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5.348 GS 8, 354 Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Soziologentag Das Gewohnheitsrecht hat sich herausgebildet, daß der abgehende Vorsitzende der Deutschen Gesell- schaft für Soziologie zur Sache selbst sich äußert. Dabei sind seine eigene Position und die Deutung der Problemstellung nicht strikt zu trennen: in diese geht unvermeidlich jene ein. Andererseits kann er keine de- finitiven Lösungen vortragen, wo es eben der Diskus- sion auf dem Kongreß bedarf. Dessen Thematik wurde ursprünglich angeregt von Otto Stammer. In den Sitzungen des Vorstands, die mit dem Kongreß sich befaßten, wurde sie allmählich abgewandelt; der gegenwärtige Titel kristallisierte sich durch team- work. Der mit dem Stand der sozialwissenschaftlichen Kontroverse nicht Vertraute könnte auf den Verdacht geraten, es handele sich um einen Nomenklaturstreit; Fachleute seien von der eitlen Sorge geplagt, ob die gegenwärtige Phase nun Spätkapitalismus oder Indu- striegesellschaft heißen solle. In Wahrheit geht es nicht um Termini sondern um inhaltlich Entscheiden- des. Referate und Diskussionen sollen zum Urteil dar- über helfen, ob noch das kapitalistische System nach seinem wie immer auch modifizierten Modell herr- 5.349 GS 8, 355 Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? sche, oder ob die industrielle Entwicklung den Begriff des Kapitalismus selbst, den Unterschied zwischen kapitalistischen und nichtkapitalistischen Staaten, gar die Kritik am Kapitalismus hinfällig gemacht habe. Mit anderen Worten, ob die heute innerhalb der So- ziologie so weit verbreitete These, Marx sei veraltet, zutreffe. Dieser These zufolge ist die Welt so durch und durch von der ungeahnt entfalteten Technik be- stimmt, daß demgegenüber das soziale Verhältnis, das einmal den Kapitalismus definierte, die Verwand- lung lebendiger Arbeit in Ware und damit der Klas- sengegensatz, an Relevanz einbüßte, sofern es nicht zum Aberglauben wurde. Dabei kann man sich auf unverkennbare Konvergenzen zwischen den technisch fortgeschrittensten Ländern, den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, beziehen. Nach Lebensstandard und Bewußtsein werden vollends in den maßgebenden westlichen Staaten Klassendifferenzen weit weniger sichtbar als in den Dezennien während und nach der industriellen Revolution. Prognosen der Klassentheo- rie wie die der Verelendung und des Zusammenbruchs sind nicht so drastisch eingetroffen, wie man sie ver- stehen muß, wenn sie nicht um ihren Gehalt gebracht werden sollen; nur mit Komik ist von relativer Ver- elendung zu reden. Selbst wenn das bei Marx nicht eindeutige Gesetz von der sinkenden Profitrate sy- stemimmanent sich bewahrheitet hätte, wäre zu kon- Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften

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Adorno - Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft

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5.348 GS 8, 354Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?

Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?

Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Soziologentag

Das Gewohnheitsrecht hat sich herausgebildet, daßder abgehende Vorsitzende der Deutschen Gesell-schaft für Soziologie zur Sache selbst sich äußert.Dabei sind seine eigene Position und die Deutung derProblemstellung nicht strikt zu trennen: in diese gehtunvermeidlich jene ein. Andererseits kann er keine de-finitiven Lösungen vortragen, wo es eben der Diskus-sion auf dem Kongreß bedarf. Dessen Thematikwurde ursprünglich angeregt von Otto Stammer. Inden Sitzungen des Vorstands, die mit dem Kongreßsich befaßten, wurde sie allmählich abgewandelt; dergegenwärtige Titel kristallisierte sich durch team-work. Der mit dem Stand der sozialwissenschaftlichenKontroverse nicht Vertraute könnte auf den Verdachtgeraten, es handele sich um einen Nomenklaturstreit;Fachleute seien von der eitlen Sorge geplagt, ob diegegenwärtige Phase nun Spätkapitalismus oder Indu-striegesellschaft heißen solle. In Wahrheit geht esnicht um Termini sondern um inhaltlich Entscheiden-des. Referate und Diskussionen sollen zum Urteil dar-über helfen, ob noch das kapitalistische System nachseinem wie immer auch modifizierten Modell herr-

5.349 GS 8, 355Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?

sche, oder ob die industrielle Entwicklung den Begriffdes Kapitalismus selbst, den Unterschied zwischenkapitalistischen und nichtkapitalistischen Staaten, gardie Kritik am Kapitalismus hinfällig gemacht habe.Mit anderen Worten, ob die heute innerhalb der So-ziologie so weit verbreitete These, Marx sei veraltet,zutreffe. Dieser These zufolge ist die Welt so durchund durch von der ungeahnt entfalteten Technik be-stimmt, daß demgegenüber das soziale Verhältnis,das einmal den Kapitalismus definierte, die Verwand-lung lebendiger Arbeit in Ware und damit der Klas-sengegensatz, an Relevanz einbüßte, sofern es nichtzum Aberglauben wurde. Dabei kann man sich aufunverkennbare Konvergenzen zwischen den technischfortgeschrittensten Ländern, den Vereinigten Staatenund der Sowjetunion, beziehen. Nach Lebensstandardund Bewußtsein werden vollends in den maßgebendenwestlichen Staaten Klassendifferenzen weit wenigersichtbar als in den Dezennien während und nach derindustriellen Revolution. Prognosen der Klassentheo-rie wie die der Verelendung und des Zusammenbruchssind nicht so drastisch eingetroffen, wie man sie ver-stehen muß, wenn sie nicht um ihren Gehalt gebrachtwerden sollen; nur mit Komik ist von relativer Ver-elendung zu reden. Selbst wenn das bei Marx nichteindeutige Gesetz von der sinkenden Profitrate sy-stemimmanent sich bewahrheitet hätte, wäre zu kon-

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zedieren, daß der Kapitalismus in sich selbst Ressour-cen entdeckte, die den Zusammenbruch ad KalendasGraecas aufzuschieben gestatten – Ressourcen, unterdenen fraglos die immense Steigerung des technischenPotentials und damit auch die allen Mitgliedern derhochindustrialisierten Länder zugute kommendeMenge von Gebrauchsgütern obenan stehen. Zugleichzeigten angesichts jener technischen Entwicklung dieProduktionsverhältnisse sich elastischer, als Marxihnen zutraute.

Die Kriterien des Klassenverhältnisses, welche dieempirische Forschung solche der social stratification,der Schichtung nach Einkommen, Lebensstandard,Bildung zu nennen liebt, sind Verallgemeinerungenvon Befunden an einzelnen Individuen. Insofern dür-fen sie subjektiv heißen. Demgegenüber war der ältereKlassenbegriff objektiv, unabhängig von Indices in-tendiert, die unmittelbar am Leben der Subjekte ge-wonnen sind, wie sehr im übrigen auch diese sozialeObjektivitäten ausdrücken. Die Marxische Theorieberuhte auf der Stellung von Unternehmern und Ar-beitern im Produktionsprozeß, letztlich der Verfügungüber die Produktionsmittel. In den augenblicklich vor-herrschenden Strömungen der Soziologie wird dieserAusgang weithin als dogmatisch abgelehnt. Der Streitist theoretisch auszutragen, nicht allein durch Präsen-tation von Fakten, die zwar ihrerseits vielfach zur

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Kritik beitragen, der kritischen Theorie zufolge je-doch ebenso die Struktur verdecken. Auch die Oppo-nenten der Dialektik sind nicht länger gewillt, eineTheorie unabsehbar zu vertagen, welche dem eigentli-chen Interesse der Soziologie Rechnung trägt. DieKontroverse ist wesentlich eine über die Deutung – essei denn, man verbanne das Verlangen eben danachselber in die Vorhölle des Außerwissenschaftlichen.

Eine dialektische Theorie der Gesellschaft geht aufStrukturgesetze, welche die Fakten bedingen, in ihnensich manifestieren und von ihnen modifiziert werden.Unter Strukturgesetzen versteht sie Tendenzen, diemehr oder minder stringent aus historischen Konstitu-entien des Gesamtsystems folgen. Marxische Modelledafür waren Wertgesetz, Gesetz der Akkumulation,Zusammenbruchsgesetz. Nicht meint die dialektischeTheorie mit Struktur Ordnungsschemata, in die sozio-logische Befunde möglichst vollständig, kontinuier-lich und widerspruchslos sich eintragen lassen; nichtSystematisierungen also, sondern das den Prozedurenund Daten wissenschaftlicher Erkenntnis vorgeordne-te System der Gesellschaft. Eine solche Theorie darfam letzten den Fakten sich entziehen, darf nicht nacheinem thema probandum sie zurechtbiegen. Sonstfiele sie tatsächlich in Dogmatismus zurück und wie-derholte durch den Gedanken, was die im Ostbereichverfestigte Macht durch das Instrument des Diamat

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verübte; stellt still, was dem eigenen Begriff nach an-ders nicht denn als Bewegtes gedacht werden kann.Dem Fetischismus der Fakten korrespondiert einer derobjektiven Gesetze. Dialektik, die mit der schmerz-haften Erfahrung von deren Vorherrschaft sich vollge-sogen hat, verherrlicht sie nicht, sondern kritisiert sieebenso wie den Schein, das Einzelne und Konkretebestimme hic et nunc bereits den Weltlauf. Wahr-scheinlich ist unter dessen Bann das Einzelne undKonkrete überhaupt noch nicht. Durch das Wort Plu-ralismus wird die Utopie supponiert, als wäre sieschon da; es dient der Beschwichtigung. Darum je-doch darf die dialektische Theorie, die sich selbst kri-tisch reflektiert, nicht ihrerseits im Medium des Allge-meinen sich häuslich einrichten. Aus jenem Mediumauszubrechen ist gerade ihre Intention. Auch sie istnicht gefeit vor falscher Trennung von nachdrückli-chem Denken und empirischer Forschung. Vor einigerZeit hat ein russischer Intellektueller von beträchtli-chem Einfluß mir erklärt, in der Sowjetunion sei So-ziologie eine neue Wissenschaft. Er meinte damit dieempirische; daß diese mit der in seinem Land alsStaatsreligion approbierten Lehre von der Gesell-schaft etwas zu tun haben könnte, war ihm so wenigmehr gegenwärtig wie, daß Marx Enqueten durch-führte. Verdinglichtes Bewußtsein endet nicht dort,wo der Begriff der Verdinglichung einen Ehrenplatz

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besetzt. Das Schwadronieren über Begriffe wie ›derImperialismus‹ oder ›das Monopol‹, ohne Rücksichtdarauf, was diesen Worten als Sachverhalten ent-spricht, und wie weit ihr Geltungsbereich sich er-streckt, ist so falsch, nämlich irrational, wie eine Ver-haltensweise, die, ihrer blind-nominalistischen Vor-stellung vom Sachverhalt zuliebe, dagegen sichsperrt, daß Begriffe wie Tauschgesellschaft ihre Ob-jektivität haben, einen Zwang des Allgemeinen hinterden Sachverhalten bekunden, der keineswegs stets zu-reichend in operationell definierte Sachverhalte sichübersetzen läßt. Beidem ist entgegenzuarbeiten; inso-fern bezeugt die Thematik des Kongresses, Spätkapi-talismus oder Industriegesellschaft, die methodologi-sche Absicht von Selbstkritik aus Freiheit.

Eine schlichte Antwort auf die Frage, die in jenerThematik liegt, kann weder erwartet noch eigentlichgesucht werden. Alternativen, die erzwingen, manmüsse für die eine oder andere Bestimmung optieren,wäre es auch bloß theoretisch, sind selber bereitsZwangssituationen, denen in einer unfreien Gesell-schaft nachgebildet und auf den Geist übertragen, andem es wäre, zur Brechung von Unfreiheit: durch ihrehartnäckige Reflexion zu tun, was er kann. Vollendsder Dialektiker darf zur bündigen Disjunktion vonSpätkapitalismus oder Industriegesellschaft nicht sichnötigen lassen, so wenig er auch an unverbindlichem

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Einerseits-Andererseits sein Genügen haben kann.Vor Simplifizierung muß er sich, wider Brechts Rat-schlag, erst recht hüten, weil die eingeschliffeneDenkgewohnheit ihm die eingeschliffene Antwortebenso suggeriert, wie seinen Opponenten die entge-gengesetzte Antwort leichtfällt. Wer die Erfahrungdes Vorrangs der Struktur über die Sachverhalte sichnicht verbauen läßt, wird nicht, wie meist seine Kon-trahenten, Widersprüche vorweg als solche der Me-thode, als Denkfehler abwerten und sie durch die Ein-stimmigkeit der wissenschaftlichen Systematik zu be-seitigen trachten. Statt dessen wird er sie in die Struk-tur zurückverfolgen, die antagonistisch war, seit esGesellschaft im nachdrücklichen Sinn gibt, und die esblieb, so wie die außenpolitischen Konflikte und diepermanente Möglichkeit der Kriegskatastrophe,jüngst auch der russische Überfall auf die Tschecho-slowakei, kraß demonstrieren. Das verkennt ein Alter-nativdenken, das die formallogische Widerspruchslo-sigkeit ungebrochen auf das zu Denkende projiziert.Nicht ist, nach wissenschaftlichem Standpunkt oderGeschmack, zu wählen zwischen den beiden Formeln,sondern ihr Verhältnis seinerseits drückt den Wider-spruch aus, der die gegenwärtige Phase kennzeichnetund den theoretisch zu artikulieren der Soziologie ge-ziemt.

Widerspruchsvoll ist das Verhältnis mancher Pro-

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gnosen der dialektischen Theorie zueinander. Einigeerfüllten sich schlechterdings nicht; gewisse theore-tisch-analytische Kategorien führen mittlerweile zuAporien, die nur höchst künstlich aus der Welt ge-dacht werden können. Andere Voraussagen, ur-sprünglich mit jenen eng verwachsen, haben schla-gend sich bestätigt. Auch wer in Prognosen nicht denSinn von Theorie erblickt, wird angesichts des An-spruchs der dialektischen nicht dabei sich bescheiden,sie sei teils wahr, teils falsch. Jene Divergenzen be-dürfen ihrerseits der theoretischen Erklärung. Daßvon einem proletarischen Klassenbewußtsein in denmaßgebenden kapitalistischen Ländern nicht kann ge-sprochen werden, widerlegt nicht an sich, im Gegen-satz zur communis opinio, die Existenz von Klassen:Klasse war durch die Stellung zu den Produktionsmit-teln bestimmt, nicht durchs Bewußtsein ihrer Angehö-rigen. An plausiblen Gründen für den Mangel anKlassenbewußtsein fehlt es nicht: daß die Arbeiternicht weiter verelendeten, daß sie zunehmend in diebürgerliche Gesellschaft und ihre Anschauungen inte-griert wurden, wie es während und unmittelbar nachder industriellen Revolution, als das Industrieproleta-riat aus den Paupers sich rekrutierte und halb exterri-torial zur Gesellschaft stand, nicht vorauszusehenwar. Nicht schafft gesellschaftliches Sein unmittelbarKlassenbewußtsein. Ohne daß die Massen, und zwar

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gerade wegen ihrer sozialen Integration, ihr gesell-schaftliches Schicksal irgend mehr in der Hand hättenals vor 120 Jahren, entraten sie nicht nur der Klassen-solidarität, sondern des vollen Bewußtseins dessen,daß sie Objekte, nicht Subjekte des gesellschaftlichenProzesses sind, den sie doch als Subjekte in Ganghalten. Klassenbewußtsein, von dem der MarxischenTheorie zufolge der qualitative Sprung abhängen soll-te, war ihm zufolge zugleich ein Epiphänomen. Wennjedoch in den fürs Klassenverhältnis prototypischenLändern, zumal Nordamerika, über lange Periodenhin überhaupt kein Klassenbewußtsein mehr auf-kommt, wofern es überhaupt je dort lebendig war;wenn die Frage nach dem Proletariat zum Vexierbildwird, so schlägt Quantität in Qualität um, und derVerdacht von Begriffsmythologie ist allenfalls durchsDekret zu unterdrücken, nicht für den Gedanken zubeseitigen. Die Entwicklung läßt sich schwer vomKernstück der Marxischen Theorie, der Lehre vomMehrwert, trennen. Dies sollte das Klassenverhältnisund das Anwachsen des Klassenantagonismus objek-tiv-ökonomisch erklären. Sinkt aber, durch den Um-fang des technischen Fortschritts, tatsächlich durchIndustrialisierung, der Anteil der lebendigen Arbeit,aus der seinem Begriff nach allein der Mehrwertfließt, tendenziell bis zu einem Grenzwert, so wirddavon das Kernstück, die Mehrwerttheorie affiziert.

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Der gegenwärtige Mangel an einer objektiven Wert-theorie ist nicht nur vom Ansatz der akademisch heutefast allein akzeptierten Schulökonomie bedingt. Erweist zurück auf die prohibitive Schwierigkeit, dieBildung von Klassen ohne Mehrwerttheorie objektivzu begründen. Den Nichtökonomen will es bedünken,daß auch die sogenannten neomarxistischen Theorienihre Lücken in der Behandlung der konstitutiven Pro-bleme mit Brocken aus der subjektiven Ökonomie zu-zustopfen versuchen. Verantwortlich dafür ist gewißnicht allein Schwächung des theoretischen Vermö-gens. Denkbar, daß die gegenwärtige Gesellschafteiner in sich kohärenten Theorie sich entwindet. Marxhatte es insofern leichter, als ihm in der Wissenschaftdas durchgebildete System des Liberalismus vorlag.Er brauchte nur zu fragen, ob der Kapitalismus in sei-nen eigenen dynamischen Kategorien diesem Modellentspricht, um in bestimmter Negation des ihm vorge-gebenen theoretischen Systems eine ihrerseits system-ähnliche Theorie hervorzubringen. Unterdessen ist dieMarktökonomie so durchlöchert, daß sie jeglicher sol-chen Konfrontation spottet. Die Irrationalität der ge-genwärtigen Gesellschaftsstruktur verhindert ihre ra-tionale Entfaltung in der Theorie. Die Perspektive,daß die Lenkung der ökonomischen Prozesse an diepolitische Macht übergeht, folgt zwar aus der deduzi-blen Dynamik des Systems, ist aber zugleich eine zu

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objektiver Irrationalität hin. Das, nicht allein der ste-rile Dogmatismus ihrer Anhänger, dürfte erklären hel-fen, warum es längst zu keiner überzeugenden objek-tiven Gesellschaftstheorie mehr kam. Unter diesemAspekt wäre der Verzicht auf jene kein kritischerFortschritt wissenschaftlichen Geistes, sondern Aus-druck zwangshafter Resignation. Parallel zur Rück-bildung der Gesellschaft läuft eine des Denkens übersie.

Dem indessen stehen nicht weniger drastische Fak-ten entgegen, die ihrerseits wieder nur gewaltsam undwillkürlich ohne Verwendung des SchlüsselbegriffsKapitalismus zu interpretieren sind. Weiter wirdHerrschaft über Menschen ausgeübt durch den ökono-mischen Prozeß hindurch. Dessen Objekte sind längstnicht mehr nur die Massen, sondern auch die Verfü-genden und ihr Anhang. Der alten Theorie gemäßwurden sie weithin zu Funktionen ihres eigenen Pro-duktionsapparats. Die vieldiskutierte Frage nach dermanagerial revolution, nach dem angeblichen Über-gang der Herrschaft von den juridischen Eigentümernan die Bürokratie ist demgegenüber sekundär. JenerProzeß produziert und reproduziert nach wie vor,wenn schon nicht die Klassen so, wie sie in ZolasGerminal dargestellt sind, zumindest eine Struktur,welche der Antisozialist Nietzsche mit der FormelKein Hirt und eine Herde vorwegnahm. In ihr aber

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birgt sich, was er nicht sehen wollte: die alte, nur an-onym gewordene gesellschaftliche Unterdrückung.Hat schon die Verelendungstheorie nicht à la lettresich bewahrheitet, so doch in dem nicht weniger be-ängstigenden Sinn, daß Unfreiheit, Abhängigkeit voneiner dem Bewußtsein derer, die sie bedienen, entlau-fenen Apparatur universal über die Menschen sichausbreitet. Die allbeklagte Unmündigkeit der Massenist nur der Reflex darauf, daß sie so wenig wie je au-tonome Meister ihres Lebens sind; wie im Mythos wi-derfährt es ihnen als Schicksal. – Empirische Untersu-chungen verweisen übrigens darauf, daß auch subjek-tiv, ihrem Realitätsbewußtsein nach, die Klassen kei-neswegs so nivelliert sind, wie man es zuzeiten ver-mutete. Selbst die Imperialismustheorien sind mitdem erzwungenen Verzicht der großen Mächte aufKolonien nicht bloß veraltet. Der Prozeß, den siemeinten, setzt sich fort in dem Antagonismus der bei-den monströsen Machtblöcke. Die angeblich überhol-te Lehre von den gesellschaftlichen Antagonismen,mit dem Telos des Zusammenbruchs, wird von denmanifesten politischen unmäßig überboten. Ob und inwelchem Maß das Klassenverhältnis umgelegt wardauf das zwischen den führenden Industrienationen undden umworbenen Entwicklungsländern, mag unerör-tert bleiben.

In Kategorien der kritisch-dialektischen TheorieTheoder W. Adorno: Gesammelte Schriften

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möchte ich als erste und notwendig abstrakte Antwortvorschlagen, daß die gegenwärtige Gesellschaftdurchaus Industriegesellschaft ist nach dem Standihrer Produktivkräfte. Industrielle Arbeit ist überallund über alle Grenzen der politischen Systeme hinauszum Muster der Gesellschaft geworden. Zur Totalitätentwickelt sie sich dadurch, daß Verfahrungsweisen,die den industriellen sich anähneln, ökonomischzwangsläufig sich auch auf Bereiche der materiellenProduktion, auf Verwaltung, auf die Distributions-sphäre und die, welche sich Kultur nennt, ausdehnen.Demgegenüber ist die Gesellschaft Kapitalismus inihren Produktionsverhältnissen. Stets noch sind dieMenschen, was sie nach der Marxischen Analyse umdie Mitte des 19. Jahrhunderts waren: Anhängsel andie Maschinerie, nicht mehr bloß buchstäblich die Ar-beiter, welche nach der Beschaffenheit der Maschinensich einzurichten haben, die sie bedienen, sondernweit darüber hinaus metaphorisch, bis in ihre intim-sten Regungen hinein genötigt, dem Gesellschaftsme-chanismus als Rollenträger sich einzuordnen undohne Reservat nach ihm sich zu modeln. Produziertwird heute wie ehedem um des Profits willen. Überalles zur Zeit von Marx Absehbare hinaus sind dieBedürfnisse, die es potentiell längst waren, vollendszu Funktionen des Produktionsapparates geworden,nicht umgekehrt. Sie werden total gesteuert. Zwar

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werden in dieser Verwandlung, fixiert und dem Inte-resse des Apparats angepaßt, die Bedürfnisse derMenschen mitgeschleppt, auf welche dann jeweils derApparat mit Effekt sich berufen kann. Aber die Ge-brauchswertseite der Waren hat unterdessen ihre letz-te ›naturwüchsige‹ Selbstverständlichkeit eingebüßt.Nicht nur werden die Bedürfnisse bloß indirekt, überden Tauschwert, befriedigt, sondern in wirtschaftlichrelevanten Sektoren vom Profitinteresse selber ersthervorgebracht, und zwar auf Kosten objektiver Be-dürfnisse der Konsumenten, wie denen nach zurei-chenden Wohnungen, vollends nach Bildung und In-formation über die wichtigsten sie betreffenden Vor-gänge. Im Bereich des nicht zur nackten Lebenserhal-tung Notwendigen werden tendenziell die Tauschwer-te als solche, abgelöst, genossen; ein Phänomen, dasin der empirischen Soziologie unter Termini wie Sta-tussymbol und Prestige auftritt, ohne damit objektivbegriffen zu sein. In den hochindustrialisierten Gebie-ten der Erde hat man, solange nicht doch, trotzKeynes, erneute ökonomische Naturkatastrophen sichereignen, gelernt, allzu sichtbarer Armut vorzubeu-gen, wenngleich nicht in dem Umfang, in dem dieThese von der affluent society es versichert. Der Bannjedoch, den das System über die Menschen ausübt,hat, soweit solche Vergleiche sinnvoll angestellt wer-den können, durch die Integration sich verstärkt. Un-

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leugbar dabei, daß in der zunehmenden Befriedigungder materiellen Bedürfnisse, trotz ihrer vom Apparatverformten Gestalt, auch unvergleichlich viel konkre-ter die Möglichkeit von Leben ohne Not sich abzeich-net. Auch in den ärmsten Ländern brauchte keinermehr zu hungern. Daß gleichwohl die Hülle vorm Be-wußtsein des Möglichen dünn geworden ist, dafürspricht der panische Schrecken, den allerorten Formengesellschaftlicher Aufklärung erregen, die im offiziel-len Kommunikationssystem nicht eingeplant sind.Was Marx und Engels, die eine menschenwürdigeEinrichtung der Gesellschaft wollten, noch als Utopieanprangerten, welche eine solche Einrichtung bloß sa-botiere, wurde zur handgreiflichen Möglichkeit. Kri-tik an der Utopie ist heute selbst in den ideologischenVorrat hinabgesunken, während gleichzeitig der Tri-umph der technischen Produktivität dazu taugt vorzu-spiegeln, die Utopie, unvereinbar mit den Produkti-onsverhältnissen, sei in deren Rahmen bereits ver-wirklicht. Aber die Widersprüche in ihrer neuen, in-ternational-politischen Qualität – so das Wettrüstenvon Ost und West – machen das Mögliche zugleichunmöglich.

Das zu durchschauen freilich verlangt, daß mannicht, wozu Kritik stets wieder sich verleiten läßt, derTechnik, also den Produktivkräften, die Schuld auf-bürdet und eine Art Maschinenstürmerei auf erweiter-

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ter Stufenleiter theoretisch betreibt. Nicht die Technikist das Verhängnis, sondern ihre Verfilzung mit dengesellschaftlichen Verhältnissen, von denen sie um-klammert wird. Erinnert sei nur daran, daß die Rück-sicht auf das Profit- und Herrschaftsinteresse die tech-nische Entwicklung kanalisierte: sie stimmt einstwei-len fatal mit Kontrollbedürfnissen zusammen. Nichtumsonst ist die Erfindung von Zerstörungsmittelnzum Prototyp der neuen Qualität von Technik gewor-den. Demgegenüber verkümmerten diejenigen ihrerPotentiale, die von Herrschaft, Zentralismus, Gewaltgegen die Natur sich entfernen und die es wohl auchgestatten würden, viel von dem zu heilen, was wört-lich und bildlich von der Technik beschädigt ist.

Die gegenwärtige Gesellschaft weist, trotz aller Be-teuerungen des Gegenteils, ihrer Dynamik, des An-wachsens der Produktion, statische Aspekte auf. Sierechnen den Produktionsverhältnissen zu. Diese sindnicht länger mehr allein solche des Eigentums, son-dern der Administration, bis hinauf zur Rolle desStaats als des Gesamtkapitalisten. Indem ihre Ratio-nalisierung der technischen Rationalität, den Produk-tivkräften, sich anähnelt, sind sie fraglos flexibler ge-worden. Dadurch wird der Schein erweckt, das uni-versale Interesse sei nur noch das am Status quo undVollbeschäftigung das Ideal, nicht das an der Befrei-ung von heteronomer Arbeit. Aber der Zustand, au-

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ßenpolitisch ohnehin äußerst labil, ist bloße tempo-räre Balance, die Resultante von Kräften, deren Span-nung ihn zu zerreißen droht. Innerhalb der herrschen-den Produktionsverhältnisse ist die Menschheit virtu-ell ihre eigene Reservearmee und wird durchgefüttert.Allzu optimistisch war die Erwartung von Marx, ge-schichtlich sei ein Primat der Produktivkräfte gewiß,der notwendig die Produktionsverhältnisse sprenge.Insofern blieb Marx, der geschworene Feind des deut-schen Idealismus, dessen affirmativer Geschichtskon-struktion treu. Vertrauen auf den Weltgeist kam derRechtfertigung späterer Versionen jener Weltordnungzugute, die der elften Feuerbachthese zufolge verän-dert werden sollte. Die Produktionsverhältnisse habenum ihrer schieren Selbsterhaltung willen durch Flick-werk und partikulare Maßnahmen die losgelassenenProduktivkräfte weiterhin sich unterworfen. Signaturdes Zeitalters ist die Präponderanz der Produktions-verhältnisse über die Produktivkräfte, welche dochlängst der Verhältnisse spotten. Daß der verlängerteArm der Menschheit zu fernen und leeren Planetenreicht, daß sie es aber nicht vermag, auf dem eigenenden ewigen Frieden zu stiften, bringt das Absurdum,auf welches die gesellschaftliche Dialektik sich hinbe-wegt, nach außen. Daß es anders ging als die Hoff-nung, ist nicht zuletzt verursacht davon, daß die Ge-sellschaft die von Veblen so genannte underlying po-

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pulation sich einverleibte. Nur der dürfte das unge-schehen wünschen, der das Glück des Ganzen ab-strakt über das der lebendigen Einzelwesen stellt.Jene Entwicklung hing ihrerseits wiederum ab von derder Produktivkräfte. Sie war aber nicht identisch mitderen Vorrang über die Produktionsverhältnisse. Erwar nie mechanisch vorzustellen. Seine Realisierunghätte der Spontaneität derer bedurft, die an der Verän-derung der Verhältnisse interessiert sind, und ihreZahl hat das eigentliche Industrieproletariat unterdes-sen um ein Vielfaches überflügelt. Objektives Inte-resse und subjektive Spontaneität klaffen jedoch aus-einander; diese verkümmerte unter der disproportio-nalen Übermacht des Gegebenen. Der Satz von Marx,daß auch die Theorie zur realen Gewalt wird, sobaldsie die Massen ergreift, wurde eklatant vom Weltlaufauf den Kopf gestellt. Verhindert die Einrichtung derGesellschaft, automatisch oder planvoll, durch Kul-tur- und Bewußtseinsindustrie und durch Meinungs-monopole, die einfachste Kenntnis und Erfahrung derbedrohlichsten Vorgänge und der wesentlichen kriti-schen Ideen und Theoreme; lähmt sie, weit darüberhinaus, die bloße Fähigkeit, die Welt konkret anderssich vorzustellen, als sie überwältigend denen er-scheint, aus denen sie besteht, so wird der fixierte undmanipulierte Geisteszustand ebenso zur realen Ge-walt, der von Repression, wie einmal deren Gegenteil,

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der freie Geist, diese beseitigen wollte.Dagegen suggeriert der Terminus Industriegesell-

schaft in gewissem Sinn, es gelte das technokratischeMoment von Marx, den sie aus der Welt wegbewei-sen möchten, unmittelbar in ihr; als folgte das Wesender Gesellschaft geradenwegs aus dem Stand der Pro-duktivkräfte, unabhängig von deren gesellschaftlichenBedingungen. Erstaunlich, wie wenig von diesen inder etablierten Soziologie eigentlich die Rede ist, wiewenig sie analysiert werden. Das Beste, das keines-wegs das Beste zu sein braucht, wird vergessen, dieTotalität, in Hegelscher Sprache der alles durchdrin-gende Äther der Gesellschaft. Der jedoch ist alles an-dere als ätherisch; vielmehr das ens realissimum. So-weit er abstrakt dünkt, ist seine Abstraktheit nichtSchuld spintisierenden, eigensinnigen und tatsachen-fremden Denkens, sondern des Tauschverhältnisses,der objektiven Abstraktion, welcher der gesellschaftli-che Lebensprozeß gehorcht. Die Gewalt jenes Ab-straktums über die Menschen ist leibhaftiger als dieeiner jeden einzelnen Institution, die stillschweigendvorweg nach dem Schema sich konstituiert und es denMenschen einbleut. Die Ohnmacht, welche das Indi-viduum angesichts des Ganzen erfährt, ist dafür derdrastische Ausdruck. In der Soziologie freilich neh-men gemäß ihrem umfangslogisch klassifikatorischenWesen die tragenden gesellschaftlichen Verhältnisse,

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die sozialen Bedingungen der Produktion, weit dün-ner sich aus als jenes konkret Allgemeine. Sie werdenneutralisiert zu Begriffen wie Macht oder sozialeKontrolle. In solchen Kategorien verschwindet derStachel und damit, möchte man sagen, das eigentlichSoziale an der Gesellschaft, ihre Struktur. Am gegen-wärtigen Soziologentag wäre es, darin auf eine Ände-rung hinzuarbeiten.

Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse ein-fach polar einander zu kontrastieren, stünde indessenam wenigsten einer dialektischen Theorie an. Sie sindineinander verschränkt, eins enthält das andere insich. Eben das verleitet dazu, auf die Produktivkräfteblank zu rekurrieren, wo die Produktionsverhältnissedie Vorhand haben. Mehr als je sind die Produktiv-kräfte durch die Produktionsverhältnisse vermittelt; sovollständig vielleicht, daß diese eben darum als dasWesen erscheinen; sie sind vollends zur zweitenNatur geworden. Sie sind dafür verantwortlich, daß inirrem Widerspruch zum Möglichen die Menschen ingroßen Teilen der Erde darben müssen. Selbst woFülle an Gütern herrscht, ist diese wie unter einemFluch. Das Bedürfnis, das zum Schein hin tendiert,steckt die Güter mit seinem Scheincharakter an. Ob-jektiv richtige und falsche Bedürfnisse ließen rechtwohl sich unterscheiden, so wenig daraus auch ir-gendwo in der Welt ein Recht auf bürokratische Re-

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glementierung abgeleitet werden dürfte. In den Be-dürfnissen steckt zum Guten und Schlechten immerschon die gesamte Gesellschaft; sie mögen für Markt-erhebungen das Nächste sein, nicht sind sie in derverwalteten Welt an sich das Erste. Über richtigesund falsches Bedürfnis wäre gemäß der Einsicht indie Struktur der Gesamtgesellschaft samt all ihrenVermittlungen zu urteilen. Das Fiktive, das alle Be-dürfnisbefriedigung heute verunstaltet, wird unbewußtfraglos wahrgenommen; es trägt wohl zum gegenwär-tigen Unbehagen in der Kultur bei. Wichtiger dafüraber als selbst das fast undurchdringliche quid proquo von Bedürfnis, Befriedigung und Profit- oderMachtinteresse ist die unentwegt fortdauernde Bedro-hung des einen Bedürfnisses, von dem alle anderenerst abhängen, des Interesses am einfachen Überle-ben. Eingeschlossen von einem Horizont, in demjeden Augenblick die Bombe fallen kann, hat nochdas üppigste Angebot an Konsumgütern etwas vonHohn. Die internationalen Antagonismen aber, diezum jetzt erst wahrhaft totalen Krieg hin sich steigern,stehen in flagrantem Zusammenhang mit den Produk-tionsverhältnissen im wörtlichsten Verstande. DieDrohung der einen Katastrophe wird durch die der an-deren hinausgeschoben. Die Produktionsverhältnissekönnten schwerlich ohne die apokalyptische Erschüt-terung erneuter Wirtschaftskrisen so hartnäckig sich

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behaupten, würde nicht ein unmäßig großer Teil desSozialprodukts, der sonst keinen Markt mehr fände,für die Herstellung von Zerstörungsmitteln abge-zweigt. In der Sowjetunion trägt trotz der Beseitigungder Marktwirtschaft dasselbe sich zu. Die ökonomi-schen Gründe dafür sind ersichtlich: das Verlangennach rascher Produktionssteigerung in dem zurückge-bliebenen Land zeitigte diktatorisch straffe Admini-stration. Aus der Entfesselung der Produktivkräfteentsprangen erneut fesselnde Produktionsverhältnisse:Produktion wurde zum Selbstzweck und verhinderteden Zweck, die ungeschmälert realisierte Freiheit. Sa-tanisch wird unter beiden Systemen der bürgerlicheBegriff gesellschaftlich nützlicher Arbeit parodiert,der auf dem Markt, am Profit sich auswies, nie andurchsichtiger Nützlichkeit für die Menschen selbst,oder gar an ihrem Glück. Solche Herrschaft der Pro-duktionsverhältnisse über die Menschen setzt aber-mals den erreichten Entwicklungsstand der Produktiv-kräfte voraus. Während beides zu unterscheidenbleibt, bedarf, wer das Verhexte des Zustands irgendbegreifen will, zum Verständnis des einen stets desanderen. Die Überproduktion, die auf jene Expansiondrängte, durch die das scheinbar subjektive Bedürfniseingefangen und substituiert worden ist, wird voneinem technischen Apparat ausgespien, der soweitsich verselbständigt hat, daß er unterhalb eines gewis-

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sen Produktionsvolumens irrational: nämlich unrenta-bel wurde; sie wird also von den Verhältnissen not-wendig gezeitigt. Einzig in der Aussicht auf totaleVernichtung haben die Produktionsverhältnisse nichtdie Produktivkräfte gefesselt. Die dirigistischen Me-thoden aber, mit denen trotz allem die Massen bei derStange gehalten werden, setzen jene Konzentrationund Zentralisation voraus, die nicht nur ihre ökonomi-sche Seite hat, sondern ebenso, wie an den Massen-medien zu zeigen wäre, ihre technologische: daß esmöglich wurde, von wenigen Punkten aus das Be-wußtsein Ungezählter allein schon durch Auswahlund Präsentation von Nachricht und Kommentargleichzuschalten.

Die Macht der Produktionsverhältnisse, die nichtumgewälzt wurden, ist größer als je, aber zugleichsind sie, als objektiv anachronistisch, allerorten er-krankt, beschädigt, durchlöchert. Sie funktionierennicht mehr selbsttätig. Der wirtschaftliche Interventi-onismus ist nicht, wie die ältere liberale Schule meint,systemfremd aufgepfropft, sondern systemimmanent,Inbegriff von Selbstverteidigung; nichts könnte denBegriff von Dialektik schlagender erläutern. Analogwurde einst von der Hegelschen Rechtsphilosophie, inder bürgerliche Ideologie und Dialektik der bürgerli-chen Gesellschaft so tief ineinander sind, der vonaußen, angeblich jenseits des gesellschaftlichen Kräf-

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tespiels intervenierende, die Antagonismen mit poli-zeilicher Hilfe mildernde Staat von der immanentenDialektik der Gesellschaft selbst herbeizitiert, diesonst, Hegel zufolge, sich desintegrierte. Die Invasiondes nicht Systemimmanenten ist zugleich auch einStück immanenter Dialektik, so wie am entgegenge-setzten Pol Marx die Umwälzung der Produktionsver-hältnisse als ein vom Gang der Geschichte Erzwunge-nes und dennoch als ein nur durch eine von der Ge-schlossenheit des Systems qualitativ verschiedene Ak-tion Herbeizuführendes dachte. Wird aber, auf Grundvon Interventionismus und längst, weit darüber hin-aus, von Großplanung argumentiert, der Spätkapita-lismus sei der Anarchie der Warenproduktion entrücktund darum kein Kapitalismus mehr, so ist zu erwi-dern, daß das gesellschaftliche Schicksal des Einzel-nen für diesen so zufällig ist wie nur je. Das Kapita-lismusmodell selbst hat nie so rein gegolten, wie dieliberale Apologie es unterstellt. Es war bereits beiMarx Ideologiekritik, sollte dartun, wie wenig der Be-griff, den die bürgerliche Gesellschaft von sich selbsthegte, mit der Realität sich deckte. Nicht enträt es derIronie, daß gerade dies kritische Motiv: daß der Libe-ralismus in seinen besten Zeiten keiner war, heuteumfunktioniert wird zugunsten der These, der Kapita-lismus sei eigentlich keiner mehr. Auch das indizierteinen Umschlag. Was von je an der bürgerlichen Ge-

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sellschaft gegenüber der ratio des freien und gerechtenTauschs, und zwar infolge von seinen eigenen Impli-kationen, irrational: unfrei und ungerecht war, hat der-art sich gesteigert, daß ihr Modell zerbröckelt. Ebendas wird dann von dem Zustand, dessen Integrationzum Deckbild von Desintegration sich wandelte, alsAktivposten verbucht. Das Systemfremde enthülltsich als Konstituens des Systems, bis in die politischeTendenz hinein. Im Interventionismus hat die Resi-stenzkraft des Systems, indirekt aber auch die Zusam-menbruchstheorie, sich bestätigt, der Übergang zuHerrschaft unabhängig vom Marktmechanismus istsein Telos. Das Wort von der formierten Gesellschafthat das unvorsichtig ausgeplaudert. Solche Rückbil-dung des liberalen Kapitalismus hat ihr Korrelat ander Rückbildung des Bewußtseins, einer Regressionder Menschen hinter die objektive Möglichkeit, dieihnen heute offen wäre. Die Menschen büßen die Ei-genschaften ein, die sie nicht mehr brauchen und diesie nur behindern; der Kern von Individuation beginntzu zerfallen. Erst in jüngster Zeit werden Spuren einerGegentendenz gerade in verschiedensten Gruppen derJugend sichtbar: Widerstand gegen blinde Anpas-sung, Freiheit zu rational gewählten Zielen, Ekel vorder Welt als Schwindel und Vorstellung, Eingedenkender Möglichkeit von Veränderung. Ob demgegenüberder gesellschaftlich sich steigernde Destruktionstrieb

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doch triumphiert, wird sich weisen. Subjektive Re-gression begünstigt wiederum die Rückbildung desSystems. Weil es, um einen Ausdruck von Merton an-ders als an Ort und Stelle anzuwenden, dysfunktionalward, hat das Bewußtsein der Massen dem Systemdadurch sich gleichgemacht, daß es zunehmend jenerRationalität des festen, identischen Ichs sich entäußer-te, die noch im Begriff einer funktionalen Gesellschaftimpliziert war.

Daß Produktivkräfte und Produktionsverhältnisseheute eines seien und man deshalb die Gesellschaftumstandslos von den Produktivkräften her konstruie-ren könne, ist die aktuelle Gestalt gesellschaftlich not-wendigen Scheins. Gesellschaftlich notwendig ist er,weil tatsächlich früher voneinander getrennte Momen-te des gesellschaftlichen Prozesses, die lebendenMenschen inbegriffen, auf eine Art Generalnenner ge-bracht werden. Materielle Produktion, Verteilung,Konsum werden gemeinsam verwaltet. Ihre Grenzen,die einmal innerhalb des Gesamtprozesses dessen auf-einander bezogene Sphären doch auch voneinanderschieden, und dadurch das qualitativ Verschiedeneachteten, verfließen. Alles ist Eins. Die Totalität derVermittlungsprozesse, in Wahrheit des Tauschprin-zips, produziert zweite trügerische Unmittelbarkeit.Sie erlaubt es, womöglich das Trennende und Antago-nistische wider den eigenen Augenschein zu verges-

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sen oder aus dem Bewußtsein zu verdrängen. Scheinaber ist dies Bewußtsein von der Gesellschaft, weil eszwar der technologischen und organisatorischen Ver-einheitlichung Rechnung trägt, davon jedoch absieht,daß diese Vereinheitlichung nicht wahrhaft rationalist, sondern blinder, irrationaler Gesetzmäßigkeit un-tergeordnet bleibt. Kein gesellschaftliches Gesamt-subjekt existiert. Der Schein wäre auf die Formel zubringen, daß alles gesellschaftlich Daseiende heute sovollständig in sich vermittelt ist, daß eben das Mo-ment der Vermittlung durch seine Totalität verstelltwird. Kein Standort außerhalb des Getriebes läßt sichmehr beziehen, von dem aus der Spuk mit Namen zunennen wäre; nur an seiner eigenen Unstimmigkeit istder Hebel anzusetzen. Das meinten Horkheimer undich vor Jahrzehnten mit dem Begriff des technologi-schen Schleiers. Die falsche Identität zwischen derEinrichtung der Welt und ihren Bewohnern durch dietotale Expansion der Technik läuft auf die Bestäti-gung der Produktionsverhältnisse hinaus, nach derenNutznießern man mittlerweile fast ebenso vergeblichforscht, wie die Proletarier unsichtbar geworden sind.Die Verselbständigung des Systems gegenüber allen,auch den Verfügenden, hat einen Grenzwert erreicht.Sie ist zu jener Fatalität geworden, die in der allge-genwärtigen, nach Freuds Wort, frei flutenden Angstihren Ausdruck findet; frei flutend, weil sie an keine

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Lebendigen, an Personen nicht und nicht an Klassen,länger sich zu heften vermag. Verselbständigt aberhaben sich am Ende doch nur die unter den Produkti-onsverhältnissen vergrabenen Beziehungen zwischenMenschen. Deshalb bleibt die übermächtige Ordnungder Dinge zugleich ihre eigene Ideologie, virtuell ohn-mächtig. So undurchdringlich der Bann, er ist nurBann. Soll Soziologie, anstatt bloß Agenturen und In-teressen willkommene Informationen zu liefern, etwasvon dem erfüllen, um dessentwillen sie einmal konzi-piert ward, so ist es an ihr, mit Mitteln, die nicht sel-ber dem universalen Fetischcharakter erliegen, dasIhre, sei's noch so Bescheidene, beizutragen, daß derBann sich löse.

1968

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