenPasswort eine WPA2-Verschlüsselung.

Da der Unterlassungsanspruch begründet war, konntedie Kl. auch die Abmahnkosten ersetzt verlangen.

Vertiefungshinweise:

“ Halzband-Entscheidung: BGH, NJW 2009, 1960

“ Bisherige Rechtsprechung: LG Köln, GRUR-RR2010, 242; OLG Köln, GRUR-RR 2010, 173; OLGFrankfurt, GRUR-RR 2008, 279 und MDR 2008, 403(e ine Übers ich t f inde t s i ch auße rdem be ihttp://www.schwarz-surfen.de/storerhaftung/)

Leitsätze:1. Den Inhaber eines Internetanschlusses, von demaus ein urheberrechtlich geschütztes Werk ohneZustimmung des Berechtigten öffentlich zugäng-lich gemacht worden ist, trifft eine sekundäre Dar-legungslast, wenn er geltend macht, nicht er, son-dern ein Dritter habe die Rechtsverletzung began-gen.2. Der Inhaber eines WLAN-Anschlusses, der esunterlässt, die im Kaufzeitpunkt des WLAN- Rou-ters marktüblichen Sicherungen ihrem Zweck ent-sprechend anzuwenden, haftet als Störer auf Un-terlassung, wenn Dritte diesen Anschluss miss-bräuchlich nutzen, um urheberrechtlich geschützteMusiktitel in Internettauschbörsen einzustellen.

Sachverhalt:Die Klägerin vermarktet den Tonträger „Sommer un-seres Lebens“ mit einer Aufnahme des Künstlers Se-bastian Hämer. Sie beauftragte die L. AG mit derÜberwachung des Titels im Internet. Am 08.09.2006um 18.32 Uhr erfasste dieses Unternehmen einen Nut-zer mit einer bestimmten IP-Adresse, der zu diesemZeitpunkt den Tonträger „Sommer unseres Lebens“anderen Teilnehmern der Tauschbörse „eMule“ zumHerunterladen anbot. Nach der im Rahmen der darauf-hin eingeleiteten staatsanwaltschaftlichen Ermittlun-gen eingeholten Auskunft der Deutschen Telekom AGwar die IP-Adresse zum fraglichen Zeitpunkt dem In-

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ternetanschluss des Beklagten zugeordnet. Im Zeit-punkt der Erfassung der IP-Adresse befand sich derBeklagte im Urlaub; sein Computer stand in einemabgeschlossenen Büroraum. Die Klägerin hat vom Beklagten verlangt, es zu unter-lassen, den betreffenden Musiktitel in Onli-ne-Tauschbörsen bereitzustellen. Ferner hat sie denBeklagten auf Schadensersatz (150 i) sowie auf Er-stattung von Abmahnkosten (325,90 i) zuzüglich Zin-sen in Anspruch genommen.Das Landgericht hat den Beklagten weitgehend an-tragsgemäß verurteilt. Die Berufung des Beklagten hatzur Abweisung der Klage geführt (OLG FrankfurtGRUR-RR 2008, 279). Mit ihrer vom Berufungsge-richt zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihreKlageanträge weiter. Die Revision hat im Wesentli-chen Erfolg.

Aus den Gründen:

A. Ausführungen des Berufungsgerichts [5] Das Berufungsgericht hat Ansprüche der Klägeringegen den Beklagten aus § 97 Abs. 1 Satz 1 UrhG ver-neint. Hierzu hat es ausgeführt:[6] Der Beklagte habe die Rechtsverletzung nichtselbst begangen, da er zum fraglichen Zeitpunkt ur-laubsabwesend gewesen sei und sich sein PC in einemabgeschlossenen Büroraum befunden habe, der kei-nem Dritten zugänglich gewesen sei. Die Rechtsverlet-zung könne daher nur von einem Dritten begangenworden sein, der die WLAN-Verbindung des Beklag-ten von außerhalb genutzt habe, um sich Zugang zudessen Internetanschluss zu verschaffen. Für diese -wie zu unterstellen sei - vorsätzliche rechtswidrigeUrheberrechtsverletzung eines Dritten hafte der Be-klagte nicht als Störer. Der WLAN-Anschlussinhaberdürfe nicht für das vorsätzliche Verhalten beliebigerDritter, die mit ihm in keinerlei Verbindung stünden,verantwortlich gemacht werden. Ein WLAN-An-schlussinhaber hafte im privaten Bereich deshalb nichtgenerell wegen der abstrakten Gefahr eines Miss-brauchs seines Anschlusses von außen, sondern erst,wenn konkrete Anhaltspunkte hierfür bestünden. Da-ran fehle es im Streitfall.

B. Entscheidung des BGH[9] Die Revision hat im Wesentlichen Erfolg. Sie führthinsichtlich des Unterlassungsantrags sowie des An-trags auf Erstattung der Abmahnkosten zur Aufhebungdes angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisungder Sache an das Berufungsgericht.

I. Rechtsfehlerfreie Feststellung des Berufungs-gerichts bzgl. Täter-/Teilnehmerqualität[10] Das Berufungsgericht ist allerdings ohne Rechts-fehler davon ausgegangen, dass der Beklagte nicht als

Täter oder Teilnehmer einer Urheberrechtsverletzungnach §§ 19a, 97 UrhG haftet. Die dagegen gerichtetenAngriffe der Revision bleiben ohne Erfolg.[14] [Zwar] hat der Bundesgerichtshof nach Verkün-dung des Berufungsurteils entschieden, dass der pri-vate Inhaber eines Mitgliedskontos bei eBay sich sobehandeln lassen muss, als habe er selbst gehandelt,wenn er das Konto nicht hinreichend vor dem ZugriffDritter gesichert hat und es von einem Dritten benutztwird, ohne dass der Kontoinhaber dies veranlasst odergeduldet hat (BGHZ 180, 134 Tz. 16 – Halzband). Diebei der Verwahrung der Zugangsdaten für das Mit-gliedskonto gegebene Pflichtverletzung stellt danacheinen eigenen, selbständigen Zurechnungsgrund dar.Diese Entscheidung ist indes nicht auf den Fall derNutzung eines ungesicherten WLAN-Anschlussesdurch außenstehende Dritte übertragbar.[15] Der IP-Adresse kommt keine mit einemeBay-Konto vergleichbare Identifikationsfunktion zu.Anders als letzteres ist sie keinem konkreten Nutzerzugeordnet, sondern nur einem Anschlussinhaber, dergrundsätzlich dazu berechtigt ist, beliebigen DrittenZugriff auf seinen Internetanschluss zu gestatten. DieIP-Adresse gibt deshalb bestimmungsgemäß keine zu-verlässige Auskunft über die Person, die zu einemkonkreten Zeitpunkt einen bestimmten Internet-anschluss nutzt. Damit fehlt die Grundlage dafür, denInhaber eines WLAN-Anschlusses im Wege einer un-widerleglichen Vermutung so zu behandeln, als habeer selbst gehandelt (vgl. BGHZ 180, 134 Tz. 16 –Halzband). Es ginge deshalb zu weit, die nicht aus-reichende Sicherung eines WLAN-Anschlusses mitder unsorgfältigen Verwahrung der Zugangsdaten fürein eBay-Konto gleichzusetzen. Dies würde dieWLAN-Nutzung im Privatbereich auch mit unange-messenen Haftungsrisiken belasten, weil der An-schlussinhaber bei Annahme einer täterschaftlichenVerantwortung unbegrenzt auf Schadensersatz haftenwürde, wenn außenstehende Dritte seinen Anschlussin für ihn nicht vorhersehbarer Weise für Rechtsver-letzungen im Internet nutzen.

II. Jedoch Haftung wegen adäquat kausalen Beitragszur Rechtsverletzung[18] Soweit das Berufungsgericht die Klage mit demUnterlassungsantrag abgewiesen hat, kommt eine Be-stätigung dagegen nicht in Betracht. Denn entgegender Ansicht des Berufungsgerichts kann die Klägerinden Beklagten als Störer auf Unterlassung in An-spruch nehmen. Das Berufungsgericht meint zwar, derBetreiber eines privaten WLAN-Anschlusses haftenicht generell wegen der abstrakten Gefahr einesMissbrauchs seines Anschlusses durch einen Außen-stehenden, sondern erst wenn konkrete Anhaltspunktefür einen solchen Missbrauch bestünden. Dem kannaber für den hier vorliegenden Fall nicht beigetreten

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werden, dassder WLAN-Anschluss ohne die auch im privaten Ge-brauch verkehrsüblichen und zumutbaren Zugangs-sicherungen betrieben wird.

1. Störer[19] Als Störer kann bei der Verletzung absoluterRechte auf Unterlassung in Anspruch genommen wer-den, wer – ohne Täter oder Teilnehmer zu sein – inirgendeiner Weise willentlich und adäquat kausal zurVerletzung des geschützten Rechts beiträgt (BGH,Urt. v. 18.10.2001 – I ZR 22/99, GRUR 2002, 618,619 = WRP 2002, 532 – Meißner Dekor I; BGH, Urt.v. 30.4.2008 – I ZR 73/05, GRUR 2008, 702 Tz. 50 =WRP 2008, 1104 – Internet-Versteigerung III). Da dieStörerhaftung nicht über Gebühr auf Dritte erstrecktwerden darf, die nicht selbst die rechtswidrige Beein-trächtigung vorgenommen haben, setzt die Haftungdes Störers nach der Rechtsprechung des Senats dieVerletzung von Prüfpflichten voraus. Deren Umfangbestimmt sich danach, ob und inwieweit dem als Stö-rer in Anspruch Genommenen nach den Umständeneine Prüfung zuzumuten ist (BGH, Urt. v. 15.10.1998- I ZR 120/96, GRUR 1999, 418, 419 f. = WRP 1999,211 – Möbelklassiker; BGHZ 158, 343, 350 – SchönerWetten; BGH, Urt. v. 9.2.2006 – I ZR 124/03, GRUR2006, 875 Tz. 32 = WRP 2006, 1109 – Rechts-anwalts-Ranglisten).

2. Kausalität / Prüfungspflichten[20] Der Betrieb eines nicht ausreichend gesichertenWLAN-Anschlusses ist adäquat kausal für Urheber-rechtsverletzungen, die unbekannte Dritte unter Ein-satz dieses Anschlusses begehen. Auch privaten An-schlussinhabern obliegen insoweit Prüfungspflichten,deren Verletzung zu einer Störerhaftung führt.[22] Auch Privatpersonen, die einen WLAN-An-schluss in Betrieb nehmen, ist es zuzumuten zu prüfen,ob dieser Anschluss durch angemessene Sicherungs-maßnahmen hinreichend dagegen geschützt ist, vonaußenstehenden Dritten für die Begehung von Rechts-verletzungen missbraucht zu werden. Die Zumutbar-keit folgt schon daraus, dass es regelmäßig im wohl-verstandenen eigenen Interesse des Anschlussinhabersliegt, seine Daten vor unberechtigtem Eingriff vonaußen zu schützen. Zur Vermeidung von Urheber-rechtsverletzungen durch unberechtigte Dritte ergriffe-ne Sicherungsmaßnahmen am WLAN-Zugang dienenzugleich diesem Eigeninteresse des Anschlussinha-bers. Die Prüfpflicht ist mit der Folge der Störerhaf-tung verletzt, wenn die gebotenen Sicherungsmaßnah-men unterbleiben.[23] Welche konkreten Maßnahmen zumutbar sind,bestimmt sich auch für eine Privatperson zunächstnach den jeweiligen technischen Möglichkeiten (vgl.BGHZ 172, 119 Tz. 47 – Internet-Versteigerung II).Es

würde die privaten Verwender der WLAN-Technolo-gie allerdings unzumutbar belasten und wäre damitunverhältnismäßig, wenn ihnen zur Pflicht gemachtwürde, die Netzwerksicherheit fortlaufend dem neues-ten Stand der Technik anzupassen und dafür entspre-chende finanzielle Mittel aufzuwenden. Die Prüfungs-pflicht im Hinblick auf die unbefugte Nutzung einesWLAN-Routers konkretisiert sich vielmehr dahin,dass jedenfalls die im Kaufzeitpunkt des Routers fürden privaten Bereich marktüblichen Sicherungen ih-rem Zweck entsprechend wirksam einzusetzen sind(vgl. dazu für den Bereich der Verkehrssicherungs-pflichten BGH, Urt. v. 31.10.2006 – VI ZR 223/05,NJW 2007, 762 Tz. 11; Urt. v. 2.3.2010 – VI ZR223/09 Tz. 9 f., VersR 2010, 544).[24] Die dem privaten WLAN-Anschlussinhaber ob-liegende Prüfungspflicht besteht nicht erst, nachdemes durch die unbefugte Nutzung seines Anschlusses zueiner ersten Rechtsverletzung Dritter gekommen unddiese ihm bekannt geworden ist. Sie besteht vielmehrbereits ab Inbetriebnahme des Anschlusses. Die Grün-de, die den Senat in den Fällen der Internetversteige-rung dazu bewogen haben, eine Störerhaftung desPlattformbetreibers erst anzunehmen, nachdem er voneiner ersten Rechtsverletzung Kenntnis erlangt hat,liegen bei privaten WLAN-Anschlussbetreibern nichtvor. Es geht hier nicht um ein Geschäftsmodell, dasdurch die Auferlegung präventiver Prüfungspflichtengefährdet wäre (vgl. BGHZ 158, 236, 251 f. – Inter-net-Versteigerung I). Es gelten auch nicht die Haf-tungsprivilegien nach § 10 TMG und Art. 14 f. derRichtlinie 2000/31/EG über den elektronischen Ge-schäftsverkehr, die im Falle des Diensteanbieters nach§ 10 Satz 1 TMG (Host Provider) einen weitergehen-den Unterlassungsanspruch ausschließen. Das hoch zubewertende, berechtigte Interesse, über WLAN leichtund räumlich flexibel Zugang zum Internet zu erhal-ten, wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die zumZeitpunkt der Installation des WLAN-Routers auch imPrivatbereich verkehrsüblich vorhandenen Sicherungs-maßnahmen gegen unbefugte Nutzung angewandtwerden.

3. Verletzung der Prüfungspflichten [32] Der Beklagte hat die ihm als Betreiber einesWLAN-Anschlusses obliegende Prüfungspflicht hin-sichtlich ausreichender Sicherungsmaßnahmen ver-letzt.[33] Nach den vom Berufungsgericht in Bezug genom-menen Feststellungen des Landgerichts hat der Be-klagte allerdings keinen gänzlich ungesichertenWLAN-Zugang verwendet. Vielmehr war der Zugangauf seinen Router bei aktivierter WLAN-Unterstüt-zung werkseitig durch eine WPA-Verschlüsselunggeschützt, die für die Einwahl in das Netzwerk desBeklagten einen 16- stelligen Authentifizierungs-

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schlüssel erfordert. Mangels anderweitiger Feststel-lungen kann jedenfalls für September 2006 auch nichtdavon ausgegangen werden, dass bei privaterWLAN-Nutzung eine Verschlüsselung nach demWPA2-Standard verkehrsüblich und damit gebotenwar, um unberechtigte Zugriffe Dritter auf das Draht-losnetzwerk zu verhindern. Es belastete die Verwen-der dieser Technologie unzumutbar und damit unver-hältnismäßig, wenn sie ihre Netzwerksicherheit fort-laufend dem neuesten Stand der Technik anpassen unddafür entsprechende finanzielle Mittel aufwendenmüssten.[34] Die Prüfpflicht des Beklagten bezieht sich aber

auf die Einhaltung der im Kaufzeitpunkt des Routersfür den privaten Bereich marktüblichen Sicherungen.Diese Pflicht hat der Beklagte verletzt. Der Beklagtehat es nach dem Anschluss des WLAN-Routers beiden werkseitigen Standardsicherheitseinstellungenbelassen und für den Zugang zum Router kein persön-liches, ausreichend langes und sicheres Passwort ver-geben. Der Schutz von Computern, Kundenkonten imInternet und Netzwerken durch individuelle Passwör-ter gehörte auch Mitte 2006 bereits zum Mindeststan-dard privater Computernutzung und lag schon im vita-len Eigeninteresse aller berechtigten Nutzer. Sie warauch mit keinen Mehrkosten verbunden.

Standort: Schuldrecht/Kaufrecht Problem: Nutzungsausfall

OLG DÜSSELDORF, URTEIL VOM 02.07.2009

5 U 147/07 (SCHADEN-PRAXIS 2009, 365)

Problemdarstellung:

Die Kl., die ein Autohaus der italienischen Automar-ken Fiat, Alfa Romeo und Lancia betreibt, begehrtSchadensersatz wegen eines Brandschadens an einemPkw vom Typ Ferrari 456 GTA. Sie ist Eigentümerinund Halterin dieses Pkw, den sie als Geschäftsführer-fahrzeug einsetzte. Aufgrund einer entsprechendenAbsprache zwischen der Kl. und ihrem Geschäftsfüh-rer war diesem gestattet, den Wagen auch zu privatenZwecken zu nutzen. In Folge eines handwerklichenFehlers bei der Durchführung von Reparaturarbeitenin dem Betrieb der Bekl. kam es beim Betanken desFahrzeuges am 18.06.2002 zu einer Entzündung aus-tretenden Benzins, wodurch der Wagen vollständigausbrannte. Die Kl., die bereits im Juli 2002 Scha-densersatzansprüche gegenüber der Bekl. und derenBetriebshaftpflichtversicherung geltend gemacht hatte,erhielt Anfang 2003 von ihrer eigenen Kas-ko-Versicherung den Fahrzeugschaden in Höhe von141.583,22 i ausgezahlt. Die Kasko-Versicherungführte daraufhin gegen die Bekl. vor dem LandgerichtDüsseldorf einen Regressprozess, in dem sich die Be-teiligten auf eine vergleichsweise Beilegung desRechtsstreites einigten. Die Kl. beschaffte sich darauf-hin einen weiteren Ferrari, der am 12.02.2003 auf siezugelassen wurde.

Mit der Klage hat die Kl. zuletzt einen Nutzungsaus-fallschaden von 110 i pro Tag dafür geltend gemacht,dass sie den ausgebrannten Ferrari über einen Zeit-raum von 120 Tagen nicht nutzen konnte. Die Bekl.meint, die Kl. könne keinen abstrakten Nutzungsaus-fall verlangen, da sie den Pkw gewerblich nutzte. Indiesem Fall sei nur der konkret entgangene Gewinnersatzfähig, z.B. die Vorhaltekosten eines Reserve-fahrzeugs.

Prüfungsrelevanz:Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH kannder Eigentümer eines privat genutzten Pkw, der dieNutzungsmöglichkeit einbüßt, den Nutzungsausfallauch dann kompensieren, wenn er kein Ersatzfahrzeuganschafft oder anmietet (Palandt/Heinrichs, vor § 249Rn. 20 ff.). Diese Rechtsprechung fußt insbesondereauf dem sog. Kommerzialisierungsgedanken, den derBGH in der Systematik der §§ 249 ff. BGB erblickt.Demnach stellt der Verlust von Rechtsgütern, auf de-ren ständige Verfügbarkeit die eigenwirtschaftlicheLebenshaltung des Eigentümers beruht, bereits einenquantifizierbaren Vermögensschaden dar, sofern derEigentümer das entsprechende Rechtsgut weiter ge-nutzt hätte. Auf Rechtsgüter dieser Art – wie z.B. dereigene Pkw, aber auch das vom Eigentümer bewohnteHaus – würde der Eigentümer nämlich regelmäßigauch nur gegen Entgelt verzichten. Insoweit handelt essich um kommerzialisierbare oder kapitalisierbareRechtsgüter.

Der Senat schließt sich vorliegend einer in Rechtspre-chung und Schrifttum vordringlichen Ansicht an, nachder die oben genannten Grundsätze auch für Rechts-güter gelten, die gemischt privat und gewerblich ge-nutzt werden. Dies jedoch nur unter der Einschrän-kung, dass der Nutzungsausfall beim Geschädigten zueinem fühlbaren wirtschaftlichen Nachteil geführt hat(so schon BGH, NJW 2008, 913). Diese Einschrän-kung folgt aus dem Grundsatz der Vorteilsausglei-chung und ist eigentlich auch beim Nutzungsausfalleines rein privat gebrauchten Pkw zu beachten. Dennauch dort darf sich niemand durch das schädigendeEreignis bereichern (vgl. BGH, NJW 2005, 1108). DieFrage, ob tatsächlich ein spürbarer wirtschaftlicherNachteil eingetreten ist, wird im Falle der gewerbli-chen Nutzung aber nicht schlechthin zu unterstellensein, da hier häufiger mit Ersatzvorkehrungen für der-artige Situationen zu rechnen ist. So ist ein spürbarerwirtschaftlicher Nachteil z.B. abzulehnen wenn dem

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Berechtigen automatisch ein gleichwertiger Mietwa-gen zur Verfügung steht (BGH, NJW 2008, 913).

Vertiefungshinweise:“ Vorhergehende Rechtsprechung: BGH, r + s 2008,127 [128]; OLGR Düsseldorf, 2001, 453

“ Zum mangelbedingten Nutzungsausfall: BGH, RA2009, 501 = BeckRS 2009, 20178

Leitsatz:Eine Nutzungsausfallentschädigung unabhängigvon einer konkreten Darlegung eines Ertragsent-ganges oder etwaiger Vorhaltekosten oder Kostenfür einen Mietwagen ist auch bei einer (teilweisen)gewerblichen Nutzung eines Kraftfahrzeugs imGrundsatz anzuerkennen, sofern die speziellenVoraussetzungen des Nutzungswillens und derNutzungsmöglichkeit und schließlich der fühlbarenBeeinträchtigung durch den Nutzungsausfall fest-stellbar sind (Anschluss BGH, 4. Dezember 2007,VI ZR 241/06, r + s 2008, 127, 128 Tz. 9 und OLGDüsseldorf, 2. April 2001, 1 U 132/00, OLGR Düs-seldorf 2001, 453ff).

Sachverhalt:Die Klägerin, die ein Autohaus der italienischen Auto-marken Fiat, Alfa Romeo und Lancia betreibt, begehrtSchadensersatz wegen eines Brandschadens an einemPkw vom Typ Ferrari 456 GTA. Sie ist Eigentümerinund Halterin dieses Pkw, den sie als Geschäftsführer-fahrzeug einsetzte. Aufgrund einer entsprechendenAbsprache zwischen der Klägerin und ihrem Ge-schäftsführer war diesem gestattet, den Wagen auchzu privaten Zwecken zu nutzen. In Folge eines hand-werklichen Fehlers bei der Durchführung von Repara-turarbeiten in dem Betrieb der Beklagten kam es beimBetanken des Fahrzeuges am 18.06.2002 zu einer Ent-zündung austretenden Benzins, wodurch der Wagenvollständig ausbrannte. Die Klägerin, die bereits imJuli 2002 Schadensersatzansprüche gegenüber der Be-klagten und deren Betriebshaftpflichtversicherung gel-tend gemacht hatte, erhielt Anfang 2003 von ihrer ei-genen Kasko-Versicherung den Fahrzeugschaden inHöhe von 141.583,22 i ausgezahlt. Die Kas-ko-Versicherung führte daraufhin gegen die Beklagtevor dem Landgericht Düsseldorf einen Regresspro-zess, in dem sich die Beteiligten auf eine vergleichs-weise Beilegung des Rechtsstreites einigten. Die Klä-gerin beschaffte sich daraufhin einen weiteren Ferrari,der am 12.02.2003 auf sie zugelassen wurde.Mit der Klage hat die Klägerin zuletzt einen Nut-zungsausfallschaden von 110 i pro Tag dafür geltendgemacht, dass sie den ausgebrannten Ferrari über ei-nen Zeitraum von 120 Tagen nicht nutzen konnte. DieBeklagte meint, die Klägerin könne keinen abstrakten

Nutzungsausfall verlangen, da sie den Pkw gewerblichnutzte. In diesem Fall sei nur der konkret entgangeneGewinn ersatzfähig, z.B. die Vorhaltekosten eines Re-servefahrzeugs.

Aus den Gründen:

A. Anspruch gem. § 280 BGB[20] Die Klägerin kann von der Beklagten wegen Ver-tragsverletzung gemäß § 280 BGB Ersatz des ihrdurch den von der Beklagten unstreitig durch einenReparaturfehler verursachten und verschuldeten Branddes Ferraris entstandenen Schadens verlangen.

[22] Sie verlangt Nutzungsausfallentschädigung inHöhe von 13.200,- i. Begründet hat sie diesen An-spruch ursprünglich damit, dass ihr nach dem von derBeklagten zu verantwortenden Zerstörung ihres Ferra-ris in dem Zeitraum vom 18.06.2002 bis zum12.02.2003 also für 240 Tage das Fahrzeug nicht habenutzen können. Bei einem Tagessatz von 110,-- i fie-len damit 26.400 i an. In der mündlichen Verhand-lung vor dem Senat vom 12.06.2008 hat die Klägerinklargestellt, dass sie nunmehr lediglich für die ersteHälfte des geltend gemachten Zeitraums Nutzungsent-schädigung verlangt.

I. Rechtsprechung zum Nutzungsersatz[23] Nach ständiger und gefestigter höchstrichterlicherRechtsprechung kann der Eigentümer eines privat ge-nutzten Pkw, der die Möglichkeit zur Nutzung seinesPkw einbüßt, auch dann Schadensersatz für diesenUmstand verlangen, wenn er kein Ersatzfahrzeug an-mietet (vgl. Palandt-Heinrichs, 68. Auflage 2009, Rz.20ff vor § 249). Rechtsdogmatisch hergeleitet wirddieser Anspruch aus § 251 Abs. 1 BGB und dem ins-besondere in der Entscheidung des Großen Senatsvom 09.07.1986, GSZ 1/86, NJW 1987, 50 = BGHZ98, 211ff hervorgehobenen Kommerzialisierungsge-danken (hierzu und auch zu den kritischen Stimmen inder Literatur Staudinger-Schwiemann Neubearbeitung2005, Rz. 74ff zu § 251 BGB; Palandt-Heinrichs,a.a.O.).[24] Die Klägerin nutzte den zerstörten Ferrari 456GTA nach eigenen Angaben als Geschäftsführer- bzw.Direktionsfahrzeug, also für ihren gewerblichen Be-trieb. Dass dem Geschäftsführer der Klägerin aufGrund einer entsprechenden Absprache mit der Kläge-rin gestattet war, den Ferrari auch zu privaten Zwe-cken zu nutzen, ändert an der grundsätzlichen gewerb-lichen Nutzung des Wagen nichts. Ob und unter wel-chen Umständen der Eigentümer eines gewerblich ge-nutzten Fahrzeuges berechtigt sein kann, den durchden Nutzungsausfall bedingten Schaden abstrakt, alsoohne Nachweis eines konkreten Schadens in Form vonMietwagenkosten oder bezifferbaren Verdienst- oder

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Ertragsentgang oder entsprechender Vorsorgeaufwen-dungen gegenüber dem Schadensverursacher zu liqui-dieren, ist in der Rechtsprechung und Literatur um-stritten.[25] Vor der angeführten Entscheidung des GroßenSenats vom 09.07.1986 zum Nutzungsausfall ist es inder Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes aner-kannt gewesen, dass eine Entschädigung für zeitweiseentzogene Gebrauchsvorteile auch bei gewerblich ge-nutzten Fahrzeugen oder Behördenfahrzeugen in Be-tracht kommt, auch wenn sich deren Gebrauchsent-behrung nicht unmittelbar in einer Minderung des Ge-werbeertrages niederschlägt (vgl. BGH Urteil vom26.03.1985, VI ZR 267/83 - r + s 1985, 1198, VersR1985, 736). Zwar ist der Geschädigte in den Fällen,wo das Fahrzeug unmittelbar zur Erbringung gewerb-licher Leistungen bestimmt ist, (Taxi oder Lkw), ge-halten den Ertragsentgang konkret zu berechnen. Liegtaber kein konkret bezifferbarer Verdienstverlust vor,hat der BGH den Geschädigten grundsätzlich nichtgehindert gesehen, an Stelle des Verdienstentgangeseine Nutzungsentschädigung zu verlangen, wenn de-ren Voraussetzungen vorliegen, also insbesondere einfühlbarer wirtschaftlicher Nachteil für den Geschädig-ten eingetreten ist (vgl. BGH Urteil vom 26.03.1985,VI ZR 267/83 - r + s 1985, 1198, VersR 1985, 736;zusammenfassend BGH Urteil vom 04.12.2007, VI ZR241/06, r + s 1008, 127).[26] In der grundlegenden Entscheidung zum Nut-zungsausfall hat der Große Zivilsenat des BGH ent-schieden, dass über die Fälle der Eigennutzung einesKfz hinaus bei Sachen, auf deren ständige Verfügbar-keit die eigenwirtschaftliche Lebenshaltung des Eigen-tümers derart angewiesen sei wie auf das von ihmselbst bewohnte Haus, der zeitweise Verlust der Mög-lichkeit zum eigenen Gebrauch infolge eines delikti-schen Eingriffs in das Eigentum bereits ein ersatzfähi-ger Vermögensschaden sein könne, sofern der Eigen-tümer die Sache in der Zeit ihres Ausfalls ent-sprechend genutzt hätte. Im Hinblick auf den erwerbs-wirtschaftlichen, produktiven Einsatz einer Sache hatder BGH in dieser Entscheidung zum Ausdruck ge-bracht, dass insoweit die Verkürzung ihres Nutzungs-werts im Wesentlichen durch einen Gewinnentgangausgewiesen wird, dessen Ersatz § 252 S. 1 BGB aus-drücklich anordne. Diese Vorschrift unterstreiche dieschadensrechtliche Bedeutung, die der GesetzgeberAusfällen im erwerbswirtschaftlichen, vermögensmeh-renden Einsatz von Wirtschaftsgütern beigemessenhabe; eine entsprechende Vorschrift für die eigenwirt-schaftliche Nutzung des Vermögens fehle. Hierauskönne indes nicht gefolgert werden, dass das Gesetzsich gegen den Geldersatz für Einbußen im eigenwirt-schaftlichen Einsatz von Wirtschaftsgütern entschie-den habe, die sich nicht in einem Gewinnentgang nie-derschlügen. Deshalb sei eine Fortentwicklung des

Gesetzes zulässig, wenn gewährleistet bleibe, dass derErsatz nicht zur abstrakten Nutzungsentschädigungwerde, die das BGB nur ausnahmsweise zulasse. Demtrage die Rechtsprechung zur Nutzungsentschädigungfür Kfz Rechnung, indem sie mit dem Begriff des"fühlbaren" Schadens an den Ersatz das Erfordernisknüpfe, dass der Geschädigte zur Nutzung des Kfzwillens und fähig gewesen wäre. Freilich müsse einederartige Ergänzung des Gesetzes auf Sachen be-schränkt bleiben, auf deren ständige Verfügbarkeit dieeigenwirtschaftliche Lebenshaltung typischerweiseangewiesen sei (vgl. BGHZ [GSZ] 98, 212).[27] In einer aktuellen Entscheidung hat der 6. Zivil-senat des BGH (Urteil vom 04.12.2007, VI ZR241/06, r + s 2008, 127, 128 Tz. 8) deutlich gemacht,dass mit dieser Entscheidung des Großen Zivilsenatsdie bisherige Rechtsprechung zur Nutzungsentschädi-gung bei Kraftfahrzeugschäden in keiner Weise inFrage gestellt oder eingeschränkt, sondern im Gegen-teil als Grundlage für die Gewährung von Nutzungs-entschädigung für vergleichbare Sachen herangezogenwerde, die für die hierauf zugeschnittene Lebenshal-tung unentbehrlich seien. Dies werde am Beispiel desprivaten Nutzers eines Kfz erläutert, für den die Ein-satzfähigkeit seines Fahrzeugs häufig die Grundlagefür die Wirtschaftlichkeit seiner hierauf zugeschnitte-nen Lebenshaltung sei, insb. wenn er als Berufstätigerauf das Kfz angewiesen sei (vgl. BGHZ 98, 212ff).[28] Vielfach wird in der Rechtsprechung und Litera-tur die Entscheidung des Großen Senats dahin inter-pretiert, dass bei gewerblich genutzten Fahrzeugeneine Nutzungsentschädigung nicht in Betracht komme,sondern in diesen Fällen der Schaden nur nach dementgangenen Gewinn, den Vorhaltekosten eines Re-servefahrzeuges oder den Mietkosten für ein Ersatz-fahrzeug zu bemessen sei; dieser so eingeschränkteNutzungsschaden müsse jeweils konkret dargelegt und- im Bestreitensfalle - nachgewiesen werden (vgl.OLG Hamm, Urteil vom 16.09.1999,6 U 75/99, r +s 1999, 458, 459; OLG Köln Urteil vom08.12.1994, 18 U 117/94, VersR 1995, 719, sowie dieweiteren umfangreichen Nachweise in BGH Urteil04.12.2007, VI ZR 241/06, r + s 2008, 127, 128 Tz.9). Demgegenüber wird in weiten Teilen der neuerenobergerichtlichen Rechtsprechung die Auffassung ver-treten, die Entscheidung des Großen Senats schließeeine Nutzungsausfallentschädigung auch für gewerb-lich genutzte Fahrzeuge bei Vorliegen der dafür er-forderlichen Voraussetzungen nicht aus (vgl. OLGDüsseldorf, Urteil vom 02.04.2001, 1 U 132/00,OLGR Düsseldorf 2001, 453,ff = ZfSch 2001, 545f ;OLG Schleswig, Urteil vom 07.07.2005, 7 U 3/03,MDR 2006, 202f; OLG Stuttgart, 10. Zivilsenat, Urteilvom 16.11.2004, 10 U 186/04, NZV 2005, 309 ; OLGStuttgart, 3 Zivilsenat, Urteil vom 12.07.2006, 3 U62/06, NZV 2007, 414) sowie die weiteren zahlrei-

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chen Fundstellen dort und in BGH, Urteil vom04.12.2007, VI ZR 241/06, r + s 2008, 127, 128 Tz.9). Der 6. Zivilsenat des BGH hat in dieser letztge-nannten Entscheidung zum Ausdruck gebracht, dass erdazu neige, auch oder gerade mit Blick auf die dorti-gen rechtsdogmatischen Erwägungen eine Nutzungs-ausfallentschädigung unabhängig von einer konkretenDarlegung eines Ertrags- entganges oder etwaigerVorhaltekosten oder Kosten für einen Mietwagenebenfalls bei einer (teilweisen) gewerblichen Nutzungim Grundsatz anzuerkennen, sofern die speziellenVoraussetzungen des Nutzungswillens und der Nut-zungsmöglichkeit und schließlich der fühlbaren Beein-trächtigung durch den Nutzungsausfall feststellbarsind. Unter diesen einschränkenden Bedingungenschließt sich der Senat der Auffassung des Landge-richts und des 1. Zivilsenat des OLG Düsseldorf in dervon der Kammer mehrfach herangezogenen (und teil-weise wörtlich wiedergegebenen) Entscheidung vom02.04.2001, 1 U 132/00 OLGR Düsseldorf 2001,453ff an.

II. Subsumtion[29] Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist der Klägerinauf der Grundlage der vom Senat anlässlich der durch-geführten Beweisaufnahme getroffenen Feststellungeneine Nutzungsentschädigung für die entgangene Ge-brauchsmöglichkeit an dem Ferrari zuzubilligen.

1. Konkrete Schadensermittlung nicht möglich [30] Voraussetzung für eine Zubilligung des "abstrak-ten" Nutzungsausfalls ist wegen des Vorranges derkonkreten Schadensermittlung zunächst, dass eine sol-che im konkreten Streitfall nicht möglich ist. Hiervongeht der Senat aus. Die Klägerin hat darauf verzichtet,einen adäquaten Mietwagen für die Zeit der ausgefal-lenen Nutzung ihres zerstörten Ferrari anzumieten, sodass Mietkosten nicht zur Schadensbemessung heran-gezogen werden können. Der Wagen wurde als reprä-sentatives Geschäftsführungs- bzw. Direktionsfahr-zeug genutzt; es sollte demzufolge mit dem Fahrzeugnicht unmittelbar im betrieblichen Einsatz (wie z. B.bei einem Taxi) Gewinn eingefahren werden. DemSenat erscheint es plausibel und nachvollziehbar, dassdie Klägerin sich nicht in der Lage sieht, einen durchden Ausfall des Ferraris verursachten Gewinnentgangoder -rückgang konkret zu beziffern. Auf Vorhalte-kosten für ein Ersatzfahrzeug kann ebenfalls nicht ab-gestellt werden, da nach dem unwidersprochen geblie-benen Vorbringen der Klägerin es im Fuhrpark der

Klägern kein von ihr vorgehaltenes Ersatzfahrzeug,das bei Wegfall des Ferraris hätte zum Einsatz kom-men können, gab.

2. Fühlbarer, wirtschaftlicher Nachteil[31] Der zeitweilige Ausfall des Ferrari muss bei demGeschädigten zu einem fühlbaren wirtschaftlichenNachteil geführt haben (vgl. BGH, Urteil 04.12.2007,VI ZR 241/06, r + s 2008, 127, 128 Tz. 9; OLG Düs-seldorf, 02.04.2001, 1 U 132/00 OLGR Düsseldorf2001, 453ff). Mit der Begründung, es dürften an dieFeststellung des Merkmal "Fühlbarkeit" der Ge-brauchsentbehrung in Bereich der ganz oder teilweiseunternehmerischen Nutzung eines Pkw keine überzo-genen Anforderungen gestellt werden, hat das Landge-richt im Anschluss an die Erwägungen des OLG Düs-seldorf in der besagten Entscheidung vom 02.04.2001eine tatsächliche Vermutung gesehen, die für die spür-bare Behinderung des betrieblichen Ablauf bei Ausfalleines - auch betrieblich - genutzten Fahrzeugesspricht. Der Senat braucht nicht darüber befinden, obin Fällen der ganz oder teilweisen unternehmerischenNutzung eines PKW eine tatsächliche Vermutung füreine spürbare Behinderung des betrieblichen Ablaufsbei Ausfall des Wagen besteht. Denn eine solche spür-bare Behinderung sieht der Senat nach dem Ergebnisder von ihm erhobenen Beweise als erwiesen an.[35]Nach alledem hat der Senat keine Zweifel daran,dass der Ferrari in erheblichem Umfang geschäftlichgenutzt wurde und demzufolge die - von der Beklagtenzu vertretende - Zerstörungdes Wagens und der hierdurch bedingte Ausfall derNutzungsmöglichkeit zu einem fühlbaren wirtschaftli-chen Nachteil geführt hat. Damit steht der Klägerin imGrundsatz ein Anspruch auf Nutzungsentschädigungzu.

3. Tagessatz[36] Was den Tagessatz betrifft, der für die Berech-nung der Nutzungsausfallentschädigung heranzuzie-hen ist, greift der Senat auf den vom Landgericht aus-führlich begründeten Tagessatz von 110,-- i zurück.Rechtlich erhebliche Einwendungen hiergegen hat dieBerufung nicht vorgebracht.

B. Ergebnis[21] Die Klägerin hat einen Anspruch auf Entschädi-gung für den durch die Zerstörung des Ferraris erlitte-nen Nutzungsausfall in Höhe von 10.670,-- i.

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Standort: ZPO I Problem: Erledigung

BGH, URTEIL VOM 27.01.2010

VIII ZR 58/09 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:

Die Kl. hatte der Bekl. im Jahr 1996 eine Wohnungvermietet. Das Mietverhältnis endete am 31.03.2003.Im Anschluss hieran machte die Klägerin Schadens-ersatzansprüche für Schäden an der Wohnung undRestmiete geltend, insgesamt 1.242,39 i. Die Bekl.lehnte das Begehren zunächst ab und verlangte ihrer-seits die Herausgabe des Mietkautionssparbuchs über930,33 i. Schließlich schlossen die Parteien außerge-richtlich einen Vergleich, in dem die Bekl. sich ver-pflichtete zur Abgeltung aller Ansprüche im Zusam-menhang mit dem Mietverhältnis 300 i an die Kläge-rin zu zahlen. Der Vergleich wurde von den Parteienjedoch unterschiedlich interpretiert: Die Kl. nahm an,dass sich dieser auch auf das Mietkautionssparbuchbezog; die Bekl. verlangte das Sparbuch jedoch wei-terhin heraus.

Die Bekl. hat im Prozess die Einrede der – unstreitigbereits vorprozessual eingetretenen – Verjährung er-hoben. Daraufhin hat die Kl. den Rechtsstreit in derHauptsache für erledigt erklärt. Dem hat sich die Bekl.nicht angeschlossen.

Das Amtsgericht hat die auf Feststellung der Erledi-gung des Rechtsstreits gerichtete Klage abgewiesen.Auf die Berufung der Kl. hat das Landgericht das ers-tinstanzliche Urteil abgeändert und die Erledigung desRechtsstreits in der Hauptsache festgestellt. Mit derRevision begehrt die Beklagte die Wiederherstellungdes erstinstanzlichen Urteils. Die Revision hatte Er-folg.

Prüfungsrelevanz:Schließt sich der Bekl. einer Erledigungserklärung desKl. nicht an, hat der Kl. die Möglichkeit seinen ur-sprünglichen Leistungsanstrag auf einen Feststellungs-antrag umzustellen. Ob und inwieweit dies prozessualzulässig ist, ist im einzelnen umstritten. Der BGHsieht hierin jedenfalls eine gem. § 264 Nr. 2 ZPO stetszulässige Klageänderung (BGH, NJW-RR 2002, 283;Thomas/Putzo/Reichold, § 264 Rn. 3 f.) i.S.e. qualita-tiven Klagebeschränkung. Das gem. § 256 ZPO er-forderliche Feststellungsinteresse ist das Kosteninter-esse des Kl. Denn alle sonstigen von der ZPO vorgese-henen Möglichkeiten der Prozessbeendigung wärenmit einer für den Kl. ungünstigen Kostenentscheidungverbunden (vgl. Anders/Gehle, Rn. P-1 f.). Die Klageist auf die Feststellung zu richten, dass der Rechts-streit in der Hauptsache erledigt ist. Diese sog. Erledi-gungsfeststellungsklage hat Erfolg wenn die ursprüng-

liche Klage im Zeitpunkt des erledigenden Ereignisseszulässig und begründet war und durch das Ereignisunzulässig oder unbegründet wurde (BGHZ 106, 359[366 f.]).

Die vorliegende Entscheidung behandelt die Frage, obdas erledigende Ereignis – also der Eintritt einer Tat-sache, mit Auswirkungen auf die materiell-rechtlichenVoraussetzungen der Klage (BGHZ 155, 392 [398]) –auch in der Erhebung der Einrede der Verjährung lie-gen kann, wenn die Forderung bei Klageerhebung be-reits verjährten war. Die Problematik ergibt sich da-raus, dass die Verjährung als Einrede im Prozess erho-ben werden muss, der reine Ablauf der Verjährungs-frist jedoch bereits viel früher eingetreten sein kann.Zudem ist in diesem Fall dem Gläubiger der Vorwurfzu machen, den Eintritt der Verjährung nicht vermie-den zu haben. Das erledigende Ereignis kann daherauch seinem Verantwortungsbereich zugeschriebenwerden. Regelmäßig resultiert das erledigende Ereig-nis aber alleine aus dem Verantwortungsbereich desBekl. – z.B. wenn dieser die streitgegenständliche For-derung erfüllt.

Der Senat schließt sich zur Beantwortung der Streit-frage der überwiegenden Ansicht an. Danach stelltalleine die Erhebung der Einrede und nicht das Ver-streichen der Verjährungsfrist das erledigende Ereig-nis dar (so auch OLG Frankfurt, MDR 2002, 778[779]; OLG Karlsruhe, WRP 1985, 228; OLG Ham-burg, MD 1985, 951 [952 f.]; OLG München, WRP1987, 267 [268]; OLG Düsseldorf, WRP 1980, 701[702]; OLG Stuttgart, NJW-RR 1996, 1520; OLGNürnberg, WRP 1980, 232 [233]; OLG Celle, WRP1983, 96; Stein/Jonas/Bork, § 91a Rn. 6; Tho-mas/Putzo/Hüßtege, § 91a Rn. 5). Denn der reine Ein-tritt der Verjährung hat noch keine Auswirkungen aufdas Bestehen oder die Durchsetzbarkeit des Anspruch(BGHZ 156, 269 [271]). Der Schuldner ist ab demVerjährungseintritt lediglich berechtigt, dauerhaft dieLeistung zu verweigern (BGH, WM 2004, 2443). Ober dies jedoch tut, steht in seinem freien Belieben. DieWirkung der Verjährung gem. § 241 BGB ist also erstmit der tatsächlichen Erhebung der Einrede gegeben;sie ist noch nicht im Ablauf der Verjährungsfrist ange-legt. Der Senat macht dies u.a. dadurch deutlich, in-dem er betont, dass im Rechtsstreit selbst dann einVersäumnisurteil zu ergehen hat, wenn der Klägerselbst die Umstände der Verjährung vorträgt (vgl.hierzu BGH, NJW 1999, 2120 [2123] – die Schlüssig-keit des Vorbringens entfällt nur dann, wenn der Kl.seinerseits vorträgt, dass der Bekl. eine rechts-hemmende Einrede geltend gemacht hat).

Hier war die Erledigungsfeststellungsklage i.E. jedochnicht begründet, da die Parteien und das Berufungs-

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gericht den vorprozessual geschlossenen Vergleichfalsch ausgelegt hatten. Dieser sollte nämlich nichtauch die Herausgabe des Mietkautionssparbuchs aus-schließen. Der ursprüngliche Leistungsantrag war da-her bereits unbegründet, so dass auch die Erledigungs-feststellungsklage keinen Erfolg haben konnte.

Vertiefungshinweise:“ Bisherige Rechtsprechung: OLG Frankfurt, MDR2002, 778 [779]; OLG Karlsruhe, WRP 1985, 228;OLG Hamburg, MD 1985, 951 [952 f.]; OLG Mün-chen, WRP 1987, 267 [268]; OLG Düsseldorf, WRP1980, 701 [702]; OLG Stuttgart, NJW-RR 1996, 1520;OLG Nürnberg, WRP 1980, 232 [233]; OLG Celle,WRP 1983, 96

“ Aufrechnungserklärung im Prozess als erledigendesEreignis: BGHZ 155, 392; BGH, NJW-RR 1993, 1319

Kursprogramm:“ Assessorkurs: “Das Geschäftslokal”

“ Assessorkurs: “Jugendstil in Dortmund”

Leitsatz:Die erstmalige Erhebung der Einrede der Verjäh-rung im Laufe des Rechtsstreits stellt auch dannein erledigendes Ereignis dar, wenn die Verjäh-rung bereits vor Rechtshängigkeit eingetreten ist.

Sachverhalt:Die Beklagte mietete von der Klägerin mit Vertragvom 26. November 1996 eine Wohnung in H. Wie imMietvertrag vorgesehen, zahlte die Be- klagte eineKaution von 1.800 DM (920,33 i). Das Mietverhält-nis endete zum 31. Juli 2003. Im Anschluss hieranmachte die Klägerin Schadensersatzansprüche in Höhevon 926 i wegen Schäden an der Wohnung sowieeine Restmietforderung für den Monat Juli 2003 inHöhe von 316,39 i, mithin insgesamt 1.242,39 i gel-tend. Mit Anwaltsschreiben vom 16. Dezember 2003forderte die Klägerin die Beklagte nach vorangegange-nem Schriftwechsel erneut zur Zahlung des oben ge-nannten Gesamtbetrages auf, erklärte hilfsweise mitdieser Forderung die Aufrechnung gegen den Kau-tionsrückzahlungsanspruch der Be- klagten bis zu des-sen Höhe und unterbreitete der Beklagten den Vor-schlag, die Gesamtforderungen von 1.242,39 i mitder Mietkaution abzugelten. Der hierauf bezogene Teildes Schreibens lautet:"Um vorliegenden Bagatellstreit abzuschließen, schla-gen wir für unsere Mandantschaft vergleichsweise vor,die mit Schreiben vom 09.10.2003 aufgemachten An-sprüche in Höhe von 1.242,39 EUR mit der Mietkauti-on abzugelten. Insoweit bitten wir höflichst um Rü-ckäußerung, ob diesem Vergleichsvorschlag näher

getreten wird."Hierauf teilte die Beklagte durch Anwaltsschreibenvom 13. Januar 2004 mit, die von der Klägerin ver-tretenen Ansichten könnten nicht geteilt werden unddie aufgestellten Forderungen seien überzogen, gleich-wohl werde ein Eini- gungsvorschlag unterbreitet.Hierzu wird im genannten Schreiben ausgeführt:"Wir wollen uns zunächst nicht weiter mit Ihren Aus-führungen auseinandersetzen und schlagen Ihrer Man-dantschaft - ohne Anerkennung einer Rechtspflicht -namens und in Vollmacht unserer Mandantin aus-schließlich im Interesse einer endgültigen und einver-nehmlichen Erledigung der Sache vor, dass unsereMandantin an Ihre Mandantschaft einen Betrag in Hö-he von EUR 300,00 zur Abgeltung aller Ansprüche imZusammenhang mit dem Mietverhältnis gemäß Miet-vertrag vom 26.11.1996 und dessen Beendigung zahlt.Wir weisen Sie vorsorglich darauf hin, dass diesesVergleichsangebot nur für den Fall einer endgültigenErledigung der Sa- che abgegeben wird [...]."Die Beklagte ging zu diesem Zeitpunkt davon aus,dass ihr Anspruch auf Herausgabe des verpfändetenMietkautionssparbuchs nicht gegenüber der Klägerin,sondern gegenüber deren Geschäftsführer bestehe.Mit Anwaltsschreiben vom 9. Februar 2004 erklärtedie Klägerin die Annahme des Vergleichsvorschlagsder Beklagten. Sie führte hierzu aus, das Vergleichs-angebot der Beklagten werde so verstanden, dass diesezur Abgeltung sämtlicher Ansprüche 300 i zahle, wo-mit auch gemeint sei, dass die Klägerin keine Be-triebskostenabrechnung mehr erstellen und auf einenzu erwartenden Nachforderungsbetrag ebenso verzich-ten werde wie die Beklagte auf die Rück- gewähr derMietkaution.Mit Anwaltsschreiben vom selben Tage teilte die Be-klagte der Klägerin mit, sie könne deren mit dem vor-genannten Schreiben unterbreiteten "(Gegen) Vor-schlag" nicht nachvollziehen, da ihrerseits zu keinemZeitpunkt beabsichtigt oder erklärt worden sei, auf dieHerausgabe des Mietkautionssparbuchs zu verzichten.Zugleich forderte die Beklagte die Klägerin zur He-rausgabe dieses Sparbuchs auf.Eine im Jahre 2006 von der Beklagten erhobene Klagegegen die Klägerin auf Rückzahlung der Mietkautionwurde mit der Begründung abgewiesen, die Parteienhätten am 9. Februar 2004 eine umfassende Einigungerzielt, welche auch den Kautionsrückzahlungs-anspruch umfasse. Die von der Beklagten hiergegeneingelegte Berufung nahm diese, nachdem das Beru-fungsgericht auf die fehlende Erfolgsaussicht der Be-rufung hingewiesen hatte, zurück.Die Klägerin hat die Beklagte vorliegend auf Zahlungdes Vergleichsbetrages von 300 i nebst Prozesszin-sen in Anspruch genommen. Die Beklagte hat im Pro-zess die Einrede der - unstreitig bereits vorprozessualeingetretenen - Verjährung erhoben. Daraufhin hat die

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Klägerin den Rechtsstreit in der Hauptsache für erle-digt erklärt. Die Beklagte hat sich der Erledigungs-erklärung nicht angeschlossen.Das Amtsgericht hat die auf Feststellung der Erledi-gung des Rechtsstreits gerichtete Klage abgewiesen.Auf die vom Amtsgericht zugelassene Be- rufung derKlägerin hat das Landgericht das erstinstanzliche Ur-teil abgeändert und die Erledigung des Rechtsstreits inder Hauptsache festgestellt. Mit der vom Berufungs-gericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagtedie Wieder- herstellung des erstinstanzlichen Urteils.

Aus den Gründen:[10] Die Revision hat Erfolg.

A. Ausführungen des Berufungsgerichts[11] Das Berufungsgericht (LG Halle, Urteil vom 24.Februar 2009 - 2 S 228/08, juris) hat zur Begründungseiner Entscheidung ausgeführt:[12] Die auf Feststellung der Erledigung des Rechts-streits in der Hauptsache gerichtete Klage sei begrün-det, da die Zahlungsklage bis zur Erhebung der Ver-jährungseinrede zulässig und begründet gewesen sei.[13] Die Beklagte habe sich in dem von ihr mit Schrei-ben vom 13. Januar 2004 angebotenen und von derKlägerin angenommenen Vergleich wirksam zur Zah-lung von 300 i verpflichtet. Diese Verpflichtung seinicht durch Anfechtung des Rechtsgeschäfts rückwir-kend entfallen.

B. Entscheidung des BGH [16] Diese Beurteilung hält der revisionsrechtlichenNachprüfung in einem wesentlichen Punkt nicht stand.[17] Das Berufungsgericht hat zwar zu Recht ange-nommen, dass die Erhebung der Einrede der Verjäh-rung auch gegenüber einer bei Klageerhebung bereitsverjährten Forderung ein erledigendes Ereignis dar-stellt. Nicht gefolgt wer- den kann jedoch seiner Auf-fassung, die Zahlungsklage sei bis zum Zeitpunkt derErhebung der Verjährungseinrede (zulässig und) be-gründet gewesen.

I. Erledigung der Hauptsache [18] Die Hauptsache ist erledigt, wenn die Klage imZeitpunkt des nach ihrer Zustellung eingetretenen er-ledigenden Ereignisses zulässig und begründet warund durch dieses Ereignis unzulässig oder unbegrün-det wurde (BGHZ 155, 392, 395; 106, 359, 366 f.).Ein erledigendes Ereignis ist der Eintritt einer Tatsa-che mit Auswirkungen auf die materiell-rechtlichenVoraussetzungen der Zulässigkeit oder Begründetheitder Klage (BGHZ 155, 392, 398).[19] Zu der Frage, ob die Erhebung der Einrede derVerjährung auch gegen- über einer bei Klageerhebungbereits verjährten Forderung ein erledigendes Ereignisdarstellt, werden sowohl in der Rechtsprechung der

Instanzgerichte als auch in der Literatur unterschiedli-che Auffassungen vertreten.

1. Überwiegende Auffassung: Erhebung der Einredeals erledigendes Ereignis[20] Nach der überwiegenden Auffassung der Instanz-gerichte und der Literatur stellt die Erhebung der Ein-rede der Verjährung ein erledigendes Ereignis dar. Fürdie Frage, ob eine Erledigung der Hauptsache vorlie-ge, sei es grundsätzlich ohne Bedeutung, auf welchenUmständen die nachträglich eingetretene Unzulässig-keit oder Unbegründetheit der Klage beruhe. Eine Er-ledigung der Hauptsache könne auch dann eintreten,wenn die Klage aus Gründen unzulässig oder unbe-gründet werde, die allein im Verantwortungsbereichdes Klägers lägen. Daher könne auch die Verjährungder Klageforderung zur Erledigung des Rechtsstreitsführen, obwohl es der Kläger selbst in der Hand ge-habt hätte, den Eintritt der Verjährung zu vermeiden(vgl. OLG Frankfurt a.M., MDR 2002, 778, 779, WRP1982, 422 und WRP 1979, 799, 801; OLG Karlsruhe,WRP 1985, 288; OLG Hamburg, MD 1985, 951, 952f.; OLG München, WRP 1987, 267, 268; OLG Düssel-dorf, WRP 1980, 701, 702; OLG Stuttgart, NJW-RR1996, 1520; OLG Nürnberg, WRP 1980, 232, 233;OLG Celle, WRP 1983, 96 und GRUR 1987, 716;Stein/Jonas/Bork, ZPO, 22. Aufl., § 91a Rdnr. 6; Prüt-ting/Gehrlein/Hausherr, ZPO, § 91a Rdnr. 8 und 11;Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, 30. Aufl., § 91a Rdnr.5; Saenger/Gierl, Hk-ZPO, 3. Aufl., § 91a Rdnr. 7;Baumbach/Lauterbach/Hartmann, ZPO, 67. Aufl., §91a Rdnr. 59 - "Verjährung"; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl., § 130 Rdnr. 2;El-Gayar, MDR 1998, 698 f.; Meller-Hannich, JZ2005, 656, 663; Peters, NJW 2001, 2289 f.; Wernecke,JA 2004, 331, 334; Thesen, WRP 1981, 304, 305).Eine Erledigung der Hauptsache trete deshalb auchdann ein, wenn die Verjäh- rungsfrist für den Klagean-spruch bereits bei Erhebung der Klage abgelaufen ge-wesen sei, sich der Beklagte jedoch erstmals im Pro-zess auf die Verjährung berufe (OLG Frankfurt a.M.,aaO; Prüttung/Gehrlein/Hausherr, aaO, Rdnr. 11; Pe-ters, aaO; Meller-Hannich, aaO; Wernecke, aaO; of-fengelassen: OLG Nürn- berg, aaO). Gründe, die Kos-ten des Rechtsstreits trotz Eintritts eines erledigen-den Ereignisses dem Kläger - in den Fällen der über-einstimmenden Erledigungserklärung - aus Billigkeits-erwägungen aufzuerlegen, können nach dieser Auf-fassung etwa dann gegeben sein, wenn der Kläger ei-nen bereits verjährten Anspruch rechtshängig gemachthat, ohne dass der Beklagte Gelegenheit gehabt hatte,die Verjährung zu prüfen und bereits vorprozessualgeltend zu machen (OLG Frankfurt a.M., aaO; Werne-cke, aaO; vgl. auch Meller-Hannich, aaO; aA Peters,aaO, 2291).

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2. Andere Ansicht: Einrede kein erledigendes Ereignis[21] Nach anderer Auffassung handelt es sich bei derErhebung der Einrede der Verjährung nicht um einerledigendes Ereignis. Umstände, deren Eintritt derKläger beeinflussen könne, insbesondere solche, dieauf einem Verhalten des Klägers selbst beruhten undderen Eintritt er hätte verhindern können, müssten alsErledigungsereignisse außer Betracht bleiben. Bei derVerjährung liege es alleine an dem Gläubiger, der dengeltend gemachten Anspruch habe verjähren lassen,dass letzterer infolge der Verjährungseinrede unbe-gründet geworden sei. Es bestehe kein überzeugenderGrund, den Kläger vor den Folgen seines Verhaltenszu schützen. Eine Klage werde zwar erst dann unbe-gründet, wenn der Beklagte eine begründete Verjäh-rungseinrede erhebe. Voraussetzung sei allerdings,dass die Verjährungsfrist auch abgelaufen sei, derKläger also die Verjährung nicht durch die im Gesetzvorgesehenen Maßnahmen unterbrochen habe (OLGKoblenz, WRP 1982, 657, 658; OLG Schleswig,NJW-RR 1986, 38 f.; OLG Hamm, WRP 1977, 199 f.;OLG Hamburg, WRP 1982, 161, das diese Rechtspre-chung aber aufgegeben hat, vgl. OLG Hamburg, MD1985, aaO; MünchKommZPO/Lindacher, ZPO, 3.Aufl., § 91a Rdnr. 152; Wieczorek/Schütze/Steiner,ZPO, 3. Aufl., § 91a Rdnr. 33; Ulrich, WRP 1990,651, 654; Bork, WRP 1987, 8, 12). Begründet wirddiese Auffassung auch damit, dass die Geltendma-chung der Einrede im Prozess auf den Zeit- punkt desVerjährungseintritts zurückwirke (vgl. Zöller/Voll-kommer, ZPO, 28. Aufl., § 91a Rdnr. 58 - "Verjäh-rung"; El-Gayar, MDR 1998, aaO, S. 699). Die Ver-jährungseinrede führe deshalb dazu, dass die ab Ver-jährungseintritt be- stehende Undurchsetzbarkeit desAnspruchs beachtlich werde und die Klage damit abdem Zeitpunkt des Verjährungseintritts als unbegrün-det anzusehen sei. Werde ein bereits verjährter An-spruch eingeklagt und erhebe der Beklagte danacherstmals die Verjährungseinrede, so werde die Klagedadurch nicht un- begründet, vielmehr sei sie dies auf-grund der genannten Rückwirkung bereits vor Kla-geerhebung gewesen (El-Gayar, aaO). Auch unter kos-tenrechtlichen Gesichtspunkten sei es nicht sachge-recht, den Kläger für eine nachlässige Prozessführungzu begünstigen (vgl. OLG Schleswig, aaO; OLG Ko-blenz, aaO; vgl. auch MünchKommZPO/Lindacher,aaO). Sinn und Zweck sowohl des § 91a ZPO als auchder Erledigungsentscheidung bei einseitiger Erledi-gungserklärung sei es, den Kläger vor ungerechtfertig-ten Nachteilen zu bewahren, wenn eine ursprünglichzulässige und begründete Klage ohne sein Zutun un-zulässig oder unbegründet werde (vgl. OLG Schles-wig, aaO; OLG Koblenz, aaO).

3. Differenzierende Ansicht[22] Eine weitere Auffassung unterscheidet danach,

ob der Eintritt der Verjährung vor oder nach Erhebungder Klage oder der Beantragung einer einstweiligenVerfügung erfolgt ist. Nach dieser Auffassung stelltdie Einrede der Verjährung gegenüber einer bereitsvor Verfahrensbeginn verjährten Forderung kein erle-digendes Ereignis dar, während ein solches im Falledes erst während des laufenden Verfahrens erfolgen-den Verjährungse in t r i t t s bejaht wird (Zöl-ler/Vollkommer, aaO, Rdnr. 5 und 58 - "Verjährung";El-Gayar, aaO, S. 698; Hase, WRP 1985, 254, 255 f.).

4. Stellungnahme / Entscheidung des BGH

a) Parallele zur Aufrechnung [23] Der Bundesgerichtshof hat die Frage, ob die Er-hebung der Einrede der Verjährung auch gegenübereiner bei Klageerhebung bereits verjährten Forderungein erledigendes Ereignis darstellt, noch nicht ent-schieden. Er hatte sich allerdings bereits mit der ver-gleichbaren Frage zu befassen, ob die im Prozess er-folgte Aufrechnungserklärung auch dann ein erledi-gendes Ereignis dar- stellt, wenn die Aufrechnungs-lage bereits vor Rechtshängigkeit der Klageforderungbestand (BGHZ 155, 392, 396 ff.). Auch über die Fra-ge, welche Auswirkungen es hat, wenn das erledigen-de Ereignis in den Verursachungs- oder Verantwor-tungsbereich des Klägers fällt, hatte der Bundesge-richtshof bereits zu entscheiden (BGH, Urteil vom 13.Mai 1993 - I ZR 113/91, NJW-RR 1993, 1319, unter[II] 2 b - Radio Stuttgart).

b) Übertragbarkeit der o.g. “Parallel”-Entscheidung [26] Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe hält derSenat bezüglich der im Streitfall entscheidenden Fragedie unter 1 a dargestellte überwiegende Auffassungfür zutreffend. Die erstmalige Erhebung der Einrededer Verjährung im Laufe des Verfahrens stellt ein er-ledigendes Ereignis dar. Dies gilt auch dann, wenn dieVerjährung des geltend gemachten Anspruchs bereitsvor Rechtshängigkeit eingetreten ist.[27] Der Eintritt der Verjährung hat für sich genom-men weder Auswirkungen auf das Bestehen noch aufdie Durchsetzbarkeit des Anspruchs (vgl. BGHZ 156,269, 271; MünchKommBGB/Grothe, 5. Aufl., vor §194 Rdnr. 5 und § 214 Rdnr. 1; Palandt/Ellenberger,BGB, 69. Aufl., § 214 Rdnr. 1/2). Der Schuldner ist abdem Verjährungseintritt lediglich berechtigt, dauerhaftdie Leistung zu ver- weigern (§ 214 Abs. 1 BGB;BGH, Urteil vom 15. Oktober 2004 - V ZR 100/04,WM 2004, 2443, unter II 2 c; Palandt/Ellenberger,aaO), was dem Anspruch die Durchsetzbarkeit nimmt(BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2007 -XIZR144/06, BauR 2008, 666, unter IV 3 d; Mel-ler-Hannich, aaO, S. 661). Die Verjährung berührtnach der Konzeption des Bürgerlichen Gesetzbuchsmithin weder den anspruchsbegründenden Tatbestand

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noch das Bestehen des Rechts des Gläubigers; imRechtsstreit hat deshalb, selbst wenn die verjährungs-be- gründenden Umstände als solche vom Klägerselbst vorgetragen werden, auf Antrag Versäumnis-urteil gegen den ausgebliebenen Beklagten zu ergehen(BGHZ 156, aaO). An dieser Konzeption hat der Ge-setzgeber bei der Novellierung des Verjährungsrechtsdurch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz fest-gehalten (BGHZ 156, aaO).[28] Ob der Schuldner von der ihm nach Verjährungs-eintritt zustehenden Einrede der Verjährung Gebrauchmacht, steht in seinem freien Belieben (Münch-KommBGB/Grothe, aaO). Erhebt der Beklagte erst-mals während des Prozesses die Einrede der Verjäh-rung, so wird hierdurch für den Kläger ein Hindernisgeschaffen, den geltend gemachten Anspruch erfolg-reich durchzusetzen. Seine ursprünglich zulässige undbegründete Klage wird durch die Erhebung der Ein-rede unbegründet. Erst letztere und nicht bereits derEintritt der Verjährung führt zur sachlichen Erledi-gung des Rechtsstreits in der Hauptsache (vgl. BGHZ155, 392, 398 f., zur Aufrechnungserklärung).

aa) Rückwirkung der Verjährungseinrede unbeacht-lich [29] Dass die Verjährungseinrede materiell-rechtlich -etwa hinsichtlich des Verzuges (vgl. hierzu BGHZ104, 6, 11; 48, 249, 250) - auch auf den Zeitpunkt desVerjährungseintritts zurückwirkt (Meller-Hannich,aaO, S. 658; El-Gayar, aaO), ändert hieran nichts(ebenso Stein/Jonas/Bork, aaO, Rdnr. 6, hinsichtlichder materiell-rechtlichen Rückwirkung bei der Auf-rechnungserklärung) und hat insbesondere nicht zurFolge, dass die Klage im Falle der Einredeerhebungals von Anfang an unbegründet zu gelten hat (Mel-ler-Hannich, aaO, S. 663; aA El- Gayar, aaO). Wie derBundesgerichtshof in dem oben unter 1 d aa erwähn-ten Urteil vom 17. Juli 2003 (BGHZ 155, aaO) hin-sichtlich der im Prozess erfolgten Aufrechnungserklä-rung bereits entschieden hat, tritt die mate-riell-rechtliche Rückwirkung erst durch die Aufrech-nungserklärung ein. Letzterer kommt mithin die Be-deutung des erledigenden Ereignisses im Prozess zu.Es besteht kein sachlicher Grund, dies bei der Einrededer Verjährung anders zu behandeln. In beiden Fällenist es alleine dem Schuldner überlassen, ob er von dergenannten Möglichkeit der Anspruchsabwehr Ge-brauch macht. Zudem weist die Verjährungseinredeeine Ähnlichkeit mit der Aufrechnungserklärung inso-weit auf, als sie ebenfalls die materielle Rechtslage -mit der entsprechenden Folge für die Begründetheit

der Klage - ändert und einen rechtsgeschäftsähnlichenCharakter (vgl. hierzu BGHZ 156, aaO) hat (vgl. Mel-ler-Hannich, aaO; Wernecke, aaO; El- Gayar, aaO;Letzterer allerdings mit entgegengesetzter Schluss-folgerung).

bb) Verursachungsbeitrag des Kl. irrelevant [30] Für die Bewertung der Verjährungseinrede alserledigendes Ereignis ist es ohne Belang, dass der Klä-ger mit der gerichtlichen Geltendmachung eines be-reits verjährten Anspruchs einen wesentlichen Ver-ursachungsbeitrag für die spätere Erledigung desRechtsstreits in der Hauptsache geleistet hat. Wie vomBundesgerichtshof bereits entschieden, ist bei der Fra-ge, ob ein erledigen- des Ereignis vorliegt, allein aufden objektiven Eintritt des Ereignisses und nicht aufdie Frage einer subjektiven Verantwortlichkeit abzu-stellen; auf Billigkeitserwägungen kommt es in diesemZusammenhang nicht an (BGH, Urteil vom 13. Mai1993, aaO; Urteil vom 6. Dezember 1984, aaO; ebensoOLG Frankfurt a.M., aaO; OLG Düsseldorf, aaO;OLG München, aaO; OLG Karlsruhe, aaO; Mel-ler-Hannich, aaO, S. 664; El-Gayar, aaO). Billigkeits-gesichtspunkte können im Rahmen einer nach billigemErmessen zu treffenden Kostenentscheidung gemäß §91a ZPO Bedeutung erlangen, sofern sich der Beklag-te - anders als im vorliegenden Fall - der Erledigungs-erklärung des Klägers anschließt.

II. Ergebnis[31] Das Berufungsgericht hat mithin zu Recht derErhebung der Verjährungseinrede auch im Falle derbereits vor Rechtshängigkeit eingetretenen Verjährungdie Eignung als erledigendes Ereignis beigemessen.Nicht frei von Rechtsfehlern ist hingegen seine aufdieser Grundlage getroffene Entscheidung über dieErledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache, beider es zu der Bewertung gelangt ist, die Klage sei biszum Zeitpunkt der Erhebung der Verjährungseinredezulässig und begründet gewesen, da zwischen den Par-teien ein Vergleich wirksam zustande gekommen seiund der Klägerin aus diesem ein Anspruch auf Zah-lung von 300 i zugestanden habe. Diese Auslegungder im Rahmen der vorgerichtlichen Verhandlungender Parteien über eine gütliche Einigung abgegebenenWillenserklärungen weist revisionsrechtlich beacht-liche Rechtsfehler auf und bindet den Senat dahernicht (vgl. BGHZ 150, 32, 37; BGH, Urteile vom 23.Januar 2009 - V ZR 197/07, NJW 2009, 1810, Tz. 8;vom 8. Januar 2009 - IX ZR 229/07, NJW 2009, 840,Tz. 9).

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Strafrecht

Standort: §§ 211, 212 StGB Problem: Feststellung des Tötungsvorsatzes

BGH, URTEIL VOM 04.02.2010

4 STR 394/09 (NSTZ-RR 2010, 178)

Problemdarstellung:Der Angeklagte wollte seine Mietwohnung ein einemMehrparteienhaus durch einen Brand zerstören undgoss deshalb eine größere Menge Benzin in die Räumeder Wohnung. Als er das Benzin entzünden wolltekam es unbeabsichtigt zu einer Explosion, die einenTeil der Außenwand heraussprengte, was dazu führte,dass sich ein offener Wohnungsbrand entwickelte, derauch auf die anderen Wohnungen in dem Gebäudeübergriff. Die Mieterin der Dachgeschosswohnungkonnte diese nicht mehr rechtzeitig verlassen und wur-de durch das Feuer getötet.

Das Landgericht Essen verurteilte den Angeklagtenaufgrund dieses Sachverhalts wegen Brandstiftung mitTodesfolge, § 306c StGB. Gegen dieses Urteil wand-ten sich sowohl der Angeklagte als auch die Staats-anwaltschaft mit der Revision, wobei der Angeklagteinsbesondere rügte, dass die für § 306c StGB erforder-liche Leichtfertigkeit nicht gegeben sie und die Staats-anwaltschaft, dass das LG das Vorliegen eines vor-sätzlichen Tötungsdelikts (insb. § 211 StGB) zu Un-recht abgelehnt habe. Beide Revisionen wies der BGHals unbegründet zurück und bestätigte die Entschei-dung des LG.

Prüfungsrelevanz:Die Leichtfertigkeit ist Tatbestandsmerkmal bei meh-reren examensrelevanten Erfolgsqualifikationen, so-dass die Prüfung der entsprechenden Voraussetzungenin beiden Examen relevant werden kann. Die weitervom BGH aufgeworfene Frage, unter welchen Voraus-setzungen ein Tatsachengericht beim Angeklagteneinen (bedingten) Tötungsvorsatz annehmen kann, istvor allem im zweiten Staatsexamen von Bedeutung.Sie kann dort - wie im vorliegenden Fall - in einerAufgabenstellung in einem Revisionsverfahren rele-vant werden, aber auch in Urteilsklausuren oder auchim Rahmen einer staatsanwaltschaftlichen Abschluss-verfügung im Hinblick auf die dort u.U. vorzunehmen-de Prüfung eines hinreichenden Tatverdachts bzgl.eines vorsätzlichen Tötungsdelikts.

Hinsichtlich des subjektiven Tatbestandes von Er-folgsqualifikationen (z.B. §§ 221 III, 226 I StGB) gilt

grundsätzlich nicht die Vorschrift des § 15 StGB, dieeinen umfassenden Vorsatz voraussetzen würde, son-dern der speziellere § 18 StGB, der es hinsichtlich derschweren Folge ausreichen lässt, wenn der Täter diesewenigstens fahrlässig herbeiführt. Einige Erfolgsquali-fikationen (z.B. §§ 251, 306c StGB) haben insofernaber erhöhte Anforderungen und setzen voraus, dassder Täter die schwere Folge wenigstens leichtfertigherbeiführt. Leichtfertigkeit setzt hier einen besondershohen Grad an Fahrlässigkeit voraus, der in etwa dergroben Fahrlässigkeit des Zivilrechts entspricht(BGHSt 33, 66, 67; Fischer, § 15 Rn. 20). Leichtfertighandelt demnach, wer die sich ihm aufdrängendeMöglichkeit eines tödlichen Verlaufs aus besonderemLeichtsinn oder aus besonderer Gleichgültigkeit außerAcht lässt (BGHSt 33, 66, 67; Fischer, § 15 Rn. 20;Joecks, § 251 Rn. 9). Im vorliegenden Fall, in dem derAngeklagte erhebliche Mengen Benzin im Haus aus-goss, obwohl er wusste, dass sich noch andere Men-schen dort aufhielten, hatte BGH keine Zweifel hin-sichtlich der Annahme einer leichtfertigen Todesver-ursachung.

Für die Gerichte stellt sich in der Praxis immer wiederdie Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Tö-tungsvorsatz des Angeklagten angenommen werdenkann. Da dieser nur selten gesteht, den Tod des Opfersfür sicher gehalten oder gar beabsichtigt zu haben,stellt sich hier häufig die Frage der Abgrenzung vonbedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit. Ge-rade bei den Tötungsdelikten existieren hierzu zahlrei-che Auffassungen (vgl. hierzu die Darstellung imSkript Strafrecht AT I, Rn. 135 ff.). Der BGH vertrittinsofern die sog. Billigungs- oder Einwilligungstheo-rie, nach der ein dolus eventualis dann gegeben ist,wenn der Täter den Erfolgseintritt für möglich hältund diesen billigend in Kauf nimmt (BGHSt 7, 363,369; 36, 1, 9; BGH, NStZ 1998, 616), wobei al-lerdings ein “Billigen im Rechtssinne” ausreicht. D.h.ein Vorsatz ist auch dann gegeben, wenn der Erfolgs-eintritt eigentlich unerwünscht ist, der Täter sich je-doch damit um eines erstrebten Zieles willen abfindet(BGHSt 7, 363, 369; 36, 1, 9; BGH, NStZ 1994, 584).

Gerade bei den Tötungsdelikten sind jedoch im Hin-blick auf die insofern bestehende hohe Hemmschwellebesonders hohe Anforderungen an die für die Annah-me eines Tötungsvorsatzes erforderlichen Feststellun-gen des Tatgerichts zu stellen (BGH, NStZ 2004, 331

RA 2010, HEFT 6 STRAFRECHT

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= RA 2004, 195; NStZ 2005, 386; Fischer, § 212 Rn.6 ff.; Lackner/Kühl, § 212 Rn. 3). Der BGH geht inso-fern davon aus, dass ein (bedingter) Tötungsvorsatzjedenfalls dann nahe liegt, wenn der Täter bewusstbesonders gefährliche Handlungen vornimmt (BGH,NStZ 2009, 503, 504 = RA 2009, 388, 390; NStZ-RR2006, 11 = RA 2006, 33; NJW 2006, 386 = RA 2006,93). In der vorliegenden Entscheidung betont der BGH(wie in der Vergangenheit auch schon, vgl. BGH,NStZ 2009, 503, 504 = RA 2009, 388, 390; NStZ-RR2007, 304 = RA 2007, 671), dass die Abgrenzung zwi-schen bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Tö-tungsvorsatz nur anhand einer umfassenden Würdi-gung aller relevanten objektiven und subjektiven Tat-umstände erfolgen könne. Bei der Inbrandsetzung ei-nes Gebäudes - wie im vorliegenden Fall - seinen inso-fern insbesondere die Beschaffenheit des Gebäudes,die Angriffszeit, die konkrete Angriffsweise sowie diepsychische Verfassung des Täters und seine Motivat-ion bei der Tatbegehung zu berücksichtigen. Im vor-liegenden Fall hielt der BGH jedoch trotz der extremgefährlichen Handlungsweise des Angeklagten dieAblehnung eines Tötungsvorsatzes durch das LG fürvertretbar.

Schließlich hatte der Angeklagte in seiner Revisionnoch gerügt, dass die Aussage eines Seelsorgers, dendas Gericht als Zeugen vernommen hatte, nicht hätteverwertet werden dürfen, da dieser nicht über das ihmzustehende Zeugnisverweigerungsrecht, § 53 I Nr. 1StPO, belehrt worden war. Insofern entspricht es zwarder ganz herrschenden Auffassung, auch der Recht-sprechung, dass eine unterlassene Belehrung über einZeugnisverweigerungsrecht aus § 52 StPO grundsätz-lich ein sog. unselbstständiges Beweisverwertungs-verbot nach sich zieht, sodass die entsprechende Aus-sage tatsächlich nicht verwertet werden darf (BGH,NStZ 1990, 25; NStZ-RR 1996, 106; Meyer-Goßner,StPO, § 52 Rn. 32; Rogall, ZStW 1991, 36). DiesesBeweisverwertungsverbot entfällt jedoch, wenn fest-steht, dass der Zeuge seine Rechte kannte und auchbei erfolgter Belehrung ausgesagt hätte (BGHSt 40,336, 3239; Meyer-Goßner, StPO, § 52 Rn. 32; a.A.:Eisenberg, StV 1995, 625). Diese Wertung überträgtder BGH in der vorliegenden Entscheidung - in Über-einstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung(NJW 1991, 2844, 2846) - auf das Zeugnisverweige-rungsrecht aus § 53 StPO und kommt insofern zu demErgebnis, dass eine Belehrung über das Recht aus § 53StPO grundsätzlich nicht erforderlich sei, da in diesenFällen davon ausgegangen werden könne, dass dieentsprechenden Personen ihre Recht kennen würden.Deshalb bestünde auch im Falle einer unterbliebenenBelehrung kein Beweisverwertungsverbot. Insofern istauch anzumerken, dass § 52 StGB in § 52 III 1 StPOeine ausdrückliche Belehrungspflicht beinhaltet, § 53

StPO eine solche Vorschrift jedoch nicht enthält.

Vertiefungshinweise:“ Zur den Anforderungen an die Annahme eines (be-dingten) Tötungsvorsatzes: BGH, NStZ 2002, 541;2004, 329; 2006, 386 = RA 2006, 93; NStZ 2009, 503= RA 2009, 388; NStZ-RR 2006, 11 = RA 2006, 33;NStZ-RR 2007, 304 = RA 2007, 671; Altvater, NStZ2002, 20; Eser, NStZ 1981, 430; Köhler, JZ 1981, 35;Trück, NStZ 2005, 233

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“ Examenskurs: “Der eiskalte Engel”

Leitsätze (der Redaktion):1. Eine Pflicht zur Belehrung über das Besteheneines Zeugnisverweigerungsrechts besteht in denFällen des § 53 StPO nicht; das Gericht darf regel-mäßig davon ausgehen, dass der Zeuge sein Rechtzur Zeugnisverweigerung kennt.2. Bedingt vorsätzliches Handeln setzt voraus, dassder Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfol-ges als möglich und nicht ganz fern liegend erkenntund dass er ihn billigt oder sich um des erstrebtenZieles willen mit der Tatbestandsverwirklichungabfindet. Tritt die Lebensgefährlichkeit einer äu-ßerst gefährlichen Gewalthandlung offen zu Tage,liegt es zwar nahe, dass der Täter mit der Möglich-keit eines tödlichen Ausgangs der von ihm in Ganggesetzten Handlungskette rechnet. Da es jedochauch Fälle geben kann, in denen der Täter zwaralle Umstände kennt, die sein Tun zu einer das Le-ben gefährdenden Behandlung machen, er sichaber gleichwohl nicht bewusst ist, dass der Tod desOpfers eintreten kann, bedarf es für den Schlussauf die Billigung eines Todeserfolges im Hinblickauf die insoweit bestehende hohe Hemmschwelleeiner sorgfältigen Prüfung des Einzelfalles.3. Bei Inbrandsetzung eines Gebäudes sind imRahmen der für die Prüfung eines Tötungsvorsat-zes erforderlichen Gesamtwürdigung insbesonderedie Beschaffenheit des Gebäudes (im Hinblick aufFluchtmöglichkeiten und Brennbarkeit der beimBau verwendeten Materialien), die Angriffszeit(wegen der erhöhten Schutzlosigkeit der Bewohnerzur Nachtzeit), die konkrete Angriffsweise sowiedie psychische Verfassung des Täters und seineMotivation bei der Tatbegehung zu berücksichti-gen.

Sachverhalt:[2] Am 13. September 2008 entschloss sich der Ange-klagte, in der von ihm und seinem Sohn bewohntenMietwohnung in G. einen Brand zu legen und diesedadurch zu zerstören. Die Wohnung befand sich in

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einem Reihenhaus mit 2 1/2 Etagen, in denen nochweitere vier Mietparteien wohnten. Zur Ausführungseines Vorhabens verteilte der Angeklagte in den spä-ten Abendstunden größere Mengen Benzin in drei ver-schiedenen Räumen seiner Wohnung. Als er gegen22.45 Uhr das von ihm verteilte Benzin entzündete,kam es, für den Angeklagten überraschend, zu einerheftigen Verpuffung des mittlerweile entstandenenBenzin-Luft-Gemisches, die u. a. dazu führte, dass einTeil der Hausfassade herausgesprengt wurde. Sodannentwickelte sich ein offener Wohnungsbrand, der vonder Wohnung des Angeklagten in der 1. Etage auchauf die Dachgeschosswohnung der Eheleute T über-griff. In dieser Wohnung hielt sich zur Tatzeit K auf,die sich nicht mehr in Sicherheit bringen konnte undan den Folgen einer Brandgasvergiftung verstarb. DerBrand erfasste auch den Dachstuhl und weitere we-sentliche Gebäudeteile. Die Mieter der beiden Erd-geschosswohnungen wurden rechtzeitig auf den Brandaufmerksam und konnten das Gebäude unverletzt ver-lassen.

Aus den Gründen:[1] Das Landgericht hat den Angeklagten wegenBrandstiftung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafevon 14 Jahren verurteilt. Die dagegen gerichtete, aufdie Verletzung formellen und materiellen Rechts ge-stützte Revision des Angeklagten bleibt ebenso wiedas mit der Sachrüge begründete - vom Generalbun-desanwalt nicht vertretene - Rechtsmittel der Staats-anwaltschaft ohne Erfolg.

I. Entscheidung des Landgerichts [...] [3] Das Landgericht, das ein Motiv für die Tatletztlich nicht feststellen konnte, hat angenommen,dass der Angeklagte trotz der objektiven Gefährlich-keit seiner Tathandlung nicht mit bedingtem Tötungs-vorsatz handelte, sondern den Tod von K (lediglich)grob achtlos und unter Außerachtlassung der sich auchnach seinen individuellen Fähigkeiten und Kenntnis-sen aufdrängenden tödlichen Folgen verursachte.

II. Entscheidung des BGH[4] Die Revisionen decken weder zum Nachteil nochzum Vorteil des Angeklagten Rechtsfehler auf.

1. Revision des Angeklagten

a) Zur Verfahrensrüge[5] Die vom Angeklagten erhobene Verfahrensrüge,das Landgericht habe die aus Kroatien stammendenZeugen V und D nicht über das ihnen als katholischeGeistliche zustehende Zeugnisverweigerungsrecht ge-mäß § 53 Abs. 1 Nr. 1 StPO belehrt, hat keinen Erfolg.

aa) Zum Fehlen eines Zeugnisverweigerungsrechts

des Zeugen D[6] Da sich ein mögliches Zeugnisverweigerungsrechtim Sinne des § 53 Abs. 1 Nr. 1 StPO nur auf Tatsa-chen erstreckt, die dem betreffenden Geistlichen inseiner Eigenschaft als Seelsorger anvertraut oder be-kannt geworden sind und nicht auf das, was er in aus-schließlich karitativer oder fürsorgerischer Tätigkeiterfahren hat (BGHSt 51, 140, 141; vgl. auch BVerfGNJW 2007, 1865), kam jedenfalls dem Zeugen D einsolches Zeugnisverweigerungsrecht nicht zu. Denn derAngeklagte bat den Zeugen zunächst lediglich darum,ihm für einige Tage Unterkunft zu gewähren, was die-ser jedoch ablehnte. Weder bei diesem ersten noch beidem zweiten Zusammentreffen mit dem Angeklagtenerfuhr der Zeuge D den Grund für dieses Hilfeersu-chen.

bb) Kein Beweisverwertungsverbot trotz unterbliebe-ner Belehrung über Zeugnisverweigerungsrecht gem.§ 53 StPO[7] Im Hinblick auf das, was dem Zeugen V anlässlichseines Zusammentreffens mit dem Angeklagten be-kannt wurde, mag die Rechtslage anders zu beurteilensein, denn der Angeklagte, der sich schon in der Ver-gangenheit an diesen Zeugen mit der Bitte um seel-sorgerischen Beistand gewandt hatte, äußerte bei die-ser Gelegenheit sinngemäß, eine schlimme Tat began-gen zu haben. Gleichwohl kann die Rüge nicht durch-greifen. Eine Pflicht zur Belehrung in Fällen des § 53StPO besteht nicht (vgl. BGH, Urteil vom 19. März1991 - 5 StR 516/90, NJW 1991, 2844, 2846, inBGHSt 37, 340 insoweit nicht abgedruckt; Senatsur-teil vom 27. Mai 1971 - 4 StR 81/71, VRS 41 (1971),93, 94); das Gericht darf regelmäßig davon ausgehen,dass der Zeuge sein Recht zur Zeugnisverweigerungkennt (Meyer-Goßner StPO 52. Aufl. § 53 Rdn. 44).Dies gilt für den Geistlichen eines fremden Landesjedenfalls dann, wenn er sich - wie der Zeuge V - inDeutschland dauerhaft aufhält und hier eine Gemeindebetreut. Im Übrigen wurde der Zeuge aus Anlass sei-ner polizeilichen Vernehmung am 2. Oktober 2008über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt und äu-ßerte daraufhin, in “Glaubens- und Gewissensdingen”werde er keine Angaben machen. Seine Bekundungenzur Begegnung mit dem Angeklagten hat er demnachin Kenntnis seines Rechts zur Verweigerung desZeugnisses gemacht; Anhaltspunkte für ein dahin ge-hendes Missverständnis sind weder vorgetragen nochersichtlich.

b) Zur Sachrüge[8] Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils auf-grund der erhobenen Sachrüge weist keinen den Ange-klagten beschwerenden Rechtsfehler auf. Die Wertungdes Landgerichts, der Angeklagte habe den Tod der Kjedenfalls leichtfertig verursacht und sei deshalb der

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Brandstiftung mit Todesfolge im Sinne des § 306 ci.V.m. § 306 a Abs. 1 Nr. 1 StGB schuldig, ist ausRechtsgründen nicht zu beanstanden.[9] Soweit der Gesetzgeber die leichtfertige Todesver-ursachung unter Strafe gestellt hat, umschreibt dasGesetz nach der ständigen Rechtsprechung des Bun-desgerichtshofs mit dem Begriff der Leichtfertigkeitein Verhalten, das - bezogen auf den Todeseintritt -einen hohen Grad von Fahrlässigkeit aufweist. Leicht-fertig handelt hiernach, wer die sich ihm aufdrängendeMöglichkeit eines tödlichen Verlaufs aus besonderemLeichtsinn oder aus besonderer Gleichgültigkeit außerAcht lässt (BGHSt 33, 66, 67). Gemessen daran wardie Gefährdung von Leib und Leben anderer im Hauseanwesender Mitbewohner angesichts der vom Landge-richt zum konkreten Tathergang getroffenen Feststel-lungen auch für den Angeklagten in seiner konkreten,angespannten psychischen Verfassung zum Tatzeit-punkt hochgradig wahrscheinlich. Die dagegen gerich-teten Einwände des Beschwerdeführers erschöpfensich darin, die nachvollziehbare Beweiswürdigung derStrafkammer durch eine eigene zu ersetzen, ohne je-doch Rechtsfehler aufzuzeigen, die den Bestand desUrteils gefährden könnten.

2. Revision der Staatsanwaltschaft[10] Auch die Revision der Staatsanwaltschaft bleibterfolglos.

a) Zum Inhalt der Revision[11] Die Staatsanwaltschaft beanstandet, dass dasLandgericht an das Vorliegen der Voraussetzungeneines bedingten Tötungsvorsatzes zu hohe Anforde-rungen gestellt habe. Angesichts der vom Landgerichtgetroffenen Feststellungen, wonach der Angeklagteinsgesamt 28 Liter Brandbeschleuniger in seiner immittleren Stockwerk eines Mehrfamilienhauses gele-genen Wohnung ausgebracht habe, hätte bedingterTötungsvorsatz allenfalls dann verneint werden kön-nen, wenn der Angeklagte aufgrund besonderer undaußergewöhnlicher Umstände darauf hätte vertrauendürfen, dass der Tod von weiteren Hausbewohnernnicht eintreten werde. Solche Umstände habe dieStrafkammer indessen nicht festgestellt. Auch die Er-wägung des Landgerichts, der Angeklagte habe gegen-über den anderen Hausbewohnern keine feindlicheGesinnung gehabt, stehe der Annahme eines bedingtenTötungsvorsatzes nicht entgegen. Die den Angeklag-ten überraschende Verpuffung stelle in diesem Zusam-menhang lediglich eine unerhebliche Abweichungvom Kausalverlauf dar.

b) Zur Ablehnung eines Tötungsvorsatzes durch dasLandgericht[12] Die Beweiserwägungen, mit denen das Landge-richt einen bedingten Tötungsvorsatz verneint hat,

halten indessen revisionsrechtlicher Nachprüfungstand.

aa) Zu den Anforderungen an die Annahme eines be-dingten Tötungsvorsatzes[13] Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundes-gerichtshofs setzt bedingt vorsätzliches Handeln vor-aus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichenErfolges als möglich und nicht ganz fern liegend er-kennt und dass er ihn billigt oder sich um des erstreb-ten Zieles willen mit der Tatbestandsverwirklichungabfindet (st. Rspr.; vgl. nur BGHSt 36, 1, 9; BGHRStGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 53). In Abgren-zung zu der Schuldform der bewussten Fahrlässigkeitmüssen beide Elemente der inneren Tatseite, also so-wohl das Wissenselement als auch das Willenselementin jedem Einzelfall besonders geprüft und durch tat-sächliche Feststellungen belegt werden (BGHR aaO).Tritt die Lebensgefährlichkeit einer äußerst gefähr-lichen Gewalthandlung offen zu Tage, liegt es zwarnahe, dass der Täter mit der Möglichkeit eines tödli-chen Ausgangs der von ihm in Gang gesetzten Hand-lungskette rechnet. Da es jedoch auch Fälle gebenkann, in denen der Täter zwar alle Umstände kennt,die sein Tun zu einer das Leben gefährdenden Be-handlung machen, er sich aber gleichwohl nicht be-wusst ist, dass der Tod des Opfers eintreten kann, be-darf es für den Schluss auf die Billigung eines Todes-erfolges im Hinblick auf die insoweit bestehende hoheHemmschwelle einer sorgfältigen Prüfung des Ein-zelfalles (BGH, Urteil vom 22. November 2001 - 1StR 369/01, NStZ 2002, 314, 315). Bei Inbrandset-zung eines Gebäudes sind im Rahmen der Gesamtwür-digung insbesondere die Beschaffenheit des Gebäudes(im Hinblick auf Fluchtmöglichkeiten und Brennbar-keit der beim Bau verwendeten Materialien), die An-griffszeit (wegen der erhöhten Schutzlosigkeit der Be-wohner zur Nachtzeit), die konkrete Angriffsweisesowie die psychische Verfassung des Täters und seineMotivation bei der Tatbegehung zu berücksichtigen(BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 39).

bb) Zur Beweiswürdigung des Landgerichts[14] Nach diesem Maßstab hat die Strafkammer sehrwohl in den Blick genommen, dass neben der objekti-ven Gefährlichkeit der Tathandlung auch verschiedeneweitere Umstände für das Vorliegen eines bedingtenTötungsvorsatzes sprachen, so die (Nacht-)zeit derTatbegehung, das - für den Angeklagten erkennbare -Vorhandensein einer leicht brennbaren Holzbohlende-cke im Gebäude, das Ausbringen des Brandbeschleu-nigers an verschiedenen Stellen und die sorgfältigePlanung der Tat. Das Landgericht hat jedoch auch -sachverständig beraten - die psychische Verfassungdes Angeklagten mit der gedanklichen Einengung aufdie Zerstörung des früheren mit seiner Frau gemein-

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sam bewohnten Lebensraumes sowie das fehlendeMotiv des Angeklagten für die Tötung anderer Haus-bewohner berücksichtigt und zusätzlich erwogen, dassder Brandbeschleuniger nicht in unmittelbarer Nähedes möglichen Fluchtwegs ausgebracht war. Dass esauf der Grundlage dieser umfassenden Würdigungletztlich zur Verneinung des (bedingten) Tötungsvor-satzes gekommen ist, lässt einen Rechtsfehler nichterkennen. Rechtsfehlerhaft überspannte Anforderun-gen an die tatrichterliche Überzeugungsbildung (vgl.

dazu BGH, Urteile vom 11. Januar 2005 - 1 StR478/04, NJW 2005, 1727 und vom 4. Dezember 2008 -4 StR 371/08) lassen diese Erwägungen ebenfallsnicht erkennen. Die Strafkammer hat ihre Zweifel da-ran nicht überwinden können, dass der Angeklagte dieerhebliche Ausweitung des Brandes mit den tödlichenFolgen für das Tatopfer in sein Wissen aufgenommenhatte. Diese Wertung des Tatrichters ist vom Revi-sionsgericht hinzunehmen.

Standort: § 138 StGB Problem: Mögliche Beteiligung an der anzuzeigenden Tat

BGH, URTEIL VOM 19.05.2010

5 STR 464/09 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:Der Angeklagte erfuhr frühzeitig davon, dass seinBruder zusammen mit anderen einen Raubüberfall aufein Bekleidungsgeschäft durchführen wollte. Er ver-suchte jedoch weder, seinen Bruder hiervon abzubrin-gen, noch meldete er dessen Vorhaben bei der Polizei.Der Überfall wurde dann auch tatsächlich ausgeführt.Obwohl am Tatort DNA-Spuren des Angeklagten ge-funden wurden, vermochte sich das Landgericht Ber-lin nicht davon zu überzeugen, dass dieser an demÜberfall beteiligt war. Deshalb wurde er nicht wegenBeteiligung an dem Raub, sondern nur wegen Nicht-anzeige geplanter Straftaten, § 138 I Nr. 7 StGB, ver-urteilt.

Gegen diese Verurteilung wandte sich der Angeklagte,der in seiner Revision rügte, dass der Verdacht seinerBeteiligung an der anzuzeigenden Tat seine Strafbar-keit gem. § 138 StGB ausschließen müsse, da es einemBeteiligten an der anzeigepflichtigen Tat nicht zuzu-muten sei, diese (und damit letztlich sich selbst) an-zuzeigen. Dies müsse nach dem Grundsatz “in dubiopro reo” auch dann gelten, wenn die Beteiligung ander Katalogtat des § 138 I StGB nicht sicher, aberdoch möglich sei. Der BGH wies die Revision - unterAufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung - als unbe-gründet zurück und bestätigte die Verurteilung.

Prüfungsrelevanz:Wenn auch § 138 StGB ein Tatbestand ist, der seltenim Zentrum von Examensaufgaben steht, so dürfte dievorliegende Entscheidung doch eine hohe Examens-relevanz besitzen, da der BGH hier eine langjährigeRechtsprechung aufgibt. Solche Rechtsprechungsän-derungen werden gerade in mündlichen Prüfungenimmer wieder sehr gerne aufgegriffen. Hinzu kommt,dass der vorliegende Fall auch eine prozessuale Kom-ponente aufweist, da es insbesondere um den Umfangder Anwendung des Zweifelssatzes (“in dubio proreo”) geht, was die Entscheidung für prüfende Richter

noch interessanter macht.

Gem. § 138 I StGB macht sich wegen Nichtanzeigegeplanter Straftaten strafbar, wer von dem Vorhabenoder der Ausführung einer der genannten Katalogtaten(z.B. Mord, § 138 I Nr. 5 StGB, oder Raub, § 138 INr. 7 StGB) zu einer Zeit, in der deren Ausführungoder Erfolg noch abgewendet werden können, erfährtund dies trotzdem weder dem Bedrohten noch der(Strafverfolgungs-) Behörde anzeigt.

Nach herrschender Meinung trifft die in § 138 StGBnormierte Anzeigepflicht den Beteiligten an der an-zuzeigenden Katalogtat jedoch nicht, da ansonstenletztlich eine Pflicht zur Selbstanzeige bestünde, diegegen den Grundsatz der Straflosigkeit der Selbstbe-günstigung (“nemo tenetur se ipsum accusare”) ver-stoßen würde (BGHSt 36, 167, 169; 39, 164, 167; Fi-scher, § 138 Rn. 18; Tag, JR 1995, 133, 134; a.A.:Joecks, § 138 Rn. 20).

Eine in der Praxis immer wieder auftretende Konstel-lation ist die, dass sich nicht mit Sicherheit klärenlässt, ob derjenige, der trotz Kenntnis vom Vorhabeneiner Katalogtat diese nicht angezeigt hat, an der an-zuzeigenden Tat beteiligt war oder nicht.

Der BGH hatte diese Fälle bisher immer über einedoppelte Anwendung des Zweifelssatzes gelöst undden Angeklagten insgesamt freigesprochen (BGHSt36, 167, 174; 39, 164, 167; BGH, NStZ 1982, 244;StV 1988, 202): Bei der Prüfung der Strafbarkeit we-gen Beteiligung an der Katalogtat wurde bei entspre-chenden Zweifeln “in dubio pro reo” zugunsten desAngeklagten davon ausgegangen, dass er an diesernicht beteiligt sei, sodass eine entsprechende Verurtei-lung ausschied; hinsichtlich der Strafbarkeit gem. §138 I StGB wurde dann aber “in dubio pro reo” davonausgegangen, dass der Angeklagte doch an der Kata-logtat beteiligt sei, was dann natürlich wiederum dieStrafbarkeit gem. § 138 I StGB ausschloss. Die herr-schende Literatur hat diese Lösung seit jeher abge-lehnt und betont, dass § 138 StGB dasselbe Rechtsgutschütze wie der jeweilige Katalogtatbestand, weswe-gen zwischen diesen beiden Delikten ein normativ-ethisches Stufenverhältnis bestünde, was bei Zweifeln

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dazu führe, dass aus (dem milderen) § 138 StGB be-straft werden könne (Joecks, § 138 Rn. 28; Lac-kner/Kühl, § 138 Rn. 6; Schönke/Schröder-Cra-mer/Sternberg-Lieben, § 138 Rn. 29; SK-Rudolp-hi/Stein, § 138 Rn. 34; Joerden, JZ 1988, 847, 853;Tag, JR 1995, 133). Dies ergebe sich außerdem auseinem Vergleich mit der Konstellation der sog. Prä-pendenz: Wenn eine Strafbarkeit wegen Verbrechens-verabredung, § 30 II StGB, an sich sicher feststeht,aber darüber hinaus die Möglichkeit einer Strafbarkeitwegen Beteiligung an der verabredeten Tat besteht(wohinter die Verabredung eigentlich als mitbestrafteVortat zurücktreten würde), so wird der Täter eindeu-tig wegen der Verbrechensverabredung bestraft (No-rouzi, JuS 2008, 113, 115). Da die beschriebene Kon-stellation i.R.v. § 138 StGB der Präpendenz sehr ähn-lich sei, müsse sie entsprechende gelöst werden. Auchder 4. Strafsenat des BGH hatte - in einem obiter dic-tum, also ohne Entscheidungsrelevanz - bereits ange-kündigt, sich dieser Auffassung anschließen zu wollen(NStZ 2004, 499).

Der 5. Strafsenat, der sich unter Aufgabe der bisher-igen Rechtsprechung der Literaturauffassung anschlie-ßen wollte, musste gem. § 132 II GVG zunächst beiden anderen BGH-Strafsenaten anfragen, ob dieser miteiner entsprechenden Rechtsprechungsänderung ein-verstanden seien, was alle bejaht haben. Daraufhin hatder 5. Strafsenat im vorliegenden Urteil die bisherigeRechtsprechung aufgegeben und sich - auch unterÜbernahme von deren Argumentation - der herrschen-den Literaturauffassung angeschlossen.

Vertiefungshinweise:

“ Zur Anwendung des Zweifelssatzes i.R.v. § 138StGB: BGHSt 36, 167; 39, 164; BGH, MDR/H 1979,635; NStZ 1982, 244; 2004, 499; StV 1988, 202; Joer-den, JZ 1988, 847, 853; Tag, JR 1995, 133

Leitsatz:Eine Verurteilung wegen Nichtanzeige geplanterStraftaten wird nicht dadurch ausgeschlossen, dassder Verdacht der Beteiligung an einer in § 138 Abs.1 und 2 StGB bezeichneten Katalogtat fortbesteht.

Sachverhalt:[3] Der Angeklagte hatte bereits Mitte 2007 erfahren,dass sein Bruder Y (rechtskräftig verurteilt wegenschwerer räuberischer Erpressung, vgl. Senats-beschluss vom 13. Oktober 2009 - 5 StR 409/09) undihr gemeinsamer Freund Z planten, ein Bekleidungs-geschäft in Berlin zu überfallen. Y und der in demBekleidungsgeschäft angestellte Z entschlossen sich,die Tat am Abend des 4. Oktober 2008 auszuführen.Der Angeklagte wurde davon unterrichtet und durchseinen Bruder gebeten, mit ihm “zusammen den Über-

fall durchzuführen”, was er indes ablehnte. Am Tat-abend gegen 19 Uhr trafen sich der Angeklagte, des-sen Bruder sowie Z, der Y dabei über Geschäftsinter-na, den Tresor sowie die bestehenden technischen Si-cherungen informierte. Der Angeklagte lehnte auf er-neute Nachfrage seines Bruders eine Teilnahme andem Überfall ab. Gegen 21 Uhr trafen der Angeklagteund sein Bruder den anderweitig verfolgten H. Diesererklärte sich auf Vorschlag des Y bereit, gemeinsammit diesem den Raubüberfall zu begehen. Der Ange-klagte hielt sich weiterhin aus sämtlichen Planungenheraus, nahm aber zur Kenntnis, dass H und Y auchden Einsatz einer geladenen Schreckschusspistole beider Tatbegehung vereinbarten. Alle drei begaben sichsodann in die Nähe des Tatorts, wo sich der Angeklag-te von seinem Bruder und H trennte. Der Raubüberfallwurde sodann gegen 22 Uhr desselben Abends plange-mäß und entsprechend den Informationen des Z durchY und H ausgeführt, die dabei etwa 40.000 i erbeute-ten.

Aus den Gründen:[1] Das Landgericht hat den Angeklagten wegenNichtanzeige geplanter Straftaten zu einer Freiheits-strafe von zehn Monaten verurteilt. Die allein auf dieallgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklag-ten bleibt ohne Erfolg.

1. Entscheidung und rechtliche Würdigung des Land-gerichts[2] Das Landgericht hat folgende Feststellungen undWertungen getroffen: [...]

b) “In dubio pro reo” keine Verurteilung wegen Be-teiligung an dem Überfall[4] Obgleich am Tatort DNA-Spuren des Angeklagtensichergestellt wurden und die anderweitig VerfolgtenH und Z dessen aktive Beteiligung jedenfalls bei derTatplanung - wenngleich nicht übereinstimmend - be-kundeten, vermochte sich die Strafkammer “mangelsweiterer Beweise” nicht von einer Tatbeteiligung desAngeklagten an dem Raubüberfall zu überzeugen. Sieist daher “zu seinen Gunsten davon ausgegangen”,dass er entsprechend seiner Einlassung trotz Kenntnisvon der bevorstehenden Umsetzung des Tatplans kei-nen Versuch unternahm, seinen Bruder von der Tat-begehung abzuhalten oder die Polizei zu informieren,obgleich ihm dies möglich war.

c) Verurteilung wegen § 138 StGB[5] Die Strafkammer vermochte mithin unter Anwen-dung des Zweifelssatzes eine Beteiligung des Ange-klagten an der schweren räuberischen Erpressungnicht festzustellen. Dies stehe einer Verurteilung we-gen Nichtanzeige geplanter Straftaten indes nicht ent-gegen, denn entsprechend BGHR StGB § 138 Anzei-

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gepflicht 6 sei eine doppelte Anwendung des Zwei-felssatzes zugunsten des Angeklagten wegen des zwi-schen der Katalogtat des § 138 StGB und dem straf-bewehrten Verstoß gegen die Anzeigepflicht bestehen-den normativ-ethischen Stufenverhältnisses nicht ge-boten.

2. Bisherige Rechtsprechung des BGH zur Anwendungdes Zweifelssatzes bei § 138 StGB[6] Für die Entscheidung des Senats über die Revisiondes Angeklagten im vorliegenden Verfahren war dieRechtsfrage erheblich, ob bei fortbestehendem Ver-dacht einer Beteiligung an einer in § 138 Abs. 1 und 2StGB bezeichneten Katalogtat der Zweifelssatz eineVerurteilung wegen Nichtanzeige geplanter Straftatenhindert. In der Rechtsprechung der Strafsenate desBundesgerichtshofs war es bislang anerkannt, dass indiesem Fall ein Freispruch zu erfolgen hat.

a) Keine Strafbarkeit gem. § 138 StGB bei Beteiligungan der anzuzeigenden Tat[7] Als tauglicher Täter des § 138 StGB scheide aus,wer an der geplanten Katalogtat als Täter, Anstifteroder Gehilfe - auch durch Unterlassen - beteiligt istoder straflose Vorbereitungshandlungen zur Tatpla-nung beisteuert; die Tat müsse eine völlig fremde sein(vgl. BGHSt 36, 167, 169; 39, 164, 167; BGHR StGB§ 138 Anzeigepflicht 2, 5; BGH NJW 1964, 731, 732,insoweit in BGHSt 19, 167 nicht abgedruckt; BGHNStZ 1982, 244; wistra 1992, 348, 349; vgl. fernerHanack in LK 12. Aufl. § 138 Rdn. 42 m.w.N.). Vonder Strafbarkeit wegen Verletzung der Anzeigepflichtebenfalls befreit sei, wer nach Abschluss der Beweis-aufnahme der Beteiligung an der nicht angezeigten Tatverdächtig bleibt (BGHSt 36, 167, 169; 39, 164, 167;BGHR StGB § 138 Anzeigepflicht 2, 5; BGH NJW1964, 731, 732; StV 1988, 202; MDR/H 1979, 635;Hanack aaO Rdn. 48; Cramer/Sternberg-Lieben inSchönke/Schröder StGB 27. Aufl. § 138 Rdn. 20/21;aA Schmidhäuser in Festschrift für Bockelmann[1979] S. 683, 697; Westendorf, Die Pflicht zur Ver-hinderung geplanter Straftaten durch Anzeige 1999 S.156 m.w.N.). Lediglich die Möglichkeit, sich durchdie Gebotserfüllung der Beteiligung an der geplantenStraftat selbst verdächtig machen zu können, reichefür den Ausschluss des Tatbestandes indes noch nichtaus (vgl. BGHSt 36, 167, 170; aA Joerden Jura 1990,633, 638).

b) Zur Anwendung des Zweifelssatzes i.R.v. § 138StGB bei Verdacht der Beteiligung an der Katalogtat[8] Hiernach müsse mit Rücksicht auf den Zweifels-satz nicht nur eine Verurteilung des Angeklagten we-gen der Katalogtat unterbleiben, wenn sich das Tatge-richt nach Abschluss der Beweisaufnahme nicht vonder Beteiligung des Angeklagten an der ihm zur Last

gelegten Katalogtat des § 138 Abs. 1 und 2 StGB zuüberzeugen vermochte, sondern es scheide auch eineVerurteilung nach § 138 StGB aus, wenn der Verdachtder Beteiligung an der Katalogtat fortbesteht. Denn imWege neuerlicher (doppelter) Anwendung des Zwei-felssatzes sei die Beteiligung an der Katalogtat zu un-terstellen, deren Nichtvorhandensein nicht sicher fest-gestellt, aber auch nicht ausgeschlossen werden konn-te. Auch eine Wahlfeststellung zwischen den Verge-hen des § 138 StGB und der strafbaren Beteiligung seiauf Grund mangelnder Vergleichbarkeit beider Ver-haltensweisen ausgeschlossen; mithin sei der Ange-klagte in dieser Konstellation freizusprechen (BGHSt36, 167, 174; 39, 164, 167; BGHR StGB § 138 An-zeigepflicht 1, 2; BGH MDR/H 1979, 635, 636; NStZ1982, 244; StV 1988, 202).

3. Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung nachDurchführung eines Anfrageverfahrens gem. § 132 IIGVG[9] Der erkennende 5. Strafsenat hat diese Rechtsfragemit Beschluss vom 13. Januar 2010 zum Gegenstandeines Anfrageverfahrens nach § 132 Abs. 2 GVG ge-macht. Der 1., 2. und 4. Strafsenat haben der Rechts-ansicht des Senats zugestimmt, nach der eine Verurtei-lung auch bei fortbestehendem Verdacht einer Beteili-gung möglich ist. Der 3. Strafsenat hat mitgeteilt, ei-gene Rechtsprechung stehe der beabsichtigten Ent-scheidung nicht entgegen. Der erkennende Senat ent-scheidet nunmehr unter Aufgabe eigener Rechtspre-chung im Sinne des Anfragebeschlusses.

4. Zur Strafbarkeit gem. § 138 StGB im vorliegendenFall[10] Der Schuldspruch der Strafkammer begegnet kei-nen sachlichrechtlichen Bedenken. Eine doppelte An-wendung des Zweifelssatzes ist in der vorgenanntenKonstellation rechtlich nicht geboten.

a) Zum Verhältnis von § 138 StGB und Katalogtat[11] Vielmehr ist die Möglichkeit einer eindeutigenVerurteilung des Angeklagten wegen einer Straftatnach § 138 StGB eröffnet. Zwischen der Katalogtatund ihrer Nichtanzeige nach § 138 StGB besteht einnormativ-ethisches Stufenverhältnis. Erforderlich da-für ist, dass die alternativ in Betracht kommendenStraftaten einen gegen dasselbe Rechtsgut gerichteten,in der Intensität indes abgestuften Angriff aufweisen(vgl. Wolter, Wahlfeststellung und in dubio pro reo1987 S. 64 ff.; Dannecker in LK 12. Aufl. Anh. zu § 1Rdn. 60, 91; Rudolphi/Wolter in SK-StGB 110. Lfg.Anh. zu § 55 Rdn. 21 ff.; Frister in NK 3. Aufl. nach §2 Rdn. 49; jeweils m.w.N.). Gegebenenfalls kann nachdem Zweifelssatz aus dem milderen Gesetz verurteiltwerden.[12] Der Unrechtsgehalt der Nichtanzeige geplanter

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Straftaten geht vollständig in dem der Katalogtat auf.[13] Der Bundesgerichtshof hat bereits entschieden,dass durch § 138 StGB die Rechtsgüter der dort ge-nannten Katalogtaten mittelbar geschützt werden (vgl.BGHSt 42, 86, 88). Der 4. Strafsenat hat erklärt, erneige der Annahme eines normativen Stufenverhält-nisses zwischen Katalogtat und § 138 StGB (vgl.BGHR StGB § 138 Anzeigepflicht 6) und damitweitergehend einer zwischen beiden bestehendenRechtsgutsidentität zu.[14] Eine solche Rechtsgutsidentität entspricht derüberwiegenden Ansicht in der Literatur (vgl. WolteraaO S. 66 Fn. 51; Rudolphi/Stein in SK-StGB 66. Lfg.§ 138 Rdn. 2; Hanack aaO Rdn. 2, 75; Cra-mer/Sternberg-Lieben aaO Rdn. 1; Lackner/Kühl,StGB 26. Aufl. § 138 Rdn. 1; Fischer, StGB 57. Aufl.§ 138 Rdn. 3; Maurach/Schroeder/Maiwald, StGB BTII 9. Aufl. § 98 Rdn. 17; Rudolphi in Festschrift fürRoxin [2001] S. 827, 837; Westendorf aaO S. 167; aAHohmann in MünchKomm StGB § 138 Rdn. 25). Die-se hebt zur Begründung zu Recht auf das tatbestandli-che Erfordernis ab, dass eine Anzeigepflicht nicht all-gemein, sondern nur dann und damit zum Schutze desvon der Katalogtat Gefährdeten besteht, wenn der Tä-ter von dem Vorhaben zu einer Zeit erfährt, zu wel-cher der Katalogtaterfolg noch abgewendet werdenkann (vgl. nur Rudolphi/Stein aaO). Unter Hinweisdarauf, dass zur Gebotserfüllung bereits die Anzeigean den Bedrohten ausreicht, wird auch unter Berück-sichtigung der systematischen Stellung der Norm zu-treffend ein (gleichzeitig) bezweckter Schutz derRechtspflege ausgeschlossen. Der Unrechtsgehalt derNichtanzeige liegt demzufolge in der Gefährdung ge-rade des Rechtsguts, das durch die anzuzeigende Kata-logtat verletzt wird; er bleibt lediglich quantitativ - imSinne einer Vorstufe zur Teilnahme - dahinter zurück(Rudolphi/Stein aaO Rdn. 35; Wolter aaO).

b) Zur Möglichkeit einer Verurteilung aus § 138 StGBbei Verdacht der Beteiligung an der Katalogtat[15] Bleibt der Angeklagte der Katalogtatbeteiligungnach abgeschlossener Beweisaufnahme verdächtig, ister aus § 138 StGB als dem milderen Gesetz zu bestra-fen. Der von ihm (mit-)verursachte tatbestandlicheUnrechtserfolg ist ihm - freilich in einer im Vergleichzum Täter der Katalogtat abgestuften Intensität - zu-zurechnen (vgl. Rudolphi/Stein aaO; Hanack aaO;Wolter aaO). Der Grundsatz in dubio pro reo überwin-det fortbestehende Zweifel über den vom Täter ver-wirklichten Zurechnungsgrad zugunsten einer minde-ren Zurechnungsform (vgl. Wolter aaO S. 63).[16] Das so gefundene Ergebnis - eindeutige Verurtei-lung des der Katalogtat weiterhin Verdächtigen nachdem echten Unterlassungsdelikt - fügt sich ohne Brü-che in die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zuvergleichbaren Konstellationen ein. So hat der Bun-

desgerichtshof bereits für Täterschaft und Teilnahme(vgl. BGHSt 31, 136, 138; 43, 41, 53; BGH NStZ-RR1997, 297), Vorsatz und Fahrlässigkeit (vgl. BGHSt32, 48, 57) sowie insbesondere für die Beteiligung ander Begehungstat und unterlassene Hilfeleistung (vgl.BGHSt 39, 164, 166) entschieden (zum Verhältnis §323a StGB und Rauschtat vgl. Fischer aaO § 323aRdn. 11a ff.). Auf diese Weise werden sachwidrigeStrafbarkeitslücken vermieden (Wolter aaO S. 63;Westendorf aaO S. 168) und die für das Verteidi-gungsverhalten des Angeklagten notwendige Rechts-sicherheit geschaffen (vgl. Joerden Jura 1990, 633,640 f.).[17] Die Entscheidung auf eindeutiger Grundlage un-ter Anwendung des Zweifelssatzes geht einer - hierüberdies möglicherweise fraglichen - (echten) Wahl-feststellung vor (vgl. Dannecker aaO Rdn. 58 ff.; Ru-dolphi/Wolter aaO Rdn. 15, 20). Die Wahlfeststellunghätte eine nicht gerechtfertigte Bemakelung des Ange-klagten mit einem Schuldspruch zur Folge, der zu-gleich eine schwerere, allerdings zweifelhaft gebliebe-ne Strafbarkeit ausdrücken würde.

c) Zu den Bedenken des 3. Senats[18] Die im Antwortbeschluss des 3. Strafsenats vom9. März 2010 - 3 ARs 3/10 geltend gemachten Beden-ken teilt der Senat nicht. Dass die bisherige Rechtspre-chung - ohne ausdrückliche dogmatische Einordnungin den Verbrechensaufbau - dem erwiesenermaßenVortatbeteiligten eine Anzeigepflicht erlässt (vgl. dieNachweise zu 2a), verhindert zu seinen Gunsten einezusätzliche Strafbarkeit aus § 138 StGB; dies zwingt -zumal im Blick auf das Fehlen einer ausdrücklichentatbestandlichen Voraussetzung der Fremdheit einerKatalogtat - nicht zu einer Gleichbehandlung mit denFällen echter Wahlfeststellung. Vielmehr kann mit dervom Senat vorgenommenen Interpretation das beste-hende Spannungsverhältnis aufgelöst werden. Bei denhier alternierenden Straftatbeständen ist eine eindeuti-ge Verurteilung auf mehrdeutiger Tatsachengrundlageerfolgt. Allein die Intensität der Zurechnung des Un-rechtserfolges ist nach Abschluss der Beweisaufnah-me zweifelhaft geblieben, was sich zugunsten des Tä-ters auswirkt. Die vom 3. Strafsenat erwogene Ver-urteilung des Angeklagten im Wege der sogenanntenPräpendenzfeststellung würde zum selben Ergebnisführen (vgl. Joerden JZ 1988, 847, 853; Küper in Fest-schrift für Lange [1976] S. 65, 79).

5. Kein Prozesshindernis wegen unwirksamer Anklage[19] Auch die Verfahrensvoraussetzung einer wirk-samen Anklageerhebung für den Schuldspruch nach §138 StGB liegt vor. Denn in der angeklagten Beteili-gung an einer Katalogtat des § 138 StGB ist zugleich -im Sinne prozessualer Tatidentität (vgl. §§ 264, 155StPO) - der Vorwurf enthalten, die beabsichtigte Be-

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gehung dieses Delikts nicht angezeigt zu haben. Die-ser Vorwurf untersteht damit ebenfalls tatrichterlicherKognition (vgl. BGHSt 32, 215, 219; 36, 167, 169;BGHR StPO § 264 Abs. 1 Tatidentität 37; BGH NStZ1993, 50; NStZ-RR 1998, 204; BGH, Urteil vom 24.Januar 2003 - 2 StR 215/02 S. 9, insoweit in BGHSt48, 183 nicht abgedruckt).

6. Zum fehlenden Vertrauensschutz des Angeklagten[20] Der Einwand des Revisionsführers, seine Ver-urteilung sei unfair, weil er sich bei seiner Einlassungauf das Fortbestehen entgegenstehender Rechtspre-chung verlassen habe, ist von vornherein unschlüssig.Denn der Angeklagte musste damit rechnen, das Tat-

gericht werde seiner Einlassung glauben. Abgesehendavon greift der Einwand mit Blick auf veröffentlichteZweifel an der bestehenden Rechtsprechung nichtdurch (vgl. BGHR StGB § 138 Anzeigepflicht 6; Cra-mer/Sternberg-Lieben aaO § 138 Rdn. 29; dazuBGHSt 52, 307, 313).

7. Keine Kompensation wegen überlanger Verfahrens-dauer[21] Eine Kompensation in der Rechtsfolge wegen derdurch das Verfahren nach § 132 GVG verursachtenVerfahrensdauer ist hier nicht veranlasst (vgl. BVerf-GE 122, 248, 280; BGH NStZ 2010, 162, 163).

Standort: § 261 II Nr. 1 StGB Problem: Willensmängel des Vortäters

BGH, URTEIL VOM 04.03.2010

1 STR 95/09 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:Die Angeklagten wussten, dass M, der eineKapitalanlage-GmbH betrieb, von den Kunden seinerFirma erhebliche Gelder durch gewerbsmäßigen Be-trug, §§ 263 I, III 2 Nr. 1 StGB, erlangt und beiseitegeschafft hatte, um seinen eigenen luxuriösen Lebens-stil zu finanzieren. Die Angeklagten beschlossen, Mdiese Gelder wieder abzunehmen um sie für sich zuverwerten. Um dies zu ermöglichen, kauften sie beieinem Gläubiger des M einen gegen diesen gerichtetenTitel. Um die Vollstreckung dieses Titels zu sichernerwirkten sie einen Arrest gegen das Vermögen dervon M betriebenen GmbH, weil einer der Angeklagtenbei Gericht eine falsche eidesstattliche Versicherungabgab, in der er versicherte, dass M sein Privatvermö-gen im Vermögen der GmbH “verstecke”. Die Ange-klagten wussten, dass die so bewirkte Sperrung derGesellschaftskonten erhebliche Probleme für M ver-ursachen würde, da dies insbesondere dazu führenwürde, dass seine Betrugstaten gegenüber den Anlage-kunden auffliegen würden. Deshalb konnten sie Munter Druck setzen und zum Abschluss eines Ver-gleichs zwingen, in dem M sich verpflichtete, erhebli-che Teile der durch die Betrugstaten erwirtschaftetenGelder an die Angeklagten auszuzahlen, was dieserauch tat.

Das Landgericht München I hatte die Angeklagtenaufgrund dieses Verhaltens insb. wegen Geldwäsche,§ 261 I, II Nr. 1 StGB, verurteilt. Gegen diese Verur-teilung wandten sich die Angeklagten mit der Revisi-on, mit der sie rügten, dass ihr Verhalten kein “Sich-Verschaffen” i.S.v. § 261 II Nr. 1 StGB darstelle, daein solches stets voraussetze, dass Vortäter und Geld-wäscher einvernehmen zusammenwirkten. Gerade diessei aber im vorliegenden Fall, in dem die Angeklagten

durch Drohung auf M eingewirkt hatten, nicht gege-ben. Der BGH wies die Revision als unbegründet zu-rück. Ein “Sich-Verschaffen” i.S.v. § 261 II Nr. 1StGB setze zwar voraus, dass Vortäter und Geldwä-scher einvernehmlich zusammenwirkten. Dies sei je-doch auch dann der Fall, wenn der Geldwäscher mitTäuschung oder - wie hier - Drohung auf den Vortätereinwirke. Ein kollusives Zusammenwirken der beidensei hingegen nicht erforderlich.

Prüfungsrelevanz:

Der im vorliegenden Fall vom BGH diskutierte Tat-bestand der Geldwäsche, § 261 StGB, gehört zwar inden meisten Bundesländern zum Prüfungsstoff in bei-den Examen, ist jedoch eher selten Gegenstand vonExamensaufgaben. In der vorliegenden Entscheidungkommt der BGH jedoch zu dem Ergebnis, dass dasTatbestandsmerkmal des “Sich-Verschaffens” bei §261 II Nr. 1 StGB anders auszulegen ist als das gleich-lautende Tatbestandsmerkmal bei der Hehlerei, § 259I StGB. Da im Rahmen der Hehlerei aber die Frage,ob Willensmängel des Vortäters ein “Sich-Verschaf-fen” i.S.v. § 259 I StGB ausschließen, ein klassischesExamensproblem darstellt, ist zu erwarten, dass dievorliegende Entscheidung auch bei Fällen zur Heh-lerei herangezogen wird, um eine Parallelwertungdurchzuführen. Somit dürfte sie eine nicht unerhebli-che Examensrelevanz besitzen, gerade im Hinblick aufPrüfungsgespräche in mündlichen Prüfungen.

Der Tatbestand der Geldwäsche, § 261 StGB, ist vomGesetzgeber mit der Intention geschaffen worden, zuverhindern, dass illegal (insb. durch Straftaten des sog.“organisierten Verbrechens”) erworbene Vermögens-werte straflos in “legales” Vermögen umgewandeltwerden können (BGH, NJW 1997, 3322; Schönke/Schröder-Stree, § 261 Rn. 1). Insofern hat § 261 StGBeine ähnliche Funktion wie die Hehlerei, § 259 StGB,die auch die Verwertung von Sachen, die durch Ver-

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mögensdelikte erlangt wurden, unter Strafe stellt. Eineweitere Parallele zwischen § 261 StGB und § 259StGB besteht darin, dass beide Tatbestände die Tat-handlung des “Sich-Verschaffens” nennen, § 259 IStGB bzw. § 261 II Nr. 1 StGB.

Im Rahmen von § 259 I StGB besteht Einigkeit darü-ber, dass ein “Sich-Verschaffen” stets voraussetzt,dass der Hehler das Tatobjekt im Einvernehmen mitdem Vortäter übernimmmt, weswegen es z.B. keinSich-Verschaffen darstellt, wenn der Hehler dem Vor-täter das Hehlereiobjekt eigenmächtig wegnimmt(BGHSt 7, 134, 137; Schönke/Schröder-Stree, § 259Rn. 42). Streitig ist im Rahmen des Hehlereitatbestan-des jedoch, ob ein “Sich-Verschaffen” i.S.v. § 259 IStGB auch bei Willensmängeln des Vortäters gegebenist, d.h. wenn der Hehler durch Drohung oder Täu-schung auf den Vortäter einwirkt, um so das Hehler-eiobjekt zu erlangen (vgl. hierzu die Darstellung imSkript Strafrecht BT I, Rn. 561). Eine Mindermeinunggeht davon aus, dass solche Willensmängel des Vortä-ters ein “Sich-Verschaffen” i.S.v. § 259 I StGB nichtausschließen, da dieses nur ein einverständliches,nicht jedoch ein willensmangelfreies oder gar kollusi-ves Zusammenwirken von Vortäter und Hehler vor-aussetze (RGSt 35, 278, 281; Schönke/Schröder-Stree,§ 259 Rn. 42; Berz, JURA 1980, 57, 61). Nach herr-schender Meinung, der insbesondere auch der BGHfolgt, scheidet jedoch ein “Sich-Verschaffen” i.S.v. §259 I StGB bei Willenmängeln des Vortäters aus, dadie Hehlerei gerade durch ein einvernehmliches Zu-sammenwirken von Vortäter und Hehler gekennzeich-net sei, das in den genannten Fällen jedoch fehle(BGHSt 42, 196, 198; Fischer, § 259 Rn. 16; Joecks, §259 Rn. 17; Rengier, BT I, § 22 Rn. 21a; Wes-sels/Hillenkamp, BT II, Rn. 858; Zöller/Frohn, JURA1999, 378, 381 f.).

In dem vorliegenden Urteil betont der BGH jedoch,dass es sich bei dieser Wertung um eine tatbestands-spezifische (enge) Auslegung des Tatbestandsmerk-mals “Sich-Verschaffen” der Hehlerei handele, diedeshalb - trotz des insofern identischen Wortlauts -nicht ohne Weiteres auf den Tatbestand der Geldwä-sche übertragen werden könne. Bei § 261 StGB erfas-se die Tathandlung des Sich-Verschaffens - anders alsbei § 259 I StGB - auch die Fälle, in denen der Geld-wäscher mit Täuschung oder Drohung auf den Vortä-ter einwirke. Zu diesem Ergebnis kommt der BGHdurch eine fast schon schulmäßige Auslegung des Tat-bestandes des § 261 II Nr. 1 StGB anhand der klassi-schen Auslegungsmethoden (Wortlaut, Sinn undZweck, Entstehungsgeschichte). Die sich so ergebendeunterschiedliche Auslegung der gleichlautenden Tat-handlungen von § 259 I StGB und § 261 II Nr. 1 StGBbegründet der BGH zwar mit den unterschiedlichenSchutzzwecken, sie ist jedoch deshalb überraschend,

da die ganz herrschende Literaturauffassung immerdavon ausgegangen war, dass diese Tatbestandsmerk-male einen identischen Inhalt hätten (Fischer, § 261Rn. 24; Schönke/Schröder-Stree, § 261 Rn. 13; Ren-gier, BT I, § 23 Rn. 13).

Vertiefungshinweise:“ Zum Sich-Verschaffen i.S.v. § 261 II Nr. 1 StGB:BGH, StV 1997, 588; OLG Frankfurt, NJW 2005,1727

“ Zum Sich-Verschaffen i.S.v. § 259 I StGB, insb. beiWillensmängeln des Vortäters: BGHSt 42, 196; Berz,JURA 1980, 57; Zöller/Frohn, JURA 1999, 378

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Leitsätze:1. “Sich-Verschaffen” im Sinne des § 261 Abs. 2Nr. 1 StGB fordert kein kollusives Zusammenwir-ken von Geldwäscher und Vortäter. Dieses Tatbe-standsmerkmal verlangt nur, dass der Geld-wäscher die Verfügungsgewalt über den inkrimi-nierten Gegenstand im Einvernehmen mit demVortäter erlangt.2. Einvernehmen setzt nicht voraus, dass das Ein-verständnis des Vortäters frei von Willensmängelnist. Deshalb ist es ohne Bedeutung, wenn der Vor-täter infolge von Täuschung oder Nötigung in dieÜbertragung der Verfügungsgewalt “einwilligt”.

Sachverhalt:Fall B.II. der Urteilsgründe:1. [11, 12] Im Sommer 2004 hatten die Angeklagten Eund R Kenntnis davon, dass M seinen luxuriösen Le-bensstil jedenfalls im Wesentlichen fortlaufend durchdie vertragswidrige Verwendung der Kapitaleinlagender Anleger der A-GmbH finanzierte.[13] Anfang der zweiten Jahreshälfte des Jahres 2004beschlossen die Angeklagten R und E zusammen mitden Angeklagten Ga (Notar im Ruhestand) und G (vonBeruf Rechtsanwalt), Gelder der A-GmbH an sich zubringen und diese unter sich aufzuteilen. Sie rechnetendamit - die Angeklagten Ga und G jedenfalls zumZeitpunkt der am 3. September 2004 getroffenen Ver-einbarung -, dass M diese Gelder, die abredewidrignicht auf Sonderkonten verwahrt waren, in betrügeri-scher Absicht eingeworben hatte, um fortlaufend er-hebliche Einnahmen zu erzielen. Der Plan sah vor, Maufgrund seiner Stellung als Alleingesellschafter undGeschäftsführer der A-GmbH zur Zahlung zu zwin-gen. In Ausführung dieses Plans gingen die Angeklag-ten wie folgt vor:2. [14] Ersichtlich deshalb, um ein Druckmittel gegen

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M in die Hand zu bekommen, verschafften sich dieAngeklagten eine gegen M persönlich gerichtete For-derung, von der die Angeklagten E und R Kenntnishatten. Zu diesem Zweck kaufte der Angeklagte G alsverdeckter Treuhänder für die Firma T - deren Gesell-schafter waren die Angeklagten E und R - mit Vertragvom 10. August 2004 von Ki dessen rechtskräftig titu-lierte Forderung gegen M, die sich - einschließlichZinsen - auf 1,46 Millionen Euro belief. Ki hatte ver-geblich versucht, die im Jahre 2000 titulierte Forde-rung zu vollstrecken. Der Kaufpreis für die Forderungbetrug 160.000 Euro. Dieser sollte nur beglichen wer-den, wenn die Vollstreckung tatsächlich erfolgreichwar. Die Forderung von Ki stand zudem in keinemZusammenhang mit der betrügerischen Einwerbungvon Anlegergeldern. Sie beruhte auf einer Inanspruch-nahme des Bruders von Ki aus einer etwa zwanzigJahre zurückliegenden Bürgschaft zugunsten von M.[15] Auf der Grundlage dieser - gegen M persönlichgerichteten - Forderung sollte ein Arrest, allerdingsnicht gegen M, sondern gegen die A-GmbH erwirktwerden, um deren Vermögenswerte zu pfänden. Aufdiese Art sollte M dazu gezwungen werden, Zahlun-gen an die Angeklagten zu leisten. Dabei rechnetendie Angeklagten damit, dass M die Forderung allen-falls zu einem geringen Teil aus eigenen Mitteln be-gleichen würde - zumal er sich in der Vergangenheitmehrmals bei Vollstreckungsversuchen als ver-mögenslos dargestellt hatte. Sie gingen vielmehr da-von aus, dass er hierzu zumindest zu einem wesentli-chen Teil - unter Verletzung der vertraglichen Ver-mögensbetreuungspflichten gegenüber den Kundender A-GmbH auf Gelder der Gesellschaft oder auchauf andere ihm ursprünglich von Kunden zur Geld-anlage übergebene Gelder zugreifen würde. Über die-se Gelder konnte er als Geschäftsführer der A-GmbH(im Außenverhältnis) verfügen.[16] Um M zu bestärken, auf die gestellten Forderun-gen einzugehen, trieben die Angeklagten E und R ein“doppeltes Spiel”. Sie gaben M, der sich ihnen anver-traut hatte, gegenüber vor, ihm durch die Stellung ei-ner Grundschuld und die Übernahme einer Bürgschafthelfen zu wollen (“Hallo Freindl! ... Wir stehen hinterDir und helfen, was wir können.”).3. [17] Auf Grundlage dieses von Ki erworbenen Ti-tels beantragte der Angeklagte G - dem gemeinsamenTatplan entsprechend - am 17. August 2004 unter demNamen Ki’s beim Landgericht München I den Erlasseines Arrestes gegen die A-GmbH. Dabei trug er vor,M verstecke sein privates Vermögen im Vermögen derA-GmbH, um es dem zivilrechtlichen Zugriff seinerpersönlichen Gläubiger zu entziehen. Deshalb haftedie Gesellschaft im Wege der “umgekehrten Durch-griffshaftung” auch für die Verbindlichkeiten ihresAlleingesellschafters M. Zur Glaubhaftmachung legteer eine entsprechende eidesstattliche Versicherung des

Angeklagten K vor (diesen Angeklagten betreffendwurde das Verfahren insofern gemäß § 154 Abs. 2StPO eingestellt). Aufgrund dieses Vortrags erließ dasLandgericht München I noch am selben Tag den be-antragten Arrest gegen die A-GmbH. Anschließenderwirkte der Angeklagte G am 19. August 2004 denErlass von Pfändungsbeschlüssen bezüglich der Kon-ten der A-GmbH - unter anderem bei der Sparkasse N.- und stellte diese den Drittschuldnern zu.[18] Die Pfändung der Konten der A-GmbH, auf de-nen sich die Kundengelder befanden, brachte für M -was den Angeklagten E, R, Ga und G bewusst war -“wirtschaftlich vernichtende Probleme” mit sich. Mmusste deshalb insbesondere befürchten, dass seineBetrugstaten zum Nachteil der Kunden der A-GmbHaufgedeckt und für die Zukunft unterbunden zu wer-den drohten. Das hätte “für ihn den Zusammenbruchseiner Geschäftstätigkeit und Existenz” bedeutet.4. [19] Nach der Kontenpfändung trat der AngeklagteG - wiederum im Namen Ki’s - absprachegemäß an Mheran und drängte diesen zum Abschluss eines Ver-gleichs. Dabei kündigte er weiterhin andauernde Voll-streckungsmaßnahmen gegen die A-GmbH an undstellte gleichzeitig die Einleitung strafrechtlicherSchritte in Aussicht. Er wies M insbesondere auf “dieProblematik seiner Kontoführung” hin, weil dieserentgegen den Zeichnungsvereinbarungen keine Treu-handkonten geführt habe und statt dessen über dieseKonten “der gesamte Aufwand der A. mitsamt (sei-nem) kostspieligen Lebenswandel abgewickelt” wer-de.[10] Gleichzeitig spiegelte der Angeklagte E gegen-über M, bewusst wahrheitswidrig und unter Verde-ckung seiner wahren Absichten vor, ihn bei der Erledi-gung dieser Angelegenheit durch Übernahme einerBürgschaft und Stellung einer Grundschuld über500.000 Euro unterstützen zu wollen, um ihn, so ge-täuscht, zum Abschluss einer Vereinbarung mit demAngeklagten G zu bewegen.5. [21] So “gezwungen”, schloss M am 3. September2004 als Ergebnis der Verhandlungen mit dem Ange-klagten G eine Vereinbarung, in der er unter anderemdie geltend gemachte Forderung anerkannte und sichverpflichtete, darauf sofort einen Betrag in Höhe von575.000 Euro zu zahlen. Außerdem verpflichtete Mdie A-GmbH, für seine - private - Verbindlichkeit alsGesamtschuldnerin zu haften.[22] Plangemäß verbürgte sich der Angeklagte E indieser Vereinbarung gegenüber dem Angeklagten Gselbstschuldnerisch unwiderruflich für M’s Verbind-lichkeit über einen Betrag von 500.000 Euro. Dies tater jedoch ausschließlich deswegen, damit der Verur-teilte M diese Vereinbarung auch abschloss.[23] Im Gegenzug verpflichtete sich der AngeklagteG, unter anderem nach Zahlung des Betrages von575.000 Euro und Abtretung der Grundschuld über

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500.000 Euro durch den Angeklagten E, unverzüglichdie Konten der A-GmbH bis auf einen Restbetrag von500.000 Euro freizugeben. Weiter verpflichtete ersich, in dieser Sache keine weiteren Zwangsvollstre-ckungsmaßnahmen mehr gegen M vorzunehmen unddie bisher eingeleiteten Maßnahmen zurückzunehmen.[24] Die Verpflichtung zur Abtretung der Grund-schuld durch den Angeklagten E als Voraussetzungder Einstellung der Zwangsvollstreckungsmaßnahmenseitens des Angeklagten G diente dabei dazu, einen“garantierten Vertragsbruch” M’s herbeiführen zukönnen, um erforderlichenfalls zusätzlichen Druck aufM ausüben zu können, damit dieser Gelder der A-GmbH auskehrt.6. [25] Zur Erfüllung dieser Vereinbarung ließ M am3. und 6. September 2004 über das Anderkonto seinesRechtsanwalts H insgesamt 575.000 Euro an den An-geklagten G überweisen. Einen Teilbetrag von450.000 Euro hatte er seinem Konto bei der Kantonal-bank Sc. entnommen, auf das er in der Vergangenheitsowohl nicht bemakelte Provisionen in Höhe von200.000 Euro als auch Anlagegelder der Kunden derA-GmbH überwiesen hatte. Die übrigen 125.000 Euroentnahm er einem Konto der F. auf das er ausschließ-lich Kundengelder der A-GmbH eingezahlt hatte. DieAngeklagten Ga, G, E und R teilten den erhaltenenGeldbetrag, wie von vorneherein vereinbart, unter sichauf.7. [26] Nach Auffassung der Kammer verstieß M da-mit gegen die besondere Zweckbindung der Kunden-gelder, die er für die A-GmbH vereinbart hatte. Wei-terhin entstand den Anlegern nach Ansicht des Land-gerichts dadurch auch ein Schaden in Höhe von375.000 Euro, weil durch die Zahlung eine “weitere,selbständige und wesentliche Vertiefung des Schadenseingetreten” sei, “indem die Anlegergelder für eineErfüllung der besonderen Verpflichtungen aus denZeichnungsvereinbarungen endgültig nicht mehr zurVerfügung gestanden” hätten.

Aus den Gründen:[1] Das Landgericht hat die Angeklagten E und R we-gen Betruges in sechs Fällen (Tatkomplex B.I. der Ur-teilsgründe) und Anstiftung zur Untreue in zwei Fällenjeweils in Tateinheit mit Geldwäsche (Fälle B.II. undIII. der Urteilsgründe) zu Gesamtfreiheitsstrafen vonvier Jahren (Angeklagter E) und von fünf Jahren undeinem Monat (Angeklagter R) verurteilt. Die Ange-klagten Ga und G wurden wegen Anstiftung zur Un-treue in zwei Fällen jeweils in Tateinheit mit Geld-wäsche (Fälle B.II. und III. der Urteilsgründe) jeweilszu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren undzehn Monaten verurteilt. Der Angeklagte K wurdewegen Untreue (Fall B.III. der Urteilsgründe) zu einerFreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Wegen einervon ihm festgestellten rechtsstaatswidrigen Verfah-

rensverzögerung hat das Landgericht ausgesprochen,dass von den verhängten (Gesamt-)Freiheitsstrafenvier Monate (Angeklagter K), fünf Monate (Angeklag-ter E), sechs Monate (Angeklagte Ga und G) bezie-hungsweise sieben Monate (Angeklagter R) als voll-streckt gelten.[2] Gegen dieses Urteil wenden sich die Revisionender Angeklagten, mit denen sie die Verletzung mater-iellen Rechts rügen. Die Angeklagten Ga, G, E und Rbeanstanden zudem das Verfahren. Die Verfahrens-rügen der Angeklagten Ga, G, E und R greifen aus denin den Antragsschriften des Generalbundesanwaltsvom 7. April 2009 ausgeführten Gründen nicht durch.Die Sachrügen führen diese Angeklagten betreffendzur Aufhebung des Urteils in dem aus dem Urteils-tenor ersichtlichen Umfang. Der Revision des Ange-klagten K bleibt der Erfolg versagt.

A. Zum Sachverhalt[3] Der Senat entnimmt dem Urteil folgende Feststel-lungen und Wertungen: [...]

B. Zu den Verfahrensrügen[36] Die Verfahrensrügen der Angeklagten Ga, G, Eund R greifen aus den in den Antragsschriften des Ge-neralbundesanwalts vom 7. April 2009 ausgeführtenGründen nicht durch.

C. Zur Sachrüge[37] Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Sach-rügen der Angeklagten hat zu folgendem Ergebnis ge-führt: [...]

[40] Fall B.II. der Urteilsgründe:[41] Die Angeklagten Ga, G, E und R sind zu Rechtwegen Geldwäsche [...] verurteilt worden. [...]

II. Geldwäsche (Fall B.II.); “Sich-Verschaffen” i.S.v.§ 261 II Nr. 1 StGB erfordert kein kollusives Zusam-menwirken von Vortäter und Geldwäscher[49, 50] Indem die Angeklagten Ga, G, E und R den Mdazu zwangen, auch von ihm betrügerisch eingewor-bene Anlegergelder in Höhe von 375.000 Euro an sieauszuzahlen, haben sie sich wegen Geldwäsche nach §261 Abs. 2 Nr. 1 StGB strafbar gemacht. Nach dieserBestimmung begeht Geldwäsche, wer “sich” meinenin § 261 Abs. 1 StGB bezeichneten Gegenstand “ver-schafft”. Vortat war hier ein gewerbsmäßig begange-ner Betrug des M (§ 261 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 Buchst. aStGB).[51] “Sich-Verschaffen” im Sinne des § 261 Abs. 2Nr. 1 StGB fordert kein kollusives Zusammenwirkenvon Geldwäscher und Vortäter. Dieses Tatbestands-merkmal verlangt nur, dass der Geldwäscher die Ver-fügungsgewalt über den inkriminierten Gegenstand imEinvernehmen mit dem Vortäter erlangt.

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[52] Einvernehmen setzt nicht voraus, dass das Ein-verständnis des Vortäters frei von Willensmängeln ist.Deshalb ist es ohne Bedeutung, wenn der Vortäterinfolge von Täuschung oder Nötigung in die Übertra-gung der Verfügungsgewalt “einwilligt”.

1. Wortlaut des § 261 II Nr. 1 StGB als Auslegungs-kriterium[53] Aus dem Wortlaut des Tatbestandsmerkmals“sich ... verschafft” lässt sich allerdings das Erforder-nis eines Einvernehmens - und damit auch das Einver-ständnis des Vortäters - noch nicht ableiten. Der Wort-laut spricht eher gegen eine solche Einschränkung,weil diese Tatvariante nur die Handlung des Geldwä-schers (“sich verschafft”) umschreibt.[54] Dementsprechend ist das Sich-Verschaffen inanderen Strafvorschriften, wie beispielsweise in § 96,§ 146 Abs. 1 Nr. 2 und 3, § 152a Abs. 1 Nr. 2 StGBauch weiter zu verstehen und schließt dort sogar einHandeln gegen oder ohne den Willen des früherenInhabers der Verfügungsgewalt ein. Das zeigt nament-lich die Auslegung der beiden Tatbestandsvarianten“erwirbt oder sich sonst verschafft” in § 29 Abs. 1Satz 1 Nr. 1 BtMG. Dazu hat der BGH (BGHSt 42,123, 128) ausgeführt:[55] “In § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG sind der unerlaubteErwerb und das Sichverschaffen in der Weise einan-der gegenübergestellt, dass u.a. mit Strafe bedroht ist,wer Betäubungsmittel unerlaubt erwirbt oder sich ‘insonstiger Weise’ verschafft. Daraus folgt, dass nachdem Sprachgebrauch des Gesetzes der unerlaubte Be-täubungsmittelerwerb im Sinne der rechtsgeschäftli-chen Erlangung der eigenen tatsächlichen Verfügungs-gewalt über Betäubungsmittel durch einverständlichesZusammenwirken mit dem Vorbesitzer lediglich einenUnterfall des grundsätzlich weiterreichenden, sämtli-che Fälle der Besitzerlangung umfassenden Sichver-schaffens darstellt.”[56] Der unterschiedliche Bedeutungsinhalt diesesTatbestandsmerkmals in anderen Straftatbeständenzeigt, dass das “Sich-Verschaffen” tatbestandsspezi-fisch - anhand des jeweiligen Normzwecks - auszule-gen ist (vgl. auch BGHSt 42, 196, 197 zur Hehlerei).

2. Sinn und Zweck des § 261 II StGB als Auslegungs-kriterium[57] Normzweck des § 261 Abs. 2 StGB ist es, denVortäter gegenüber der Umwelt zu isolieren, indemder aus einer der in § 261 Abs. 1 Satz 2 StGB genann-ten Straftaten herrührende Gegenstand “praktisch ver-kehrsunfähig” gemacht wird (BGH NStZ-RR 2010,53, 54). Der Isolierungstatbestand des § 261 Abs. 2StGB ist damit auf die Vortat bezogen und schütztzugleich deren Rechtsgüter (BT-Drucks. 12/989 S. 27;12/3533 S. 13).

a) Zum Erfordernis einer einvernehmlichen Er-langung des Geldwäschegegenstands[58] Deshalb verlangen Rechtsprechung und auch einTeil der Literatur, dass der Geldwäscher die Verfü-gungsgewalt über den inkriminierten Gegenstand aufabgeleitetem Wege, sprich im Einvernehmen mit demVortäter erlangt hat (BVerfG NJW 2004, 1305, 1306;BGH NStZ-RR 2010, 53, 54; Hoyer in SKStGB 120.Lfg. § 261 Rdn. 15; Ruß in LK 11. Aufl. § 261 Rdn.14; Neuheuser in MüKo-StGB § 261 Rdn. 66;BeckOK-StGB/Ruhmannseder § 261 Rdn. 31; Schrö-der/Textor in Fülbier/Aepfelbach/Langweg, GwG -Kommentar zum Geldwäschegesetz, 5. Aufl. § 261StGB Rdn. 42; Leip, Der Straftatbestand der Geldwä-sche, 2. Aufl. S. 140; Körner, Geldwäsche, Teil 1 Rdn.33; aA Altenhain in NK-StGB, 2. Aufl. § 261 Rdn.114; Lackner/Kühl, StGB 26. Aufl. § 261 Rdn. 8, 9;Otto, Grundkurs Strafrecht - BT, 7. Aufl. § 96 Rdn.34; Spiske, Pecunia olet? S. 133; Mitsch, Strafrecht -BT 2, § 5 Rdn. 33; Kindhäuser, Strafrecht - BT II, 4.Aufl. § 48 Rdn. 12). Der Senat hält an dieser Recht-sprechung fest. [59] Erlangt der Täter die Verfügungsgewalt über deninkriminierten Gegenstand ohne das Einverständnisdes Vortäters, also ohne oder gegen dessen Willen, sofehlt es am inneren Zusammenhang zwischen demIsolierungszweck des § 261 Abs. 2 StGB und der Äch-tung des Tatobjekts (BGH NStZ-RR 2010, 53, 54: ge-waltsame Wegnahme durch Raub ist kein Sich-Ver-schaffen).

b) Fehlen von Willensmängeln keine Voraussetzungfür Einvernehmen; Entstehungsgeschichte als Aus-legungskriterium[60] Einvernehmen setzt freilich nicht voraus, dass dasEinverständnis des Vortäters frei von Willensmängelnist. Deshalb ist es ohne Bedeutung, wenn der Vortäterinfolge von Täuschung oder Nötigung in die Übertra-gung der Verfügungsgewalt “einwilligt”. Diese Aus-legung belegt insbesondere die Entstehungsgeschichteder Vorschrift des § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB.[61] Der Straftatbestand der Geldwäsche, § 261 StGB,wurde durch Artikel 1 Nr. 19 des Gesetzes zur Be-kämpfung des illegalen Rauschgifthandels und andererErscheinungsformen der organisierten Kriminalitätvom 15. Juli 1992 (BGBl I 1302) in das StGB einge-fügt. Mit dessen Absatz 2 erfüllte der Gesetzgeber dieVerpflichtung aus Artikel 3 Abs. 1 Unterabs. c (i) des(Wiener) Übereinkommens der Vereinten Nationengegen den unerlaubten Verkehr mit Betäubungsmittelnund psychotrophen Stoffen vom 20. Dezember 1998.[62] Das Wiener Übereinkommen verpflichtete dieVertragsparteien in dem genannten Artikel u.a., den“Erwerb” (im englischen Originaltext “acquisition”)von Vermögensgegenständen als Straftat zu umschrei-ben, wenn der Betreffende bei Erhalt weiß, dass diese

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Vermögensgegenstände aus bestimmten Katalogtatenstammen. Artikel 3 Abs. 6 des Übereinkommens ent-hält zudem, auch für die Rechtsanwender eine Vorga-be, die gegen eine - vom Wortlaut nicht gebotene - zurestriktive Auslegung der Strafbestimmung spricht:[63] “Die Vertragsparteien sind bestrebt sicherzustel-len, dass eine nach ihrem innerstaatlichen Recht be-stehende Ermessensfreiheit hinsichtlich der Strafver-folgung von Personen wegen in Übereinstimmung mitdiesem Artikel umschriebener Straftaten so ausgeübtwird, dass die Maßnahmen der Strafrechtspflege inBezug auf diese Straftaten größtmögliche Wirkungerlangen, wobei der Notwendigkeit der Abschreckung... gebührend Rechnung zu tragen ist.”[64] Auch die Geldwäscherichtlinien (1. Richtlinie91/308/EWG vom 10. Juni 1991; 2. Richtlinie2001/97/EG vom 4. Dezember 2001; 3. Richtlinie2005/60/EG vom 26. Oktober 2005) verpflichten(auch hinsichtlich weiterer Katalogtaten als Vortat)dazu, u.a. den “Erwerb” von Gegenständen als Geld-wäsche zu bestrafen, wenn dem Betreffenden bei derÜbergabe dieser Vermögensstände bekannt war, dassdiese Gegenstände aus einer kriminellen Tätigkeitoder aus einer Teilnahme an einer solchen Tätigkeitstammen. Die Mitgliedstaaten können zur Verhinde-rung der Geldwäsche auch strengere Vorschriften er-lassen (Art. 5 der 3. Geldwäscherichtlinie) und auchweitere Straftaten benennen (Art. 1 E der 1.Geldwäscherichtlinie idF der 2. Geldwäscherichtli-nie).[65] Der Gesetzgeber, der danach auch die Möglich-keit gehabt hätte, (nur) den “Erwerb”Q unter Strafe zustellen, hat sich für die - weitergehende (vgl. § 29 Abs.1 Satz 1 Nr. 1 BtMG) - Tathandlung des “Sich-Ver-schaffens” entschieden. Schon das spricht dafür, dasser damit Tathandlungen, die über die engere Variante“Erwerb” hinausgehen, unter Strafe stellen wollte. Erwollte die Tathandlung des “Sich-Verschaffens” demHehlereitatbestand des § 259 StGB entnehmen, “sodass die dazu in Rechtsprechung und Literatur entwi-ckelten Grundsätze anwendbar sind” (BT-Drucks.12/989 S. 27 und 12/3533 S. 13).[66] Nach der zu diesem Zeitpunkt in Rechtsprechungund Schrifttum herrschenden Meinung - auf die derGesetzgeber Bezug nahm - war es für das Sich-Ver-schaffen noch ohne Bedeutung, ob im Rahmen des §259 Abs. 1 StGB der Vortäter durch Täuschung oderNötigung zur Übertragung der Herrschaftsgewalt ver-anlasst wurde (RGSt 35, 278, 281 [zum identischenMerkmal des “Ansichbringens”]; Dreher/Tröndle,StGB 45. Aufl. § 259 Rdn. 16; Lackner, StGB 19.Aufl. § 259 Rdn. 10; Stree in Schönke/Schröder, StGB24. Aufl. § 259 Rdn. 42; Ruß in LK 10. Aufl. § 259Rdn. 17 jew. m.w.N.; aA Rudolphi JA 1981, 1, 5; OttoJura 1988, 606, 607; Seelmann JuS 1988, 39, 40; aAmöglicherweise BGH wistra 1984, 22, 23, jedoch oh-

ne nähere Begründung). Der Senat entnimmt deshalbden Materialien, dass der Gesetzgeber bei der Schaf-fung der Vorschrift von diesem weiten Begriffsver-ständnis des Sich-Verschaffens ausging.[67] Dieselbe Auslegung des Merkmals “Sich-Ver-schaffen” in § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB rechtfertigt sichauch aus dem geschützten Rechtsgut dieser Vorschrift.Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die Strafvor-schrift gegen Geldwäsche dazu beitragen, die recht-lichen Möglichkeiten zur Abschöpfung illegal erlang-ter Gewinne zu verbessern (BT-Drucks. 12/3533 S.10/11). Sie soll den staatlichen Zugriff auf inkrimi-nierte Vermögenswerte gewährleisten und deren Ein-schleusen in den legalen Finanz- und Wirtschaftskreis-lauf verhindern (vgl. BT-Drucks. 12/989 S. 26;BGHSt 53, 205, 209; 50, 347, 354 m.w.N.). Geschütztwerden soll die Aufgabe der staatlichen Rechtspflege,die Wirkungen von Straftaten zu beseitigen (BT-Drucks. 12/3533 S. 11; BGHSt 53, 205, 209). Insbe-sondere § 261 Abs. 2 StGB soll - als Auffangtatbe-stand - auch dazu beitragen, den Vortäter in finanziel-ler Hinsicht gegenüber der Umwelt zu isolieren undden inkriminierten Gegenstand praktisch verkehrsun-fähig zu machen (BT-Drucks. 12/3533 S. 11; 12/989S. 27).[68] Dieses vom Gesetzgeber verfolgte Ziel kann nurdann - wie vom Wiener Übereinkommen verlangt -effektiv erreicht werden, wenn die Vorschrift des §261 StGB möglichst alle wirtschaftlichen Transaktio-nen im Zusammenhang mit den Katalogtaten weitge-hend erfasst und daraus resultierende wirtschaftlicheVorteile abgeschöpft werden und zwar unabhängigdavon, ob der Vortäter die Verfügungsgewalt über deninkriminierten Gegenstand aufgrund einer Willens-beeinflussung durch Täuschung oder Druck übertra-gen hat.

3. Kein Widerspruch zur Rechtsprechung zum “Sich-Verschaffen” i.S.v. § 259 I StGB[69] Der vorgenommenen Auslegung des Tatbestands-merkmals “Sich-Verschaffen” in § 261 Abs. 2 Nr. 1StGB steht nicht entgegen, dass das Sich-Verschaffenbei der Hehlerei von Rechtsprechung und der überwie-genden Literatur zwischenzeitlich enger ausgelegtwird.[70] Mit Urteil vom 25. Juli 1996 - nach Einführungdes Geldwäschetatbestandes im Jahr 1992 - hat der 4.Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGHSt 42, 196,198) entschieden, dass es an dem für das “Sich-Ver-schaffen” in § 259 Abs. 1 StGB erforderlichen einver-ständlichen Zusammenwirken auch dann fehlt, wennder Täter den Vortäter durch Drohungen zur Übertra-gung der Verfügungsmacht veranlasst (ebenso Fischer,StGB 57. Aufl. § 259 Rdn. 13; Hoyer in SK-StGB120. Lfg. § 259 Rdn. 31; Lackner/Kühl, StGB 26.Aufl. § 259 Rdn. 10; Lauer in MüKo-StGB § 259 Rdn.

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61; BeckOK-StGB/Ruhmannseder § 259 Rdn. 17.2;aA weiterhin Stree in Schönke/Schröder, StGB 27.Aufl. § 259 Rdn. 42).[71] Hierbei handelt es sich freilich um eine - allein -für die Hehlerei tatbestandstypische engere Aus-legung. Diese hat der 4. Strafsenat des BGH maßgeb-lich mit Blick auf die dort genannten anderen Tatva-rianten, insbesondere das “Ankaufen” und die Absatz-hilfe vorgenommen. Danach liege das Wesen der Heh-lerei in dem Hilfeleisten des Täters nach der Tat (Zu-sammenwirken von Vortäter und Hehler). Solche, aufein Zusammenwirken von Vortäter und Geldwäscheabstellende und damit mit der Hehlerei vergleichbareTatvarianten enthält der Straftatbestand der Geldwä-sche in § 261 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 StGB indesnicht. Deshalb kann sich die neuere restriktive Aus-legung des “Sich-Verschaffens” in § 259 StGB nichtin gleicher Weise auf § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB aus-wirken.

4. Zum Vorliegen eines Sich-Verschaffens im vorlie-genden Fall[72] Im vorliegenden Fall hat M. - wenn auch nichtaus freien Stücken - so doch gleichwohl im Einverneh-men mit den Angeklagten und damit auch “gewollt”die betrügerisch eingeworbenen Anlagegelder ausbe-zahlt. Die “Vereinbarung” vom 3. September 2004war das Ergebnis seiner “Verhandlungen” mit demAngeklagten G. Die Bezahlung bewirkte M, indem eram selben Tag und auch drei Tage später Überweisun-gen ausstellte. Schon nach diesem äußeren Erschei-nungsbild haben sich die Angeklagten die Gelder nichtauf eine Art und Weise verschafft, die auch nur imGrenzbereich zu einem Raub liegt.[73] Deshalb steht die Entscheidung des 4. Strafsenatsdes BGH vom 29. Oktober 2009 (NStZ-RR 2010, 53)der hier vorgenommenen Auslegung des “Einverneh-mens” nicht entgegen. Dort hatte der Täter den inkri-minierten Gegenstand dem Vortäter nämlich gewalt-sam, also ohne dessen Mitwirkung und gegen dessenWillen weggenommen. Raub ist - wie der 4. Strafsenatzu Recht ausführt - kein einvernehmliches Sich-Ver-schaffen im Sinne des § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB mehr.[74] Der Senat kann offen lassen, ob sich die Ange-klagten zugleich auch tateinheitlich wegen Betruges,Nötigung oder Erpressung (vgl. BGHSt 5, 254, 258;42, 196) strafbar gemacht haben; insofern sind sie je-denfalls nicht beschwert.

5. Zur teleologischen Reduktion von § 261 StGB beiVollstreckung in bemakeltes Vermögen[75] Im vorliegenden Fall kommt es nicht darauf an,ob - was grundsätzlich durchaus bedenkenswert er-scheint - eine Strafbarkeit wegen Geldwäsche aus-scheidet, wenn ein Rechtsanwalt im Auftrag einesGläubigers eine (nicht bemakelte) Forderung beitreibt

und dabei auch in Kauf nimmt, auf anderweitig i.S.d.§ 261 Abs. 1 StGB inkriminiertes Vermögen desSchuldners zuzugreifen.[76] Für eine derartige restriktive Auslegung könnteinsbesondere sprechen, dass nach der Ergänzung der1. Geldwäscherichtlinie durch die 2. Geldwäschericht-linie (Artikel 2a Nr. 5 und Artikel 6) selbstständigeAngehörige von Rechtsberufen bei der Ausübung ihrerTätigkeit in einem Gerichtsverfahren privilegiert sind(vgl. auch EuGH, Urt. vom 26. Juni 2007 - C-305/05 =NJW 2007, 2387).[77] Die Privilegierung gilt insbesondere für die be-rufliche Verschwiegenheitspflicht. Nach dem Erwä-gungsgrund Nr. 17 der 2. Geldwäscherichtlinie ist es“nicht angebracht” Rechtsanwälte, die einen Klientenin einem gesetzlich normierten Verfahren vertreten,im Hinblick auf diese Tätigkeiten zur Meldung desVerdachts der Geldwäsche zu verpflichten. Folglichunterliege “die Rechtsberatung weiterhin der berufli-chen Geheimhaltungspflicht, es sei denn, der Rechts-berater ist an Geldwäschevorgängen beteiligt, dieRechtsberatung wird zum Zwecke der Geldwäscheerteilt oder der Rechtsanwalt weiß, dass der Klient dieRechtsberatung für Zwecke der Geldwäsche in An-spruch nimmt.”[78] Jedenfalls bei den in der Erwägung genanntenFallgruppen, in denen die Privilegierung bei der be-ruflichen Geheimhaltungspflicht entfällt, scheidetnach Ansicht des Senats auch eine Privilegierungdurch eine restriktive Auslegung des § 261 Abs. 2 Nr.1 StGB aus (vgl. auch die Ausführungen des EuGHaaO zum fairen Verfahren unter Rdn. 86). Solch eineFallgruppe liegt hier vor: Kauf und Beitreibung dertitulierten Forderung Ki.’s erfolgten allein deshalb,um auch die i.S.d. § 261 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 Buchst. aStGB betrügerisch eingeworbenen Anlagegelder zuerlangen, mithin zum Zwecke der Geldwäsche. Zudemwusste auch der Angeklagte G, dass seine anwaltlicheTätigkeit für Zwecke der Geldwäsche in Anspruchgenommen wurde.[79] Nach den Feststellungen des Landgerichts warender Erwerb und die Geltendmachung der tituliertenForderung Ki’s gegen M ausschließlich Mittel zumZweck, um Zugriff auf die ertrogenen Anlagegelder zuerlangen. Diese Feststellungen hat das Landgerichttragfähig begründet:[80] Der Plan, die Forderung Ki’s zu kaufen, beruhtedarauf, dass die mit M langjährig befreundeten Ange-klagten E und R um die persönliche und finanzielleSituation M’s wussten. Sie hatten deswegen auchKenntnis von dieser Forderung. Dieses Wissen nutz-ten sie aus. Gemeinsam mit den Angeklagten Ga undG übten sie mittels dieser Forderung Druck auf M ausund zwangen ihn so zur Herausgabe der inkriminiertenGelder.[81] Dass Kauf und Beitreibung der Forderung nur

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Mittel zu diesem Zweck waren, konnte das Landge-richt auch daraus folgern, dass diese weit unter Wertund ohne jegliches Risiko erworben wurde, da derKaufpreis nur im Falle einer erfolgreichen Forde-rungsdurchsetzung fällig wurde. Das Landgericht hatdabei auch bedacht, dass der wahre Zweck zusätzlichverschleiert wurde, indem der Angeklagte G die For-derung als verdeckter Treuhänder der von den Ange-klagten E und R beherrschten T kaufte. Die Angeklag-ten E und R traten deshalb nach außen bewusst nichtselbst in Erscheinung, um M über ihr tatsächlichesVorhaben zu täuschen. Mit dem Vortrag, M versteckesein privates Vermögen in der A-GmbH, verschafftensie sich einen Arrestbeschluss gegen die Gesellschaft.Dabei rechneten sie jedenfalls im Zeitpunkt der Ver-einbarung mit M vom 3. September 2004 damit, dassdas Vermögen der A-GmbH nahezu ausschließlich ausbetrügerisch erlangten Anlegergeldern bestand unddass M die Forderung zumindest zu einem wesentli-chen Teil nicht mit eigenen, sondern mit solchen Gel-dern der A-GmbH befriedigen wird.[82] Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Vortrag,M verstecke sein privates Vermögen in der A-GmbH,der zum Erlass des Arrestes gegen die Gesellschaftführte, (jedenfalls objektiv) unzutreffend war. Denndie Vorgehensweise der Angeklagten war und sollte -so die Würdigung des Landgerichts - eben nicht derübliche und strafrechtlich unbedenkliche Vorgangsein, bei dem eine titulierte Forderung durch gericht-liche Maßnahmen beigetrieben wird. Das trägt dieFeststellung, dass Zweck und Plan des Vorgehens beiForderungskauf und -beitreibung vielmehr insbeson-dere waren, auf von M betrügerisch eingeworbeneAnlegergelder zugreifen zu können, sich diese einzu-verleiben und sodann unter sich aufzuteilen.

6. Kein Ausschluss der Geldwäsche über § 261 VIStGB[83] Der Strafbarkeit wegen Geldwäsche steht die Re-gelung des § 261 Abs. 6 StGB nicht deshalb entgegen,weil M die bemakelten Gelder über das (zwischen-geschaltete) Anderkonto seines Rechtsanwalts H andie Angeklagten Ga, G, E und R transferiert hat.

a) Zu den Voraussetzungen von § 261 VI StGB[84] Nach § 261 Abs. 6 StGB macht sich der Erwerbereines geldwäschetauglichen Gegenstandes nicht nach§ 261 Abs. 2 StGB strafbar, wenn zuvor ein Dritterdiesen Gegenstand tatsächlich erlangt hat, ohne hier-

durch eine Straftat begangen zu haben. Diese Vor-schrift schränkt den Tatbestand des § 261 Abs. 2 StGBein, um zum Schutz des allgemeinen Rechtsverkehrsdie Entstehung unangemessen langer Ketten von An-schlusstaten zu verhindern (BT-Drucks. 12/989 S. 28).Sie soll dem gutgläubigen Erwerber eines inkriminier-ten Gegenstandes ermöglichen, diesen unbeeinträch-tigt von § 261 Abs. 2 StGB weiterveräußern zu kön-nen (vgl. BT-Drucks. 12/3533 S. 14 f.; Stree in Schön-ke/Schröder, StGB 27. Aufl. § 261 Rdn. 14; Neuheu-ser in MüKo-StGB § 261 Rdn. 68; BeckOK-StGB/Ruhmannseder § 261 Rdn. 35 jew. m.w.N.).

b) Zum Fehlen dieser Voraussetzungen im vorliegen-den Fall[85] Dementsprechend erfasst § 261 Abs. 6 StGB denvorliegenden Fall des Transfers inkriminierter Gelderüber das Anderkonto eines gutgläubigen Rechtsan-walts an einen bösgläubigen Dritten (hier an die Ange-klagten Ga, G, E und R) nicht. Zwar wurde dem nachden Urteilsfeststellungen gutgläubigen RechtsanwaltH straflos das vom Vortäter M an ihn überwiesenebemakelte Geld auf dem Anderkonto bei seiner Bankgutgeschrieben. Aber M behielt dadurch weiterhin dieVerfügungsmacht über das Geld als Vermögensgegen-stand i.S.d. § 261 Abs. 1 StGB. Diese beruhte auf dervertraglichen Vereinbarung mit Rechtsanwalt H, dieallein die Weiterleitung dieses Geldbetrages an denDritten beinhaltete. Durch die weisungsgemäße Wei-terleitung des Geldbetrages an die Dritten - hier dieAngeklagten Ga, G, E und R -, war es tatsächlich Mund nicht H, der demgemäß direkt über diese bemakel-te Forderung auf dem Anderkonto verfügte. Deshalbtrat zugunsten der Dritten ein strafloser Vorerwerbdurch den gutgläubigen Rechtsanwalt H. i.S.v. § 261Abs. 6 StGB nicht ein. Daher haben sich die bösgläu-bigen Geldempfänger, die Angeklagten Ga, G, E undR, wegen Geldwäsche strafbar gemacht. Dieses Ergeb-nis ist sachgerecht, weil nur so - entsprechend den ge-setzgeberischen Zielvorstellungen (vgl. BT-Drucks.12/989 S. 26) - verhindert wird, Anderkonten als “le-gale Geldwaschanlagen” missbrauchen zu können (indiesem Sinne für Fälle der Einzahlung bemakelterGelder auf Bankkonten: Stree in Schönke/Schröder,StGB 27. Aufl. § 261 Rdn. 14; Fischer, StGB 57.Aufl. § 261 Rdn. 29; Neuheuser in MüKo-StGB § 261Rdn. 69; BeckOKStGB/Ruhmannseder § 261 Rdn.37.1 jew. m.w.N.; aA insofern Hamm NJW 2000, 636,638). [...]

URTEILE IN FALLSTRUKTUR RA 2010, HEFT 6

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Urteile in Fallstruktur

Standort: Öffentliches Recht Problem: Inlandseinsatz der Bundeswehr

BVERFG, BESCHLUSS VOM 04.05.2010

2 BVE 5/07 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:

Beim vorliegenden Beschluss handelt es sich um einegrundsätzliche Entscheidung des BVerfG zu Inlands-einsätzen der Bundeswehr. Anlass war ein Organ-streitverfahren, das von der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen im Deutschen Bundestag eingeleitet wordenwar. Inhaltlich ging es um den Einsatz von Bundes-wehreinheiten im Zusammenhang mit dem sog.“G8-Gipfel” in Heiligendamm im Jahr 2007. Dabeiwaren u.a. Hubschrauber und Spähwagen der Bundes-wehr eingesetzt worden, die insbesondere auch Fotosvon Demonstranten anfertigten sowie Demonstrantenbeobachteten.

Die Antragstellerin war der Ansicht, die Bundesregie-rung hätte den Bundestag vorab mit dem Einsatz derBundeswehr befassen bzw. um seine Zustimmung bit-ten müssen. Sie leitete ein entsprechendes Recht desBundestages aus Art. 87a II GG sowie aus dem un-geschriebenen wehrverfassungsrechtlichen Parla-mentsvorbehalt ab.

Das BVerfG zweifelte bereits an der Antragsbefugnis,ließ sie i.E. aber offen, weil der Antrag “jedenfalls un-begründet” sei. Dabei trifft das Gericht zwei Kernaus-sagen:

1. Zum einen ist Art. 87a II GG nach Ansicht desBVerfG kein Organrecht i.S.d. § 64 I BVerfGG. Daherfehle dem Antrag insoweit bereits die erforderlicheAntragsbefugnis. Zur Begründung verweist dasBVerfG zunächst auf den Wortlaut des Art. 87a II GG,der den Bundestag nicht erwähnt. Weiterhin sei auchder Entstehungsgeschichte der Norm nicht zu entneh-men, dass sie dem Bundestag ein Recht verleihen sol-le. Darüber hinaus sei es zwar zutreffend, dass Ein-sätze der Bundeswehr, die über die im Grundgesetzzugelassenen Fälle (Art. 35 II 2, III 1, 87a III, IV GG)hinausgehen, nur durchgeführt werden dürfen, wennzuvor das Grundgesetz geändert werde. Auch sei eszutreffend, dass für eine solche Änderung des Grund-gesetzes der Bundestag gem. Art. 79 II GG zuständigist. Diese Überlegung führt jedoch nach Ansicht desBVerfG gleichwohl nicht zu einem Organrecht desBundestages. Denn dann könnte der Bundestag immerrügen, die Bundesregierung verhalte sich verfassungs-widrig, was nur durch eine Änderung des Grundge-

setzes legitimiert werden könne, für die er (der Bun-destag) zuständig sei. Damit ließe sich das Erfordernisder Antragsbefugnis unterlaufen. Daher verlangt dasBVerfG in seiner Entscheidung, dass die konkreteNorm selbst (wie z.B. Art. 59 II 1 GG) dem Bundestagein Organrecht verleiht.

2. Die zweite Kernaussage der Entscheidung ist, dasses für Inlandseinsätze der Bundeswehr - im Gegensatzzu den Auslandseinsätzen - keinen ungeschriebenenwehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt gibt.

a. Die Mitwirkungsrechte des Bundestages bzgl. derInlandseinsätze der Bundeswehr seien abschließend inArt. 87a III, IV 2 GG geregelt (für Art. 87a III GGfolgt das Mitwirkungsrecht des Bundestages indirektaus Art. 80a I 1, 115a I GG). Selbst wenn der Verteidi-gungs- oder Spannungsfall vorliegt, muss nur diesvom Bundestag bestätigt werden. Für den Bundestagbesteht hingegen kein Zustimmungsvorbehalt hinsicht-lich der konkreten Einsätze der Bundeswehr. b. Fürdie Auslandseinsätze der Bundeswehr gibt es derartigeVorgaben im Grundgesetz nicht. Daher hat dasBVerfG für sie den ungeschriebenen, aus dem Zusam-menspiel diverser Grundgesetznormen (u.a. Art. 115aGG, 59 II 1 GG) folgenden wehrverfassungsrechtli-chen Parlamentsvorbehalt entwickelt, um die Ent-scheidungsbefugnis der Bundesregierung im Bereichder Außenpolitik zu begrenzen. Dieser besagt zusam-menfassend, dass für das “Ob” bewaffneter Unterneh-mungen der Bundeswehr eine Zustimmung des Bun-destages erforderlich ist, wenn dadurch Eil- und Ge-heimhaltungsinteressen nicht gefährdet werden. Ein-fach-gesetzlich ist ebendies seit 2005 im Parlaments-beteiligungsgesetz geregelt.

Prüfungsrelevanz:Mit Blick auf den Prüfungsaufbau in einer Klausur istbemerkenswert, dass das BVerfG nur auf die Organ-rechte des Bundestages eingeht und eine objektivePrüfung der Verfassungsmäßigkeit des Einsatzes ins-gesamt ablehnt. Ob in der Begründetheit des Organ-streitverfahren nur subjektive Rechte des Antragstel-lers (oder des Organs, dem er angehört, vgl. § 64 IBVerfGG) zu prüfen sind, oder alle Verfassungsnor-men, ist in der Literatur umstritten, die Rspr. desBVerfG war bisher nicht eindeutig. Teilweise wirdaus § 67 S. 1 BVerfGG gefolgert, dass eine volle ob-jektive Rechtskontrolle zu erfolgen hat, weil die Norm

URTEILE IN FALLSTRUKTURRA 2010, HEFT 6

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keine Verletzung eines subjektiven Rechts fordert.Dies dürfte mit der nun vorliegenden BVerfG-Ent-scheidung Mindermeinung sein, denn das Gerichtfolgt explizit der Ansicht, die aus der kontradiktori-schen Natur des Organstreitverfahrens die Notwendig-keit der Rüge eigener Rechte des Antragstellers (bzw.des Organs, dem er angehört) folgert, den Prüfungs-maßstab mithin auch auf diese beschränkt (vgl. zu al-ledem die nachfolgende Falllösung und die Vertie-fungshinweise). Ob das BVerfG die vorliegende Ent-scheidung bestätigen oder diese ein Einzelfall bleibenwird, muss abgewartet werden. Für den Gutachten-aufbau kann jedenfalls gegenwärtig folgende Empfeh-lung gegeben werden:

A. In der Zulässigkeit unter “Beschwerdebefugnis”gem. § 64 I BVerfGG muss ein Recht des Antragstel-lers oder des Organs, dem er angehört, gefunden wer-den. Anderes möglicherweise betroffenes Verfas-sungsrecht wäre an dieser Stelle auch anzusprechen,aber als nicht ausreichend auszuscheiden.

B. Sollte mindestens ein eigenes Recht in diesem Sin-ne vorliegen, wäre in der Begründetheit des Organ-streitverfahrens zunächst dieses (gäbe es mehrere ei-gene Rechte natürlich sämtliche) zu prüfen (so in dernachfolgenden Falllösung der wehrverfassungsrecht-liche Parlamentsvorbehalt). Liegt eine Verletzung ei-nes solchen Rechts vor, wäre das Organstreitverfahrenbereits begründet. Ist dies nicht der Fall, könnte abereine andere, nicht den Antragsteller (oder das Organ,dem er angehört) schützende Verfassungsnorm ver-letzt sein, wäre vor deren Prüfung die Vorfrage zu klä-ren, ob sie überhaupt geprüft werden darf (so in dernachfolgenden Falllösung bzgl. Art. 87a II GG). Mitden Gründen der vorliegenden Entscheidung desBVerfG wäre dies zu verneinen, mit der Folge, dassdas Organstreitverfahren bereits mangels weiterer Prü-fungskompetenz unbegründet wäre. Lässt man mit derGegenansicht eine volle objektive Verfassungskon-trolle zu, wären auch diese Normen zu prüfen, wobeidie Begründetheit des Organstreitverfahrens dann na-türlich davon abhängt, ob eine Verletzung derselbennun vorliegt oder nicht.

Vertiefungshinweise:“ Prüfungsumfang im Organstreitverfahren: Ehlers,Jura 2003, 315, 320 (objektive Verfassungskontrolle);Erichsen, Jura 1990, 670, 672 (nur subjektive Rechte)

“ Wehrverfassungsrechtlicher Parlamentsvorbehalt:BVerfGE 90, 286, 381; 121, 135, 153 f.

“ Rechte einer Bundestagsfraktion: BerlVerfGH,NVwZ-RR 2003, 537 = RA 2003, 545

Kursprogramm:

“ Examenskurs: “Die Bundeswehr - daheim und unter-

wegs”

Leitsätze (der Redaktion):1. Das Organstreitverfahren nach Art. 93 I Nr. 1GG ist ein kontradiktorisches Verfahren, in dessenBegründetheit nur verfassungsrechtliche Rechtedes Antragstellers (oder des Organs, dem er ange-hört) geprüft werden.2. Art. 87a II GG ist kein verfassungsrechtlichesRecht des Deutschen Bundestages.3. Der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvor-behalt gilt nur für Auslands-, nicht aber für In-landseinsätze der Bundeswehr.

Sachverhalt:Im Rahmen des G8-Gipfels in Heiligendamm im Juni2007 wurden Einheiten der Bundeswehr eingesetzt,um Gefahren in Form von Anschlägen durch islamisti-sche Terroristen abzuwehren. Das Land Mec-klenburg-Vorpommern, in dem Heiligendamm liegt,und der Bund kamen im Vorfeld des Gipfels zu dergemeinsamen Einschätzung, dass Mecklenburg-Vor-pommern ohne Hilfeleistungen des Bundes und ande-rer Länder mit der Gewährleistung der Sicherheit an-lässlich des Gipfels überfordert sein würde. Die Bun-desregierung sicherte dem Land Mecklenburg-Vor-pommern daraufhin durch den Bundesverteidigungs-minister die Unterstützung der Bundeswehr zu.An den in der Folge erbrachten Unterstützungsleistun-gen der Bundeswehr waren rund 1.100 Soldaten undzivile Mitarbeiter beteiligt, die für die Unterbringungund Verpflegung der Sicherheitskräfte sorgten, Perso-nen mit Hubschraubern und Booten transportierten,die medizinische Versorgung und Notfallvorsorgeübernahmen, Aufklärungs- und Radartechnik (u.a. dreiAWACS-Aufklärer aus NATO-Einsatzverbänden) zurVerfügung stellten sowie Aufklärungsmissionen mitSpähpanzern und Tornado-Flugzeugen durchführten,das seeseitige Sperrgebiet und die Seebrücke Heili-gendamm absuchten, Wege und Flächen befestigtensowie Sperrvorrichtungen errichteten und Gerät undBetriebsstoffe bereitstellten. Im Rahmen dieses Ein-satzes wurden auch die von Demonstranten errichte-ten Camps überflogen, aus der Luft fotografiert undmit Spähsystemen überwacht.Die Antragstellerin, die F-Fraktion im Deutschen Bun-destag, ist der Ansicht, dass große Teile dieses Bun-deswehreinsatzes - nach ihrem Vorbringen vor allemdie Aufklärungsflüge mit Tornado-Flugzeugen, derEinsatz der Spähpanzer, die Unterstützung bei der Ge-währleistung der Sicherheit im Luftraum, die Errich-tung eines mobilen Sanitätsrettungszentrums sowieder Einsatz von Feldjägerkräften - gegen das Grundge-setz verstießen, weil sie erstens nicht vom DeutschenBundestag legitimiert worden seien, zweitens gegen

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Art. 87a GG verstießen und drittens Grundrechte derBürgerinnen und Bürger verletzten, wie etwa dasRecht auf informationelle Selbstbestimmung, die Mei-nungs-, Versammlungs- und die Fortbewegungsfrei-heit. Mit ihrem Antrag vom 29.09.2007 beantragt sie,dass das BVerfG diesen Verfassungsverstoß feststel-len möge.

Hat der Antrag Erfolg?

Lösung:Der Antrag hat Erfolg, soweit er zulässig und begrün-det ist.

A. Zulässigkeit

I. Zuständigkeit des BVerfGDas BVerfG ist nach Art. 93 I Nr.1 GG, §§ 13 Nr. 5,63 ff. BVerfGG für Organstreitverfahren zuständig,die aus Anlass von Streitigkeiten über Rechte undPflichten oberster Bundesorgane oder deren Teile ge-führt werden. Hier streiten sich die Bundesregierungals oberstes Bundesorgan und die F-Fraktion als Teileines solchen, nämlich des Deutschen Bundestages,um die Frage, ob die Bundesregierung allein über denBundeswehreinsatz anlässlich des G8-Gipfels vonHeiligendamm entscheiden durfte, oder ob dieser -bzw. nach dem Vortrag der ASt. zumindest wesentli-che Elemente desselben - nicht der Zustimmung desDeutschen Bundestages bedurft hätte. Somit liegt einOrganstreitverfahren vor.

II. ParteifähigkeitDie Parteifähigkeit ergibt sich aus Art. 93 I Nr. 1 GGi.V.m. § 63 BVerfGG.

1. AntragstellerinBei der F-Fraktion handelt es sich daher um einen Teildes Organs Bundestag, der in der Geschäftsordnungdes Bundestags mit eigenen Rechten ausgestattet ist.Zahlreiche Vorschriften der Geschäftsordnung desBundestags begründen für die Fraktion bestimmteHandlungs- und Mitwirkungsrechte (vgl. nur § 10GOBT). Aufgrund dieser Rechte ist die F-Fraktionparteifähig (vgl. auch Ehlers, JURA 2003, 315 [317]).

2. AntragsgegnerinDie Parteifähigkeit der Bundesregierung ergibt sichunmittelbar aus Art. 93 I Nr. 1 GG i.V.m. § 63BVerfGG.

III. Tauglicher AntragsgegenstandAntragsgegenstand des Organstreitverfahrens ist gem.§ 64 I BVerfGG eine Maßnahme oder Unterlassungdes Antragsgegners. Darunter ist nur ein rechtserhebli-ches Verhalten zu verstehen. Die Antragstellerin be-

antragt hier festzustellen, dass die Antragsgegnerin esunterlassen hat, den Deutschen Bundestag vorab umZustimmung zu der Verwendung der Bundeswehr an-lässlich des G8-Gipfels zu ersuchen. Zahlreiche Nor-men des Grundgesetzes, z.B. Art. 87a GG, befassensich mit der Zulässigkeit von Bundeswehreinsätzen imInland. Wären sie verletzt, wäre der Bundeswehrein-satz rechts- und verfassungswidrig. Die Entscheidungüber einen solchen Einsatz durch die Antragsgegnerinohne Beteiligung des Deutschen Bundestages stelltalso ein rechtserhebliches Verhalten in diesem Sinnedar.

IV. AntragsbefugnisNach § 64 I BVerfGG ist der Antrag nur dann zuläs-sig, wenn der Antragsteller geltend macht, dass eroder das Organ, dem er angehört, durch die angegrif-fene Maßnahme des Antragsgegners in seinen ihmdurch das Grundgesetz übertragenen Rechten undPflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. Esgenügt, dass der Antragsteller die Rechtsverletzung“geltend macht”, sie also zumindest möglich erscheint(vgl. Ehlers, JURA 2003, 315 [318]; Ipsen, StaatsR I,Rn. 873). Im Falle einer Bundestagsfraktion kommtnur eine Verletzung der Rechte des Deutschen Bun-destages in Betracht, also des Organs, dem sie ange-hört, da Fraktionen im Grundgesetz nicht mit eigenenRechten ausgestattet sind. § 64 I BVerfGG lässt einesolche Prozessstandschaft jedoch ausdrücklich zu.Fraglich ist also, ob die eigenmächtige Entscheidungder Bundesregierung über den Bundeswehreinsatz an-lässlich des G8-Gipfels in Heiligendamm zumindestmöglicherweise Rechte des Deutschen Bundestagesverletzt hat.

1. Aus Art. 115a I, 80a I 1 GG In Bezug auf die innere Verwendung der Bundeswehrim Verteidigungs- bzw. Spannungsfall ergibt sich einorganschaftliches Mitwirkungsrecht des DeutschenBundestages daraus, dass dieser mit Zustimmung desBundesrates gemäß Art. 115a I bzw. Art. 80a I 1 GGdie Feststellung des Verteidigungs- bzw. Spannungs-falles zu treffen hat (vgl. BVerfGE 90, 286 [386]).Dass die Bundeswehreinsätze anlässlich desG8-Gipfels jedoch keine Vaterlandsverteidigung imRahmen eines Verteidigungs- bzw. Spannungsfallsdarstellten, sondern der Abwehr terroristischer Gefah-ren sowie der Unterstützung der Polizei in logisti-scher, technischer und personaler Hinsicht dienten, istnach dem Sachverhalt offensichtlich. Somit mögenArt. 115a I, 80a I 1 GG Rechte des Deutschen Bun-destages sein; sie sind hier jedoch nicht - auch nichtmöglicherweise - verletzt.

2. Aus Art. 87a II GGNach Art. 87a II GG darf die Bundeswehr außer zur

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Verteidigung nur eingesetzt werden, soweit dasGrundgesetz es ausdrücklich zulässt. Da das Grundge-setz den Einsatz anlässlich des G8-Gipfels nicht aus-drücklich zulässt, erscheint eine Verletzung von Art.87a II GG nicht von vornherein ausgeschlossen. Al-lerdings stellt sich die (Vor-)Frage, ob es sich bei Art.87a II GG um ein Recht des Deutschen Bundestageshandelt.

a. VerfassungsänderungskompetenzMan könnte daran denken, Art. 87a II GG als eine denDeutschen Bundestag schützende Verfassungsände-rungskompetent anzusehen. Art. 87a II GG ist - wieoben ausgeführt - der Grundsatz zu entnehmen, dassjedenfalls ein Einsatz der Streitkräfte im Innern, dernicht der Verteidigung dient, einer verfassungsrecht-lichen Grundlage bedarf. Für Einsätze im Sinne derNorm im Inland, die über die im Grundgesetz zugelas-senen Fälle (Art. 35 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1, Art.87a Abs. 3 und Abs. 4 Satz 1 GG) hinausgehen, wäresomit eine Verfassungsänderung erforderlich, die nurvom Deutschen Bundestag beschlossen werden könn-te, Art. 79 II GG i.V.m. Art. 77 I 1 GG. Im Falle einerÜberschreitung der Grenzen des Art. 87a II GG wärealso der Deutsche Bundestag in seiner Funktion alsverfassungsändernder Gesetzgeber betroffen.

b. Ansicht des BVerfGDas BVerfG tritt dieser Konstruktion jedoch explizitentgegen. Nach seiner Ansicht handelt es sich bei Art.87a II GG (nur) um objektives Verfassungsrecht undgerade nicht um ein subjektives Recht des DeutschenBundestages:“[63] Art. 87a Abs. 2 GG vermittelt dem DeutschenBundestag jenseits des Verfassungsvorbehalts keineeigenen Rechte.”

aa. Wortlaut“[64] Dem Wortlaut der Norm ist kein Hinweis daraufzu entnehmen, dass dem Deutschen Bundestag hier einRecht im Sinne des § 64 I BVerfGG übertragen wür-de. Anders als etwa in Art. 59 II 1 GG, der ausdrüc-klich von der Zustimmung oder der Mitwirkung derjeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Kör-perschaften spricht, wird der Deutsche Bundestag inArt. 87a II GG nicht erwähnt.”

bb. Historie“[65] Entgegen der Auffassung der Antragstellerinsind auch der Entstehungsgeschichte und der Zielset-zung des Art. 87a II GG keine Anhaltspunkte dafür zuentnehmen, dass der Norm über ihren objektiven Aus-sagegehalt hinaus kompetenzschützende Wirkung zuGunsten des Deutschen Bundestages zukäme. DieVorgängernorm von Art. 87a II GG, Art. 143 GG inder Fassung von 1956 (vgl. Gesetz zur Ergänzung des

Grundgesetzes vom 19. März 1956, BGBl I S. 111),lautete: “Die Voraussetzungen, unter denen es zuläs-sig wird, die Streitkräfte im Falle eines inneren Not-standes in Anspruch zu nehmen, können nur durch einGesetz geregelt werden, das die Erfordernisse des Ar-tikels 79 erfüllt.“ Auch dieser Wortlaut lässt die Ver-ankerung von Rechten des Deutschen Bundestagesnicht erkennen. Es ist zwar richtig, dass es Ziel derzweiten Wehrnovelle im Jahr 1956 war, eine Armeezu schaffen, die eingebettet ist in das Staatsganze undin die demokratische freiheitliche Ordnung (vgl. denRedebeitrag des Abgeordneten Dr. Arndt [SPD], Deut-scher Bundestag, 2. Wahlperiode, 132. Sitzung vom 6.März 1956, S. 6825 B). Es sollte ein Missbrauch derBundeswehr als innenpolitisches Machtinstrumentvermieden werden (vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG,Art. 87a Rn. 28 [August 1971]). Dem diente und dientgerade der Verfassungsvorbehalt des Art. 143 GG inder Fassung von 1956 sowie des Art. 87a II GG in derheutigen Fassung, der einen Einsatz der Streitkräftejedenfalls im Innern ohne verfassungsrechtlicheGrundlage nicht zulässt. Ein kompetenzschützenderGehalt zu Gunsten des Deutschen Bundestages mit derFolge, dass dieser sich im Organstreitverfahren vordem Bundesverfassungsgericht auf eine Verletzungder Norm berufen könnte, lässt sich aus diesem Um-stand aber nicht herleiten. Das der parlamentarischenDebatte um Art. 143 GG a.F. zu entnehmende Ziel derEinbettung der Bundeswehr in die demokratische frei-heitliche Ordnung weist vielmehr auf eine freiheits-sichernde Funktion der Bestimmung wie ihres Nach-folgers hin (vgl. Linke, AöR 129 [2004], S. 489 [510ff.]). In diese Richtung deutet auch der SchriftlicheBericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bun-destages, auf dessen Vorschlag die geltende Fassungdes Art. 87a II GG zurückgeht. Dort heißt es, die Be-stimmung beschränke nur den Einsatz der Streitkräfte,das heißt ihre Verwendung als Mittel der vollziehen-den Gewalt (vgl. BTDrucks V/2873, S. 13).”

cc. Systematik“[66] Ein kompetenzschützender Gehalt des Art. 87aII GG ergibt sich auch nicht daraus, dass nach Art. 59aI GG in der Fassung von 1956 ebenso wie nach Art.115a I 1 GG in der heute gültigen Fassung die Fest-stellung des Verteidigungsfalles sowie nach Art. 80a I1 GG die Feststellung des Spannungsfalles durch denDeutschen Bundestag getroffen wird. Ebenso wenigkann ein solcher Schluss aus dessen Rückrufrecht ausArt. 87a IV 2 GG gezogen werden. [...] Die genanntenRegelungen [können] zum einen nicht ohne weiteresdahin generalisiert werden, dass auch Verwendungender Bundeswehr im Inland wie die in Streit stehende,die mit weit weniger Gefahrenpotenzial behaftet war,der Zustimmung des Deutschen Bundestages unterlie-gen. Zum anderen kann aus ihnen nicht gefolgert wer-

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den, dass der eventuelle Mangel der verfassungsrecht-lichen Grundlage der angegriffenen Verwendung derBundeswehr vom Deutschen Bundestag im Organ-streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgerichtgeltend gemacht werden kann, und zwar jedenfallsdann nicht, wenn - wie hier - die Verwendung offen-sichtlich nicht in einer Situation erfolgte, die einer dervon den genannten Vorschriften in den Blick genom-menen Situationen nahekommt.”

c. ZwischenergebnisSomit folgt die Antragsbefugnis nicht aus Art. 87a IIGG.

3. Aus GrundrechtenDass die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürgerkeine den Deutschen Bundestag schützenden organ-schaftlichen Rechte sind, sondern als Abwehrrechtedes Bürgers gegen den Staat diesen (wie alle anderenHoheitsträger) vielmehr verpflichten, sollte angesichtsdes Art. 1 III GG eigentlich evident sein. Ihre Rüge imOrganstreitverfahren durch die Antragstellerin gehtdaher offensichtlich fehl. Das BVerfG begnügt sichhierzu einer kurzen Feststellung:“[67] Hauptanliegen der Antragstellerin ist es, fest-stellen zu lassen, dass die Überflüge der Demonstran-ten-Camps mit Tornado-Flugzeugen der Bundeswehr,die Anfertigung von Fotos aus der Luft wie auch dieBeobachtung durch die Spähsysteme [...] die Grund-rechte der Demonstranten und Gipfelgegner verletz-ten.[68] Selbst wenn man davon ausginge - was hier offenbleiben kann -, dass die getroffenen Maßnahmen inGrundrechte eingegriffen hätten, könnte der DeutscheBundestag derartige eventuelle RechtsverletzungenEinzelner nicht im Wege des Organstreits vor demBundesverfassungsgericht geltend machen. [...] DieRüge von Grundrechtsverletzungen im Verfassungs-prozess muss [...] den Betroffenen vorbehalten bleiben(vgl. dazu schon BVerfGE 68, 1 [69 ff.]).”

4. Aus dem wehrverfassungsrechtlichen Parlaments-vorbehalt“[51] In der Entscheidung BVerfGE 90, 286 hat derSenat der deutschen Verfassungstradition seit 1918sowie den wehrverfassungsrechtlichen Regelungendes Grundgesetzes das Prinzip eines konstitutiven Par-lamentsvorbehalts für den militärischen Einsatz vonStreitkräften entnommen (vgl. BVerfGE 90, 286 [381ff.]). Nach Art. 45 Abs. 2 WRV waren Kriegserklä-rungen und Friedensschlüsse der Legislative vorbehal-ten; Art. 59a I GG in der Fassung von 1956 knüpftedaran an, indem die “schicksalhafte politische Ent-scheidung über Krieg und Frieden” der obersten Ver-tretung des ganzen Volkes, mithin dem DeutschenBundestag, übertragen wurde, dem die Feststellung

des Eintritts des Verteidigungsfalles oblag (vgl.BVerfGE 90, 286 [384]). Dies findet im geltendenRecht seine Fortsetzung in Art. 115a I GG. Die auf dieStreitkräfte bezogenen Regelungen des Grundgesetzessind danach darauf angelegt, die Bundeswehr nicht alsMachtpotential allein der Exekutive zu überlassen,sondern sie als “Parlamentsheer” in die demokratischrechtsstaatliche Verfassungsordnung einzufügen (vgl.BVerfGE 90, 286 [381 f.]; 121, 135 [153 f.]).”Hier erscheint es zumindest möglich, dass dieserwehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt ver-letzt worden ist.

[Anm.: Wie im weiteren zu zeigen sein wird, be-schränkt das BVerfG den wehrverfassungsrechtlichenParlamentsvorbehalt allerdings i.E. auf Auslandsein-sätze der Bundeswehr, während es hier um einen In-landseinsatz geht. Es wäre daher auch vertretbar, be-reits die Antragsbefugnis abzulehnen. Da keine ande-ren subjektiven Verfassungsrechte des DeutschenBundestages ersichtlich sind, wäre der Antrag derF-Fraktion dann unzulässig. Das BVerfG hat dieseFrage explizit offen gelassen. Letztlich dürfte es eben-so vertretbar sein, zumindest die Möglichkeit einerVerletzung des wehrverfassungsrechtlichen Parla-mentsvorbehalts anzunehmen wie diese zu verneinen.]

V. FristFür Verstöße gegen die Sechs-Monats-Frist des § 64III BVerfGG ist vorliegend nichts ersichtlich.

VI. FormVon der Einhaltung der Form des § 23 BVerfGG istebenfalls auszugehen.

Der Antrag ist somit zulässig.

B. BegründetheitNach § 67 S. 1 BVerfGG ist der Antrag begründet,sofern die angegriffene Maßnahme oder Unterlassungdes Antragsgegners verfassungswidrig ist.

I. Verstoß gegen den wehrverfassungsrechtlichen Par-lamentsvorbehaltZunächst kommt ein Verstoß gegen den wehrverfas-sungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt in Betracht (zudessen Herleitung vgl. oben die Ausführungen in derAntragsbefugnis). Immerhin hat die Bundesregierungden Bundeswehreinsatz anlässlich des G8-Gipfels oh-ne Zustimmung des Parlaments beschlossen unddurchgeführt. Fraglich ist allerdings, ob dieser zu Aus-landseinsätzen entwickelte Grundsatz auch auf In-landseinsätze der Bundeswehr anwendbar ist. DasBVerfG verneint dies, weil diesbezüglich ausdrückli-che Regelungen existieren, die den Rückgriff auf die-sen ungeschriebenen Grundsatz ausschließen:

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“[53] Mit Blick auf die Verwendungsmöglichkeitender Bundeswehr im Innern außerhalb des Verteidi-gungsfalles und des Spannungsfalles hat der Senatdarauf hingewiesen, dass ein nach Art. 87a IV 1 GGmöglicher Einsatz von Streitkräften beim Schutz vonzivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisier-ter und militärisch bewaffneter Aufständischer ein-zustellen ist, wenn der Deutsche Bundestag oder derBundesrat es verlangen (Satz 2). Bei Naturkatastro-phen oder Unglücksfällen, die das Gebiet mehr alseines Landes betreffen, wird der Einsatz von Streit-kräften zur Unterstützung der Polizeikräfte vomGrundgesetz vor allem als bundesstaatliches Problemverstanden: Er ist nach Art. 35 Abs. 3 Satz 2 GG je-derzeit auf Verlangen des Bundesrates aufzuheben(vgl. BVerfGE 90, 286 [386 f.]).[54] Ein allgemeines Zustimmungsrecht des Deut-schen Bundestages in Bezug auf konkrete Verwendun-gen der Bundeswehr im Inland, seien es bewaffneteoder unbewaffnete Verwendungen, ist dem Grundge-setz daher gerade nicht zu entnehmen. Dies gilt un-abhängig davon, ob der Verteidigungsfall oder derSpannungsfall vorliegt oder ob dies nicht der Fall ist;denn auch Art. 87a III GG sieht die Zustimmung desDeutschen Bundestages zum konkreten Einsatz derBundeswehr nicht vor.[55] Auch die der Entscheidung BVerfGE 121, 135 zuGrunde liegenden Überlegungen haben den wehrver-fassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt lediglich alsein wirksames Mitentscheidungsrecht des DeutschenBundestages in Angelegenheiten der auswärtigen Ge-walt behandelt. Dort hat der Senat ausgeführt, dass dasGrundgesetz die Entscheidung über Krieg und Friedendem Deutschen Bundestag nicht nur mit Blick auf dieFeststellung des Verteidigungsfalles und des Span-nungsfalles, sondern darüber hinaus für den Einsatzbewaffneter Streitkräfte in Systemen gegenseitigerkollektiver Sicherheit im Sinne von Art. 24 Abs. 2 GGübertragen hat (vgl. BVerfGE 121, 135 [153 f.]). [...][59] Angesichts dieser Rechtsprechung ist nicht er-kennbar, inwieweit Beteiligungsrechte des DeutschenBundestages mit Blick auf Verwendungen der Bun-deswehr im Innern auch dort bestehen könnten, wodas Grundgesetz sie nicht selbst vorsieht, das heißtüber die von Art. 87a III GG zu Grunde gelegte Fest-stellung des Verteidigungsfalles beziehungsweiseSpannungsfalles und das in Art. 87a IV 2 GG geregel-te Rückrufrecht hinaus. Aus der im Kontext von Aus-landseinsätzen verwendeten Bezeichnung der Bundes-wehr als Parlamentsheer alleine lässt sich keine Be-fugnis des Deutschen Bundestages ableiten.”

II. Verstoß gegen Art. 87a II GGZur Verfassungswidrigkeit des Beschlusses der Bun-desregierung über den Bundewehreinsatz anlässlichdes G8-Gipfels würde auch ein Verstoß gegen Art.

87a II GG führen. Fraglich ist allerdings, ob dieseNorm im Organstreit zwischen einer Bundestagsfrakti-on und der Bundesregierung überhaupt zu prüfen ist,da sie - wie oben zur Antragsbefugnis ausgeführt -kein subjektives Recht des Antragstellers oder desDeutschen Bundestages als Organ, dem er angehört,darstellt.

1. LiteraturIn der Literatur wird dies teilweise bejaht (Ehlers, Jura2003, 315, 320). Das Organstreitverfahren versetzedas BVerfG in die Lage, auch objektives Verfassungs-recht zu prüfen, ähnlich wie ein Normenkontrollver-fahren nach § 47 VwGO, in dem auch die möglicheVerletzung des Antragstellers zur Antragsbefugnisund damit zur Zulässigkeit genügt, in deren Begrün-detheit das OVG aber die Norm auf ihre Wirksamkeitinsgesamt prüfe. Dafür, dass auch im Organstreit kei-ne Beschränkung der Begründetheitsprüfung auf sub-jektive Rechte des Antragstellers (bzw. des Organs,dem er angehört) bestehe, spreche auch § 67BVerfGG, der nur die Verfassungswidrigkeit derMaßnahme, aber gerade nicht die Feststellung einerVerletzung der Rechte des Antragstellers (bzw. desOrgans, dem er angehört) fordere.

2. BVerfGDas sieht das BVerfG allerdings ganz anders. Derkontradiktorischen Natur des Organstreitverfahrensentnimmt es, dass in der Begründetheit eben nicht dasgesamte objektive Verfassungsrecht, sondern nur diesubjektiven Rechte des Antragstellers (oder des Or-gans, dem er angehört) geprüft werden:“[45] Der Organstreit zielt auf die Auslegung desGrundgesetzes aus Anlass von Streitigkeiten über dieRechte und Pflichten von Verfassungsorganen (Art. 93I Nr. 1 GG). Der Organstreit ist eine kontradiktorischeParteistreitigkeit mit Antragsteller und Antragsgegnerund kein objektives Verfahren. Das Organstreitverfah-ren dient maßgeblich der gegenseitigen Abgrenzungder Kompetenzen von Verfassungsorganen oder ihrenTeilen in einem Verfassungsrechtsverhältnis, nicht derdavon losgelösten Kontrolle der objektiven Verfas-sungsmäßigkeit eines bestimmten Organhandelns (vgl.BVerfGE 68, 1 [69 ff.]; 73, 1 [29 f.]; 80, 188 [212];104, 151 [193 f.]; 118, 244 [257]). Der Organstreit istkeine objektive Beanstandungsklage.”Konsequenz dieser Ansicht ist, dass Art. 87a II GGhier nicht zu prüfen ist.

[Anm.: Das BVerfG erwähnt die oben dargestellteLiteraturmeinung nicht einmal, folglich gibt es auchkeine Stellungnahme zu ihr. Dennoch dürfte sie in ei-nem Gutachten nicht nur zu erwähnen, sondern sogargut vertretbar sein. Insbesondere wäre interessantgewesen zu erfahren, was das BVerfG eigentlich ge-

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gen das Argument, § 67 S. 1 BVerfGG ermögliche eineobjektive Kontrolle, vorzubringen hätte.]

III. ErgebnisEine Verletzung sonstiger verfassungsrechtlicher

Rechte der Antragstellerin bzw. des Deutschen Bun-destages als Organs, dem sie angehört, ist nicht er-sichtlich. Der Antrag ist daher unbegründet und hatkeinen Erfolg.

Standort: Zivilrecht Problem: Pflichtteilsergänzungsanspruch

BGH, URTEIL VOM 28.04.2010

IV ZR 230/08 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:

Die Kl. begehren Auskunft über die Höhe von Lebens-versicherungsleistungen, die der Bekl. in ihrer Eigen-schaft als Bezugsberechtigte ausgezahlt wurden.

Beim Tod des Erblassers war dessen zweite Ehefrau,die Bekl., als Alleinerbin und widerruflich als Bezugs-berechtigte zweier Lebensversicherungen eingesetzt,die der Erblasser auf sein eigenes Leben abgeschlos-sen hatte. Die Kl., Söhne des Erblassers aus ersterEhe, sind der Ansicht, ihr - in Bezug auf die Bezugs-berechtigung dem Grunde nach unstreitiger – Pflicht-teilsergänzungsanspruch nach § 2325 I BGB sei aufGrundlage der vom Versicherer an die Bekl. ausge-zahlten Todesfallleistung zu berechnen und nicht - wiedie Bekl. meint - nach den gezahlten Prämien.

Das Landgericht hat den entsprechenden Auskunfts-antrag abgewiesen, das Berufungsgericht hat die Beru-fung der Kl. zurückgewiesen. Mit der Revision verfol-gen die Kl. ihr Auskunftsbegehren weiter. Auf die Re-vision verweist der Senat die Sache an das Berufungs-gericht zurück.

Prüfungsrelevanz:Mit der vorliegenden Entscheidung rückt der Senatvon seiner langjährigen Rechtsprechung ab, nach dersich der Pflichtteilsergänzungsanspruch gem. § 2325 IBGB wegen einer Versicherungsleistung zugunstendes bzw. der Erben allein anhand der gezahlten Prä-mien berechnet.

Der Anspruch aus § 2325 I BGB schützt den Pflicht-teilsberechtigten vor der Aushöhlung seines Pflicht-teilsanspruchs gem. § 2303 I BGB durch Schenkungendes Erblassers i.S.d. § 516 BGB. Hierunter fallen auchLeistungen des Erblassers an Versicherungen, die zu-gunsten des Erben erfolgen. Denn der Anspruch aufAuszahlung der Versicherungsleistung wird dem Be-rechtigten schenkweise zugewandt; es handelt sich umeinen Vertrag zugunsten Dritter auf den Todesfall(§§ 328, 331 BGB). Nicht selten ist hierbei die Form-vorschrift des § 518 I BGB verletzt. Indem der bezugs-berechtigte Erbe im Zeitpunkt des Todes unmittelbarein eigenes Forderungsrecht gegen die Versicherungerhält und die Leistung hierdurch bewirkt wird, ist der

Formmangel jedoch gem. § 518 II BGB geheilt. Aufdie konkurrierende Formvorschrift des § 2301 BGBkommt es nicht an, soweit – wie hier – ein Rechtsge-schäft unter Lebenden vorliegt.

Die Schwierigkeit, den Anspruch aus § 2325 I BGBim Falle einer Versicherung zugunsten des Erben zuberechnen, resultiert aus dem Dreiecksverhältnis zwi-schen Erblasser, Erbe(n) und Versicherer. Der Erblas-ser leistet zunächst an den Versicherer, der bei Eintrittder entsprechenden Bedingung eine Leistung an denbezugsberechtigten Erben erbringt. Die Zuwendung anden Erben erfolgt also nicht unmittelbar, sondern mit-telbar unter Einschaltung der Versicherung. Anknüp-fungspunkt für die Berechnung des Ergänzungs-anspruchs aus § 2325 I BGB können daher die Prä-mienzahlungen (so die bisherige Rechtsprechung undüberwiegende Literatur, vgl. schon RGZ 128, 187;BGHZ 7, 134; MünchKommBGB/Lange, § 2325 Rn.38; Gottwald, Pflichtteilsrecht, § 2325 Rn. 31) oderdie gesamte Versicherungsleistung (so u.a. Dörner,NJW 2007, 572; Mayer, DNotZ 2000, 905; Fuchs, JuS1989, 179 [182]; Harder, FamRZ 1976, 617) sein.

Der Senat schließt sich keiner der beiden Ansichten,sondern entwickelt einen dritten Lösungsansatz: DerAnspruch ist nach dem Wert zu berechnen, den derErblasser durch eine Verwertung seiner Rechte ausdem Versicherungsvertrag zuletzt selbst noch hätterealisieren können. Das ist regelmäßig der mit derVersicherung vereinbarte Rückkaufswert bzw. Liqui-dationswert, möglicherweise aber auch ein höhererVeräußerungswert, sofern der Versicherungsvertragauf Dritte (gewerbliche Ankäufer, Investmentfondsetc.) übertragbar ist. Der Senat gelangt zu dieser Er-kenntnis durch eine Betrachtung des Dreiecksverhält-nisses zwischen den Beteiligten. Zu trennen ist dem-nach zwischen dem Schenkungsgegenstand im Valuta-verhältnis (= die Versicherungssumme) und dem „ver-schenkten Gegenstand“ – oder anders ausgedrückt:zwischen dem was der Erblasser aufwendet und wasdem Bezugsberechtigten letztlich zugewendet wird.Gem. § 2325 I BGB hat der Pflichtteilsberechtigte ei-nen Ergänzungsanspruch aber nur insoweit, als derBeschenkte „aus dem Vermögen des Schenkers he-raus“ bereichert ist, die Bereicherung des Beschenktenalso auf einer entsprechenden Entreicherung desSchenkers beruht (vgl. BGHZ 167, 178 [181]). Hier-aus folgert der Senat, dass für die Berechnung des Er-

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gänzungsanspruch der Vermögensabfluss beim Erblas-ser maßgeblich ist. Die Auskehrung der Versiche-rungssumme stellt demgegenüber den Vermögenszu-fluss beim Bezugsberechtigten im Bedingungseintritt(Todesfall) dar. Sie scheidet als Anknüpfungspunktfür die Berechnung mithin aus. Eine Beschränkungdes Ergänzungsanspruchs auf die bereits gezahltenPrämien kommt jedoch ebenso wenig in Betracht.Denn hierin drückt sich nach Ansicht des Senats nochnicht der maßgebliche Entreicherungsgegenstand aus.Vielmehr ist die Entreicherung im Bündel derjenigenRechte aus dem Versicherungsvertrag zu sehen, diedem Erblasser in der juristischen Sekunde vor seinemTod zustehen – im Regelfall ist das der Rückkaufs-wert.

Die Klausurrelevanz der Entscheidung ist nicht zuunterschätzen. Dies gilt auch für eine Klausur deszweiten Staatsexamens, da sich die Problematik zurEinbettung in die Stufenklage gem. § 254 ZPO anbie-tet. Der auf der ersten Ebene zu prüfende Auskunfts-anspruch ergibt sich aus § 2314 BGB. Dieser steht undfällt mit dem Anknüpfungspunkt für den Ergänzungs-anspruch. Denn der Antrag auf Auskunft über die Hö-he einer Versicherungsleistung an den Bezugsberech-tigten kann nur begründet sein, wenn die Versiche-rungsleistung überhaupt in den Ergänzungsansprucheinbezogen wird.

Vertiefungshinweise:

“ Zum bisherigen Meinungsstand: RGZ 128, 187;BGHZ 7, 134; Dörner, NJW 2007, 572; Mayer,DNotZ 2000, 905; Fuchs, JuS 1989, 179 [182]; Har-der, FamRZ 1976, 617

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Leitsätze (der Redaktion:1. Der für die Berechnung des Pflichtteilsergän-zungsanspruchs maßgebliche Entreicherungsge-genstand ist das Bündel an Rechten aus dem Le-bensversicherungsvertrag, das dem Erblasser inder letzten juristischen Sekunde seines Lebens zu-stand. 2. Regelmäßig ist dies der Rückkaufswert (Liqui-dationswert). Könnte der Erblasser auf einemZweitmarkt einen höheren Veräußerungswert er-zielen, ist dieser Wert der Berechnung zu Grundezu legen.

Sachverhalt:S1 und S2 sind die Söhne des E. Die erste Frau des E,die auch die Mutter von S1 und S2 war, ist früh ver-

storben. E hatte vor seinem Tod mit seiner Lebens-gefährtin L zusammengelebt und diese testamentarischzur Alleinerbin eingesetzt. Das Bankguthaben des E –das sein einziges Vermögens darstellt – betrug zumZeitpunkt des Todes rund 100.000 i. Zugunsten der Lhatte er widerruflich eine Lebensversicherung abge-schlossen, auf die er in den letzten zehn Jahren ca.30.000 i an Prämien gezahlt hatte. Die Versiche-rungsleistung im Todesfall beträgt 200.000 i. ImZeitpunkt vor dem Tod des E hätte die Versicherungdie Leistungen zum Preis von 60.000 i zurüc-kgekauft.

Was können S1 und S2 von L verlangen?

Lösung:S1 und S2 könnten einen Anspruch auf den Pflichtteilgem. § 2303 I BGB und auf Pflichtteilsergänzunggem. § 2325 I BGB haben. Als Nachlassverbindlich-keiten richten sich solche Ansprüche gem. §§ 1967 I,II; 1922 BGB gegen die Alleinerbin L.

A. Pflichtteilsanspruch gem. § 2303 I BGB

I. PflichtteilsberechtigungDie Söhne müssten zunächst pflichtteilsberechtigtsein.

1. AbkömmlingePflichtteilsberechtigt sind gem. § 2303 I 1 BGB nurAbkömmlinge des Erblassers. Das sind nach § 1589 S.1 BGB alle Personen, die mit dem Erblasser in geraderabsteigender Linie verwandt sind. Als Söhne des Esind S1 und S2 damit Abkömmlinge gem. §§ 2301 I 1,1589 S. 1 BGB.

2. Ausschluss von der Erbfolge durch Verfügung vonTodes wegen Die Söhne müssten zudem durch Verfügung von To-des wegen von der Erbfolge ausgeschlossen sein. Dasist dann der Fall, da die L per Testament als Allein-erbin eingesetzt worden ist, so dass S1 und S2 i.S.d. §1938 BGB enterbt worden sind. Voraussetzung istjedoch außerdem, dass der Anspruchsteller ohne dieausschließende Verfügung von Todes wegen zur Erb-folge berufen wäre (Palandt/Edenhofer, § 2303 Rn. 2).Ohne das Testament wären die Söhne gem. § 1924 IBGB die gesetzliche Erben des E. Es besteht damitauch der notwendige Kausalzusammenhang. Die An-spruchsvoraussetzungen sind gegeben.

II. Höhe des Pflichtteilsanspruchs Um die Höhe des Pflichtteilsanspruchs zu ermitteln,sind die Pflichtteilsquote und der Nachlasswert zu er-mitteln.

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1. QuoteGem. § 2303 I 2 BGB besteht der Pflichtteil in derHälfte des Wertes des gesetzlichen Erbteils. Die Höhedes gesetzlichen Erbteils bestimmt sich nach §§ 1924ff BGB. Der Erblasser ist vorliegend verwitwet undhatte auch nicht wieder geheiratet. Daher kommen alsErbberechtigte nur seine beiden Kinder in Betracht (§1924 I BGB). Diese erben gem. § 1924 II BGB zugleichen Teilen, d.h. zu ½. Die Pflichtteilsquote alsHälfte des Wertes des gesetzlichen Erbteils beträgtdamit ¼.

2. NachlasswertDer Nachlass des E besteht ausschließlich in demSparguthaben auf dem Bankkonto und beträgt mithin100.000 i.

II. Ergebnis Der Pflichtteilsanspruch von S1 und S2 gegen die Lbeläuft sich damit auf jeweils 25.000 i.

B. Pflichtteilsergänzungsanspruch Die Söhne könnten darüber hinaus einen Pflichtteilser-gänzungsanspruch haben. Dann müsste der Erblassereinem Dritten eine Schenkung gemacht haben, die denNachlass verringert hat. Der Pflichtteilsergänzungs-anspruch gem. § 2325 I BGB bezieht sich auf denjen-igen Teil, um den sich der Pflichtteil erhöht, wenn derverschenkte Gegenstand dem Nachlass hinzugerechnetwird.

I. Abstrakte PflichtteilsberechtigungDer Anspruchsteller müsste pflichtteilsberechtigt sein.Ausreichend ist die abstrakte Pflichtteilsberechtigung,d.h. der Anspruchsteller muss lediglich zum Kreis dervon § 2303 BGB umfassten Personen zählen können(RGZ 80, 135; BGH NJW 1973, 995; Soer-gel/Dieckmann, § 2325 Rn. 1, Staudinger/Olshausen,§ 2325 Rn. 70). Dies ergibt sich bereits aus § 2326 S.1 BGB, wonach der Pflichtteilsberechtigte auch dannErgänzung des Pflichtteils verlangen kann, wenn ihmdie Hälfte des gesetzlichen Erbteils hinterlassen ist. S1und S2 sind hier sogar tatsächlich und nicht nur ab-strakt pflichtteilsberechtigt, so dass sie auch An-spruchsberechtigte i.S.d. § 2325 BGB sind.

II. Schenkung des Erblassers an einen DrittenDer Erblasser müsste einem Dritten ein nicht in denNachlass fallende Schenkung gemacht haben.

1. Kein Nachlassgegenstand Seinem Zweck nach soll § 2325 BGB verhindern, dassder Anspruch des Pflichtteilsberechtigten durchSchenkungen des Erblassers ausgezehrt wird. Die Fra-ge der Pflichtteilsergänzung kann sich mithin erst stel-len, wenn feststeht, dass die Zuwendung nicht in den

Nachlass fällt. Eine zugunsten eines Dritten abge-schlossene Lebensversicherung müsste daher denNachlass schmälern. Dies wird vereinzelt bestritten. §2325 beruhe auf dem Grundsatz, dass der Erblasserverpflichtet ist, den Pflichtteil so zu hinterlassen, wiewenn die Schenkung nicht erfolgt wäre. Demnach istdiejenige Rechtslage zugrundezulegen, die bestandenhätte, wenn der Versicherungsnehmer die Begünsti-gung des Dritten unterlassen und statt dessen einenVersicherungsvertrag zu seinen eigenen Gunsten ab-geschlossen hätte (Harder, FamRZ 1976, 617 [618]). Dann wäre der Nachlass zwar um die gezahlten Prä-mien vermindert, der Versicherungsnehmer hätte al-lerdings einen Anspruch auf die Versicherungssumme,die zu seinem Vermögen gehört. Ungeachtet dessender Anspruch erst mit dem Tode fällig wird und derVersicherungsnehmer nicht selbst in den Genuss derVersicherung kommen kann, gehörte der Anspruch aufdie Versicherungssumme zu seinem Vermögen undwäre mit dem Erbfalls in den Nachlass gefallen. Hierbei wird jedoch der in der Auslegungsregel des §330 S. 1 BGB zum Ausdruck kommende Wille desGesetzgebers verkannt. Danach ist im Zweifel anzu-nehmen, dass der Dritte unmittelbar das Recht erwer-ben soll, die Leistung zu fordern, wenn in einem Le-bensversicherungsvertrag die Zahlung der Versiche-rungssumme an einen Dritten bedungen wird. Daherfällt die Versicherungssumme, für die ein Dritter be-zugsberechtigt ist, gemäß der gesetzlichen Aus-legungsregel nicht in den Nachlass. Der Anspruch desVersicherungsnehmers auf Zahlung der Versiche-rungssumme, für die ein Dritter bezugsberechtigt ist,hat wegen § 330 BGB somit niemals zum Vermögendes Versicherungsnehmers gehört (BGHZ 32, 44[46f.]; MünchKommBGB/Gottwald, § 330 Rn. 16;Staudinger/Olshausen, § 2325 Rn. 38). Auch die aktu-elle Entscheidung des BGH trägt diese Ansicht (vgl.BGH, Urt. v. 28.04.2010, IV ZR 230/08), denn auchhieraus wird ersichtlich, dass der rein theoretisch imVermögen des Erblassers befindliche Gegenstandnicht in der Versicherungssumme, sonder im Liquida-tionswert besteht. Zwar rückt die Rechtsprechung da-von ab, dass die Berechnung des Ergänzungs-anspruchs allein auf Grundlage der Prämienzahlungenzu vollziehen ist. Doch kommt mit der vom Senat ent-wickelten Ansicht klar zum Ausdruck, dass in derVersicherungssumme jedenfalls nicht der sog. Ent-reicherungsgegenstand zu sehen ist und diese damitauch niemals zum Vermögen des Erblassers rechnet.Die zugunsten der L abgeschlossene Lebensversiche-rung fällt damit nicht in den Nachlass.

2. SchenkungBei einem Vertrag zugunsten Dritter müsste dieSchenkung im Valutaverhältnis – zwischen E und L –vorliegen. Der Schenkungsbegriff des § 2325 BGB

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stimmt mit dem des § 516 I BGB überein (BGH, NJW1961, 604 [605]; NJW 1981, 1956; NJW 1982, 2497[2498]). Der Dritte müsste objektiv aus dem Vermö-gen des Erblassers bereichert sein und subjektiv müss-te Einigkeit zwischen Erblasser und Drittem über dieUnentgeltlichkeit der Zuwendung bestanden haben(BGH, FamRZ 1961, 272 [273]; BGH, NJW 1972,1709 [1710]; OLG Oldenburg, FamRZ 2000, 638[639]).

a) Objektiv: Bereicherung aus dem Vermögen desErblassersDie L müsste also durch den zu ihren Gunsten abge-schlossenen Vertrag objektiv aus dem Vermögen desE bereichert sein. Die Tatsache, dass die Schenkunghier in einem Vertrag zugunsten Dritter und damit ineiner mittelbaren Zuwendung beruht, erlaubt jedoch,den Gegenstand der Be- bzw. Entreicherung an ver-schiedene Positionen zu knüpfen. So kommt eine Be-reicherung durch die Versicherungssumme (200.000i), die von E gezahlten Prämien (30.000 i) oder denRückkaufs- bzw. Liquidationswert (60.000 i) in Be-tracht. Worauf letztendlich abzustellen ist, war bis-lang umstritten.

aa) 1. Ansicht: Prämien“[11] Der erkennende Senat ist bislang der Auffassungdes Reichsgerichts (RGZ 128, 187) gefolgt, nach wel-cher auf die Summe der gezahlten Prämien abzustellenist (BGHZ 7, 134; Senatsurteil vom 4. Februar 1976aaO). Der XII. Zivilsenat hat sich dem angeschlossen(BGHZ 130, 377). Dies entsprach bis zur Entschei-dung des IX. Zivilsenats vom 23. Oktober 2003 (aaO)auch der herrschenden Auffassung zum Insolvenz-recht, die nach einer Anfechtung gemäß § 134 InsObei der Rückforderung zur Masse ebenfalls nur dieSumme der vom Erblasser gezahlten Prämien, nichtdagegen die gesamte Versicherungsleistung berücks-ichtigte (vgl. die Nachweise in BGHZ 156, 350, 354).Im Anschluss an die genannte Änderung der höchst-richterlichen Rechtsprechung zum Insolvenzrecht ha-ben einige Instanzgerichte eine entsprechende Anpas-sung für das Pflichtteilsergänzungsrecht für gebotenerachtet (vgl. LG Göttingen NJW-RR 2008, 19; LGPaderborn FamRZ 2008, 1292).[12] Die rechtswissenschaftliche Literatur stimmt zugroßen Teilen auch weiterhin der bisherigen Recht-sprechung des Bundesgerichtshofs zu (vgl. Olshausenin Staudinger, BGB [2006] § 2325 Rdn. 38; JagmannaaO [2004] § 330 Rdn. 53; Lange in Münch-Komm-BGB 5. Aufl. § 2325 Rdn. 38; Birkenheier inJurisPraxisK BGB 4. Aufl. § 2325 Rdn. 70 a.E.; Bockin AnwK 2. Aufl. § 2325 Rdn. 17; Kasper sowie An-dres in Münchener Anwaltshandbuch Erbrecht 2.Aufl. § 46 Rdn. 50 bzw. § 47 Rdn. 19; Leipold, Erb-recht 17. Aufl. Rdn. 581, Fn. 38; Ahrens ErbR 2008,

247; Blum ZEV 2008, 146; Joachim, PflichtteilsrechtRdn. 339; Frömgen, Das Verhältnis zwischen Lebens-versicherung und Pflichtteil [2004] S. 105; Gottwald,Pflichtteilsrecht § 2325 BGB Rdn. 31; KlingelhöfferZEV 1995, 180 und Pflichtteilsrecht 2. Aufl. Rdn.345; Lange/Kuchinke, Erbrecht 5. Aufl. S. 937 untere; Winter in Bruck/Möller, VVG 8. Aufl. Anm. H135). Zum Teil wird diese Lösung trotz dogmatischerBedenken jedenfalls im Ergebnis akzeptiert (vgl.Dieckmann in Soergel, BGB 13. Aufl. § 2325 Rdn. 22;Hilbig ZEV 2008, 262) oder zumindest für bereits beiVertrags- schluss eingeräumte Bezugsrechte anerkannt(vgl. Krause in Frieser/ Sarres/Stückemann/Tschi-choflos, Handbuch des Fachanwalts Erbrecht 3. Aufl.Kapitel 3 Rdn. 271; Riedel/Lenz in Damrau, Praxis-kommentar Erbrecht § 2325 Rdn. 106).”

bb) 2. Ansicht: Versicherungssumme“[13] Die Gegenstimmen in der Literatur (vgl. etwaJörg Mayer DNotZ 2000, 905; Bayer, Der Vertrag zu-gunsten Dritter [1995] S. 315 f.; Lorenz in Dieter Far-ny und die Versicherungswissenschaft [1994] S. 355ff.; Fuchs JuS 1989, 179, 182; Harder FamRZ 1976,617 und Zuwendungen unter Lebenden auf den Todes-fall [1968] S. 128 f. Fn. 36; Thiele, Le- bensversiche-rung und Nachlassgläubiger [1968] S. 107 und 116;Josef ArchBürgR 42 [1916] 319, 322 ff.; NatterZBlFG 1907/08, 303, 305 ff.; wohl auch HeilmannVersR 1972, 997, 999 und 1001) sehen sich durchdie neue Rechtsprechung zum Insolvenzrecht in ihrerAuffassung be- stärkt, dass auf die Versicherungslei-stung abzustellen ist (vgl. Jörg May- er in Bam-berger/Roth, BGB 2. Aufl. § 2325 Rdn. 9; Kollhosserin Prölss/ Martin, VVG 27. Aufl. § 13 ALB 86 Rdn.48; Hasse VersR 2009, 733, VersR 2008, 590, VersR2007, 870, VersR 2005, 1176 und Lebensversi- che-rung und erbrechtliche Ausgleichsansprüche [2005] S.37 ff.; Progl ZErb 2008, 288 und ZErb 2004, 187;Schindler ZErb 2008, 331, 332; Sti- cherling ZErb2008, 31 und ZErb 2008, 245; Dörner NJW 2007,572; Kuhn/Rohlfing ErbR 2006, 11; Elfring ZEV2004, 305, NJW 2004, 483 und Drittwirkungen derLebensversicherung [2003] S. 98; Brox/Walker, Erb-recht 22. Aufl. Rdn. 769; Belitz, Anrechnungs- undAusgleichsprob- leme im Erb- und Familienrecht beiLebensversicherungen [2009] S . 103; Eul -berg/Ott-Eulberg/Halaczinsky, Die Lebensversiche-rung im Erb- und Erbschaftsteuerrecht [2005] Rdn.218).”

cc) 3. Ansicht: Stets Rückkaufwert“[14] Keine größere Beachtung hat dagegen im deut-schen Schrifttum bisher eine bereits vom OLG Colmar(LZ 1913, 876) angedeutete Auffassung gefunden,nach welcher stets der Rückkaufswert maßgeblich seinsoll (so wohl nur Frey, Lebensversicherung und Nach-

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laßinteressen [1996], S. 130 f.).”

dd) Stellungnahme / Entscheidung des BGH „[15] Der Senat vermag keiner der vorgenannten An-sichten voll zuzustimmen.“

(1) Eigenständige Betrachtung von Entreicherungs-und Bereicherungsgegenstand notwendig„[22] Gegenstand der Schenkung im Valutaverhältnisist der gesamte Anspruch auf die Versicherungslei-stung, den der Erblasser dem Bezugsberechtigten zu-wenden wollte.[24] Daraus folgt jedoch nicht, dass dieser Schen-kungsgegenstand ohne weiteres auch bei der Berech-nung des Pflichtteilsergänzungsanpruchs zu Grunde zulegen ist. Dies gilt insbesondere für mittelbare Zuwen-dungen, bei denen Entreicherungsgegenstand und Be-reicherungsgegenstand nicht identisch sind. Diese Be-sonderheit des Rechtsgeschäfts im Valutaverhältniszwingt vielmehr zu einer eigenständigen Ent-scheidung, ob es im Rahmen der Rechtsfolge des §2325 Abs. 1 BGB auf den Entreicherungsgegenstandoder den Bereicherungsgegenstand ankommen soll.

(2) Entreicherungsgegenstand maßgeblich “[26] Im Rahmen der Rechtsfolge des § 2325 Abs. 1BGB ist nicht auf den Schenkungsgegenstand im Va-lutaverhältnis (Bereicherungsgegen- stand), sondernauf den Gegenstand abzustellen, um den das Vermö-gen des Erblassers verringert wird (Entreicherungs-gegenstand). Schutzzweck der §§ 2325 ff. BGB ist,die Aushöhlung des Pflichtteilsrechts durch lebzeitigeRechtsgeschäfte des Erblassers zu verhindern (BGHZ157, 178, 187). § 2325 BGB stellt sicher, dass derErblasser die für den Todesfall festgeschriebene Be-teiligung von Pflichtteilsberechtigten an seinem Ver-mögen der letzten 10 Jahre nicht durch unentgeltlicheWeggabe von Vermögenswerten schmälert. Dagegengewährleistet § 2325 BGB Pflicht- teilsberechtigtennicht die Teilhabe an Zugewinnmöglichkeiten im Zeit-punkt des Todes, die der Erblasser durch eine unent-geltliche Zuwendung seinen Erben genommen hat. Fürdie Pflichtteilsergänzung kommt daher nur ein Gegen-stand in Betracht, der im lebzeitigen Vermögen desErblassers vorhanden war. Dies trifft auf den Entrei-cherungsgegenstand, nicht jedoch auf den Bereiche-rungsgegenstand zu.[27] Der Pflichtteilsberechtigte hat einen Teilhabean-spruch nur in- soweit, als der Beschenkte "aus demVermögen des Schenkers heraus" bereichert ist, dieBereicherung des Beschenkten also auf einer entspre-chenden Entreicherung des Schenkers beruht (vgl. nurBGHZ 157, 178, 181). Für § 2325 BGB ist der Schen-kungsgegenstand des Valutaverhältnisses nur insoweitbedeutsam, als er mit einer konkreten Verminderungdes lebzeitigen Vermögens des Erblassers korrespon-

diert. Eine ausgebliebene Mehrung des Nachlassesreicht hierfür nicht.[28] Dieses Verständnis wird schon im Wortlaut des §2325 Abs. 1 BGB angedeutet, der vom "verschenkten"Gegenstand spricht, was den Blick auf die Maßgeb-lichkeit des Vermögensabflusses, nicht des Vermö-genszuflusses lenkt.[29] Auch die Entstehungsgeschichte der Vorschriftbelegt dieses Verständnis. Nach den Motiven zumBGB braucht der Pflichtteilsberech- tigte Schenkun-gen des Erblassers nicht gegen sich gelten zu lassen,"wenn ihm nicht so viel hinterlassen ist, als derPflichtteil betragen würde, wenn das Verschenkte sichzur Zeit des Erbfalles noch im Nachlasse befände"(Mugdan V, S. 240). Die Verwendung des Wortes"noch" weist bereits auf die Vorstellung der I. Kom-mission, dass der "verschenkte Gegenstand" vor derSchenkung im lebzeitigen Vermögen des Erblassersvorhanden gewesen sein muss, um den Ergänzungs-anspruch auslösen zu können (vgl. auch den Fassungs-antrag a in den Protokollen der II. Kommission, aaOS. 787, der ebenfalls die Wendung "noch zum Nach-lasse gehörte" verwendet). Deutlicher wird dies in denProtokollen der II. Kommission. Dort ist ausgeführt,der Pflichtteilsberechtigte "habe nur einen Anspruchdarauf, dass der Erblasser sein Vermögen nicht durchSchenkungen vermindere, keineswegs aber darauf,dass der Erblasser Schenkungen nicht vornehme undauf diese Weise sein Vermögen vermehre" (aaO S.788). Zwar erfolgte diese Feststellung im Zusammen-hang mit einem Änderungsantrag, der später nicht Ge-setz wurde (vgl. Jakobs/Schubert, Die Beratung desBürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusam-menstellung der unveröffentlichten Quellen, Erbrecht[2002] S. 1988 ff.); es besteht jedoch kein Anhalt da-für, dass die II. Kommission oder der Justizausschussdes Bundesrats von der generellen Richtigkeit dieserFeststellung abrücken wollten. Der historische Gesetz-geber hatte somit durchaus vor Augen, dass der Erb-lasser Vermögenswerte verschenken kann, die niemalsTeil seines lebzeitigen Vermögens waren. Er hat fürdiese Fälle ein Teilhaberecht des Pflichtteilsberechtig-ten verneint.

(3) Zwischenergebnis“[45] Die Berechnung des Pflichtteilsergänzungsan-spruchs richtet sich mithin allein nach dem Wert, dender Erblasser bei einer Verwertung des Ent-reicherungsgegenstands zuletzt selbst noch hätte reali-sieren können (Liquidationswert). Dies ist zunächstder Rückkaufswert, den der Erblasser durch eine Kün-digung ohne weiteres hätte einziehen können. Wäredurch eine Veräußerung der Rechte ein höherer Preiszu erzielen gewesen, käme es auf diesen an. Soweitein Zweitmarkt für die Ansprüche besteht, kann da-nach der auf diesem erzielbare Marktwert zu Grunde

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gelegt werden.”

(4) Kein Konflikt mit § 2325 II 2 BGB und § 2313 I 1BGBDiesem Ergebnis steht weder die Regelungen des §2325 II 2 BGB noch diejenige des § 2313 I 1 BGBentgegen:“[48] Das Abstellen auf die letzte juristische Sekundedes Lebens des Erblassers tritt nur vordergründig inKonflikt mit § 2325 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 BGB, wo-nach ein "anderer Gegenstand", also einer, der - wieder Anspruch auf die Versicherungsleistung - keineverbrauchbare Sache ist, mit dem Wert anzusetzen ist,den er im Zeitpunkt des Erbfalls - also eine juristischeSekunde später - hat. In diesem Moment sind die hierzu bewertenden Ansprüche jedoch bereits weggefal-len, mithin wertlos. Auch ein Abstellen auf den Zeit-punkt der Schenkung führte zu keinem anderen Ergeb-nis, da erst im Zeitpunkt des Erbfalls der Erwerb desBezugsberechtigten vollendet und die Schenkung voll-zogen ist.[49] Dieser - allerdings nur scheinbare - Widerspruchergibt sich jedoch zwangsläufig aus der Konstruktionder mittelbaren Schenkung, bei der der Erblasser denAnspruch des Bezugsberechtigten durch die Preisgabeseiner eigenen Ansprüche - in Form der Umwandlungdes Lebensversicherungsvertrags in einen Vertrag zuGunsten Dritter - "erkauft". Gibt der Schenkende ei-nen Vermögensgegenstand auf (Entreicherungsgegen-stand), damit ein neuer Anspruch eines anderen be-gründet wird (Bereicherungsgegenstand), kann den-knotwendig im Zeitpunkt der Vollendung des Erwerbsder aufgegebene Gegenstand nicht mehr existieren.Fällt aber anerkannter Maßen diese Form der mittelba-ren Zuwendung unter § 2325 Abs. 1 BGB, muss fürdie Durchführung des Niederstwertprinzips des § 2325Abs. 2 Satz 2 BGB der Wert des Entreicherungsgegen-stands (in der letzten juristischen Sekunde, in der ersich noch im Vermögen des Erblassers befindet) mitdem Wert des Bereicherungsgegenstands (in der ers-ten juristischen Sekunde, in der er sich im Vermögendes Bezugsberechtigten befindet), verglichen werden.Damit wird dem Kausalitätserfordernis Rechung ge-tragen. Entscheidend bleibt das Zugewendete, soweites auf dem Aufgewendeten beruht. Durch die Bewer-tung des Entreicherungsgegenstands in der letzten ju-ristischen Sekunde vor dem Erbfall wird somit im Er-gebnis ermittelt, mit welchem Wert dieser zum Zeit-punkt des Erbfalls wirtschaftlich im Bereicherungs-gegenstand enthalten ist.”„[50] Die Ansprüche des Erblassers sind in ihrer Ei-genschaft als aufschiebend bedingte Ansprüche zubewerten. § 2313 Abs. 1 Satz 1 BGB, wonach auf-schiebend bedingte Rechte bei der Bewertung desNachlasses zunächst außer Betracht bleiben, steht dem

nicht entgegen. Zum einen werden die hier zu bewer-tenden Ansprüche gerade nicht Teil des Nachlassesund auch durch § 2325 BGB nicht fiktiv dazu erklärt;lediglich ihr Wert wird für die Berechnung desPflichtteilsergänzungsanspruchs dem Nachlasswertzugeschlagen. Zum anderen trifft § 2313 BGB einevom Stichtagsprinzip des § 2311 Abs. 1 Satz 1 BGBabweichende Regelung des maßgeblichen Be-wertungszeitpunkts (vgl. Haas aaO § 2313 Rdn. 1).Für Pflichtteilsergänzungsansprüche enthält § 2325Abs. 2 BGB jedoch bereits eine eigenständige Rege-lung des maßgeblichen Bewertungszeitpunkts, wes-halb für eine Anwendung des § 2313 BGB kein Raummehr besteht.”

(5) Pflichtteilsergänzungsanspruch im konkreten FallDemnach ist zu Berechnung des Anspruchs aus § 2325I BGB auf den Rückkaufswert abzustellen, der hier60.000 i beträgt. Diese Summe ist dem Nachlass hin-zuzurechnen, so dass sich zur Berechnung des Pflicht-teils gem. § 2303 I BGB ein Vermögen von 160.000 iergibt. S1 und S2 hätten daher einen (fiktiven) Pflicht-teilsanspruch gem. §§ 2303 I; 1924 I, IV BGB von40.000 i gehabt. Der Ergänzungsanspruch besteht inder Differenz und beträgt mithin 15.000 i.

b) Subjektiv: Einigkeit über Unentgeltlichkeit E und L waren sich über die Unentgeltlichkeit der Zu-wendung auch einig.

3. Keine Ausnahme nach § 2325 III 1. HS BGBDie Schenkung bliebe gem. § 2325 III 1. HS BGB un-berücksichtigt, wenn zur Zeit des Erbfalles zehn Jahresei der Leistung des verschenkten Gegenstandes ver-stricken sind. Die erste Prämienzahlung liegt jedochnicht länger als zehn Jahre zurück, so dass der Aus-schlusstatbestand nicht erfüllt ist.

[Anm.: Trotz der vorliegenden Entscheidung des BGHdürfte hinsichtlich § 2325 III BGB dennoch auf diePrämienzahlungen als Zuwendungs- bzw. Entreiche-rungshandlung abzustellen sein. Denn ohne die Zah-lung der Prämien entstünden dem Erblasser auch kei-ne weiteren Rechte, die er im Wege des Rückkaufs-oder der Veräußerung liquidieren könnte. Insofernerscheint i.R.v. § 2325 III BGB auch nach der Recht-sprechungsänderung keine Neubewertung der Situati-on notwendig. Der Senat musste sich hierzu allerdingsnicht äußern.]

C. ErgebnisS1 und S2 können je 40.000 i (aus je 25.000 i gem.§ 2303 I BGB und je 15.000 i gem. § 2325 I BGB)von L verlangen.

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Standort: Strafrecht Problem: Zeitpunkt der Vollendung

BGH, URTEIL VOM 18.02.2010

3 STR 556/09 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:

Die Angeklagten wollten eine Tankstelle überfallenund drangen deshalb dort maskiert ein. Sie bedrohtenden Tankwart mit einem abgebrochenen Schrauben-dreher und zwangen ihn so dazu, die Kasse zu öffnen.Das darin befindliche Bargeld steckten sie in ihre Ta-schen. Dann begannen sie, Zigarettenstangen in meh-rere “gelbe Säcke” zu füllen, um auch diese mitzuneh-men. Bevor sie jedoch mit ihrer Beute fliehen konn-ten, wurden sie von der anrückenden Polizei, die derTankwart vor ihrem Eindringen hatte alarmieren kön-nen, festgenommen.

Das Landgericht Wuppertal hatte die Angeklagtenwegen versuchten schweren Raubes in Mittäterschaft,§§ 249 I, 250 I Nr. 1a, 25 II, 22, 23 StGB verurteilt.Eine Vollendung scheide aus, da die Täter noch kei-nen neuen Gewahrsam an der Beute begründet hätten,sodass noch keine Wegnahme gegeben sei. Auch derQualifikationstatbestand des § 250 II Nr. 1 StGB seinicht verwirklicht, da die Täter den Schraubendrehernur zur Drohung und nicht zur Gewaltanwendung ein-gesetzt hätten und dies kein “Verwenden” im Sinnedieses Tatbestandes darstelle. Auf die Revision derStaatsanwaltschaft hin hob der BGH dieses Urteil auf:Mit dem Einstecken des Geldes sei diesbezüglich eineWegnahme gegeben, sodass der Raub auf jeden Fallinsofern vollendet sei und es deshalb auch nicht da-rauf ankomme, ob auch die Wegnahme der Zigaretten-stangen bereits vollendet sei. Und auch der Tatbestanddes § 250 II Nr. 1 StGB sei durch die Täter bereitsverwirklicht, da hierfür entgegen der Auffassung desLG eine Verwendung des Werkzeugs im Rahmen ei-ner Drohung - wie sie im vorliegenden Fall erfolgt sei- ausreiche.

Prüfungsrelevanz:

Vermögensdelikte - und hier insbesondere die Tatbe-stände, die eine Wegnahme voraussetzen wie §§ 242,249 StGB - sind ständig Gegenstand von Examens-aufgaben. Vom Kandidaten werden hier Detailkennt-nisse und die sorgfältige Prüfung von Einzelfällen ver-langt. Auch die Voraussetzungen der entsprechendenQualifikationstatbestände, §§ 244, 244a, 250, 251StGB, sind hier immer wieder zu prüfen. Der vorlie-gende Fall liefert zwar keine neuen Erkenntnisse, istjedoch ein schöner Aufhänger um die vom BGH an-gesprochenen klassischen Probleme der Vollendungeiner Wegnahme und der Anforderungen an das Ver-wenden i.S.v. § 250 II Nr. 1 StGB einmal anhand ei-

nes typischen und sehr lebensnahen Sachverhalts prü-fen zu lassen.

Tathandlung des Raubes (ebenso wie des Diebstahls)ist die Wegnahme. Eine solche setzt den Bruch frem-den und die Begründung neuen, nicht notwendig täter-eigenen, Gewahrsams voraus (Fischer, § 242 Rn. 10, §249 Rn. 2; Schönke/Schröder-Eser, § 242 Rn. 22, §249 Rn. 2). Die Definition der Wegnahme ist bei bei-den Tatbeständen identisch, lediglich das Vorliegeneines Gewahrsamsbruchs wird bei § 249 I StGB etwasanders geprüft als bei § 242 I StGB (vgl. hierzu dieDarstellung im Skript Strafrecht BT I, Rn. 291 ff.). Ei-ne Vollendung der Wegnahme (und somit des Raubesoder Diebstahls) hängt also insbesondere davon ab, obder Täter bereits neuen Gewahrsam begründet hat.Dies ist dann der Fall, wenn er oder ein Dritter dieSachherrschaft derart erlangt hat, dass er sie ohne Be-hinderung durch den früheren Gewahrsamsinhaberausüben und dieser seinerseits ohne Beseitigung derSachherrschaft des Täters nicht mehr über die Sacheverfügen kann; wann dies der Fall ist, hängt wesent-lich von der Verkehrsanschauung ab (BGH, NStZ1988, 270, 271; BayObLG, NJW 1996, 3000, 3001;OLG Köln, StV 1989, 156; Fischer, § 242 Rn. 17;Schönke/Schröder-Eser, § 242 Rn. 38).

Befindet sich der Täter in einer fremden Herrschafts-bereich wie einem Ladengeschäft (einer sog. “Gewahr-samssphäre”), so hängt der Zeitpunkt der Vollendungder Wegnahme insbesondere von der Größe des Tat-objekts ab. Bei kleinen Sachen wie Münzen oder Rin-gen kann hier das bloße Ergreifen der Sache zur Be-gründung neuen Gewahrsams (in Form einer sog. “Ge-wahrsamsenklave”) und somit zur Vollendung desDiebstahls ausreichen (BGHSt 23, 253; Rengier, BT I,§ 2 Rn. 25). Die Wegnahme dieser Sachen ist jeden-falls dann vollendet, wenn der der Täter sie in seineKleidung oder ein mitgebrachtes Behältnis verbringt;bei größeren Gegenständen wie Büchern oder CDsmuss dies erst geschehen, damit neuer Gewahrsambegründet wird (BGHSt 16, 271; Fischer, § 242 Rn.18; Wessels/Hillenkamp, BT II, Rn. 113). Bei nochgrößeren Gegenständen wie Kühlschränken oder Fern-sehgeräten ist die Bildung einer Gewahrsamsenklavegrds. gar nicht möglich. In allen Fällen ist jedoch da-von auszugehen, dass neuer Gewahrsam spätestensdann begründet wird, wenn der Täter die fremde Ge-wahrsamssphäre verlässt (OLG Karlsruhe, NStZ-RR2005, 140, 141; Krey/Hellmann, BT II, Rn. 41a). Hin-sichtlich der erbeuteten Geldscheine und Münzen wardie Wegnahme also bereits dadurch vollendet, dass dieAngeklagten sich diese eingesteckt hatten. Deshalbkonnte der BGH es auch offen lassen, ob auch bereitseine vollendet Wegnahme hinsichtlich der Zigaretten-

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stangen gegeben war, die die Angeklagten in “gelbeSäcke” gepackt hatten, da jedenfalls das Geld bereitsweggenommen worden und der Raub somit vollendetwar.

Der BGH führt weiter aus, dass auch die Beobachtungder Handlung der Angeklagten durch das Opfer einerBegründung neuen Gewahrsams nicht entgegen steht.Nach herrschender Meinung, der insb. auch die Recht-sprechung folgt, handelt es sich beim Diebstahl - underst recht beim Raub - nämlich nicht um ein heimli-ches Delikt, sodass die Beobachtung des Täters durchdas Opfer (oder einen Dritten) für die Vollendung derWegnahme unbeachtlich ist (BGH, NStZ 2008, 624,625 = RA 2008, 712, 714; Fischer, § 242 Rn. 21;Krey/Hellmann, BT II, Rn. 42). Eine Mindermeinunglehnt die Begründung neuen Gewahrsams bei Beob-achtung des Täters durch das Opfer grundsätzlich ab,da der Täter in diesem Falle nicht mehr die Möglich-keit habe, seine Beute in Sicherheit zu bringen, diesaber Voraussetzung für eine vollendete Wegnahme sei(Schönke/Schröder-Eser, § 242 Rn. 40, Meyer, JZ1962, 620).

Schließlich befasst sich der BGH in der vorliegendenEntscheidung auch mit den Voraussetzungen für das“Verwenden” einer Waffe oder eines anderen gefähr-lichen Werkzeugs i.S.v. § 250 II Nr. 1 StGB. Das LGWuppertal hatte zwar den von den Tätern mitgeführ-ten abgebrochenen Schraubendreher als “anderes ge-fährliches Werkzeug” i.S.v. § 250 I Nr. 1a, II Nr. 1StGB angesehen, den Tatbestand des § 250 II Nr. 1StGB aber dennoch verneint, da die Angeklagten mitdem Schraubendreher nur gedroht hatten und diese Artder Verwendung nicht die Gefahr erheblicher Verlet-zungen mit sich bringe, die aber für § 250 II Nr. 1StGB stets gegeben sein müsse. Nach herrschenderMeinung, insb. der Rechtsprechung des BGH, ist Ver-wenden i.S.v. § 250 II Nr. 1 StGB jeder zweckgerich-tete Gebrauch der Waffe oder des Werkzeugs als Nöti-gungsmittel im Rahmen der Verwirklichung desGrundtatbestandes (BGHSt 26, 176, 180; Fischer, §250 Rn. 18; Schönke/Schröder-Eser, § 250 Rn. 29;Rengier, BT I, § 8 Rn. 9). Hierbei ist es unbeachtlich,ob der Täter das Werkzeug im Rahmen einer Gewal-tanwendung oder einer Drohung verwendet (BGH,NStZ-RR 1999, 102; NStZ 1999, 301; Fischer, § 250Rn. 18a; Schönke/Schröder-Eser, § 250 Rn. 29). KeinVerwenden hingegen ist das bloße Mitsichführen -auch dann nicht, wenn es offen erfolgt -, das deshalbnur über § 250 I Nr. 1a StGB erfasst wird (BGH,NStZ-RR 1997, 7; 2004, 169; Fischer, § 250 Rn 18a).Im vorliegenden Fall hatten die Angeklagten mit demSchraubendreher gedroht, wobei das Opfer diesenauch wahrgenommen hatte, sodass auch der Qualifika-tionstatbestand des § 250 II Nr. 1 StGB (und nicht nur§ 250 I Nr. 1a StGB) verwirklicht war.

Vertiefungshinweise:“ Zur Vollendung der Wegnahme i.S.v. §§ 242, 249StGB: BGH, NStZ 2008, 624 = RA 2008, 712;BayObLG, NJW 1997, 3326; Martin, JuS 1998, 890

“ Zur Wegnahme trotz Beobachtung: BGHSt 16, 271;BGH, NStZ 1987, 71; 1988, 270; Geiger, JuS 1992,834; Otto, JURA 1997, 467

“ Zum Verwenden i.S.v. § 250 II Nr. 1 StGB: BGHSt45, 92; BGH, NStZ-RR 2004, 169; NStZ 2008, 687 =RA 2008, 596; Boetticher/Sander, NStZ 1999, 292;Küper, JZ 1999, 189

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Leitsätze (der Redaktion):1. Die vollendete Wegnahme i.R.v. § 249 I StGBsetzt voraus, dass fremder Gewahrsam gebrochenund neuer Gewahrsam begründet ist. Letzteres be-urteilt sich danach, ob der Täter die Herrschaftüber die Sache derart erlangt hat, dass er sie ohneBehinderung durch den früheren Gewahrsamsin-haber ausüben kann. Für die Frage der Sachherr-schaft kommt es entscheidend auf die Anschauun-gen des täglichen Lebens an. Bei unauffälligen,leicht beweglichen Sachen, wie etwa bei Geldschei-nen sowie Geld- und Schmuckstücken, lässt dieVerkehrsauffassung für die vollendete Wegnahmeschon ein Ergreifen und Festhalten der Sache ge-nügen. Steckt der Täter einen Gegenstand in Zu-eignungsabsicht in seine Kleidung, so schließt erallein durch diesen tatsächlichen Vorgang dieSachherrschaft des Bestohlenen aus und begründeteigenen ausschließlichen Gewahrsam.2. Der Annahme eines Gewahrsamswechsels stehtin diesen Fällen nicht entgegen, dass sich der er-beutete Gegenstand, wie etwa bei Festnahme desTäters am Tatort, noch im Gewahrsamsbereich desBerechtigten befindet.3. Das Tatbestandsmerkmal des Verwendens imRahmen von § 250 II Nr. 1 StGB umfasst jedenzweckgerichteten Gebrauch eines objektiv gefähr-lichen Tatmittels. Nach der Konzeption der Raub-delikte bezieht sich das Verwenden auf den Einsatzdes Nötigungsmittels im Grundtatbestand, so dasses immer dann zu bejahen ist, wenn der Täter zurWegnahme einer fremden beweglichen Sache eineWaffe oder ein gefährliches Werkzeug gerade alsMittel entweder der Gewalt gegen eine Person oderder Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leiboder Leben gebraucht. Dabei setzt (vollendetes)Verwenden zur Drohung voraus, dass das Opfer

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das Nötigungsmittel als solches erkennt und dieAndrohung seines Einsatzes wahrnimmt.

Sachverhalt (vereinfacht):A und M beabsichtigten, in eine Tankstelle einzubre-chen, um Tabakwaren zu stehlen. Als Einbruchswerk-zeug führte A einen Schraubendreher mit sich, dessenspitzes Ende abgebrochen war. Da wider Erwarten derKassierer K noch anwesend war, entschlossen sich Aund M, trotz der veränderten Umstände mit ihrem ge-planten Vorhaben fortzufahren. Als K sah, dass sich Aund M mit übergezogenen Sturmmasken der Ein-gangstür der Tankstelle näherten, löste er bei der Poli-zei einen - stillen - Alarm aus. A und M stürmten inden Verkaufsraum und erklärten K, er solle sich ruhigverhalten, dann werde auch nichts passieren. Auf Ge-heiß von A und M musste sich K in einen Nebenraumbegeben, um dort die Beleuchtung im Verkaufsraumzu löschen. Auf dem Weg dorthin hielt A den K miteiner Hand an dessen linken Arm fest und drückte mitseiner anderen Hand - wie vorher von A und M ge-plant - den abgebrochenen Schraubendreher gegen denRücken des K. Dieser sah das Werkzeug aus den Au-genwinkeln und verspürte einen leichten Druck. Nach-dem K das Licht gelöscht hatte und sie in den Ver-kaufsraum zurückgekehrt waren, wiesen A und M ihnan, sich auf einen Stuhl zu setzen und auf den Bodenzu schauen. Sie verlangten zunächst die Herausgabedes Tresorschlüssels und forderten K sodann auf -nachdem dieser erklärt hatte, einen solchen Schlüsselnicht zu besitzen - die Kasse zu öffnen, was dieserauch tat. A nahm Geld aus der Kasse und steckteselbst 800 i in Scheinen in seine Hosentasche, wäh-rend er M eine Münzrolle im Wert von 50 i übergab,die dieser ebenfalls einsteckte. Sodann füllten A undM - nachdem A den Schraubendreher weggelegt hatte,um mit beiden Händen arbeiten zu können - Zigaret-tenstangen in so genannte gelbe Säcke, die sie von Kverlangt und erhalten hatten. Sie hatten bereits zweiSäcke gefüllt sowie zum Abtransport bereit gestelltund waren dabei einen dritten Sack zu befüllen, alsmehrere Polizeibeamte eintrafen, den Verkaufsraumstürmten und A und M festnahmen.

Strafbarkeit von A und M?

[Bearbeitervermerk: § 123 StGB ist nicht zu prüfen.]

Lösung:

A. Strafbarkeit gem. §§ 249 I, 250 II Nr. 1, 25 II StGBDadurch, dass A und M den K dazu zwangen, die Kas-se zu öffnen, woraufhin A das Geld aus der Kassenahm, das er und M sich einsteckten, könnten sie sichwegen besonders schweren Raubes in Mittäterschaftgem. §§ 249 I, 250 II Nr. 1, 25 II StGB strafbar ge-

macht haben.

I. Tatbestand

1. Grunddelikt: §§ 249 I, 25 II StGBA und M müssten zunächst den Tatbestand des Grund-delikts, also des mittäterschaftlichen Raubes, §§ 249 I,25 II StGB, verwirklicht haben.

a. RaubmittelA und M müssten zunächst ein Raubmittel, also Ge-walt gegen eine Person oder Drohungen mit gegen-wärtiger Gefahr für Leib und Leben, angewendet ha-ben.Gewalt gegen eine Person ist der unmittelbar oder mit-telbar auf den Körper des Opfers bezogene, körperlichwirkende Zwang zur Überwindung geleisteten odererwarteten Widerstands (Fischer, § 249 Rn. 4; Ren-gier, BT I, § 7 Rn. 3). Hierunter fallen insbesondereHandlungen, die die Fortbeweugungsfreiheit des Op-fers einschränken wie Fesseln oder Festhalten(Krey/Hellmann, BT II Rn. 186; Rengier, BT I, § 7Rn. 3). A hatte K festgehalten, also unmittelbar aufden Körper des K bezogenen, körperlich wirkendenZwang ausgeübt, um den erwarteten Widerstand des Kgegen den Überfall zu überwinden. A hat also Gewaltgegen K angewendet.Dadurch, dass A dem K den abgebrochenen Schrau-bendreher gegen den Rücken drückte, hat er auch -konkludent - damit gedroht, K hiermit zu verletzenoder gar zu töten. Auch eine Drohung mit gegenwärti-ger Gefahr für Leib und Leben des K ist somit gege-ben.

b. Fremde bewegliche SacheBei dem erbeuteten Bargeld müsste es sich um einfremde bewegliche Sache handeln.Die von A und M erbeuteten Scheine und Münzensind bewegliche Sachen. Fremd i.S.v. § 249 I StGB isteine Sache dann, wenn sie im Eigentum einer anderenPerson als des Täters steht (Fischer, § 249 Rn. 2, §242 Rn. 5; Joecks, § 249 Rn. 7, Vor § 242 Rn. 9 f.).Eigentümer des Geldes war K, sodass diese Sachen fürA und M fremd waren.

c. WegnahmeA und M müssten das Geld auch weggenommen ha-ben.Eine Wegnahme i.S.v. § 249 I StGB setzt - ebenso wiebei § 242 I StGB - den Bruch fremden und die Be-gründung neuen Gewahrsams voraus (Fischer, § 249Rn. 2, § 242 Rn. 10; Schönke/Schröder-Eser, § 249Rn. 2, § 242 Rn. 22).

aa. Bestehen fremden GewahrsamsAn dem Geld müsste zunächst für A und M fremder

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Gewahrsam - z.B. Gewahrsam des K - bestanden ha-ben.Gewahrsam ist die tatsächliche Herrschaft eines Men-schen über eine Sache, getragen von einem natürli-chen Herrschaftswillen, wobei das Vorliegen dieserVoraussetzungen nach der Verkehrsanschauung zubeurteilen ist (Joecks, § 249 Rn. 8, § 242 Rn. 12 ff.;Schönke/Schröder-Eser, § 249 Rn. 2, § 242 Rn. 31).Solange das Geld noch in der Kasse der Tankstellewar, für die K als Kassierer die Verantwortung trug,hatte K einen entsprechenden Herrschaftswillen bzgl.des Kasseninhalts und - da er auch jederzeit auf denInhalt der Kasse zugreifen konnte - auch die entspre-chende tatsächliche Sachherrschaft. Ursprünglich be-stand also Gewahrsam des K und somit für A und Mfremder Gewahrsam an dem Geld.

bb. Begründung neuen GewahrsamsA und M müssten durch das Einstecken des Geldesauch neuen Gewahrsam hieran begründet haben.Hierzu führt der BGH aus: “[10] Die Auffassung desLandgerichts, die Angeklagten hätten hinsichtlich deraus der Kasse entnommenen 800 i in Banknoten undder Münzrolle im Wert von 50 i, die sich die Ange-klagten schon in ihre Hosentaschen gesteckt hatten,bevor die Polizei eintraf und sie festnahm, ‘noch kei-nen hinreichenden neuen Gewahrsam begründet’ undsomit die Tat nur versucht, begegnet ebenfalls durch-greifenden rechtlichen Bedenken.a) [11] Die vollendete Wegnahme setzt voraus, dassfremder Gewahrsam gebrochen und neuer Gewahrsambegründet ist. Letzteres beurteilt sich danach, ob derTäter die Herrschaft über die Sache derart erlangt hat,dass er sie ohne Behinderung durch den früheren Ge-wahrsamsinhaber ausüben kann. Für die Frage derSachherrschaft kommt es entscheidend auf die An-schauungen des täglichen Lebens an. Dabei macht essowohl für die Sachherrschaft des bisherigen Gewahr-samsinhabers wie für die des Täters einen entschei-denden Unterschied, ob es sich bei dem Diebesgut umumfangreiche, namentlich schwere Sachen handelt,deren Abtransport mit besonderen Schwierigkeitenverbunden ist, oder ob es nur um kleine, leicht trans-portable Gegenstände geht. Bei unauffälligen, leichtbeweglichen Sachen, wie etwa bei Geldscheinen so-wie Geld- und Schmuckstücken, lässt die Verkehrsauf-fassung für die vollendete Wegnahme schon ein Er-greifen und Festhalten der Sache genügen. Steckt derTäter einen Gegenstand in Zueignungsabsicht in seineKleidung, so schließt er allein durch diesen tatsäch-lichen Vorgang die Sachherrschaft des Bestohlenenaus und begründet eigenen ausschließlichen Gewahr-sam. Die Verkehrsauffassung weist daher im Regelfalleiner Person, die einen Gegenstand in der Tasche ihrerKleidung trägt, die ausschließliche Sachherrschaft zu(vgl. BGHSt 16, 271, 273 f.; 23, 254, 255 m. w. N.).

[12] Der Annahme eines Gewahrsamswechsels stehtin diesen Fällen nicht entgegen, dass sich der erbeute-te Gegenstand, wie etwa bei Festnahme des Täters amTatort, noch im Gewahrsamsbereich des Berechtigtenbefindet. Die Tatvollendung setzt keinen gesichertenGewahrsam voraus. Die alsbaldige Entdeckung desTäters und seine Festnahme gibt nur die Möglichkeit,ihm die Sache wieder abzunehmen. Auch eine etwaigeBeobachtung dieses Tatvorgangs ändert an der Voll-ziehung des Gewahrsamswechsels nichts, da derDiebstahl keine heimliche Tat ist und die Beobach-tung dem Bestohlenen lediglich die Möglichkeit gibt,den ihm bereits entzogenen Gewahrsam wiederzuer-langen. Demgemäß nimmt der Bundesgerichtshof inständiger Rechtsprechung regelmäßig Vollendung derWegnahme an, wenn der Täter innerhalb fremder Räu-me leicht bewegliche Gegenstände in seine Kleidungsteckt (vgl. BGHSt 26, 24, 25 f.; Schmitz in Münch-Komm-StGB § 242 Rdn. 52, 61, 72).b) [13] Nach diesen Maßstäben war hier die Wegnah-me mit dem Einstecken des Geldes in die Kleidungvollendet. Besondere Umstände, die eine andere Beur-teilung rechtfertigen könnten, liegen nicht vor. Etwasanderes ergibt sich auch nicht aus der von der Straf-kammer zur Begründung ihrer rechtlichen Würdigungherangezogenen Entscheidung des Bundesgerichtshofsin StV 1985, 323, die eine andere Fallgestaltung zumGegenstand hat. Dahinstehen kann deshalb, ob auchdie Wegnahme der in die Säcke gepackten Zigaretten-stangen bereits vollendet war, zumal die bisherigenFeststellungen offen lassen, wie groß und schwer die-se ganz bzw. teilweise befüllten Behältnisse waren(vgl. Ruß in LK 11. Aufl. § 242 Rdn. 42 m. w. N.).”A und M haben also an dem Bargeld neuen Gewahr-sam begründet.

cc. GewahrsamsbruchDie vorgenommene Gewahrsamsverschiebung müssteauch einen Gewahrsamsbruch darstellen.Ein Gewahrsamsbruch ist dann gegeben, wenn derTäter den fremden Gewahrsam gegen oder ohne denWillen des Gewahrsamsinhabers aufhebt (Lac-kner/Kühl, § 249 Rn. 1; § 242 Rn. 14). Ein Einver-ständnis des Opfers in die Gewahrsamsverschiebungschließt also die Wegnahme aus (BGHSt 4, 199; Lac-kner/Kühl, § 249 Rn. 1, § 242 Rn. 14). Während dieseWertung i.R.v. § 242 I StGB uneingeschränkt gilt,würde der Tatbestand des § 249 I StGB weit gehendleer laufen, wenn man hier jedes - auch ein abgenötig-tes - Einverständnis als Tatbestandsausschluss heran-ziehen würde. Deshalb muss das Vorliegen des Ge-wahrsamsbruchs bei § 249 I StGB etwas anders ge-prüft werden als bei § 242 I StGB.Nach welchen Kriterien das Vorliegen einer Wegnah-me i.R.v. § 249 I StGB zu prüfen ist, hängt letztlichmit dem Verhältnis von Raub und räuberischer Erpres-

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sung und dem für eine Erpressung erforderlichen Op-ferverhalten zusammen. Nach der Rechtsprechung undeinem Teil der Literatur kommt als Opferverhalten imRahmen einer (räuberischen) Erpressung - entspre-chend dem Gesetzeswortlaut - jedes Handeln, Duldenoder Unterlassen in Betracht. Deshalb stelle § 249 IStGB eine lex specialis zu §§ 253 I, 255 StGB dar, dajeder Raub immer auch eine räuberische Erpressungbeinhalte (bei der das Opferverhalten dann in der Dul-dung der Wegnahme bestehe; BGH, NStZ 2003, 604,605; Krey/Hellmann, BT II, Rn. 305). Eine Abgren-zung zwischen Raub und räuberischer Erpressung seideshalb nach dem äußeren Erscheinungsbild vorzu-nehmen (BGHSt 41, 123, 125; BGH, NStZ 1999,350). Nach herrschender Auffassung in der Literaturmuss das Verhalten des Opfers bei einer (räuberi-schen) Erpressung stets - wie beim Betrug - eine Ver-mögensverfügung darstellen. Da der Raub hingegen -wie der Diebstahl - eine Wegnahme voraussetze, stün-den §§ 253 I, 255 StGB und § 249 I StGB - ebensowie § 263 I StGB und § 242 I StGB - in einem Exklu-sivitätsverhältnis (Schönke-Schröder-Eser, § 255 Rn.3; Wessels/Hillenkamp, BT II, Rn. 711). Die Abgren-zung habe bei beiden Deliktspaaren nach der innerenWillensrichtung des Opfers zu erfolgen, wobei eineWegnahme i.R.v. § 249 I StGB dann anzunehmen sei,wenn das Opfer glaube, dass der Täter die Beute auchohne seine Mitwirkung erlangen könne, sich also nichtin einer “Schlüsselstellung” sehe (Joecks, § 249 Rn. 9;Wessels/Hillenkamp, BT II, Rn 713, 371).A hatte im vorliegenden Fall das Bargeld aus der Kas-se genommen. Sein Verhalten stellt also nach demäußeren Erscheinungsbild eine Wegnahme dar. Für dieÖffnung der Kasse war auch kein Schlüssel oder Codeerforderlich. Deshalb ist davon auszugehen, dass sichK auch dessen bewusst war, dass A und M das Geldauch ohne seine Mitwirkung erhalten könnten, sodasser sich nicht in einer Schlüsselstellung gesehen hat.Nach beiden Auffassungen ist also ein Gewahrsams-bruch gegeben. Ein Wegnahme des Geldes liegt somitvor.

d. Mittäterschaft, § 25 II StGBDie Tathandlungen - Gewaltanwendung, Drohung undWegnahme - wurden alle nur von A ausgeführt. Damitauch M als (Mit-) Täter bestraft werden könnte, müss-ten ihm diese Handlungen über § 25 II StGB zu-gerechnet werden können. Dies würde jedoch voraus-setzen, dass A und M die Tat “gemeinschaftlich” i.S.v.§ 25 II StGB, also als Mittäter, begangen haben.Mittäterschaft setzt die gemeinschaftliche Begehungeiner Straftat aufgrund eines gemeinsamen Tatplans,also durch bewusstes und gewolltes Zusammenwirken,voraus (Joecks, § 25 Rn. 61; Wessels/Beulke, AT, Rn.524).A und M hatten den Überfall auf die Tankstelle vorher

geplant und haben bei diesem auch bewusst und ge-wollt zusammengewirkt. A und M müssten die Tataber auch als (Mit-) Täter (und nicht nur als Teilneh-mer) begangen haben.Streitig ist, wie die Mittäterschaft von der Teilnahmeabzugrenzen ist. Nach herrschender Literatur kannTäter nur derjenige sein, der die Tatherrschaft nebsteinem entsprechenden Bewusstsein innehat, also eineZentralfigur des Geschehens darstellt (sog. Tatherr-schaftslehre; Rönnau, JuS 2007, 514; Zöller, JURA2007, 305, 311). Nach der Rechtsprechung reicht füreine Täterschaft grundsätzlich jeder Beitrag aus, so-fern er mit Täterwillen geleistet wird, wobei dessenVorliegen anhand bestimmter Indizien zu prüfen ist,insb. Grad des eigenen Interesses am Taterfolg, Um-fang der Tatbeteiligung, Tatherrschaft und Tatherr-schaftswille (sog. modifizierte Animus-Theorie;BGHSt 45, 270, 296; BGH, NStZ 2006, 94).A und M waren beide während der gesamten Ausfüh-rung des Raubes anwesend und konnten somit jeder-zeit lenkend in den Geschehensablauf eingreifen. Siehatten somit beide Tatherrschaft. Neben der Tatherr-schaft und dem entsprechenden Tatherrschaftswillenhatten sie auch beide insbesondere ein erheblicheseigenes wirtschaftliches Interesse am Taterfolg, da siesich die Beute teilen wollten. Deshalb haben auch bei-de mit Täterwillen gehandelt. Nach beiden Auffassun-gen sind also sowohl A als auch M (Mit-) Täter undnicht nur Teilnehmer, sodass insbesondere M dieHandlungen des A über § 25 II StGB zugerechnet wer-den können.

e. VorsatzA und M handelten beide vorsätzlich hinsichtlich derobjektiven Tatumstände.

f. FinalzusammenhangNach h.M. setzt § 249 I StGB einen Finalzusammen-hang zwischen Raubmittel und Wegnahme voraus,d.h. der Täter muss das Raubmittel einsetzen, um dieWegnahme zu ermöglichen (BGH, NStZ 2003, 431;2004, 153, 154; Schönke/Schröder-Eser, § 249 Rn. 7;Krey/Hellmann, BT II, Rn. 192; a.A. (Kausalität er-forderlich): Joecks, § 249 Rn. 22).A und M haben hier sowohl die Gewaltanwendung alsauch die Drohung gegen K angewendet, um dessenmöglichen Wiederstand gegen die Wegnahme desGeldes zu verhindern, sodass die Anwendung derRaubmittel der Ermöglichung der Wegnahme diente.Der erforderliche Finalzusammenhang ist somit gege-ben.

g. Absicht rechtswidriger ZueignungA und M müssten auch in der Absicht gehandelt ha-ben, sich das Geld rechtswidrig zuzueignen.

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aa. ZueignungsabsichtA und M müssten zunächst mit Zueignungsabsichtgehandelt haben. Die erforderliche Zueignungsabsichtbesteht aus einer Aneignungsabsicht und einem Ent-eignungswillen.Aneignungsabsicht ist die Absicht, die Sache selbstoder den in ihr verkörperten Sachwert zumindest vor-übergehend dem eigenen Vermögen oder dem Ver-mögen eines Dritten einzuverleiben (Fischer, § 249Rn. 19, § 242 Rn. 35; Wessels/Hillenkamp, BT II, Rn.337, 136). Enteignungswille ist der Wille, den Berech-tigten auf Dauer aus seiner Eigentümerposition zu ver-drängen, d.h. ihm die Sache selbst oder den darin ver-körperten Sachwert auf Dauer zu entziehen(Schönke/Schröder-Eser, § 249 Rn. 8; § 242 Rn. 47).A und M hatten die Absicht, das Geld für sich zu be-halten und zu verwenden, also ihrem eigenen Vermö-gen einzuverleiben, sodass sie mit Aneignungsabsichthandelten. Da sie auch dem Berechtigten K das Geldnicht zurückgeben und ihn also dauerhaft aus seinerEigentümerposition verdrängen wollten, ist auch dererforderliche Enteignungswille gegeben. A und M ha-ben also mit Zueignungsabsicht gehandelt.

bb. Rechtswidrigkeit der beabsichtigten ZueignungDie von A und B beabsichtigte Zueignung müssteauch rechtswidrig sein.Rechtswidrig ist die vom Täter beabsichtigte Zueig-nung dann, wenn dieser keinen fälligen durchsetzba-ren Anspruch auf diese hat (Schönke/Schröder-Eser, §249 Rn. 8, § 242 Rn. 59).Da A und M keinen Anspruch auf die Zueignung desGeldes hatten, war die von ihnen beabsichtigte Zueig-nung auch rechtswidrig.

cc. Vorsatz bzgl. der Rechtswidrigkeit der beabsich-tigten ZueignungA und B wussten auch, dass sie keinen Anspruch aufdie Zueignung des weggenommenen Geldes hatten,sodass auch der erforderliche Vorsatz bzgl. derRechtswidrigkeit der beabsichtigten Zueignung gege-ben ist.

Da A und B auch in der Absicht rechtswidriger Zu-eignung gehandelt haben, haben sie somit den Tatbe-stand des Grunddelikts, §§ 249 I, 25 II StGB, verwirk-licht.

2. Qualifikation: § 250 II Nr. 1 StGBA und B könnten auch den Qualifikationstatbestanddes § 250 II Nr. 1 StGB verwirklicht haben. Dazumüssten sie bei dem Raub eine Waffe oder ein anderesgefährliches Werkzeug verwendet haben.

a. Waffe oder anderes gefährliches WerkzeugZunächst müsste es sich bei dem abgebrochenen

Schraubendreher um eine Waffe oder ein anderes ge-fährliches Werkzeug gehandelt haben.Hierzu der BGH: “[6] Zutreffend geht das Landgerichtallerdings davon aus, dass es sich bei dem von demAngeklagten A geführten Schraubendreher um eingefährliches Werkzeug im Sinne beider Qualifika-tionsvarianten [§ 250 I Nr. 1a StGB und § 250 II Nr. 1StGB] handelte; denn dieser Schraubendreher war einGegenstand, der nach seiner objektiven Beschaffen-heit geeignet war, einem Opfer erhebliche Körperver-letzungen zuzufügen, etwa bei einem Einsatz als Stich-werkzeug.”Der Schraubendreher stellt also ein anderes gefähr-liches Werkzeug i.S.v. § 250 II Nr. 1 StGB dar.

b. GebrauchenA und M müssten dieses Werkzeug auch gebrauchthaben.A hat zwar mit den Schraubendreher gedroht (s.o.),Gewalt angewendet hat er mit diesem jedoch nicht, daer insb. nicht damit zugestochen hat. Fraglich ist, obdies für ein Verwenden i.S.v. § 250 II Nr. 1 StGB aus-reicht.Der BGH führt insofern aus: “[7] Dieses gefährlicheWerkzeug hat der Angeklagte A nicht (nur) im Sinnedes § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a StGB bei sich ge-führt, sondern gemäß § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB auchverwendet. Das Landgericht ist von einem rechtlichunzutreffenden Begriff des Verwendens ausgegangen.a) [8] Das Tatbestandsmerkmal des Verwendens um-fasst jeden zweckgerichteten Gebrauch eines objektivgefährlichen Tatmittels. Nach der Konzeption derRaubdelikte bezieht sich das Verwenden auf den Ein-satz des Nötigungsmittels im Grundtatbestand, so dasses immer dann zu bejahen ist, wenn der Täter zurWegnahme einer fremden beweglichen Sache eineWaffe oder ein gefährliches Werkzeug gerade als Mit-tel entweder der Gewalt gegen eine Person oder derDrohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Le-ben gebraucht (BGHSt 45, 92, 94 f. m. w. N.; BGHNStZ 2008, 687; Sander in MünchKomm-StGB § 250Rdn. 58). Dabei setzt (vollendetes) Verwenden zurDrohung voraus, dass das Opfer das Nötigungsmittelals solches erkennt und die Androhung seines Einsat-zes wahrnimmt. Drohung ist das Inaussichtstellen ei-nes künftigen Übels, auf das der Drohende Einflusshat oder zu haben vorgibt (BGHSt 16, 386) und dessenVerwirklichung er nach dem Inhalt seiner Äußerungfür den Fall des Bedingungseintritts will. Die Äuße-rung der Drohung kann ausdrücklich oder konkludenterfolgen (Fischer, StGB 57. Aufl. § 240 Rdn. 31 m. w.N.). Kein Verwenden ist das bloße Mitsichführen undzwar grundsätzlich auch dann nicht, wenn es offenerfolgt (BGH NStZ-RR 2004, 169; Fischer aaO § 250Rdn. 18).b) [9] Danach hat der Angeklagte A, indem er dem

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Kassierer den Schraubendreher - den dieser gesehenhatte - in den Rücken drückte, entgegen der Auffas-sung des Landgerichts den Tatbestand des § 250 Abs.2 Nr. 1 StGB objektiv verwirklicht. Er drohte durchdiese Handlung - im Zusammenwirken mit der vor-angegangen Äußerung, wenn sich der Zeuge ruhigverhalte, werde (ihm) nichts geschehen - konkludentdamit, bei Widerstand und Nichtbefolgung seiner For-derungen dieses gefährliche Werkzeug als Stichwerk-zeug gegen ihn einzusetzen. Entgegen der Auffassungdes Landgerichts setzt der Begriff des Verwendensnicht voraus, dass sich aus der Art des Einsatzes desobjektiv gefährlichen Tatmittels eine konkrete Gefahrerheblicher Verletzungen ergibt. Vielmehr genügt je-des Benutzen solcher Tatmittel bei der Anwendungvon Gewalt oder - wie hier - als Drohmittel (BGHSt45, 92, 94 f.).”Ein Verwenden des Werkzeugs i.S.v. § 250 II Nr. 1StGB ist somit - zumindest durch A - gegeben. DieseTathandlung des A muss sich M - da auch sie vomgemeinsamen Tatplan gedeckt war - gem. § 25 II StGBzurechnen lassen (s.o.).

c. VorsatzA und M handelten auch hinsichtlich der Verwirkli-chung des Qualifikationstatbestandes vorsätzlich.

II. Rechtswidrigkeit und SchuldA und M handelten auch rechtswidrig und schuldhaft.

III. ErgebnisA und M sind strafbar gem. §§ 249 I, 250 II Nr. 1, 25II StGB.

B. Strafbarkeit gem. §§ 253 I, 255, 250 II Nr. 1, 25 IIStGBDadurch, dass A und M den K dazu zwangen, die Kas-se zu öffnen, und so das Geld erbeuteten, könnten siesich auch wegen besonders schwerer räuberischer Er-pressung in Mittäterschaft gem. §§ 253 I, 255, 250 IINr. 1, 25 II StGB strafbar gemacht haben.Nach der Rechtsprechung und einem Teil der Literaturstellt Raub nur eine lex specialis zur räuberischen Er-pressung dar (s.o.), sodass jeder Raub immer eine räu-berische Erpressung beinhaltet und diese deshalb aufKonkurrenzebene hinter den spezielleren Raub zurüc-ktritt (BGH, NStZ 2003, 604, 605; Krey/Hellmann,BT II, Rn. 305). Da A und M sich wegen mittäter-schaftlichen besonders schweren Raubes gem. §§ 249I, 250 II Nr. 1, 25 II StGB strafbar gemacht haben(s.o.), ist nach der Rechtsprechung also der Tatbestanddes §§ 253 I, 255, 250 II Nr. 1, 25 II StGB - selbstver-ständlich - mitverwirklicht, tritt aber auf Konkurrenz-ebene zurück.Nach herrschender Literatur hingegen stehen Raubund räuberische Erpressung in einem Exklusivitäts-

verhältnis (s.o.). Da A und M den Tatbestand des §§249 I, 250 II Nr. 1, 25 II StGB verwirklicht haben(s.o.), können sie somit nicht gleichzeitig auch denTatbestand der §§ 253 I, 255, 250 II Nr. 1, 25 II StGBerfüllen. Nach dieser Meinung ist also bereits der Tat-bestand der schweren räuberischen Erpressung durchA und M nicht erfüllt.Nach beiden Auffassungen ist eine eigenständigeStrafbarkeit von A und M wegen mittäterschaftlicherbesonders schwerer räuberischer Erpressung nicht ge-geben.

C. Strafbarkeit gem. §§ 239a I 1. Fall, 25 II StGBA und M könnten sich jedoch dadurch, dass sie K mitdem abgebrochenen Schraubendreher bedrohten, umso den Inhalt des Tresors und der Kasse zu erbeuten,wegen mittäterschaftlichen erpresserischen Menschen-raubes gem. §§ 239a I 1. Fall, 25 II StGB strafbar ge-macht haben.

I. Tatbestand

1. TathandlungA und M müssten K entführt oder sich des K bemäch-tigt haben.Entführen ist das Verbringen des Opfers gegen seinenWillen an einen anderen Ort, an dem dem ungehemm-ten Einfluss des Täters ausgesetzt ist (BGH, NJW1995, 471, 472; Fischer, § 239a Rn. 4; Krey/Hell-mann, BT II, Rn. 323).Da A und M mit K während der gesamten Tatausfüh-rung in der Tankstelle verblieben und diesen nicht aneinen anderen Ort verbracht haben, ist ein Entführennicht gegeben. Sie könnten sich jedoch des K bemäch-tigt haben.Sichbemächtigen ist die Erlangung der physischenHerrschaftsgewalt über das Opfer (BGH, NStZ-RR2004, 33, 334; Joecks, § 239a Rn. 9; Krey/Hellmann,BT II, Rn. 324). Hierfür reicht es insbesondere aus,wenn der Täter das Opfer mit einer Waffe oder einemanderen gefährlichen Werkzeug bedroht und so “inSchach hält” (BGH, NStZ 1999, 509; Lackner/Kühl, §239a Rn. 3; Krey/Hellmann, BT II, Rn. 324).A und M haben K mit einem abgebrochenen Schrau-bendreher, also einem anderen gefährlichen Werk-zeug, bedroht (s.o.) und diesen so in Schach gehalten.Ein Sichbemächtigen ist somit gegeben.

2. Mittäterschaft, § 25 II StGBA und M haben den Tatbestand des § 239a I StGB -ebenso wie denjenigen des § 249 I StGB (s.o.) - ge-meinschaftlich aufgrund eines gemeinsamen Tatplanesund somit als Mittäter verwirklicht.

3. VorsatzA und M handelten auch vorsätzlich.

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4. AusnutzungsabsichtA und M müssten auch in der Absicht gehandelt ha-ben, die Sorge des Opfers um sein Wohl oder die Sor-ge eines Dritten um das Wohl des Opfers zu einer Er-pressung (§ 253 StGB) auszunutzen.Da A und M nicht vorhatten, einen Dritten mit in dieTat hineinzuziehen, kommt also eine Ausnutzungs-absicht allenfalls in der Variante in Betracht, dass Aund M “die Sorge des Opfers (K) um sein Wohl” aus-nutzen wollten. Der Tatbestand des § 239a I 1. FallStGB bedarf jedoch in solchen Zweipersonenverhält-nissen einer teleologischen Reduktion (BGHSt 39, 36,41 f.; Krey/Hellmann, BT II, Rn. 355a). Insofern istnämlich zu beachten, dass ohne eine solche Einschrän-kung in vielen Fällen des Raubes und der räuberischenErpressung gleichzeitig ein Fall des erpresserischenMenschenraubes vorläge, weil in der für § 249 I StGBbzw. §§ 253 I, 255 StGB erforderlichen qualifiziertenGewalt oder Drohung auch meist ein Sichbemächtigenläge. bei einer uneingeschränkten Anwendung von §239a I StGB neben §§ 249 I; 253 I, 255 StGB würdenRaub und räuberische Erpressung, obwohl diese ei-gentlich in solchen Konstellationen die typischerenDelikte darstellen, wegen der hohen Mindeststrafe deserpresserischen Menschenraubes letztlich völlig anBedeutung verlieren. Deshalb kann der Tatbestand des§ 239a StGB hier nicht uneingeschränkt anzuwendensein, sondern bedarf einer teleologischen Reduktion.Bei der Durchführung dieser Reduktion ist zu berücks-ichtigen, dass es sich bei § 239 a I 1. Fall StGB um einunvollkommen zweiaktiges Delikt handelt (BGH,NJW 1995, 471; Fischer, § 239a Rn. 7; Krey/Hellman,BT II, Rn. 335d). Neben dieser Deliktsstruktur sprichtauch der Wortlaut der Norm (“auszunutzen”) dafür,dass § 239a I 1. Fall StGB in Zweipersonenverhält-nissen nur in den Fällen einer “stabilisierten Zwangs-lage” anzuwenden sei. Eine solche ist jedoch nur dannanzunehmen, wenn der Täter vorhat, nach Schaffungder Zwangslage des Opfers (durch das Entführen oderSichbemächtigen, den ersten Teilakt) erst eine gewisseZeit zu warten, bevor er dann diese Zwangslage zu

einer Erpressung ausnutzt (der zweite Teilakt).Im vorliegenden Fall haben sich A und M des K ins-besondere dadurch bemächtigt, dass sie ihm einen ab-gebrochenen Schraubendreher in den Rücken drückten(s.o.). Diese Handlung stellt jedoch auch gleichzeitigdie Drohung im Rahmen des von den Tätern geplantenVermögensdeliktes (§ 249 I StGB bzw. §§ 253 I, 255StGB) dar (s.o.), sodass keine Stabilisierung derZwangslage eintreten konnte. Aufgrund der erforderli-chen teleologischen Reduktion ist § 239a I 1. FallStGB im vorliegenden Fall nicht anwendbar.

II. ErgebnisA und M sind nicht strafbar gem. §§ 239a I 1. Fall, 25II StGB.

D. Strafbarkeit gem. §§ 239b I 1. Fall, 25 II StGBAus denselben Gründen scheidet auch eine Strafbar-keit gem. §§ 239b I 1. Fall, 25 II StGB aus, da dieserTatbestand aufgrund der insofern identischen Strukturals unvollkommen zweiaktiges Delikt in Zweiperso-nenverhältnissen ebenso teleologisch zu reduzieren istwie § 239a I 1. Fall StGB.

E. Strafbarkeit gem. §§ 242 I, 244 I Nr. 1a, 25 IIStGB; §§ 246 I, 25 II StGB; §§ 240 I, 25 II StGB; §§241, 25 II StGB; 239 I, 25 II StGBDie mitverwirklichten Delikte des mittäterschaftlichenDiebstahls mit Waffen, §§ 242 I, 244 I Nr. 1a, 25 IIStGB, der mittäterschaftlichen Unterschlagung, §§246 I, 25 II StGB, der mittäterschaftlichen Nötigung,§§ 240 I, 25 II, der mittäterschaftlichen Bedrohung, §§241, 25 II StGB und der mittäterschaftlichen Freiheits-beraubung, §§ 239 I, 25 II StGB, sind bei einem be-sonders schweren Raub notwendigerweise oder zu-mindest regelmäßig mit verwirklicht, sodass sie hinter§§ 249 I, 250 II Nr. 1, 25 II StGB zurücktreten.

F. GesamtergebnisA und M sind strafbar gem. §§ 249 I, 250 II Nr. 1, 25II StGB.