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Abschied von der Universalgeschichte: Ein Plädoyer für die Diversifizierung der Geschichtswissenschaft Author(s): Michael Brenner Source: Geschichte und Gesellschaft, 30. Jahrg., H. 1, Stalinismus (Jan. - Mar., 2004), pp. 118- 124 Published by: Vandenhoeck & Ruprecht (GmbH & Co. KG) Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40186102 . Accessed: 10/09/2013 15:35 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Vandenhoeck & Ruprecht (GmbH & Co. KG) is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Geschichte und Gesellschaft. http://www.jstor.org This content downloaded from 142.150.190.39 on Tue, 10 Sep 2013 15:35:02 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

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Abschied von der Universalgeschichte: Ein Plädoyer für die Diversifizierung derGeschichtswissenschaftAuthor(s): Michael BrennerSource: Geschichte und Gesellschaft, 30. Jahrg., H. 1, Stalinismus (Jan. - Mar., 2004), pp. 118-124Published by: Vandenhoeck & Ruprecht (GmbH & Co. KG)Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40186102 .

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Diskussionsforum

Abschied von der Universalgeschichte: Ein Plädoyer für die Diversifizierung der Geschichtswissenschaft

von Michael Brenner

I. Wir alle kennen das Szenario: Eine Stelle an einem Historischen Institut ist neu zu besetzen. Der Ausschreibungstext lautet auf Neuere und Neueste Geschichte. In der Stellenbeschreibung oder in den internen Vorberatungen wird der erwünschte Schwerpunkt deutlich, sagen wir Vormärz, Kaiserreich oder Weimarer Republik, vielleicht auch Geschichte der Bundesrepublik. Der hehre Anspruch, Universalgeschichte zu betreiben, der sich hinter ei- nem Begriff wie „Neuere Geschichte" oder „Zeitgeschichte" verbirgt, er- lischt spätestens dann, wenn es in die Berufungskommission geht. Ein Kan- didat oder eine Kandidatin, die keine relevante Studie auf dem Gebiet der deutschen Geschichte veröffentlicht hat, gilt als Exotin und ist letztlich chancenlos. Mehr noch: Amerikanische Geschichte in Deutschland zu er- forschen bedeutet nicht selten, einen Schwerpunkt auf die deutsch-ameri- kanischen Beziehungen zu legen; die Beschäftigung deutscher Historiker mit französischer Geschichte verlangt im Klartext den deutsch-französi- schen Vergleich; die Untersuchung des italienischen Faschismus geschieht zumeist aus der Perspektive der Nationalsozialismusforschung. Selbstverständlich gibt es Ausnahmen von diesen Regeln, aber genau be- sehen besteht doch ein großer Unterschied zwischen der deutschen und der angelsächsischen Forschungstradition. In Großbritannien und den USA leh- ren nicht nur an den bedeutendsten Universitäten Experten der verschie- densten geographischen Gebiete. Häufig findet man dort Professuren für die Geschichte Südeuropas und Skandinaviens, Afrikas und Lateinameri- kas, um nur einige Beispiele zu nennen. Selbstverständlich hat jede größere englische oder amerikanische Universität ihre Spezialisten auf dem Gebiet der deutschen, französischen oder russischen Geschichte. Wie viele heraus- ragende Wissenschaftler deutscher Geschichte wirken nicht zwischen Kiel und München, sondern in Stanford, Columbia, Oxford oder Edinburgh! Wie viele außerhalb Deutschlands renommierte Spezialisten britischer und ame- rikanischer Geschichte bereichern aber unsere historischen Seminare? Man mag sie getrost an einer Hand abzählen, und fast alle beschäftigen sich darüber hinaus auch noch mit der Geschichte Deutschlands. Daß dies kein ausschließlich deutsches, aber eben auch ein deutsches Pro- blem ist, unterstrich vor kurzem der britische Historiker Richard Evans:

Geschichte und Gesellschaft 30 (2004) S. 118-124 © Vandenhoeck & Ruprecht 2004 ISSN 0340-613 X

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Abschied von der Universalgeschichte 119

„Die in Frankreich vorherrschende Ansicht von der kulturellen Überlegenheit des eigenen Landes hat dazu geführt, daß sich viele Historiker kaum für die Geschichte anderer Länder interessieren [. . .] Werke französischer Historiker, die vorgeben, allgemeine Trends der Geschichte des Westens zu behandeln, basieren allzuoft aus- schließlich auf französischen Belegen und ignorieren vollständig die Erfahrung ir- gendeines Landes östlich des Rheins. In Deutschland sichert die Obsession der nationalen Selbstprüfung, angesichts des Völkermords unter Hitler nur verständlich, daß kaum jemand eine erfolgreiche Karriere als Historiker machen kann, der sich ausschließlich mit der Geschichte eines anderen Landes befaßt; und ungeachtet der Eröffnung von Deutschen Historischen Instituten in London, Paris, Washington, Rom und Warschau, zur Unterstützung deutscher Wissenschaftler, die die Geschich- te dieser Länder studieren, bleibt die Tatsache unbestreitbar, daß der Beitrag deut- scher Historiker zur Geschichte anderer Länder in den letzten Jahrzehnten bedau- erlicherweise nicht allzu groß war. Im Gegensatz dazu kann kein deutscher Histo- riker es sich leisten, die Reihe vorzüglicher Arbeiten zur neueren deutschen Geschichte zu ignorieren, die englische und amerikanische Historiker verfaßt ha- ben."1

Der von Evans geschilderte Mißstand hat zahlreiche Ursachen. Daß es im

angelsächsischen Raum besser aussieht, liegt natürlich auch an sprachli- chen Vorteilen, die ausländischen Wissenschaftlern den Eingang erleich- tern, und sicher spielen gerade im britischen Fall koloniale Traditionen eine Rolle. Aber der Hauptgrund ist in unserem System verankert, das Staatsex- amenskandidaten mit einer klar nationalen, oft auch landesgeschichtlichen Orientierung durch die Prüfungen schleusen muß, das Assistenten häufig nach den Interessen der Lehrstuhlinhaber besetzt (wohingegen Assistenz-

professoren eben ein im Department sonst nicht vorhandenes Forschungs- gebiet vertreten) und das dadurch noch immer ganz klar „zentrale" von „exotischen" Bestandteilen des Curriculums trennt. Zentral ist dabei in der

Regel das, was einem näher liegt. Immer wieder wird an bedeutender Stelle und von gewichtigen Repräsen- tanten die Internationalisierung unserer Geschichtswissenschaft eingefor- dert. So tat es Bundespräsident Herzog seinerzeit bei der Eröffnung des

Historikertags in München, so begann der Rezipient des Deutschen Histo-

rikerpreises 2001, Wolfgang Reinhard, seine Dankesrede. Ein wenig Wir-

kung haben diese Worte gewiß schon gezeigt. Die Debatte in „Geschichte und Gesellschaft" ist Indiz hierfür, vereinzelte Stellenausschreibungen in

Richtung europäische oder außereuropäische Geschichte haben es in den letzten Jahren unterstrichen. Insgesamt bleibt aber noch viel zu tun. Das Studium der Geschichte muß auch die Gesellschaft widerspiegeln, in der es verankert ist. Diese stellt sich heute aber anders dar als vor dreißig oder

vierzig Jahren. Jedes historische Seminar einer größeren Universität sollte

1 R.Evans, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis. Frankfurt 1999, S. 172-73.

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1 20 Michael Brenner

den Studierenden neben der deutschen Geschichte vielleicht nicht jedes Semester, aber doch regelmäßig, ein breitgefächertes Angebot an Lehrver- anstaltungen zur europäischen Geschichte wie auch zur amerikanischen und türkischen, zur afrikanischen und ostasiatischen Geschichte anbieten. Ist das Studium all dieser Kulturen auf Spezialfächer wie Amerikanistik, Turkologie und Sinologie beschränkt, wird in der Regel ein stark philolo- gischer Zugang gewählt und den Geschichtsstudenten ein unzureichendes Bild nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der heutigen, eng mitein- ander verzahnten Welt vermittelt. Selbstverständlich sind diese Ziele nicht leicht zu vermitteln, dürfen sprachliche Voraussetzungen nicht einfach fallengelassen werden. Aber nichts spricht dagegen, gelegentlich auch ein Seminar zur türkischen Ge- schichte für Studierende ohne Türkischkenntnisse zu öffnen, und warum sollte nicht mehr Anreiz geschaffen werden, Nicht-Sinologen in eine Vor- lesung zur chinesischen Kultur zu holen? Für die sich in den jeweiligen Gebieten Spezialisierenden bleiben die Sprachkenntnisse fraglos zentral. Die einzige bedeutende Ausnahme einer institutionell verankerten nicht- deutschen Geschichtsdisziplin bildet die Geschichte Osteuropas. Neuer- dings wird bedauerlicherweise gerade in diesem Bereich der Rotstift ange- setzt, was nicht gerade einer weiteren Öffnung unseres Horizonts dienlich ist. Zu bedenken wäre allerdings, ob die osteuropäische Geschichte unbe- dingt als eigenes Fach, wie dies normalerweise der Fall ist, neben Fächern wie der Mittelalterlichen oder der Neueren und Neuesten Geschichte beste- hen soll. Eine derartige (häufig selbstgewollte) Ausgrenzung bedeutet ja wiederum nichts anderes als die Monopolisierung der Neueren Geschichte als deutscher oder mitteleuropäischer Geschichte. Hat Osteuropa nicht auch ein Mittelalter und eine Neuzeit, und sollte es nicht Teil einer nach Epochen gegliederten historischen Fächerlandschaft werden? Die hier geforderte Ausweitung der Geschichtswissenschaft unterscheidet sich auf den ersten Blick deutlich von der am Eingang der Debatte in dieser Zeitschrift herbeigesehnten „transnationalen" Geschichtswissenschaft. Ich gebe gerne zu, daß es angesichts der wachsenden Transterritorialität und Globalisierung altmodisch erscheinen mag, eine nationale Geschichte durch viele nationale Geschichten zu ersetzen, wie dies aus dem bisher Beschriebenen hervorgeht. Die beiden Konzepte widersprechen sich jedoch keineswegs; die zugrunde liegenden Differenzen sind eher pragmatischer Natur. So wie es von Arnold Toynbee über Fernand Braudel bis hin zu William McNeill und in unserem Kontext vielleicht Jürgen Osterhammel und Wolfgang Reinhard in jeder Generation und Gesellschaft nur wenige „Universalhistoriker" geben kann, so wird die transnationale Geschichts- wissenschaft bei aller Notwendigkeit auch in Zukunft die Ausnahme blei- ben. Diese verstärkt einzufordern - z. B. in Kategorien der Verfassungs-, Wirtschafts- oder Wissenschaftsgeschichte, um nur einige gangbare Wege zu nennen - wird ein vordringliches Ziel bleiben.

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Neben der wachsenden Globalisierung haben wir aber auch der zunehmen- den Spezialisierung Rechnung zu tragen. Wollen wir nicht lauter Dilettan- ten ausbilden, so müssen wir die mit der Sprache und Literatur bestens vertrauten Fachleute der jeweiligen Teilgeschichten verstärkt integrieren, d. h. nicht nur eine transnationale, sondern auch eine internationale Ge- schichtswissenschaft fördern. Universalgeschichte heißt in diesem Fall nicht an das Gesamte als eine unteilbare Einheit heranzugehen, sondern wie in einem Puzzle die verschiedenen Bestandteile zu einem Ganzen zusam- menzufügen. Dies kann durch die gegenseitige Kooperation in einem breit besetzten Historischen Seminar ausgezeichnet funktionieren. So profitieren letztlich nicht nur die Studierenden, sondern auch die Kollegen von einer Diversifizierung unserer Historischen Seminare.

//. Am Beispiel der jüdischen Geschichte läßt sich die Gegenüberstellung von National- und Universalgeschichte pointiert beleuchten. Zugegebener- maßen bildet die Geschichte der Juden mit ihrem langen Zeitrahmen, ihrer

geographischen Ausbreitung, der Staatslosigkeit und Verfolgungsgeschichte nicht gerade ein repräsentatives Beispiel für andere Teilgeschichten. Gerade darum aber verdeutlicht sie wie unter einem Brennglas die Problematik, um die es hier gehen soll. Ist die Geschichte der Juden die Geschichte einer Nation oder einer Religion - ist sie als einheitliche Geschichte vielleicht gar nur ein nachträgliches Kon- strukt? Die Titel der vielbändigen nachbiblischen jüdischen Geschichten, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf den Büchermarkt kamen, sprechen für sich. Isaak Markus Jost nannte sein noch in der ersten Jahrhunderthälfte entstandenes Werk „Geschichte der Israeliten" und machte damit den reli-

giösen Charakter deutlich. Der populärste Historiker jüdischer Geschichte, Heinrich Graetz sprach dagegen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der „Geschichte der Juden" und leitete die Wendung zu einer national

gefärbten Geschichtsschreibung ein, die von dem russisch-jüdischen Histo- riker Simon Dubnow in seiner zehnbändigen, zunächst auf deutsch erschie- nenen „Weltgeschichte des jüdischen Volkes" vervollständigt und von seinen zionistisch orientierten Kollegen um eine palästinozentrische Komponente erweitert wurde. Bereits nach Erscheinen von Dubnows insgesamt vielrespektiertem Werk Mitte der zwanziger Jahre mokierte sich der deutsch-jüdische Historiker Is- mar Elbogen von der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums über den Begriff „Weltgeschichte des jüdischen Volkes", „da kein einziges Volk, auch nicht das über die Welt verbreitete jüdische eine Vorgeschichte hat."2 Es ging hierbei selbstverständlich um weit mehr als nur um Begrifflich- keit. Der als Diasporanationalist auch politisch aktive und für eine nationale

2 I. Elbogen, Zu S. Dubnows Geschichtswerk, in: Monatsschrift für Geschichte und Wis- senschaft des Judentums 70. 1926, S. 145.

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Autonomie der osteuropäischen Juden eintretende Dubnow entwickelte ein, um wechselnde geographische Zentren aufgebautes, einheitliches Konzept für den Gesamtverlauf der jüdischen Geschichte. Jüdische Geschichte war für ihn, und viel radikaler noch für seine zionistischen Kollegen und Nachfolger, eine nationale Geschichte im transnationalen Kontext. Elbogen dagegen wich von dem Konzept der Geschichte einer über die ganze Welt verstreuten Na- tion, einer „jüdischen Weltgeschichte" also, ab. Die unterschiedlichen Lesarten sollten wenige Jahre später noch deutlicher zum Ausdruck kommen, als der erste Inhaber eines Lehrstuhls für Jüdische Geschichte an der 1925 feierlich gegründeten Hebräischen Universität in Jerusalem, der aus Deutschland stammende Jitzchak (Fritz) Baer den ersten Inhaber eines Lehrstuhls für Jüdische Geschichte in der westlichen Welt, Salo W. Baron von der New Yorker Columbia University, scharf kritisierte. Baron hatte eben eine dreibändige „Social and Religious History of the Jews" - die er in einer zweiten Fassung auf 18 Bände erweitern sollte -

herausgegeben, in der er von den gängigen Vorstellungen jüdischer Ge- schichtsschreibung abwich. Baron hatte die Verwurzelung der Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt sowie ihre Besonderheiten im Rahmen des jewei- ligen gesellschaftlichen Kontexts unterstrichen und wandte sich deutlich ge- gen eine Gleichsetzung jüdischer Geschichte mit Verfolgungsgeschichte. Baer dagegen hielt an einer Auffassung fest, nach der die jüdische Geschich- te vor allem eine Geschichte der Verfolgung und Diskriminierung war und als eine Einheit zu lesen war. Zurecht konstatierte die amerikanische Historikerin Lucy Dawidowicz: „Je- des Volk, jede Nation hat die eigene Geschichte dazu benutzt, um sich in den eigenen Augen und vor dem Blick der Welt zu rechtfertigen. Aber gewiß hat kein Volk seine Geschichte für eine solche Vielfalt von nationalen Zwecken gebraucht, wie es die Juden getan haben."3 Diese tiefverankerten Differenzen in der jüdischen Geschichtsschreibung sind nicht ohne Bedeutung in den heutigen, teilweise hitzigen Debatten im Zusammenhang mit den sogenannten „Neuen Historikern" Israels, aber auch mit den vom Postmodernismus beeinflußten Historikern in den USA. In ih- rer extremsten Auslegung verneinen sie die Existenz einer konkret zu defi- nierenden jüdischen Geschichte über die Jahrhunderte und Kontinente. Ihrer Auffassung zufolge sind die Unterschiede im Leben eines Juden im mittel- alterlichen Deutschland und seines Zeitgenossen in Nordafrika größer als die zwischen dem deutschen Juden und seiner nichtjüdischen Umwelt. Man müsse also von der jüdischen Erfahrung in Mitteleuropa im mitteleuropäi- schen und nicht im gesamtjüdischen Kontext sprechen. Eine gesamtjüdische Geschichtsperspektive sei lediglich eine moderne Konstruktion. Differen- ziert vertritt etwa der israelische Historiker Amnon Raz-Krakotzkin diese Sichtweise:

3 L. Dawidowicz, What Is the Use of Jewish History? New York 1992, S.4.

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In der Tat ist jede jüdische Geschichte definitionsgemäß zumindest „bi-national", das heißt, die Geschichte einer Minderheit, die in einer konkreten hegemonialen Kultur existiert. Das ist die historische Bedeutung des Begriffs „Exil" - und das ist auch der Kern der Schwierigkeit, die dem Terminus Jüdische Geschichtsschrei- bung" innewohnt. Das heißt nicht unbedingt, den Wert des Terminus »jüdische Ge- schichte" zu leugnen, weist aber auf die Komplexität hin, die in diesem Wissensge- biet zum Ausdruck kommt, und fördert das in ihm enthaltene kritische Potential. In diesem Sinne ist es besser, von „jüdischen Historien" zu sprechen, als einem Begriff, der das Bewußtsein konserviert, daß es unterschiedliche historisch-kulturelle Kon- texte waren, in denen Juden existierten und an denen sie partizipierten. Die Historien der Juden sind die Historien einer Minderheit. Ihr Exil-Dasein wurde im jeweiligen historischen Kontext in Begriffen der dominanten Kultur und gegen die Werte dieser Kultur definiert. Dies führte zu vielen verschiedenen historischen Erfahrungen und unterschiedlichen kulturellen Einstellungen, woraus die Schwie-

rigkeit des Versuchs erhellt, Jüdische Kultur" im modernen, nationalen Sinn des Wortes zu definieren. Man kann natürlich von einer gemeinsamen Tradition spre- chen, die die Juden einte. Die nationale Wahrnehmung ignoriert jedoch sowohl den Kontext als auch die Vorstellung von Widerstand und Differenz.4

Diese Auffassung stellt eine Reaktion auf die nationaljüdische Perspektive dar, derzufolge die Juden, wo immer sie auch lebten, durch die Bande einer unauflösbaren Solidarität, durch eine gemeinsame historische Erinnerung sowie durch ihre Sehnsucht nach der Rückkehr nach Zion zusammengehal- ten wurden und gleichsam eine historische Einheit bildeten. Raz-Krakotz- kin wendet sich hier, ganz im Sinne von Frantz Fanon, gegen einen histo- ristischen Diskurs, demzufolge unterschiedliche Zeitlichkeiten der kultu- rellen Vorgeschichten in der Gegenwart einheitlich gelesen werden.5 Jüdische Geschichte muß als Minderheitengeschichte immer im größeren Kontext der jeweiligen Umgebung gelesen werden, erhält aber gleichzeitig durch religiöse, kulturelle und gesellschaftliche Normen über geographi- sche Grenzen hinweg ein eigenes historisches Gerüst. Wer die Geschichte der Juden im mittelalterlichen Spanien verstehen will, muß sich sowohl in der allgemeinen spanischen Geschichte wie auch in der jüdischen Ge- schichte außerhalb Spaniens auskennen. Gleiches gilt selbstverständlich für die anderen Forschungsgebiete jüdischer Geschichte. Insofern stellt die jü- dische Geschichte wie die Geschichte anderer historischer Minderheiten einen Fall dar, in dem nationale und transnationale Geschichtsperspektiven sich keineswegs ausschließen.

4 A. Raz-Krakotzkin, Geschichte, Nationalismus, Eingedenken, in: M. Brenner und D.N.

Myers (Hg.), Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen, München 2002, S. 200-01.

5 Siehe vor allem F. Fanon, „Über nationale Kultur", in: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt 1966, S. 158-80. Siehe hierzu auch: H. Bhaba, Die Verortung der Kultur, Tü-

bingen 2000.

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Diese Komplexität führt bei der Darstellung jüdischer Geschichte nicht sel- ten zu Verwirrungen, aus denen es keinen einfachen Ausweg gibt. Soll es etwa ein Museum für Jüdische Geschichte geben oder lieber ein Stadtmu- seum, das die jüdische Geschichte mitberücksichtigt? Für beide Lösungen lassen sich plausible Argumente finden. Soll jüdische Geschichte in einer Gesamtübersicht der deutschen Geschichte in eigene Bände ausgelagert werden - wie in der Enzyklopädie deutscher Geschichte von Oldenbourg -, ein eigenes Kapitel erhalten - wie in der Darstellung Thomas Nipperdeys - oder jeweils in die betreffenden Abschnitte miteingearbeitet werden? Lei- der zeichnen sich die meisten Überblickswerke zur deutschen Geschichte noch immer durch eine vierte Alternative aus: nämlich die jüdische Ge- schichte abgesehen vom Antisemitismus so gut wie gänzlich unberücksich- tigt zu lassen. Soll jüdische Geschichte innerhalb der Jüdischen Studien, neben jüdischer Philosophie und Literatur, unterrichtet werden oder in ei- nem Historischen Seminar, neben europäischer und amerikanischer Ge- schichte? Auch hier sind beide Lösungen an deutschen Universitäten ver- treten, ersterer Ansatz beispielsweise in Heidelberg und Düsseldorf, letzte- rer in München und Leipzig. In Israel hat das Nachwirken der nationalen Perspektive nicht zuletzt dazu geführt, daß an den meisten Universitäten zwei historische Seminare exi- stieren. Eines für „Geschichte des Jüdischen Volkes" innerhalb der Fakultät für Jüdische Studien und eines für „Allgemeine Geschichte" als Teil der Geisteswissenschaftlichen Fakultät. Fast alle israelischen Historiker sind sich heute einig darin, daß dies ein Mißstand ist, der beseitigt werden sollte. Geschichte läßt sich nicht auf diese Art und Weise teilen. Aus deutscher Perspektive können wir dem nur recht geben. Allerdings sollten wir nicht allzu überheblich wirken. Übertragen auf unsere Verhältnisse wäre es für manche Universität schon ein Fortschritt, wenn es neben dem großteils auf die Vermittlung deutscher Geschichte beschränkten Historischen Seminar ein Seminar für außerdeutsche Geschichte gäbe. Auch wenn dies nicht ernsthaft gewünscht werden kann, so ist doch das Bewußtsein für die Not- wendigkeit einer inter- und transnationalen Geschichte zu schärfen. In einer von pluralen Kulturen geprägten Gesellschaft muß auch die Geschichtswis- senschaft zunehmend über den eigenen nationalen Tellerrand hinaus- blicken.

Prof. Dr. Michael Brenner, Universität München, Historisches Seminar, Ge- schwister-Scholl-Platz 1, 80539 München, e-mail: Michael.Brenner@lrz. uni-muenchen.de

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