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Martin Seel Über die Präsentation von Kunstwerken und den Opportunismus der Kritik Wien, 23.11.07 Die Frage nach der "Sichtbarkeit von Gegenwartskunst" ist schon deshalb eine gute Frage, weil für eine Weile zumindest bezweifelt wurde, ob bildende Kunst überhaupt — oder überhaupt noch — darauf angelegt sei, sich sichtbar zu machen oder sichtbar zu werden. "Visuality drops away", schreibt Arthur Danto 1997 in seinem Buch After the End of Art, und er sagt es ausdrücklich über die visual arts: "Visuality drops away, as little relevant to the essence of art as beauty proved to have been." (Mich erinnert die- ser mutige Satz immer an den in Fußballkreisen legendären Aus- spruch von Karl Heinz Rummenigge im Frühjahr 1991, der da lau- tete, dass der 1. FC Kaiserslautern Deutscher Meister werde, sei so ausgeschlossen wie dass Michael Stich das Wimbledon-Turnier gewinne; nun, Kaiserslautern wurde Meister und Stich schlug Bo- ris Becker im Finale in drei Sätzen.) Aber sehen wir uns auch Dantos Begründung dieser kühnen Behauptung an: "For art to exist there does not even have to be an object to look at, and if there are objects in a gallery, they can look like anything at all." Danto outet sich hier als ein idealistischer concept artist, der die bildende Kunst in ein Reich der Interpretationen verbannen will, für deren Zündung es auf Scheinen und Erscheinen (und erst recht auf Schönheit) gar nicht mehr (oder doch gar nicht mehr so sehr) ankommen soll. Ich werde gleich noch darauf zu sprechen kommen, warum das abwegig ist. Aber nehmen wir für einen Augenblick einmal an, es wäre so, wie Dantos extreme Einlassung es sagt. Dann stünde die öffentliche Darstellung und Darbietung der neuesten künstlerischen Entwicklungen grundsätzlich vor derselben Schwierigkeit wie jene sich karnickelhaft vermehren- den Wissenssendungen im Fernsehen, die ihre liebe Mühe damit haben, den wissenschaftlichen State of the Art in der Stringtheo- 1

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Martin Seel Über die Präsentation von Kunstwerken und den Opportunismus der Kritik Wien, 23.11.07 Die Frage nach der "Sichtbarkeit von Gegenwartskunst" ist schon deshalb eine gute Frage, weil für eine Weile zumindest bezweifelt wurde, ob bildende Kunst überhaupt — oder überhaupt noch — darauf angelegt sei, sich sichtbar zu machen oder sichtbar zu werden. "Visuality drops away", schreibt Arthur Danto 1997 in seinem Buch After the End of Art, und er sagt es ausdrücklich über die visual arts: "Visuality drops away, as little relevant to the essence of art as beauty proved to have been." (Mich erinnert die-ser mutige Satz immer an den in Fußballkreisen legendären Aus-spruch von Karl Heinz Rummenigge im Frühjahr 1991, der da lau-tete, dass der 1. FC Kaiserslautern Deutscher Meister werde, sei so ausgeschlossen wie dass Michael Stich das Wimbledon-Turnier gewinne; nun, Kaiserslautern wurde Meister und Stich schlug Bo-ris Becker im Finale in drei Sätzen.) Aber sehen wir uns auch Dantos Begründung dieser kühnen Behauptung an: "For art to exist there does not even have to be an object to look at, and if there are objects in a gallery, they can look like anything at all." Danto outet sich hier als ein idealistischer concept artist, der die bildende Kunst in ein Reich der Interpretationen verbannen will, für deren Zündung es auf Scheinen und Erscheinen (und erst recht auf Schönheit) gar nicht mehr (oder doch gar nicht mehr so sehr) ankommen soll. Ich werde gleich noch darauf zu sprechen kommen, warum das abwegig ist. Aber nehmen wir für einen Augenblick einmal an, es wäre so, wie Dantos extreme Einlassung es sagt. Dann stünde die öffentliche Darstellung und Darbietung der neuesten künstlerischen Entwicklungen grundsätzlich vor derselben Schwierigkeit wie jene sich karnickelhaft vermehren-den Wissenssendungen im Fernsehen, die ihre liebe Mühe damit haben, den wissenschaftlichen State of the Art in der Stringtheo-

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rie, der Gentechnik, der Hirnforschung, der Theorie der Emotio-nen oder was sonst gerade in Mode ist, mit Hilfe putziger Klang-bildeffekte dem einfachen Volk verständlich zu machen. Die öf-fentliche Darbietung und Diskussion von Objekten der Kunst könnte gar nicht von deren Sichtbarkeit ausgehen, geschweige denn auf sie eingehen, sondern müsste sich mit Illustrationen, Modellen und Modellchen begnügen, die dem Publikum weis-zumachen zu versuchen, was hinter den kümmerlichen materiel-len Korrelaten der Produktion von Künstlerinnen und Künstlern eigentlich im Gang ist. Hinter einem künstlerischen Arrangement aber spielt sich rein gar nichts ab. Gerade deswegen ist es ein künstlerisches. Es spielt sich auf eine Weise ab, die nach besonderen Arten der Wahrnehmung und des Verstehens verlangt. Ohne das Sichdarbieten — und im Fall der bildenden Kunst: ohne das visuelle Sichdarbieten — von künstlerischen Gesten und Prozessen gäbe es keinerlei Anlass, sich irgendeiner Konstruktion oder Inszenierung als künstlerischer zu überlassen. Darüber hinaus gäbe keinen Anlass, auf einer Ta-gung wie dieser über die Schwierigkeiten nachzudenken, das Sichdarbieten von Kunstwerken auf die eine oder andere Weise — durch Ausstellungen, durch Praktiken der Kunstvermittlung wie durch solche der Kunstkritik — angemessen Geltung zu bringen. Deswegen, so meine ich, ist es vielleicht kein ganz schlechter An-fang für unsere Tagung, ein wenig darüber nachzudenken, ob und wie die sinnliche Gegenwart von Kunstwerken vergegenwär-tigt werden kann. Damit jedenfalls werde ich beginnen — mit einer kurzen Reflexion darüber, worin der Präsentationscharakter von Kunstwerken be-steht und wie dieser in anderen Medien präsentiert werden kann. Danach, damit es nicht zu theoretisch wird, werde ich einen au-tobiografisch gefärbten Rundgang durch einige der Kasseler Do-cumenta-Ausstellungen mit Ihnen veranstalten, dessen Sinn sich schließlich — drittens und letztens — in einer in mittlerer Theorie-

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lage gehaltenen Überlegung zu Bedingungen einer produktiven Kunst-Kritik beweisen soll. Damit Sie unterwegs den Überblick behalten können (oder we-nigstens den Anschein eines solchen), schicke ich zu jedem der drei Teile eine holzschnittartige These voraus: 1. Objekte der Bildenden Kunst (aber auch vieler anderer Künste), sind Präsentationen, die der Präsentation bedürfen. 2. Heute wie gestern (aber vielleicht insbesondere heute) kennt die jeweils aktuelle Kunst höchst unterschiedliche Präsentations-formen, die sich keinem Format ihrer Ausstellung und Kommen-tierung ohne weiteres fügen. 3. In dieser Situation ist ein Typus der Kritik verlangt, der in einem radikalen Sinn opportunistisch verfährt — und sich gerade da-durch dem Nachplappern des jeweils Angesagten verweigert. 1. Die Präsentation von Präsentationen Mein erster Schritt gibt mir sogleich die Gelegenheit, Arthur Dan-to Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. In seinem älteren Buch The Transfiguration of the Commonplace aus dem Jahr 1981 hat er den Status von künstlerischen gegenüber anderen Arten von Ob-jekten einleuchtend mit Hilfe einer doppelten Unterscheidung erläutert. Kunstwerke unterscheiden sich demnach auf signifi-kante Weise sowohl von mere real things als auch von mere repre-sentations. Sie sind Dinge oder Ereignisse, die über ihren Objekt-charakter hinaus einen Darbietungscharakter haben; sie sind Darbietungen, die nicht — oder nicht primär — im Modus der Rep-räsentation externer Gegebenheiten operieren. Sie sind, mit ei-nem Wort, Präsentationen einer besonderen Art. Sie sind Darbie-tungen, die nur dadurch etwas präsentieren, indem sie sich prä-sentieren — indem sie in ihren raumzeitlichen Konfigurationen etwas wahrzunehmen und zu verstehen geben, das an genau diese individuelle Kombination von Materialien, Formen und Zei-chen gebunden ist. Zwar kann man auch von einer schönen Lam-

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pe sagen, dass sie kraft ihrer Form in dem Raum, in dem sie sich aufgestellt findet, etwas zum Leuchten bringt; aber diese Präsen-tation, wenn man denn so reden will, geht in dem atmosphäri-schen Erscheinen eines solchen Gebildes auf. Anders bei künstle-rischen Artefakten: Vermöge ihres Erscheinens bieten sie Gehalte dar, die sich allein im Prozess ihrer internen Konstellationen ent-falten. Ihre Wahrnehmung ist ein Verstehen und ihr Verstehen eine Wahrnehmung. ("Ich verstehe diese Lampe nicht", wäre hin-gegen ein sinnloser Satz.) Dies erklärt auch schon, warum Danto mit seiner anfangs zitierten Volte so gründlich daneben liegt: Immer kommt es bei künstlerischen Werken auf ihr phänomena-les Sichdarbieten an, auch und gerade dann, wenn wir es mit Ob-jekten zu tun haben, die sich scheinbar in nichts von natürlichen oder artifiziellen Gegenständen außerhalb der "Kunstwelt" unter-scheiden. Denn sobald sie als künstlerische Objekte aufgefasst und anerkannt werden, erscheinen sie ganz anders als sie für das bloße Auge, ein bloßes Hören oder ein einfaches Lesen vorhan-den sind. Sie werden zu Potentialen eines interpretierenden Ver-nehmens, für das ihre sinnlichen Eigenschaften Kontraste und Interferenzen ausbilden und damit eine Spannung und Dynamik gewinnen, die ihnen als einfache Objekte der Wahrnehmung niemals zukommen könnten. Da ich diese Verhältnisse in meiner Ästhetik des Erscheinens1 an allerlei einschlägigen Beispielen durchgespielt habe werde ich hierauf jetzt nicht weiter eingehen. Denn das Problem, das ich heute behandeln möchte, fängt mit dieser Klärung des Präsenta-tionscharakters von Objekten der Kunst erst eigentlich an (wobei ich mich fortan ausschließlich auf die bildende Kunst beschrän-ke). Dass Objekte der Kunst als gehaltvolle, für ein verstehendes Vernehmen konfigurierte Präsentationen gemacht (und im güns-tigen Fall dafür geeignet) sind, bedeutet nämlich, dass sie ihrer-

1 M. Seel, Ästhetik des Erscheinens, München 2000, 188-214.

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seits präsentiert werden müssen. Damit sie sich als Werke der Kunst präsentieren können, müssen sie von jemandem und so präsentiert werden, dass ihre innere Dynamik tatsächlich zur Gel-tung kommen kann. Jedoch ist es niemals nur ein Jemand, der hierfür zuständig und berufen wäre. Das ist schon deshalb so, weil jede und jeder, der Kunst macht, dies nur in einem jeweili-gen historischen Kontext tun kann, weil also der Akzent, den er oder sie mit einzelnen Produktionen setzen kann, von vielfältigen kunsthistorischen Bedingungen abhängig ist, innerhalb derer Künstler allein operieren können. Bereits die Gattungen, in oder zwischen denen sich eine künstlerische Arbeit bewegt, stellen ein höchst bewegliches Gefüge dar, das sich mit jedem einzelnen ge-lungenen Werk auf eine unüberschaubare Weise bereits wieder verschiebt. Kein künstlerisches Objekt steht jemals für sich allein; jedes verändert die stets veränderliche Landschaft, in der es vo-rübergehend oder dauerhaft eine sichtbare Stelle findet. Darüber hinaus können die Künstler nur im seltensten Fall aus ei-gener Kraft dafür sorgen, dass die Präsentation ihrer Werke an-gemessen und überdies öffentlich wirksam zur Präsentation kommt. Aussichtsreiche (und einträgliche) Möglichkeiten, ihre Werke in privaten Räumen und Sammlungen unterzubringen, haben sie unter den heutigen Bedingungen meist nur, wenn sie über Möglichkeiten ihrer öffentlichen Präsentation durch Galerien und in Ausstellungen verfügen, die ihrerseits um so nachdrückli-cher wahrgenommen werden können, je mehr sie von einer öf-fentlichen Kritik aufgenommen und dort in Wort und Bild verbrei-tet werden. Damit werden die Künstler und ihre Werke zum Teil eines Kunstmarktes, der unter anderem — neben ökonomischen Faktoren, die innerkünstlerischen Entwicklungen oft weitgehend unabhängig sind — von den Mechanismen der öffentlichen Reak-tion beherrscht, einer Reaktion, die sich freilich nicht allein, und oft längst nicht mehr vorwiegend, im Format einer interpretati-ven Kunstkritik bewegt, sondern eine Reihe weiterer medialer Strategien mit einschließt, als da sind Werbekampagnen, Vernis-

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sagen und Finissagen, Reproduktionen und Re-Inszenierungen, Kataloge, Postkarten, Poster, Theorien, Interviews, Hintergrund-berichte, Personality-Stories und dergleichen mehr. So sehr künstlerische Objekte potentielle Veröffentlichungen sind, weil sie ihrem Sinn nach auf ein öffentliches Erscheinen zielen, so sehr sind sie auf eine Realisierung dieser potentiellen Öffentlichkeit angewiesen, die mit ihrer puren Herstellung noch lange nicht er-reicht und noch lange nicht abgeschlossen ist. Wenn meine anfänglichen Bemerkungen zutreffend waren, so ist dies nichts grundsätzlich Neues. Neu ist nur, auf welche Weise des geschieht, nämlich in einer zunehmend eventorientierten Medienkultur, die ihren eigenen Gesetzen unterliegt — Gesetzen, kraft derer Werke, Werkserien und ganze Oeuvres zu Recht oder Unrecht untergehen oder reüssieren. Selbst die in diesem Prozess erfolgreichen Produzenten und Produktionen sehen sich hier der strukturellen Gefahr ausgesetzt, als Spekulationsobjekte nicht allein in ökonomischer Hinsicht, sondern auch in kultureller Hin-sicht verheizt zu werden, indem sie nurmehr als Dekor und Kitzel einer selbstgefälligen und sich selbst genügenden Maschinerie musealer und medialer Inszenierungspraktiken dienen. In mei-nem Augen ist es diese Entwicklung, angesichts derer sich die Frage nach der Kraft und Macht der Kritik auf eine neue Weise stellt. Wie kann sich Kunstkritik im Bereich der bildenden Kunst als Anwalt zugleich starker Objekte und einer intensiven Wahr-nehmung dieser Objekte bewähren? Welche Einstellung ist ge-fordert, wenn verhindert werden soll, dass die kunstbezogene Kritik ihrerseits zu einem bloßen Effekt im Haschen nach gefälli-gen Effekten verkommt? Kurzum: Ist kritische Strenge und Schär-fe unter den gegenwärtigen Bedingungen überhaupt noch mög-lich — und wenn ja, wie? 2. Documenta-Erzählungen

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Einer Beantwortung dieser Frage möchte ich mich zunächst auf einem Umweg nähern. Ich werde eine Art Selbstversuch vorneh-men, indem ich berichte, wie es mir bei meinen Erkundungen im Reich der neueren und neuesten Kunst zu ergehen pflegt. Ich werde mir und Ihnen ein paar Episoden aus meinen documenta-Besuchen in den vergangenen Jahrzehnten in Erinnerung rufen, um hierbei Boden zu gewinnen für meine abschließende Apolo-gie einer Kunstkritik, die sich abgesehen von bedeutenden Pro-duktionen durch nichts und niemandem vereinnahmen lässt. Ein spezielles Format: Großausstellung. Funktionswandel dersel-ben. Organisation. Werbung. Vorberichte. Internetauftritt. Begleitveran-staltungen. Kurzführer. Großkataloge. Sie kennen das. "Die große Ausstellung hat keine Form", schreiben Roger M. Buergel und Ruth Noack in ihrem sehr kurzen Vorwort zum Kata-log der diesjährigen documenta. "Macht man documenta, das heißt eine Ausstellung ohne Form, so begibt man sich in ein Kraftfeld. Die Faszination, die sie ausübt, aber auch die medialen Erwartungen an diese Ausstellung sind enorm hoch, nicht zuletzt deshalb, weil Menschen mit radikaler Formlosigkeit schlecht um-gehen können. Sie fühlen sich herausgefordert, und wollen etwas identifizieren. Dagegen ist nichts zu sagen, wenn man die Balan-ce zwischen Identifizierung und endgültiger Fixierung zu halten weiß — eine Kunst, die einen die Kunst lehrt." Das ist keine schlechte Beschreibung — aber: "die Kunst, die einen die Kunst lehrt", gerade anlässlich Großausstellungen, ist vor al-lem die: dass die Konzeption solcher Ausstellungen fast nichts, die Konstellation der zusammengestellten Werke dagegen fast alles ist — oder besser: dass jene, die Konzeption, nur so viel taugt, wie es ihr gelingt, lebendige solcher Konstellationen zustande zu bringen.

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Man begibt sich in einen undefinierten und in diesem Sinn formlo-sen Raum, so sehr manche Kuratoren ihn auch zu definieren ver-suchen mögen; man sieht, spürt, bewegt sich, darauf wartend, bewegt zu werden; wer zur Kunst geht, bestimmt sich dahin, mit Leib und Seele, Geist und Sinnen bestimmt zu werden — — be-stimmt zu werden durch Objekte, Orte, Gelegenheiten, die die mitgebrachten Gewissheiten mit der Gewissheit verstören, dass hier etwas zu sehen, manchmal auch zu hören, und im Sehen o-der auch Hören zu verstehen ist, das nur erfahrend und das erfah-rend immer neu begriffen werden kann. Auch bei einem Gang durchs Museum verweilen wir ja nie bei al-lem, was ein Verweilen lohnte, denn dafür hat niemand die Zeit. Wir lauern auf unser Verweilen — darauf, welches der Exponate hier und heute unsere Aufmerksamkeit zu fesseln vermag. Wir lauern uns auf: in der Begegnung mit Werken, die uns zeigen, was uns unwillkürlich etwas sagt. Wir gehen zu den Künsten, um uns treffen zu lassen, nicht wissend wovon. Ich pflege seit 1977 regelmäßig zur documenta zu pilgern, wobei mein erster Weg seither dem Vertikalen Erdkilometer von Walter de Maria gilt, einem Objekt, das für Dantos Vorbehalt gegen alles Ästhetische in der Kunst wie geschaffen erscheint —— aber auch nur so erscheint.2 In diesem Jahr hatte ich Schwierigkeiten, das fast unsichtbare Riesenobjekt zu finden, da es von dem Sand fast ganz verdeckt war, der von dem großen, Anfang September wie eine Brache daliegenden vertrockneten Mohnfeld auf die Geh-wege geweht war. Mir ging es hier wie dem sprichwörtlichen Ba-nausen, der mit der Nase darauf gestoßen werden muss, dass hier Kunst im Gange ist — in diesem Fall die Mohnfeld betitelte In-stallation von Sanja Ivekovic, die freilich einen weit stärkeren Ef-fekt machte als der Kommentar im Katalog begreiflich machen konnte. Dieser hält sich bei der politischen, ökonomischen und

2 Hierzu M. Seel, Ästhetik des Erscheinens, a.a.O., 202f.

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existentiellen Symbolik des Mohns auf, ohne der Raumwirkung dieser kontingenten Inszenierung Beachtung zu schenken: eine von einem Naturprozess bewirkte Verwandlung des öffentlichen Raums, die ihn mit kontigentem Entstehen und Vergehen be-setzt, wo wir sei es räumliche, sei es kulturelle, sei es politische Koordinaten erwarten. Ein paar weitere Schlaglichter auf Objekte, die mich zum Verwei-len verleiten konnten: Trisha Brown, Floor of the Forest Innerhalb eines quadratischen Gestells von Rohren war ein Netz-werk von Seilen gespannt, an denen zahlreiche bunte Kleidungs-stücke hingen, durch die Tänzerinnen und Tänzer ("movers") sich hinein- und herausschlüpfend in einem zeitlupenhaften, auf den Kopf gestellten Tanz schwebend bewegten — eine wunderbare Metapher der Erdenschwere, die hier als ein Grundmedium nicht nur des Tanzes, sondern überhaupt jeder Lebensbewegung spür-bar wird. Harun Farocki, Deep Play Eine komplexe Re-Inszenierung des WM-Endspiels zw. Italien und Frankreich 2006, in einem weiten Halbrund aus 16 Displays: un-terschiedliche Ansichten des Spiels: das gesendete Übertra-gungsbild??, Zidane (bis zu seinem Rausschmiss) und Pirlo in Großeinstellungen, Diagramme der Laufbewegungen, statisti-sche Schemata, eine Rohübersetzung des Spiels in die Grafik von Computerspielen, das vergehende Abendlicht über dem Olym-piastadion, Szenen des Public Viewing; dazu eine disparate Ton-spur aus Regie-Befehlen, statistische Auswertungen, Polizeifunk, Expertenkommentaren usf. Farockis klangbildliche Bildanalyse stülpte Dimensionen der (nach Brechts Diktum) "in die Funktionale gerückten Wirklichkeit" des professionellen Sports heraus; sie kehrte die logistische, tak-tische, ökonomische, mediale Infrastruktur hinter der Tonbildfas-

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sade des allgemein zugänglichen Spielverlaufs hervor; sie zerleg-te die Dramatik des Spiels in disparate Komponenten, die in sei-nem Verlauf nicht weniger als bei seiner Betrachtung wirksam sind; sie machte aus dem bekannten Spektakel des Endspiels ein Schauspiel der in seiner öffentlichen Inszenierung wirkenden Kräfte (ein Drama, das bei Betrachtern wie mir, die dem Fußball leidenschaftlich zugetan sind, eine Art gehemmter Begierde her-vorrief) —— und hielt doch in der Kontingenz seiner Bild- und Klangbewegungen das Bewusstsein dafür offen, dass die ganze aufwendige Ökonomie der Inszenierung eines solchen Spiels immer von dessen Kontingenzen lebt. Hito Steyerl, Red Alert Ein elektronisches Triptichon: drei Monitore mit leuchtend roter Fläche, die aber weder ein digitalisiertes Bild noch ein Filmstill zeigten, sondern von einem DVD-loop hervorgebracht wurde, also genauso genommen ein bewegtes Bild präsentierte, auf dem keinerlei Bewegung zu sehen war — eine ebenso schöne und ge-lassene Reflexion über Farbe, Bild und Bewegung. Romuald Hazoumé, Dream Auch eine starke politische Installation habe ich gefunden: ein vollständig aus offenen Benzinkanistern montiertes Boot, das vor einer traumhaften afrikanischen Landschaft auf die tödliche Ü-berfahrt in ein von Krieg und Verwüstung freieres Land wartet — das aber hier, im Aue Pavillon der Documenta, nur einfach schwarz und schwer da war, ein Fremdkörper, mit dem man nicht vertraut werden konnte, eine skulpturale Notlösung, ein dys-funktionales Gerät, das diesmal aber nicht die fragile Ontologie von Kunstwerken, sondern die verheerende des sozialen Elends spürbar werden ließ. Aber alles in allem blieb der Dialog und Kontrast der präsentier-ten Werke für mein Empfingen kraftlos und schwach. Das war anders in der vorhergehenden documenta 2002. Aber nicht auf-

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gerufene Diskurse, nicht allein die ausgestellten Objekte, nicht einmal nur ihre Inszenierung machten dort die Kraft der Docu-menta aus. Es war die Spannweite, mit der die Kunstformen zu-sammengeführt wurden, die an ihrer eigenen Realität etwas über die Realität der globalisierten Gegenwart zu entdecken gaben. Sie verschaffte der Fotografie ein großes Comeback. Sie lud den Film zu sich ein. Sie tolerierte den Video-Essay, wenn auch nur mit wenigen überzeugenden Auftritten. Sie ließ die Installation leben, wenn auch selten so stark wie in Annette Messagers eben-so bunter wie schwarzer Ansammlung zuckender menschlicher und tierischer Leiber. Mit den verwitterten Schrifttafeln von Glenn Ligon gestand die Documenta 11 auch dem unbewegten Bild ein starkes Solo zu. Der Concept Art gewährte sie einen furio-sen Auftritt in der Präsentation der Maria Eichhorn Aktiengesell-schaft, in deren Akten die Künstlerin, die außer Kontrakten und Banknoten nichts zur Erscheinung brachte, sich in feinem Amts-deutsch als "die Erscheinende" firmierte. Auch die Performance war vertreten. In einem Glaskasten wurden tagein, tagaus die Folgen der Jahreszahlen aus den Büchern von On Kawaras One Million Years verlesen — eine minimale Musik aus Wort und Zahl, die ein starkes Bündnis mit dem monumentalen, rein aus Zahlen komponierten Kontrabaßsolo opus 45 schloss, mit deren Partitu-ren Hanne Darboven die Rotunde des Fridericianums ausgeka-chelt hatte. Diese heterogene Inszenierung war um Klassen besser auch als die an ihrem Konzept erstickte Documenta X von 1997, die sich in das riesige Depot des Malers Gerhard Richter flüchten musste, um wenigstens einen überwältigenden Ort zu finden. Sie war das Dokument einer Kunst-Konzeption, die den einzelnen Werken nur wenig Raum ließ. Sie versuchte Kunst-Geschichte zu schrei-ben, anstatt etwas Neues geschehen zu lassen. Sie spielte Kunst-Richtungen gegeneinander aus, anstatt sie gegeneinander zu stellen. Sie verbannte die Malerei, ohne dies mit starken Installa-tionen ausgleichen zu können.

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Interessanterweise aber wurde das Scheitern der von Catherine David eingerichteten documenta X vor 10 Jahren in einigen Reak-tionen zum Anlass sehr viel weitergehender Befunde — bis hin zur Diagnose einer Erschöpfung der gegenwärtigen Kunst. Mit dem Asketismus der documenta wurde die Unsinnlichkeit, mit ihrer Fixierung auf Konzeptionen wurde die Kopflastigkeit, mit ihrem Faible für Theorien wurde die Kommentarverfallenheit der heuti-gen künstlerischen Produktion beklagt. Die Kritik an der docu-menta wurde zu einem Tribunal über die Gegenwart. Die docu-menta, der man eine Instrumentalisierung der Kunst vorwarf, wurde instrumentalisiert zu einem Grabgesang auf die neuere Kunst. Jedoch ist die eine oder andere magere documenta noch lange kein Symptom eines Niedergangs der Kunst. Die von der documenta X — sehr selektiv — zitierte Kunst der sechziger und siebziger Jahre hatte ganz anderes im Sinn als die Strahlkraft künstlerischer Konstruktionen auszulöschen.3 Sie wollte das Wir-

3 Bei der Raum-Inszenierung etwa, die Joseph Kosuth für die Documenta X 1997 unter dem Titel "Passagen-Werk. Documenta Flânerie" eingerichtet hat, steht dieser kunstreflexive Bezug im Vordergrund. Kosuths Passagen führten durch zwei Gänge der Kasseler Neuen Galerie; die Exponate, die sich dort normalerweise befinden (vorwiegend Tafelbilder, aber auch einige Skulpturen von regionalen Künstlern vergangener Jahrhunderte) waren in dem einen Raum mit schwarzem, im anderen mit weißem Tuch vollständig verhängt; die Wände und Fensternischen des ersten Raums waren vollstän-dig schwarz, die des zweiten vollständig weiß übermalt. Auf den Tüchern und Wänden des ersten Raums standen diverse Zitate in weißer Schrift, im andern Raum in schwarzer Schrift zu lesen. Bei den Zitaten handelte es sich um Aussprüche meist berühmter Autoren zu Fragen der Ästhetik, Ethik und Erkenntnistheorie; Wittgenstein und Benjamin waren am häufigsten vertre-ten. Wie in Benjamins fragmentarischem Passagen-Werk führen Kosuths Passagen durch einen Raum von Zitaten, die den Zugang zu der Sache, um die es eigentlich gehen soll, zu verstellen schienen. Das Werk ist sicher auch eine Metapher der Interpretationsabhängigkeit aller Kunst; vor allem aber ist es eine Thematisierung des künstlerischen Raums als eines Orts, an dem keine einfachen Gegenstände zu sehen sind, sondern vielmehr Artefakte, deren ästhetische Präsenz erst durch die besondere Art ihrer räumlichen Gegenwart hervorgebracht wird. Für diese Gegenwart ist ein Umsturz der Verhältnisse des Sichtbaren und des Unsichtbaren, des Sinnlichen und des

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ken dieser Strahlkraft zeigen —dort, wo es schien, als sei sie dem Erlöschen nahe. Diese extreme künstlerische Reflexion über Kunst ist ein wichtiges Element vieler heutiger Arbeiten geblie-ben. Aber sie kann — und konnte — nicht zur Geltung kommen, wenn der Dialog mit Kunstwerken und Kunstrichtungen unter-bunden wird, die nicht primär ihre eigene Materialität, die eigene Zeit und den eigenen Raum erkunden. "Das Werk ist die Toten-maske der Konzeption", hat Benjamin einmal gesagt. Hier — auf dem Gelände der X. documenta — wurde die Konzeption zu einer Totenmaske der Werke. Vor diesem Hintergrund wirkte die documenta 11 im Jahr 2002 — jedenfalls auf mich — wie ein Akt der Befreiung. Dass sie sich nach dem Willen ihres Leiters Okwui Enzewor als weltweit operierende "Plattform" darbot, war freilich schiere Ironie. Hier wurde keine Übersicht geschaffen, hier wurde ein Labyrinth aus Werken kon-struiert, in dem sich verlieren durfte, wer sich auf die Erkundun-gen ihrer Werke einlassen wollte. Die Besinnung der Kunst auf Kunst stand dabei fast durchweg in einem engen Zusammenhang mit der Besinnung der Kunst auf Welt — und es zeigte sich einmal mehr, dass das eine ohne das andere kaum ein Daseinsrecht hat. In der Installation Countenan-ce von Fiona Tan waren auf drei nebeneinander stehenden Pro-jektionsflächen in Lebensgröße Personen und Personengruppen zu sehen, die sich zu Hause, an ihrem Arbeitsplatz oder in ihrer Freizeit für kurze Augenblicke der Kamera stellen. Sie stellten sich jedoch nicht einer fotografischen, sondern einer filmischen Ka-mera, die für ebenfalls kurze Augenblicke die Schwankungen

Unsinnlichen, des Wörtlichen und des Figürlichen, des Vertrauten und des Fremden bezeichnend. Kossuths Inszenierung stellt Bedingungen ästheti-scher Wahrnehmung zur Schau, und zwar so, daß sich eine Situation ergibt, in der wir uns in der Anschauung einer Grundsituation ästhetischer An-schauung aufhalten können.

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festhielt, in denen die Porträtierten eine Pose zu finden versuch-ten. In einem Atemzug war dies ein soziologisches und bildtheo-retisches Experiment. Man sah, wie Menschen sich darzubieten versuchen und schaute zugleich der Entstehung eines fixierenden Bildes von ihnen zu. Einen verwandten Projektionsraum hatte Gary Hill schon auf der IX. Documenta gestaltet. In einem langgestreckten, sehr dunklen und geräuschlosen Raum waren mit schwachem Licht männliche und weibliche Personen (auch Kinder) in unterschiedlicher Größe auf die Wand projiziert. Sie erhoben sich aus einer kauernden Stellung, sobald sich Betrachter auf sie zu bewegten. Sie beweg-ten sich dann ihrerseits auf den Betrachter zu, machten einige Gesten in seine Richtung (oder in die eines unsichtbaren Gegen-übers "hinter" dem Betrachter) und wendeten sich nach einer Weile wieder ab. Das Ganze wirkte wie ein nachgestellter Hades — ein lautloses Reich der Schatten, in dem es zu einer Begegnung mit Wesen kam, mit denen eine wirkliche Begegnung nicht mög-lich war, die das lebendige Gegenüber gleichwohl in verschiede-ne Formen der interpersonalen Begegnung verstrickten. Ich ver-spürte diesen Schattenwesen gegenüber eine Scheu, die unbe-gründet gewesen wäre, hätte sie mich nicht an eine soziale Scheu erinnert; zugleich aber konnte ich mich diesen Scheinsubjekten gegenüber einem Voyeurismus der Betrachtung hingeben, der jedem wirklichen Menschen gegenüber vollkommen schamlos wäre. In einer irregulären Situation personaler Begegnung nahm ich Möglichkeiten und Unmöglichkeiten unserer sozialen und äs-thetischen Wahrnehmung wahr. Wie bei Fiona Tan war diese, wie es so treffend wie irreführend heißt, "interaktive" Installation eine Präsentation und zugleich Variation der Formen, in denen wie uns einander in privaten wie öffentlichen Räumen präsentieren. Aber zurück ins Jahr 2002. Mit ähnlicher Raffinesse hatte die Fil-memacherin Chantal Akermann eine bedrückende Videoland-schaft geschaffen. Auf eng gruppierten Monitoren war das Ge-

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lände an der Grenze zwischen Mexico und den USA zu sehen — vorwiegend Nachtaufnahmen von beleuchteten Wällen, Zäunen, Straßen und eines leeren Steppenlands, über dem Suchschein-werfer fliehende Menschen verfolgen. Man sah einen Kampf um Licht und Leben, Schutz und Schatten, der auf der Gegenseite mit einer Regie von Hell und Dunkel ausgefochten und — aufgezeich-net wurde. Nur schwer lösen konnte ich mich auch von der Videoinstallation Flow von Igor und Svetlana Kopystianski. Auf je zwei Projektions-flächen an drei Wänden zeigte sie strömendes Wasser, in dem leichtlebige Abfälle der Zivilisation dahin trieben — Zeitungsfet-zen, Plastikbehälter, Plastiktüten. Auf ihrem Weg durch die Lein-wände zirkulierten sie in der rauschenden Strömung. Ein Gum-mihandschuh war darunter, der gespenstische, an keinen und alle adressierte Gesten macht, die von der nächsten Umstülpung wieder ausgelöscht werden. Unentwegt malten und übermalten die Aufnahmen Bilder, die mal metaphorisch, mal metaphysisch und doch jederzeit physisch waren — wie es seit jeher zur Ontolo-gie der bildenden Kunst gehört. Zur ihrer Ontologie gehört auch, dass wir nie ganz sicher sein können, welchen unserer Sinne ein Objekt der Bildenden Kunst zuerst und zumeist anspricht. 1985 besuchte ich einmal die Gale-rie von Leo Castelli, in der es schon beim Betreten fast durchdrin-gend nach Bienenwachs roch, weil Mario März dort auf großen Tischen abstrakte Reliefs aus eben diesem Material gegossen hat-te. Derselbe Effekt stelle sich beim Schlendern durch die Kata-komben der ehemaligen Binding-Brauerei in Kassel im Jahr 1997 ein. In einem ganzen Flügel des Gebäudes verbreitete sich ein Ge-ruch nach Kaffee, was daher rührte, dass der Boden eines am En-de eines Korridors von Arthur Barrio eingerichteten Raums mit gemahlenem Kaffee angefüllt war, auf dem man sich bei der Be-trachtung der Installation bewegte wie auf Sand, und doch wuss-te, dass man ein Genussmittel mit Füßen trat, so wie es die welt-

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weite Nahrungsindustrie mit vielen Gütern dieser Erde tut. Nicht nur wurde man vom Kopf bis zu den Füßen von diesem Arrange-ment berührt, es präsentierte sich vermöge seiner olfaktorischen Ausstrahlung weit über den Ort seiner Einrichtung hinaus. Es stellte einen sinnlichen Übergriff auf das ganze Areal dar, in dem es zur Erscheinung kam. Den radikalsten mir bekannten Effekt dieser Art habe ich auf ei-ner meiner Lieblingsdocumenten erlebt, derjenigen von 1992. Sie gehört im Rückblick zu meinen Kasseler Favoritinnen allein des-halb, weil ihr Leiter, Jan Hoet, nichts weiter tat (und ausdrücklich nichts weiter tun wollte), als ein weit überdurchschnittliches Team starker Objekte aufeinander loszulassen. Schon vor dem Eintritt in das Fridericianum war damals ein akustisches Gewirr zu hören, von dem man nicht wusste, was es damit auf sich hatte. Lange bevor man etwas von der Sache sah, war eine Art geordne-ten Geschreis zu hören, ohne dass eine Ordnung darin zu ent-schlüsseln gewesen wäre. Mit einer beinahe brutalen Unverfro-renheit, ja Unverschämtheit durchhallte dieses Lautgewitter wei-te Bereiche des Ausstellungsgebäudes und stellte damit manches andere Objekt auf die harte Probe, ob es seine Präsenz gegen die Intensität dieses Kraftwerks behaupten konnte. Ich spreche, manche von Ihnen werden es schon erraten haben, von Bruce Naumans heute weltberühmter Installation Anthro-Socio. Da ich die Version (es gibt mehrere), die heute im Besitz der Hamburger Galerie der Gegenwart ist, besser in Erinnerung habe, werde ich mich im Folgenden an diese halten und der Einfachheit halber in den Präsens wechseln. Erst wer sich in das Zentrum des von dieser Installation entfach-ten Lärms begibt, und sein Ohr direkt vor die Lautsprecher jedes einzelnen der Fernsehmonitore hält, die in der Mitte der As-semblage stehen, kann hören, was von den durcheinanderge-henden Stimmen in endloser Wiederholung ausgerufen wird. Je-doch ist es jeweils dieselbe Stimme, die in einem rhythmischen

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Sprechgesang verschiedene Kurztexte vorträgt. Da diese Stimme mehrmals zugleich erklingt, wirkt sie ent-individualisiert, von keinem greifbaren Sprecher-Körper getragen. Die drei Texte, die vorgetragen werden, lauten: Help me / Hurt me / Sociology; Feed me / Eat me / Anthropology; Feed me / Help me / Eat me / Hurt me. Die ersten beiden Strophen werden aus je einem, die letzte wird aus zwei Lautsprechern übertragen. Der Vortrag der einzelnen Texte ist sehr artikuliert, vor allem das Wort "Anthropology" wird geradezu zelebrierend vorgetragen, so daß man in dem Laut-gemisch immer wieder Töne einer Koloratur zu vernehmen glaubt; man kann es als ein aus den Fugen geratenes Oratorium hören. Durch die Lautstärke und die scharfe Aussprache der kur-zen Imperative haben die Wortfolgen zugleich etwas sehr Expres-sives, wodurch das Klangfeld andererseits wie aus Schreien der Verzweiflung zusammengesetzt erscheint. Die Akustik des Werks ist somit von außerordentlicher Kreatürlichkeit und Künstlich-keit, Körperlichkeit und Abstraktheit in einem. Der Klangzustand der Installation kann nicht synthetisiert werden; er ist in einem Zug Gesang und Geschrei, ohne etwas Drittes zu sein. Diese Nicht-Vereinbarkeit des Gleichzeitigen kennzeichnet die Installation im Ganzen. Wie es keinen Hörpunkt gibt, von dem aus alles gehört werden könnte, so gibt es keinen Blickpunkt, von dem aus das Werk überschaut werden könnte. In einem größe-ren dämmrigen Raum sind vier Farbmonitore — teils zur Wand, teils zum Innenraum hin — so aufgestellt, dass nie mehr als zwei der Bildschirme zugleich wahrgenommen werden können. Alle zeigen den Kopf eines Mannes mit kahl rasiertem Schädel in einer um die vertikale Achse kreisenden Bewegung; ernst, kraftvoll, konzentriert, mit ansonsten starrem und gleichförmigem Aus-druck deklamiert er jeweils einen der Texte. Drei zusätzliche Pro-jektoren werfen das Bild des sich drehenden Kopfes in mehrfach vergrößertem Format auf die weißen Wände des Raums. Die Mit-te des Raums ist frei; in der Mitte stehend, ist nicht mehr, eher weniger zu sehen als von einer Position am Rand. Während auf

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den Videos eine extrem zentrierte Bewegung zu sehen ist, gibt es für den Betrachter kein Zentrum der Betrachtung. Doch auch das siebenmalige Bild des Kopfes — das diesen drei Mal nach unten gerichtet zeigt — ist eigentlich ohne Zentrum. In seiner Bewegung erscheint der Kopf wie losgelöst von dem ihn tragenden Körper. Man sieht den Leib nicht, dem sich der Lärm der Stimmlaute ent-ringt; so ist der exklamierende Kopf Zeichen einer extremen Leib-lichkeit und Leiblosigkeit zugleich. Die in der Differenz von Ge-schrei und Gesang liegende Ambiguität wiederholt sich im Ge-schehen der Bilder. Der sichtbare Kopf zeigt einerseits das Ge-sicht eines der Aufgabe der Deklamation nahezu lustvoll hinge-geben Menschen; andererseits ein anonymes und verletzliches Haupt in einer zwanghaften und ortlosen Bewegung — ein durch-aus auch komischer Kontrast. Geschrei vs. Gesang, Kopf vs. Körper, Künstlichkeit vs. Naturhaf-tigkeit — solche Polaritäten machen den Grundcharakter dieses Werks aus. Naumans Verfahren ist das einer paradoxen Redukti-on des Menschen auf Kreatürlichkeit und Künstlichkeit zumal. Er spielt die kontrastiven Grundtatsachen seiner Natur (Fressen und Gefressenwerden) und seiner Kultur (Helfen und Verletzen) in-einander. Er stellt am Künstlichen das Naturhafte und am Natur-haften das Künstliche aus. Der Bild- und Klangraum, der so ent-steht, bewirkt eine höchst artifizielle Vergegenwärtigung ele-mentarer Energien, die in ihrer Gewaltsamkeit und Unübersicht-lichkeit selbst Züge eines Naturzustands gewinnt. 3. Der Opportunismus der Kritik Ich habe dieses eine Beispiel etwas ausführlicher kommentiert, damit die komplexe Selbst-Präsentation dieser Installation deut-lich wird — und zugleich, dass diese nicht nur nicht ohne weiteres, sondern überhaupt nicht in irgend einem anderen Medium re-präsentiert werden kann. Ein Bild oder auch eine Serie von Bildern und ebenso eine filmische Wiedergabe von Naumans Anthro-

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Socio könnten nur einen sehr äußerlichen Eindruck von dem Ein-druck geben, den diese Installation auf diejenigen macht, die ihr an ihrem Ort begegnen. (Deswegen auch habe ich heute bewusst auf Projektionen verzichtet.) Denn was in Re-Präsentationen die-ser Art verschwinden muss, ist der eigene Raum und die eigene Zeit künstlerischer Objekte, und das heißt immer auch: der Raum und die Zeit bei dieses Objekten, wie sie von Betrachtern (und in diesem Fall zugleich Hörern) erfahren werden können. Die Kör-perlichkeit, mit der sie ihre Präsenz vor der leiblichen Gegenwart von Betrachtern entfalten, geht bei ihrer visuellen Mumifizierung unweigerlich verloren. Was hierbei insbesondere ausgeblendet oder doch stark abgeschwächt wird, ist die Präsentation ihrer Prä-sentation, wie sie sich am Ort ihrer Ausstellung unter spezifischen Bedingungen ereignet. Die Anwesenheit von Objekten der bil-denden Kunst, heißt das, steht in einem strukturellen Konflikt mit ihrer bildlichen Repräsentation. Mutatis mutandis gilt dies für alle Objekte, die mir bei meinen documenta-Exkursionen beson-ders auffällig geworden sind. Und es gilt auch und gerade von solchen Werken, die für eine fotografische oder filmische Repro-duktion wie geschaffen erscheinen, weil sie selbst in diesen Me-dien hergestellt sind. Denken Sie nur an die fotografischen Bilder von Andreas Gursky, die man nicht auch nur annähernd wahr-nehmen kann, wenn man als Betrachter nicht selbst den Abstand zur Bildfläche beständig variieren kann (etwa bei jener Montage von Aufnahmen in dem Bild Beelitz (2007), das im Frühjahr in der Ausstellung im Haus der Kunst in München zu sehen war; von weitem sieht man ein gigantisches, stellenweise lädiertes Rollo oder eine abstrakte Linienkonstruktion, von nahem aber ein von schwarzen Planen weitgehend abgedecktes Spargelfeld, auf dem sich die gebückten Leiharbeiter einzeln identifizieren lassen). Es gibt daher allen Grund, den heute üblichen "bildgebenden Ver-fahren" nicht nur dort zu misstrauen, wo sie das unhaltbare Ver-sprechen geben, das Gehirn lesbar zu machen, sondern auch da, wo sie suggerieren, sie könnten die Präsenz künstlerischer Ge-genstände konservieren.

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Dazu eine kleine Anekdote: Ich war vor einigen Wochen auf einer Vernissage des exzellenten Frankfurter Fotografen Jürgen Wies-ner, bei der der Neurophysiologe Wolf Singer und ich für die A-nimation zuständig waren — und was sah der kunstliebende Ge-hirnforscher in diesen zahllosen, ganz heterogenen Fotografien, die alle im Spätlicht des Tages an der Oberfläche eines Tümpels in der Umgebung gewonnen wurden: er sah nichts als Variationen der Gehirnscans, mit denen sein Team es tagein, tagaus an den Monitoren zu tun hat. Aus der mangelhaften visuellen Reproduzierbarkeit der visuellen Künste folgt zum einen, dass nicht in erster Linie das Bild, son-dern vor allem das Wort in der Lage ist, ihre Gegenwart zu verge-genwärtigen. Die verbale Re-Imagination ist weit mehr als eine Bebilderung geeignet, deutende Hinweise auf ihr Dasein im Raum und in der Zeit ihres Erscheinens zu geben. Denn mit Wor-ten können wir sagen, wie es war oder ist, die Nähe von Werken der bildenden Kunst zu vernehmen. Zwar steht es außer Frage, dass Reproduktionen dabei hilfreich sein können, aber es bedarf der verbalen Interpretation, um die Dynamik dieser Nähe gerade in jenen Dimensionen zu artikulieren, die von den visuellen oder audiovisuellen Wiedergängern der fraglichen Werke unausweich-lich vernachlässigt werden. Das Wort, nicht das Bild, ist der erste Anwalt der Erfahrung bildender Kunst und somit der wichtigste Agent ihrer öffentlichen Kritik. Worauf aber kann sich diese stützen, wenn sie nicht einfach ih-rerseits bloß reproduzieren will, was dem Kritiker zufällig in den Sinn kommt oder was in Theorie und Praxis des Umgangs mit Kunst gerade in Mode ist? Wie kann sie vorgehen, wenn sie nicht in dem schlechten Sinn opportunistisch verfahren, das heißt sich zur Stimme eines sich wie auch immer avanciert dünkenden Man machen will, das sich im Fahrwasser konventioneller Reflexe be-wegt, die auf einzelne Werke allein im Schema vermeintlicher

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Traditionen, Richtungen und Trends zu reagieren erlauben? Nun, eine angemessene Kritik der Kunst muss sich heute wie gestern auf die Erfahrung ihrer Werke stützen. Sie muss die Gelegenheit ernst nehmen, die die einzelnen Werke sind. Sie muss auf die günstige Gelegenheit — die opportunitas — lauern, die nur die ge-lungenen Werke eröffnen. Um beides, die bloße und die günstige Gelegenheit voneinander zu unterscheiden, muss sie sich — — trauen. Kritikerin und Kritiker müssen sich auf die Membran ihres Körpers verlassen. Wie viel Bilder und andere Objekte, Konzepti-onen und andere Lektüren, Theorien und Theoreme, Schlagworte und Slogans sie auch gespeichert haben mögen (und natürlich sollten sie davon allerhand gespeichert haben), ein eigenständi-ges Urteil hängt davon ab, in welche leibliche wie seelische Schwingung ein gegebenes Werk sie zu einem gegebenen Zeit-punkt versetzt. Und sie müssen sich trauen, dieser ihrer persönli-chen Resonanz zu folgen. Wenn ihr perzeptiver wie intellektueller Spürsinn von einer künstlerischen Produktion positiv getroffen und gefesselt wird, werden sie von hier aus starke Deutungen entwickeln, mit denen sie begründen (oder zu begründen versu-chen), warum es sich um starke Objekte handelt. Wenn sich hin-gegen bei ihnen nichts tut, dürfen sie — und bei Großausstellun-gen müssen sie — weitergehen, oder sie können mit Hinweisen darauf, was hier nicht geschieht, was bloß intendiert, aber nicht eingelöst wird, angeben, warum es keine starke Deutung erlaubt. Oder aber sie treffen auf Objekte, die ihren ästhetischen Sinn auf negative Weise provozieren; dann dürfen sie ihrem Ärger Luft zu machen — und können oft gar nicht anders, als polemisch zu rea-gieren. Wie dem auch sei, immer sollte ihr Urteil von dem nicht antizipierbaren, sei es dramatischen, sei es undramatischen, sei es intensiven, sei es spannungslosen Begegnung mit den Gegens-tänden ausgehen: davon, wie es sich kraft seiner Präsentation (und der Präsentation dieser Präsentation durch das jeweilige Format der Ausstellung) ihnen, den Kritikern, präsentiert hat. Freilich müssen sich Kritiker dabei immer als Medium einer auch anderen möglichen Reaktion und eines auch anderen zugängli-

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chen Verständnisses verstehen, denn sonst sprächen sie nur von sich selbst und nicht über das Werk. Es wäre ihnen nicht gege-ben, in ihren öffentlichen Reaktionen auf die starke oder schwa-che Präsentation künstlerischer Objekte zu verweisen. Es wäre ihnen nicht gegeben, vom Schauplatz eines künstlerischen Er-scheinens zu berichten, an dem sie zugegen waren. In diesem Sinn, so meine ich, sollten Kunstkritiker Opportunisten sein. Sie sollten nicht als Agenten irgendwelcher Kunst-Richtungen oder Kunst-Theorien, sondern als Gelegenheitsarbei-ter tätig sein, die von einer zur anderen herausragenden Gele-genheit ihre Erwartungen an die Kunst und ihre Reflexe ihren Werken gegenüber modifizieren. Dies ist freilich keineswegs die einzige Option, die sie haben. Man kann sich als professioneller Kritiker innerhalb wie außerhalb des Bereichs der Kunst auch ganz anders verhalten. Anlässlich einer Züricher Tagung vor an-derthalb Jahren habe ich einmal sieben Grundfiguren der ästheti-schen und politischen Kritik unterschieden: den Richter, den Ad-vokaten, den Ermittler, den Therapeuten, den Enthusiasten und schließlich — den Opportunisten. Nur dessen Porträt möchte ich am Ende meiner heutigen Überlegung noch einmal wiedergeben, weil es, wie ich hoffe, deutlich macht, wie eine vorbehaltlose Kri-tik der bildenden und anderer Künste am besten verfährt.4 Der Opportunist Der Opportunist sucht die Anlässe seiner Interventionen nicht, er findet sie. Er operiert im Namen einer Affinität, die er noch nicht hat. Er lässt sich von unverhofften Gegebenheiten zu seiner Kritik bestimmen. Er ist auf Opportunitäten aus — auf Gelegenheiten, die ihm zufallen. Er stützt sich auf Vorurteile und Parteinahmen, wie sie sich nicht vermeiden lassen, auf einen ungeordneten Schatz an Bildung, auf Erfahrungen, die ihm lieb und teuer sind —

4 M. Seel, Gestalten der Kritik, in: ders., Die Macht des Erscheinens, Texte zur Ästhetik, 259-268, hier 264f.

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nur um dies alles das über Bord zu werfen oder zumindest ins Wanken geraten zu lassen, wenn er auf Phänomene trifft, die sei-ne intellektuelle Disposition zu irritieren vermögen. Er ist Agent seiner eigenen Überraschungen — im Guten wie im Schlechten. Er genießt es, sich zu ärgern, aber ebenso, sich fesseln zu lassen. Grundlage seiner Kritik ist — nichts Bestimmtes; er hat kein Anlie-gen, ist kein Experte, verfügt über keinen gesicherten Stand, we-der im Kopf noch im Herzen. Karl Heinz Bohrer hat einmal von dem "Unbekannten" als einer weithin missachteten kulturellen Norm gesprochen; allein dieser Norm ist der Opportunist ver-pflichtet. Er ist beständig auf der Suche nach Anlässen, die ihn so oder so bewegen — und von denen er bewegt sein will. Dennoch verfügt er über ein starkes Urteil. Denn er urteilt im Namen eben jener Prozesse, die seine Neugier erweckt haben. Sein primäres Medium ist das eigene Sensorium für Dinge, die es noch nicht gibt. Sein primäres Ausdrucksmittel ist die gedankliche Improvi-sation — das Zur-Sprache-bringen von Ereignissen, die es ihm wert erscheinen, über den Augenblick hinaus festgehalten zu werden. Auch dieser Typus ist nicht ausschließlich im ästhetischen Feld zugange. Von Gedanken und Theorien lässt er sich ebenso ver-führen wie von künstlerischen Objekten und sozialen oder kultu-rellen Umbrüchen. In jedem dieser Bereiche aber ist der Oppor-tunist ästhetisch zugange — er lässt sich von dem Erscheinen der historischen Welt faszinieren. In Autoren wie Friedrich Schlegel, Walter Benjamin oder Roland Barthes hat er seine bedeutendsten Repräsentanten. So sehr Opportunismus in moralischen und poli-tischen Angelegenheiten eine anrüchige Sache ist, für ein ästhe-tisches Bewusstsein verkörpert er das überlegene Prinzip.

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