safi nidiaye_ die schönheit der liebe

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Safi Nidiaye Die Schönheit der Liebe Visionen für eine erfüllte Beziehung Orginalausgabe© 2001, Auflage: Juni 2005 Bastei Lübbe Taschenbuch Band 70177

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Wie sieht die Beziehung zwischen Mann und Frau in dieser Zeit des Umbruchs aus?Dieses Buch inspiriert jeden, der sich Gedanken ùber seine Partnerschaft macht.

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Page 1: Safi Nidiaye_ Die Schönheit der Liebe

Safi Nidiaye

Die Schönheit der LiebeVisionen für eine erfüllte Beziehung

Orginalausgabe© 2001, Auflage: Juni 2005

Bastei Lübbe Taschenbuch Band 70177

Page 2: Safi Nidiaye_ Die Schönheit der Liebe

Inhalt

Einführung...................................................................................................5

I Die heilige Beziehung Warum jede Beziehung einzigartig ist. Wie wir ihre Einzigartigkeit entfalten, nähren und schützen können.........................10

II Heilsein und die Heilserwartung in der Beziehung Warum keine Beziehung uns heiler machen kann als wir sind. Wie wir dennoch das Heil in der Beziehung finden.....................14

III Schuld und Sühne Wie die Gedanken-Gefühls-Formen von Schuld und Sühne die bisherigen Beziehungen durchzogen haben. Wie man sie integrieren und überwinden kann. Wie Beziehungen aussehen, die frei von Schuld und Sühne sind...........................................................20

IV Die Bürde der Vergangenheit Kindheit und Ahnen. Woran man ihren Einfluss erkennt. Wie man die Essenz der Geschichte nutzen und den Ballast über Bord werfen kann..........................................................25

V Die Bürde der Zukunft Wie man die Visionen erkennen kann, die man in der Vergangenheit für die Zukunft der Beziehung entworfen hat, und jene Visionen, mit denen man die Wahrnehmung der gegenwärtigen Realität überdeckt. Wie man die Essenz dieser Visionen verinnerlichen und den Ballast über Bord werfen kann. Wie die wahre Vision der Beziehung sich erfüllen kann...............................................................30

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Page 3: Safi Nidiaye_ Die Schönheit der Liebe

VI Die Liebe zur Gegenwart Wie man lernen kann, gegenwärtig zu sein. Welchen Einfluss Gegenwärtigkeit auf die Beziehung haben kann..............................................................................................40

VII Das offene Herz Wie man durch Eins-Sein mit sich selbst zur Liebe findet. Wovon die Schönheit einer Beziehung abhängt. Worin Liebe sich erfüllt..................................................................................48

VIII Verliebtheit Was Verliebtheit wirklich bedeutet. Wie wir mit unseren Erwartungen die Ekstase der Verliebtheit ersticken. Wie man Verliebtheit von der Bürde der Erwartungen befreien kann..................................................................................... 54

IX Unerwiderte Liebe Was dahinter steckt und wie man unnötiges Leid vermeiden kann. Wie man Ungleichgewicht ausgleichen kann in einer Beziehung, in der einer mehr und der andere weniger liebt...........................................................................59

X Glück Über Glück und Unglück in der Liebe. Wie wir vereiteln, dass das Glück uns findet und wie wir dafür sorgen können, dass es uns finden kann. Über den Ozean der Glückseligkeit.....................................................................................67

XI Täuschung Wie wir uns über das wahre Wesen unserer Geliebten täuschen. Die verschiedenen Schichten der Täuschung. Wie man ihrer gewahr wird und sie durchschaut.............................73

XII Gestalten und Hinnehmen Das aktive und das passive Prinzip in der Beziehung. Wann ist es Zeit, aktiv, und wann, passiv zu sein? Wer soll aktiv und wer soll passiv sein? Muss Beziehung aktiv gestaltet oder passiv hingenommen werden?.........................77

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XIII Sexualität Was die Art, wie man Sexualität lebt, über die eigene Geschichte und Beziehung zum Leben aus- sagt. Wie man Sexualität von dieser Bürde befreien kann. Was man opfern muss, um zu gegenwärtiger und authentischer Sexualität zu gelangen......................................81

XIV Die hohe Schule der Liebe Die Kunst ein Paar zu sein und dennoch zwei eigen- ständige Wesen zu bleiben.............................................................88

XV Energetische Vereinbarkeit Wie man ein Verständnis für die Gegebenheiten entwickeln kann, die dazu führen, dass ein Mann und eine Frau energetisch „ kompatibel“ sind. Was energetische Kompatibilität für die Beziehung bedeutet und woran man sie erkennen kann................................104

XVI Treue Die Unmöglichkeit einer Treue, die eine Bürde der Vergangenheit ist. Was authentische Treue bedeutet........................................................................................110

XVII Trennung Warum Trennung notwendig ist. Über die Unmöglichkeit der Trennung. Wie man durch das Durchleben der Trennung zur Einheit finden kann. Der unschätzbare Wert des Schmerzes.............................117

XVIII Verbindung Wie man vom Herzen aus Verbindung halten kann, auch wenn eine Beziehung zur Zeit nicht oder überhaupt nicht mehr existiert. Was wahre Verbundenheit bedeutet. Wie man Trennung und Verbindung zugleich erleben kann................................................122

XIX Nähe Über die Sehnsucht nach Nähe und die Angst vor Nähe.

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Was wahre und falsche Nähe bedeutet. Wie man die Sucht nach falscher Nähe überwindet und wahre Nähe findet. Warum manche Menschen Angst vor Nähe haben und wie sie selber und ihre Partner damit umgehen können....................................................125

XX Heimweh nach der vollkommenen Beziehung Woher unsere Sehnsucht kommt. Wie wir nach Hause finden in die vollkommene Beziehung. Wie wir ihre Vollkommenheit auch in unseren unvoll- kommenden Paar-Beziehungen entdecken können.....................131

XXI Schönheit Wie Liebe für uns realer wird, wenn wir Schönheit zu unserem Leitprinzip machen....................................................135

XXII Harmonie Wieso das, was wir üblicherweise als Harmonie betrachten, getarnter Krieg ist. Was man aufgeben muss, um zu wahrer Harmonie zu gelangen, und wie man es aufgeben kann. Was wahre Harmonie bedeutet........................................................................................138

XXIII Ursprung und Zweck der Beziehung Worin jede Beziehung ihren wahren Ursprung hat und worin ihr letztlicher Zweck liegt. Wie die Erinnerung an diesen Ursprung und die Hingabe an diesen Zweck jede Beziehung heilen und heiligen kann.............................................................................................144

Anhang Fragen und Antworten..................................................................148

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Einführung

Tief in uns allen schlummert ein Wissen darüber, wie alles sein könnte. Eigentlich könnte es so schön sein, wenn zwei, die sich lieben, sich zusammentun. Jenseits unserer persönlichen Projektionen und Vorstellungen vom idealen Partner existiert im Grunde unserer Seele eine Vision davon, wie die Beziehung zu dem Menschen, mit dem wir unser Leben teilen, sein könnte, wenn sie sich rein und vollständig gemäß ihrer Natur entfalten dürfte. Denn jeder Beziehung liegt eine Vision zu Grunde, ebenso wie wie jedem Ding und jedem Wesen in dieser Welt. Alles was existiert, entspringt einer Sehnsucht, einem Traum im Herzen des Schöpfers – so auch jede Beziehung. Wir leiden in unseren Beziehungen, weil wir spüren, dass sich von diesem Traum, diesem herrlichen, einzigartigen, heiligen Traum, nur ein geringer Teil in der Realität unserer materiellen und psychischen Erfahrung verwirklicht. Der kleinste Teil,so scheint es uns oft, wird gelebte Wirklichkeit, der größte Teil bleibt ein Traum. Dieses Buch will den Träumen und Visionen, die unseren Beziehungen zu Grunde liegen, dazu verhelfen, erkannt, erspürt, erspäht und mit größerem Mut verwirklicht zu werden. Es stammt von einer Ebene des Bewusstseins, die ganz nahe an jener tiefen Kernschicht allen Lebens und Wesens liegt, auf der diese Träume – Wurzel und Ursprung aller Beziehungen – entstehen und ist daher von ebenso grundsätzlicher und heiler Natur wie diese Träume selber, sozusagen noch unbefleckt von der Erfahrung des alltäglichen Lebens. Ich tauche, um diese Buch zu schreiben, in die Sphäre des inneren Wissens um die Entwürfe, die unserer Realität zu Grunde liegen, ein, und um das tun zu können, entleere ich meinen Geist von meinen Erfahrungen und Vorstellungen; und zugleich trachte ich danach, das intuitive Wissen, das ich auf diese Weise aus dem inneren “ Ozean des Wissens” schöpfe, mit dem Stück Weges zu verbinden, das ich nach dem Leitfaden meines inneren Wissens bereits gegangen bin. Mit anderen Worten: es handelt sich hier um intuitives Wissen, bisweilen vertieft, bereichert, beleuchtet vom Funken der Inspiration; um, wie Richard Moss ( Note 1 Richard Moss, Der schwarze Schmetterling,

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Ansata Verlag, Interlaken 1989, S. 109ff) es formulierte, “ unverkörpertes Wissen”, das aber nicht wie meine von der Ebene des höheren Selbst medial empfangene Bücher ( Liebe ist mehr als ein Gefühl; Neues Wissen, neues Denken für eine bessere Zukunft; Führung durch Intuition ) ( Note 2 Alle drei als Taschenbuch bei Wilhelm Heine Verlag, Muenchen ) völlig losgelöst von meinen persönlichen Erfahrungen übermittelt wird, sondern sozusagen bis zu diesen herabreicht und von ihnen Kontur und Schatten erhält. Es ist kein Praxisbuch wie Das Tao des Herzens ( Note 3 Ariston Verlag, München 2000.), sondern, das liegt in der Natur seiner Herkunft, eine Sammlung von Texten, die das Thema – die Paarbeziehung – von einer hohen, grundsätzlichen Ebene aus beleuchten, um uns zu helfen, über die zahllosen Probleme und Schwierigkeiten des Beziehungs – Alltags hinaus zu schauen und einen Blick auf die der Beziehung zu Grunde liegenden Entwürfe zu tun, was uns inspirieren kann, uns zur Höhe unserer selbst und unserer Paarbeziehung zu erheben, anstatt in unserer kleinen und kleinlichen Perspektive gefangen zu bleiben. Da es sich um Wissen nicht- rationaler Herkunft handelt, kann ich ihnen keine Belege für seine Richtigkeit liefern. Wenn die in diesem Buch getroffenen Aussagen Sie berühren und Ihnen wahr erscheinen – Wahrheit erkennt man wieder, weil man sie tief in sich selber trägt -, schlage ich vor, sie als Anregungen zur Meditation, Kontemplation und zum Finden und Gestalten Ihres eigenen Beziehungsweges zu nutzen.

Ich schreibe die Inspirationen so auf, wie ich sie erhalte; Leser oder Leserinnen werden in den meisten Kapiteln als “ du “ oder “ ihr “ angesprochen. Mit dieser Anrede wende nicht etwa ich mich an Sie – die Leserin oder den Leser - , sondern mit “ ihr” sind wir alle gemeint, ich selber vorweg. Denn der Himmel hat mir zugleich mit dem Beginn der Arbeit an diesem Buch den Beginn einer neuen Liebe beschert, und diese wundersame Synchronizität hat dafür gesorgt, dass ich jedes Wort, das ich aufgeschrieben habe, sogleich der allerstrengsten Prüfung unterzogen habe: nämlich ob es tatsächlich standhielt, wenn es um die ganz konkreten Fragen und Probleme ging, die diese neue Beziehung aufwarf. So habe ich die Lehren Kapitel für Kapitel gleich in

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die Praxis umsetzen dürfen, und sie hielten nicht nur stand, sondern gaben mir Antwort auf meine Fragen, halfen mir, die auftretenden Situationen aus neuer Perspektive zu sehen, aber vor allem berührten sie mein Herz und öffneten es immer wieder neuen Dimensionen der Liebe. Zugleich hat die neue Beziehung mich insofern beim Schreiben dieses Buches inspiriert, als ich um ihretwillen natürlich mit brennendem Interesse, mit intensivem Die – Wahrheit – wissen – wollen beteiligt war. So verdanke ich meiner Liebe viel Inspiration für dieses Buch und diesem Buch viel Inspiration für meine Liebe. Möge letzteres für Sie alle zutreffen.

Die Schönheit der Liebe handelt von der Beziehung zwischen Mann und Frau, nicht von homosexuellen Paarbeziehungen. Manches mag auch homosexuelle Paare inspirieren, anderes nicht. Desgleichen können die Inhalte vieler Kapitel dieses Buches grundsätzlich auf jede Beziehung angewandt werden, nicht nur auf Paarbeziehungen; auch auf Beziehungen mit Freunden, Verwandten, Kollegen oder mit jedwedem Menschen, in welchem Verhältnis man auch immer zu ihm steht. Dennoch muss betont werden, dass es der ausdrückliche Zweck dieses Buches ist, der Paarbeziehung zwischen Mann und Frau, die sich seit geraumer Zeit allgemein in einer Umbruchkrise befindet, neue Dimensionen zu eröffnen. Die alte Art der Beziehung funktioniert ganz offensichtlich in unserer Gesellschaft nicht mehr oder jedenfalls immer weniger. Was muss geschehen, was muss sich in uns verändern, damit eine glückliche und erfüllende Paarbeziehung in unserer Zeit wieder – oder überhaupt erst – möglich wird ? Der Ansatz, von dem aus hier operiert wird, ist ein sehr hoher.Um die Aussagen dieses Buches zu begreifen und vor allem auch anwenden zu können, muss man sich sozusagen – wie auch ich beim Schreiben es getan habe – auf die Zehenspitzen stellen. Die nicht-alltägliche Sprache der Texte – die ich nicht bewusst gewählt habe, sondern die sich, ebenso wie in „Die Stimme des Herzens“ ( Bastei Lübbe Taschenbuch Band 70153, Bergisch Gladbach, 2000.) von selber einstellte – kann, glaube ich, dem Leser dabei helfen, sein Bewusstsein vom alltäglichen in einen besonderen Modus umzuschalten, der ihn aufnahmebereit macht für die Art von Information und Inspiration, wie

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sie aus höheren Ebenen des Bewusstseins kommt, in denen eine völlig andere Art von Einstimmung und von Denken herrscht als im alltäglichen Bewusstseins-Zustand. Es ist eine Art von Denken, die sich nicht herleitet aus der Interpretation von Sinneseindrücken wie unser alltägliches Denken, sondern die einer aus der Mitte des Wesens aufsteigenden Erkenntnis der allem zu Grunde liegenden inneren Wahrheit entspringt. Wir alle tragen dieses Wissen in uns, und deshalb erkennen wir es wieder, wenn es von außen an uns herangetragen wird. So werden auch etliche Aussagen die in diesem Buch getroffen werden, zutiefst vertraut erscheinen, obwohl Sie sie vielleicht noch nie für sich selber formuliert haben. Manche der Texte sind als abschnittsweise Anleitungen zur Kontemplation oder Meditation gedacht. An die Stellen, wo das Lesen unterbrochen werden soll, um das Gesagte zu kontemplieren, habe ich drei Sterne *** gesetzt; auch ich habe beim Schreiben dort innegehalten, um zu meditieren, und ich empfehle Ihnen, dasselbe zu tun, denn nur so erschließt sich Ihnen die tiefere Bedeutung des jeweils folgenden Abschnitts.

Die Texte der meisten Kapitel setzen auf einer sehr hohen Ebene an und begeben sich dann sozusagen in die Niederungen der praktischen Beziehungsarbeit ( meist um sich am Ende des Kapitels wieder emporzuschwingen in die lichten und begeisternden Gefilde reiner Inspiration). Diesen Abstieg ins Praktische habe ich durch die Fragen, die während des Schreibens in mir entstanden, herbeigeführt. ( Sinngemäß: >> Ja, das ist schön, das berührt mich sehr und fühlt sich wahr an, aber wie können wir das im Alltag umsetzen?<< ) Einige der Anleitungen, die ich daraufhin aufschrieb, mögen manchem Leser mühsam erscheinen; sie klingen nach Arbeit. Aber Liebe ist Arbeit. Der amerikanische Psychotherapeut M. Scott Peck schrieb: >> Da Liebe erfordert, dass wir uns selber ausdehnen, ist sie immer entweder Arbeit oder Mut.<<(M. S. Peck, Der wunderbare Weg. Goldmann Verlag, München 1988) Jedoch stellt die Serie von Inspirationen, aus denen dieses Buch besteht, eher eine Auswahl von Anregungen dar als ein Arbeitsprogramm. Ich stelle mir vor, dass jeder von Ihnen seinen

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eigenen Weg findet, mit dem Buch umzugehen. Vielleicht lassen Sie sich einfach nur von den Texten berühren und nutzen ihren Schwung, um sich auf eigene Weise neue Ebenen von Liebe und Beziehung zu erschließen; Vielleicht steigen Sie an dieser oder jener Stelle in die Praxis ein und realisieren die praktischen Anleitungen, wie ich es getan habe.

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I

Die heilige Beziehung

Warum jede Beziehung einzigartig ist.Wie wir ihre Einzigartigkeit entfalten,

nähren und schützen können.

Jede Beziehung ist in ihrem Kern heilig. Wie auch immer ihre weltliche Ausprägung sich gestaltet, welche Beurteilung ihr auch immer wieder von seiten der Beteiligten oder von Drittpersonen widerfährt, und wie auch immer ihre Stellung im Rahmen der gesellschaftlichen Konventionen sein mag – jede Beziehung ist im Kern heilig. Dieser heilige Kern ist das Wesen der Beziehung, das Einzigartige und Besondere an ihr. Das Wesen einer jeden Beziehung ist ebenso einzigartig wie das Wesen eines jeden Individuums. Die Frage ist daher nicht, ob die beiden Richtigen zueinander gefunden haben sondern ob die zwei, die aus welchen Gründen auch immer eine Beziehung eingegangen sind, diesen heiligen Kern berühren und ihm gemäß seiner besonderen Natur zur Entfaltung verhelfen oder nicht. Damit diese Entfaltung ihren Lauf nehmen kann, müssen drei Dinge geschehen:

Erstens: Der Funke muss überspringen. Zweitens: Das Feuer muss genährt werden, und zwar mit der Nahrung, derer dieses besondere Feuer bedarf.

Drittens: Das Feuer muss geschützt werden.10

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Erstens: Die Begegnung

Damit das Feuer der heiligen Beziehung sich entzünden kann, muss eine wirkliche Begegnung stattfinden. Eine wirkliche Begegnung findet immer dann statt, wenn für einen Augenblick die Schranken, die zwei Menschen voneinander trennen, sich öffnen und die Seele des Einen die Seele des Anderen berührt. Diese Berührung kann durch einen Kontakt der Augen oder der Hände vermittelt werden. Durch die Schwingung der Stimme, durch einen Moment, in dem die Rezeptoren der Sinnesorgane für die Aufnahme eines ganz bestimmten Eindrucks offen sind, der in diesem besonderen Augenblick eine Saite im Wesen der Betreffenden zum Schwingen bringt. Eine Saite vielleicht, die bis dahin noch nie, oder noch nie in dieser besonderen Weise, in Resonanz versetzt wurde. Wenn eine solche Begegnung stattfindet, leuchtet etwas im Wesen der Beteiligten im Licht des Erkennens, eines tief inneren Wieder – Erkennens, kurz auf, denn tief in eurer Seele ist euch jeder Mensch, dem ihr in Fleisch und Blut begegnet, in seinem Wesen schon bekannt. Für einen Augenblick seid ihr verzaubert, hellwach, wie elektrisiert. Ihr sagt vielleicht, ihr hättet euch verliebt, oder ihr fühltet euch stark berührt oder magisch angezogen von jenem Menschen. Ihr könntet auch sagen: für einen Augenblick hat meine Seele die Augen geöffnet und ihresgleichen entdeckt. Nun habt ihr die Wahl. Ihr könnt den magischen Augenblick verstreichen lassen, ohne das Bedürfnis zu entwickeln, mehr davon zu erleben; ihr könnt ihn zu verewigen versuchen, indem ihr die Begegnung wiederholt, verlängert und zu jener Regelmäßigkeit werden lasst, die ihr Beziehung, Partnerschaft oder Ehe nennt; oder ihr könnt in jenem Funken der übergesprungen ist, den Funken erkennen, der das heilige Feuer entfachen kann, und euch bereit erklären, ihm jene Teile eures Wesens als Nahrung zu geben, derer es bedarf, um zu einem großen und dauerhaften Feuer zu werden, das einem großen Umkreis Licht und Wärme gibt.

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Zweitens: Die Nahrung für das Feuer

Der heilige Kern jeder Beziehung besteht in ihrem einzigartigen Wesen; ein Wesen, das sich nur manifestieren kann, wenn diese beiden besonderen Menschen zusammenkommen und in diese besondere Art von Beziehung eintreten, die ihrem Wesen gemäß ist und die sich in jedem Augenblick und in jeder Phase des Lebens gemäß ihrer Natur wandelt. Die heilige Beziehung ist immer neu. Sie kennt keine Vergangenheit und keine Zukunft. Die Nahrung, die ihrem Feuer geopfert werden muss, ist jede Erinnerung an die Vergangenheit und jede Erwartung an die Zukunft. Erinnerung an schöne oder schreckliche gemeinsame Erlebnisse wird dann zu Nahrung für das heilige Feuer der Beziehung, wenn die Essenz der Erfahrung verinnerlicht und ihr Körper – die Erinnerung an äußere Begebenheiten – dem Feuer der Leidenschaft für das Neue und Gegenwärtige überantwortet wird. Erwartung an die Zukunft wird dann zu Nahrung für das heilige Feuer, wenn die Essenz der Erwartung – die besondere Sehnsucht, die sich in ihr verbirgt – verinnerlicht und ihr Körper – die Vorstellungen und Gedanken, die der Sehnsucht anhand gemachter Erfahrungen Gestalt verleihen – dem Feuer der Leidenschaft für das Neue und Gegenwärtige geopfert wird. So bedarf die Beziehung, damit sie ihre Heiligkeit bewahrt, der ständigen Reinigung durch Loslassen von Erinnerung und Erwartung und durch die Bereitschaft zur Öffnung für das Neue des gegenwärtigen Augenblicks. Wem all dies zu „hoch“ ist, der bescheidet sich vielleicht lieber mit der Gemütlichkeit der üblichen, mit der Zeit verkrusteten Art der Beziehung; wer aber von diesen Worten berührt und wessen Sehnsucht nach größerer Lebendigkeit, frischer Leidenschaft und tieferer Liebe geweckt wurde, der wird alles daran setzen, aus jeder Beziehung in seinem Leben, zumindest aber aus der, die ihm am wichtigsten ist, das zu machen, was sie ihrem Wesen nach ist und als was sie in der Realität des Lebens entfaltet und gestaltet werden möchte: als eine heilige Beziehung. „ Heilig“ ist nicht gleichzusetzen mit ernst; auch nicht mit moralisch im Sinne gesellschaftlicher Konventionen; auch nicht mit etwas, das

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problemlos den Segen der Kirche erhalten würde. Eine Beziehung kann leicht und heiter sein wie Champagner; oder glutrot und feurig wie alter Burgunder; oder frisch und unschuldig wie Apfelsaft; oder süß und schwer wie Likör. Eine Beziehung, die sich gemäß ihrer heiligen Natur entfaltet, kann jede denkbare Färbung, jeden Geschmack, jeden Duft annehmen; das, was sie als heilig kennzeichnet, ist einzig und allein die Tatsache, dass sie gemäß ihrer wahren Natur in aller Wahrhaftigkeit gelebt wird. Sie kann die Formen einer Ehe oder einer Freundschaft, einer heimlichen Liebschaft, einer Arbeitsgemeinschaft oder einer Kette von Gelegenheits-Begegnungen annehmen. Sie kann äußerlich gleichförmig erscheinen oder abwechslungsreich, spannungsgeladen oder friedlich. Das spielt alles keine Rolle, wenn nur das heilige Feuer – der heilige Kern der Beziehung – gemäß seiner besonderen Natur genährt und unterhalten wird.

Drittens: Das Feuer hüten

Die heilige Beziehung bedarf eines besonderen Schutzes. Ihr Kern darf niemals an einen Dritten verraten werden. Das Geheimnis der Intimität muss bewahrt und geschützt werden, damit das heilige Feuer nicht zerstört wird. Ebenso wie das Geheimnis der Meditation, des Gebets oder der Kommunion gehütet werden muss, damit es nicht entweiht oder zerstört wird, muss auch das heilige Geheimnis der Intimität zweier Liebenden gehütet und darf mit niemandem geteilt werden ausser mit Gott, dem Wesen, das sich in jeder besonderen Beziehung auf einzigartige Weise zugleich offenbart und hinter ihr verbirgt.

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II

Heil sein und die Heilserwartungin der Beziehung

Warum keine Beziehung uns heiler machenkann als wir sind. Wie wir dennoch das Heil

in der Beziehung finden können

Tief im Innern ist jeder Mensch heil, ganz gleich, wie zerrissen, krank, unvollständig und unglücklich er sich in den Wirren und Schwierigkeiten seines Lebens fühlen mag. Heil und heilig ist sein innerstes Wesen, seine ureigenste Natur. Heil und ganz und gar vollständig. Un-heil fühlt der Mensch sich immer dann, wenn er sich mit weniger als der Ganzheit seines Wesens identifiziert. Somit wird der Mensch sich immer – sein Leben lang – un-heil und nie ganz vollständig und wohl fühlen. Denn inkarniert und mit einer körpergebundenen Persönlichkeit identifiziert zu sein, bedeutet zwangsläufig Un-heil-Sein. Das Bewusstsein von Heil-Sein stellt sich nur in Momenten ein, in denen der Mensch nicht mit irgend etwas identifiziert ist, das geringer als sein wahres Wesen ist ( in dem er sich als heil, ganz und vollständig erfährt). Dieses ursprüngliche und eigentliche Heil-Sein erlebt der Mensch als Augenblick des Erwachens. Für einen Moment wacht die Seele – das innerste Bewusstsein – aus dem Traum des Identifiziert-Seins mit

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diesem oder jenem und besinnt sich auf sich selber. Es ist ähnlich, wie wenn du beim Anschauen eines spannenden Films für einen Augenblick in deine eigene Realität zurückkommst. Nun, diese Momente des Erwachens streben alle Menschen an, die spirituelle Wege gehen, und sie suchen sie zu wiederholen und zu verlängern. Aber das ist nicht unser Thema. In seinem üblichen Bewusstseins-Zustand ist der Mensch in der Illusion gefangen, er sei ausschliesslich diese, und jenes sei er nicht; er hält sich somit für etwas Geringeres als das ganze. Vollständige, heile Wesen, das er im Innersten ist. Unfähig, zu erkennen, dass er der Same ist, der die vollständige Pflanze in all ihren Stadien enthält, nimmt er sich selber als Stamm oder Blatt wahr, als Blüte oder Frucht, und identifiziert sich damit. In der Beziehung zu einem Anderen sucht er das ursprüngliche Heil-Sein, das er in sich trägt, das er jedoch vergessen hat, und nach dem er sich zurücksehnt. In der Beziehung will er aufgehoben, sicher, unterstützt und bestätigt fühlen, je nachdem, was ihm selber zu fehlen scheint, um sich ganz und heil zu fühlen. Gemeinsam sollen die beiden, Mann und Frau, ein heiles und heiliges Ganzes bilden, entweder als Selbstzweck oder um Kindern ein heiles und sicheres Nest zu bieten. Für manche Menschen gehört zur Vorstellung von der heilen Welt der Beziehung sogar die Anwesenheit von Kindern dazu. Das ist die Heilserwartung in der und an der Beziehung. Nun: Tatsächlich kann sich ein Mensch dadurch, dass er mit einer Person in Beziehung tritt, die andersartig ist, als vollständiger erleben. Der Andere besitzt etwas, das ihm selber fehlt, und indem er sene Identifikation vom Ich auf das Wir des Paares ausdehnt, gehört dieses fehlende Stückchen nun sozusagen auch ihm.

Nur in den seltensten Fällen kann ein einziger Partner all dasliefern, was einem Menschen zu seiner Ergänzung fehlt, sodass auch diese neue Indentifikation als „ wir“ notgedrungen noch Elemente von Un-Heil-Sein, Unvollständigkeit in sich trägt. Vielleicht sucht der Mann sich aus diesem Grund als Ergänzung zur Ehefrau eine Geliebte, oder die Frau einen Liebhaber, um das Fehlende auch noch einzugliedern.

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Trennt sich der Mensch von seinem Partner, so verschwinden die Elemente, die dieser ihm geliefert hatte,wieder aus seinem Leben und seiner Identifikation, es sei denn, er hätte sie sich inzwischen zu Eigen gemacht. Wenn dies nicht der Fall ist, wird er sich wahrscheinlich einen neuen Partner suchen, der die gleichen Eigenschaften aufweist wie der, von dem er sich getrennt hat. Niemals aber wird er, so viele Partner er auch in seinem Leben hat, auf diese Weise zu jenem Heil-Sein finden, das er sich von der Beziehung verspricht. Auch die schönste, die harmonischste Beziehung kann ihm nicht das schenken, was er sucht: seine Ganzheit. Es sei denn, er nutzt jede Beziehung und jedes besondere Ereignis innerhalb der Beziehung, um das Fremde, das ihm im Partner begegnet, zu einem Eigenen zu machen, indem er es in sich selber entdeckt. Soweit die Betrachtung des Themas aus der Perspektive der Persönlichkeit. Nun schauen wir es vom anderen Ende aus an, vom inneren Kern der Realität her, der Seele ( statt, wie bisher, von der Peripherie: dem persönlichen Ich ). Die Seele, immer vollständig, immer sie selbst, immer heil, ganz und erhaben, ewig und unzerstörbar, unteilbar, unreduzierbar,: die Seele kleidet sich bald in dieses, bald in jenes Gewand, um neue Arten des Seins zu entdecken, zu erleben und zu feiern. Sie inszeniert sozusagen sich selbst in diesem oder jenem Kostüm und Szenenbild. Sie teilt und feiert diese Inszenierung mit anderen Seelen, anderen Wesen, die die Bühne ihrer Inszenierung in diesen oder jenen Gewändern betreten, während sie zugleich in deren Inszenierung eine Rolle spielt. Nun: Solange die Seele sich ihrer selbst bewusst ist, erlebt sie sich als heil und vollständig, in welchem Kostüm und welcher Inszenierung auch immer. Dort jedoch, wo sie das Bewusstsein ihrer selbst verliert und sich mit einer Rolle identifiziert, die sie auf der Raum-Zeit-Bühne der Ewigkeit spielt, erlebt sie sich als etwas, das weniger ist als sie selber: als un-heil und unvollständig, und wird sich, mehr oder weniger bewusst, immer nach ihrer eigentlichen Natur zurücksehnen, dem Heil-Sein. Jedes andere Wesen, jede andere Seele, mit der sie in Beziehung tritt, ist Bruder und Schwester, Wesen vom gleichen Wesen, Teil und

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Ausdruck derselben Realität, und so lange die Seele sich ihrer selbst bewusst bleibt, erlebt sie sich als heil und vollständig und empfindet die Begegnung mit jeder anderen Seele als Wiedererkennen ihrer selbst, als Kommunion mit einem anderen Teil ihres eigenen tieferen Wesens, und jede Begegnung und Berührung, die dabei stattfindet, erlebt sie als Bewegung innerhalb des Ozeans ihres eigenen inneren Seins, als Emotion. Begegnungen und Berührungen erheben sich wie Wellen in diesem Ozean. Sie machen die Seele weder vollständiger noch unvollständiger. Verliert jedoch die Seele das Bewusstsein ihrer selbst und vergisst sich in einer Rolle ihrer eigenen Inszenierung, so erlebt sie andere Wesen als Realitäten ausserhalb ihrer selbst und trachtet danach, sich mit ihnen zusammenzutun, um wieder zu ihrer Vollständigkeit zu finden. Mit dem Auftauchen eines neuen Darstellers auf ihrer Bühne fühlt sie sich vollständiger, mit seinem Verschwinden unvollständiger. Niemals aber wird sie das ersehnte Heil-Sein wiederfinden, solange sie weniger ist als sie selbst, mit anderen Worten, solange sie nicht aus der Identifikation mit ihrer momentanen Rolle in ihrer Inszenierung aufwacht. Beziehung in diesem Sinne ist das Erkennen – Wiedererkennen- verschiedener Aspekte seiner selbst. Die Seele spielt mit sich selbst, entdeckt sich selbst und feiert sich selbst in der Zweiheit der Beziehung. Nur dort liegt Heil-Sein: Im Erkennen – Wiedererkennen – dieser Einheit. In jedem Bewusstseins-Zustand ausser dem der Einheit – der ursprünglichen Vollständigkeit und Ganzheit der Seele – gibt es den Zustand des Heil-Seins, den jeder Mensch sich insgeheim von einer Beziehung erhofft, nicht. Ist jedoch die Begegnung mit dem geliebten Menschen vom Wissen um das eigentliche und innere Eins-Sein durchdrungen, dann gibt es nichts in dieser Beziehung, was nicht heil wäre. Gemeint ist mit diesem Eins-Sein nicht die Zusammengehörigkeit verschiedener Teile, die gemeinsam ein Ganzes bilden wie etwa zwei Hälften einer Kugel; gemeint ist das Eins-Sein eines jeden mit der Ganzheit. Warst Du jemals unheil? Jeder Augenblick, in dem du glaubtest,

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weniger als heil und vollständig zu sein, war ein Augenblick, in dem du einer Illusion zum Opfer fielst, in dem du hypnotisiert warst von einer Idee, einem Traum, einer Vorstellung. Niemals, in keinem Augenblick deines Lebens, bist du weniger als heil und vollständig. Jede deiner Beziehungen ist eine heilige Begegnung mit dir selbst – mit einem Aspekt deiner selbst, der dir im tiefsten Innern, in seinem Wesen, vertraut, aber in seiner Manifestation neu und überraschend ist – ähnlich wie einem Komponisten eine Melodie in ihrer Essenz vertraut ist, da sie doch Teil und Ausdruck seines eigenen Wesens ist, und doch als hörbare Melodie neu und überraschend. Welches Entzücken löst jede neue Melodie in ihm aus, jede neue Stimme, die aus der Tiefe seines innersten Wesens hervorströmt und Gestalt annimmt! Von der gleichen Art ist das Entzücken der Seele, wenn sie sich selbst in neuer Form und neuem Gewand begegnet. Hat sie die Bewusstheit ihrer selbst verloren und identifiziert sie sich mit weniger als mit sich selbst, so wird sie den einen Menschen mehr und den anderen weniger schätzen. Ist sie jedoch ihrer selbst bewusst, so feiert sie jede Begegnung, denn in jeder erkennt sie sich selbst in neuem Gewand. Nun befinden sich die wenigsten Menschen im Zustand der Selbst-Bewusstheit; die meisten identifizieren sich mit weniger als mit sich selbst – mit einem Körper und einer Persönlichkeit im besten Falle; oft aber nur mit einer Rolle, die sie in einer bestimmten Szene oder Beziehung spielen und in der ihre Persönlichkeit nur in sehr geringem Teil zum Tragen kommt, geschweige denn das Potenzial ihrer Seele.Je eingeschränkter die Identifikation, je kleiner der Teil ihrer selbst, mit dem sie sich identifizieren, desto grösser das Gefühl von Un-Heil-Sein. Wenn du dich mit einem bestimmten Wunsch identifizierst, so reduzierst du dich auf einen winzigen Teil deiner selbst. Identifizierst du dich, ohne es zu merken, in einer Situation mit deinem fünfjährigen inneren Kind, so bist du dir ebenfalls nur eines kleinen Teils deiner selbst bewusst und enthältst einen Grossteil deiner Möglichkeiten vor. Identifizierst du dich mit deiner vollständigen Persönlichkeit , mit der Gesamtheit all dessen, was du weisst, fühlst und in dir verwirklicht hast, so bist du wesentlich mehr von dem, was du bist. Jedoch erst wenn das, was du in einem gegebenen Augenblick bist, auch den schweigenden Urgrund deines

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gegenwärtigen Wissens und Fühlens umschliesst – die Tiefe, aus der all deine Eigenschaften, Fähigkeiten, Sehnsüchte und Erkenntnisse hervorströmen und sich zu dem formieren, was dein gegenwärtiges Ich ist - , erst dann hast du zumindest eine Ahnung von deinem ursprünglichen und eigentlichen Heil- und Vollständig-Sein. Übe in jedem Augenblick des Zusammen-Seins mit deinem Partner, deine Identifikation so umfassend wie möglich zu halten, indem du immer wieder aufwachst aus der Hypnose durch irgendeine Vorstellung, eine Idee, einen Wunsch, ein Gefühl, einen Teil deiner selbst, der sich so sehr in den Vordergrund schiebt, dass du den Rest deiner selbst vergisst; übe, dir so viel wie möglich deines vollständigen Fühlens und Wissens und Wesens in jedem Augenblick bewusst zu sein, so viel wie möglich von dir selbst zu mobilisieren, so wie du es vermutlich tun würdest, wenn du wüsstest, das diese Begegnung die letzte ist; und übe, dein Gewahrsein deines Partners ebenso auszudehnen und zu vertiefen wie das deiner selbst; sieh in ihm niemals nur das Kind, mit dem er selber sich vielleicht gerade in diesem Augenblick unbewusst identifiziert; niemals nur die Person, die er vorgibt zu sein; niemals nur die Person, die er ist; immer richte deine Wahrnehmung auf den schweigenden Hintergrund einer Person, auf sein Wesen, und erkenne und begrüsse darin einen Bruder/eine Schwester deiner eigenen Seele, ein anderes Ich – dein eigenes Selbst in einem anderen Gewand. Nur so kannst du das Heil, das du dir erhoffst, in deiner Beziehung finden.

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III

Schuld und Sühne

Wie die Gedanken- Gefühls- Formen von Schuldund Sühne die bisherigen Beziehungen durch-

zogen haben. Wie man sie integrieren und überwinden kann. Wie Beziehungen aussehen,

die frei von schuld und Sühne sind.

Die Schuld ist der grösste Schmerz, die dunkelste Last, die zwei Liebende in ihre Beziehung einbringen – stets in der Hoffnung, diese neue Liebe möge ihre Schuld löschen und sie zu ihrer ursprünglichen Unschuld zurückfinden lassen. Niemand, der in dieser Welt lebt, ist frei von Schuld. Schuld liegt immer dann vor, wenn du weniger gegeben hast, als du geben konntest; wenn du etwas zurückgehalten hast von dir selbst; immer wenn du etwas getan hast, was nicht deiner Wahrheit entsprach; immer, wenn du gelogen oder betrogen hast, wenn du grausam und kaltherzig warst. Sieh selbst, wie gross die Last ist, die du auf deinen Schultern trägst! Jeder Tag, den du lebst, enthält eine neue Schuld, es sei denn du bist ein Heiliger oder ein Meister. Wir gehen davon aus, dass du das nicht bist. Dass du also bewusst oder unbewusst von schuld durchdrungen bist.

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Nun: zu deiner Beruhigung können wir an dieser Stelle vorwegnehmen, was du selber am Ende dieses Kapitels in Dir erkennen sollst: dass Schuld in Wahrheit nicht existiert. Wenn hier von >>Schuld<< die Rede ist, dann im Sinne einer von dir selbst geschaffenen Realität in deiner Psyche, einer Realität, so stark und so beherrschend, dass man ihr nicht gerecht werden würde , würde man sie einfach hinweg argumentieren, indem man sagt: Schuld gibt es in Wahrheit nicht. Dein Verstand mag, wenn dir gute Argumente geliefert werden, davon überzeugt werden; aber dein Gemüt wird weiterhin vom Gefühl der Schuld durchdrungen sein. Du hast teil an vielen Arten von Schuld. Da sind zum ersten all die Verfehlungen, die du dir, seit du auf der Welt bist, ankreidest – Kinderlügen und erwachsene Sünden; du hast teil an der schuld deiner Eltern, ja sogar deiner Ahnen; du hast teil an der Schuld deiner Angehörigen und Freunde, insofern du nichts unternommen hast, um sie daran zu hindern, etwas zu tun, was du als unrecht oder falsch empfandest; du hast teil an der kollektiven Schuld deines Volkes; du hast teil an der kollektiven Schuld deiner Rasse, die andere Rassen unterdrückt und ausbeutet; du hast teil an der kollektiven Schuld der Menschheit, die den Lebensraum ihres Planeten und damit nicht nur ihren eigenen, sondern den aller Lebewesen auf der Erde bedenkenlos zerstört. Letztlich hast du teil an der Schuld, ein Mensch zu sein. Eine grosse Bürde, nicht wahr? In die Paarbeziehung deiner Wahl, in die Beziehung mit dem Menschen, mit dem du dich auf Grund grosser Liebe tief einlässt, bringst du diese Schuld als Morgengabe ein, in der Hoffnung auf Erlösung. Denn hier, glaubst du, hoffst du, ist ein Mensch, der deine Not versteht und dein wahres und unschuldiges Wesen sieht; und hier, glaubst und hoffst du weiterhin, ist ein Mensch, der so viel Liebe in dir weckt, dass du durch die Grösse, Reinheit und Kraft dieser Liebe so sehr geläutert wirst, dass deine Schuld getilgt ist. In der Tat könnte das so sein. Wenn eure Liebe so rein, so klar und so stark wäre wie die der Heiligen – oder wie von Leila und Majnun in der berühmten Sufi-Geschichte -, dann wäre dies der Fall, dann würde diese Liebe alles Böse, alle Schuld aus euch beiden herausbrennen.

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Aber höchstwahrscheinlich seid ihr nicht Leila und nicht Majnun, sondern gewöhnliche Sterbliche mit einer einigermassen durchschnittlichen Durchlässigkeit für Liebe – bald ein wenig grösser, bald ein wenig kleiner. Was geschieht nun also mit all eurer Schuld, diesem dunklen Erbe, das ihr in eure Beziehung einbringt? Sie macht euch aufs Neue zu Tätern; jeden auf seine Weise; und zum Opfer des anderen. Und ihr wisst im Stillen genau, dass ihr euch nicht nur schuldig macht in der Rolle des Täters – dessen, der lügt, der vorenthält, der lieblos handelt und so fort -, sondern auch in der Rolle des Opfers. Denn indem ihr euch aus Schwäche und Bequemlichkeit – letztlich aus Angst – in die Rolle des Opfers begebt und dort verharrt, zwingt ihr den anderen, in seiner Täter-Schuld zu verharren, und verweigert ihm die ersehnte Erlösung. Jede Beziehung ist auf die eine oder andere Art von diesen Schuld-Mustern durchzogen; es geht auch gar nicht anders, denn Schuld ist eines der Grund-Prinzipien, auf denen eure Gesellschaft basiert. Wollt ihr euch von Schuld befreien, so müsst ihr zunächst einmal wissen – euch daran erinnern, denn im Innersten wisst ihr das alle -, dass es Liebe und nur Liebe ist, die von Schuld erlöst. Das ist die Botschaft von Christus – so oft missverstanden, so oft als Basis für neue Schuldpyramiden missbraucht: Nur Liebe erlöst von Schuld. Nichts anderes. Wenn ihr also frei werden wollt von Schuld, dann ladet die Liebe in eure Herzen, euer Leben, eure Beziehung ein und fordert sie auf, allen Irrtum und alle Schuld zu tilgen. Liebe ersetzt Schuld durch Liebe; denn Liebe ersetzt alles durch dich selbst; was von der Liebe berührt wird, verwandelt sich in Liebe. Was kann nun Liebe bewirken im Hinblick auf euer Schuldgefühl und eure Täter-und Opfer-Schuld-und Sühne-Verstrickung mit eurem Partner? Liebe kann zunächst einmal euer armes, schuldiges, niedergedrücktes Selbst umfangen, mit Verstehen und Erbarmen durchdringen und mit Achtung aufrichten. Sobald die Liebe euch auf diese Weise umfangen und von dem Gefühl, schuldig und unwürdig zu sein, geheilt hat, werdet ihr in euren Handlungen keine neue Schuld

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mehr auf euch laden. Das bedeutet nicht, dass ihr keine Fehler mehr macht; es bedeutet, das ihr euch selbst mit soviel Achtung und Verständnis begegnet, dass ihr euch eure Fehler nicht als Schuld ankreidet, sondern als unerlässlichen und unvermeidlichen Bestandteil eures Wachstumsprozesses. Sobald ihr frei seid von Schuld, das heisst von dem Gefühl, schuldig zu sein, werdet ihr auch euren Partner gegenüber nicht mehr die Rolle des Täters einnehmen. Es wird immer noch vorkommen, dass ihr etwas tut, was den Anderen verletzt oder nicht seinen oder euren eigenen Erwartungen entspricht; aber da ihr euch nicht schuldig fehlt, fühlt ihr euch nicht als Täter, und es wird eurem Partner unmöglich sein, euch in der Täter-Rolle länger als einen Augenblick festzuhalten; was es ihm wiederum leichter macht, sich von der Opfer-Rolle zu lösen. Wo keine Schuld ist, wird keine Sühne verlangt. Der ganze Spuk von Schuld und Sühne verschwindet, sobald du das Licht der Liebe auf dich selber und deinen Geliebten scheinen lässt und alles, was du fühlst, denkst und tust oder nicht tust, mit den Augen der Liebe – das heisst, mit den Augen des Verstehens, Erbarmens und der Achtung – anschaust und ebenso alles das, was er tut. Und eben diese Liebe, die dich durch ihr Verstehen, ihre Achtung und ihr Erbarmen von deiner Schuld befreit hat, wird von diesem Augenblick an dein Tun bestimmen,da nun dieses selbe Verstehen, diese selbe Achtung und dieses selbe Erbarmen dein Herz auch dann erfüllt, wenn du in Kontakt mit Anderen bist. Eine Beziehung, die frei ist von Schuld-und-Sühne-und vom Täter-und Opfer-Prinzip, ist eine Beziehung, in der die Wahrheit des gegenwärtigen Augenblicks regiert und die nicht mehr so stark von den Schatten der Vergangenheit bestimmt wird. Lade die Liebe in dein Herz ein, an jedem neuen Morgen und an jedem neuen Abend; lade die Liebe ein in dein Leben, in deine Beziehungen; jene Liebe, die alles umfasst, alles versteht und alles achtet, und die sich einer jeden Regung erbarmt, weil sie sie versteht. Du kannst diese Liebe nicht herstellen, weder in dir selbst noch in deinem Partner; aber du kannst sie einladen, Tag für Tag und Nacht für Nacht, und bereit sein für ihre Aktion in dir. Mache dich bereit, für alles, was du fühlst und tust und bist und für alles, was dein Geliebter oder

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deine Geliebte fühlt, tut und ist, dein Herz zu öffnen. Mehr ist nicht nötig, um dich und deine Beziehung von der Last der Schuld zu befreien.

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IV

Die Bürde der Vergangenheit

Kindheit und Ahnen. Woran man ihrenEinfluss erkennt. Wie man die Essenz derGeschichte nutzen und den Ballast über

Bord werfen kann.

Gehst du eine Paarbeziehung mit einem Menschen ein, so schliesst diese Beziehung nicht nur das ein, was zum gegenwärtigen Zeitpunkt aktuell ist, sondern auch alles was im jeweiligen Augenblick aus vergangenen Erfahrungen mitschwingt. Wenn du einen Menschen umarmst, umarmst du auch seine Vergangenheit. In jedem Satz, den du zu ihm sagst, schwingt deine Vergangenheit mit: deine Lebenserfahrung ebenso wie das Erbe deiner Vorfahren. Wenn das Aktuelle in dir zuoberst liegt, das heisst, wenn das, was jeweils aktuell ist, gefühlt und manifestiert wird, und das Vergangene als Unterströmung oder Hintergrund mitschwingt, so ist der Mensch im Einklang mit der natürlichen Ordnung der Dinge, und die Kommunikation zwischen den Liebenden ist einfach und klar. Drängt sich jedoch eine Schicht, ein Wesensteil, ein Gefühl oder eine Überzeugung an die Oberfläche , die in die Vergangenheit gehört und

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und nicht in die Gegenwart – beispielsweise wenn ein Erwachsener sich plötzlich wie ein kleines Kind fühlt und benimmt - , so ist der Mensch sozusagen aus der natürlichen Ordnung herausgefallen, und die Kommunikation mit dem Partner wird unklar und schwierig. Die Vergangenheit – die der einzelnen Partner und die der Beziehung – ist im gegenwärtigen Augenblick implizit immer enthalten. Die Vorstellung, sich von ihr trennen zu können, ist daher unrealistisch. Dennoch ist es möglich, ganz oder gar im gegenwärtigen Augenblick präsent zu sein, ohne von Gefühlen oder Gedanken, die ihren Platz in der Vergangenheit haben, beherrscht zu werden. Deine Vergangenheit ist die Grundlage, auf der dein jetziges Sein ruht; sie reicht zurück bis in die Ur-Zeit, die Zeit vor der Zeit, die Zeit, aus der die Zeit geboren wurde. Immer schon seiend, immer schon werdend hast du dich zu dem entwickelt was du jetzt bist. Nichts von dem , was dir je zugestossen ist, ist unsinnig, falsch oder umsonst gewesen; nicht verfluchen sollst du deine Vergangenheit, sondern segnen. Jede deiner Erfahrungen, wie auch immer dein Verstand sie beurteilt, ist kostbar und ihrem inneren Wesen nach heilig. Fühlst du den Herzschlag des Alls in deinem Herzen? Den Atem des Lebens in deinem Atem? Ein Kind der Unendlichkeit bist du, unendlich und schön. Der Abgrund der Vergangenheit lebt in dir ebenso wie die Verheissung der Zukunft und das Schweigen der Ewigkeit;; und ebenso in dem Menschen, den du liebst. Schicht um Schicht ruht die Vergangenheit in der Tiefe deiner Psyche , deines Körpers; nicht deine persönliche Vergangenheit allein, sondern auch die Vergangenheit deiner Vorfahren und der Vorfahren der Vorfahren bis hin zum Ur-Anfang. In der Gegenwart ist sie wahrnehmbar als Ahnung. Manche Teile der Vergangenheit treten deutlicher aus dem Hintergrund hervor, andere halten sich schweigend zurück, schlummern, sinken in Vergessenheit. Nur diejenigen Teile der Vergangenheit – der persönlichen oder der deiner Vorfahren - , die nicht vollständig gelebt und somit erlöst wurden, sind manifester Bestandteil deiner Gegenwart. Solange sie nicht gelebt – bewusst erlebt – und damit erlöst werden, beherrschen sie dein gegenwärtiges Tun, Fühlen oder Denken und machen deine Beziehungen zu Anderen zu einer immer etwas unwirklichen und nicht ganz wahrhaftigen Angelegenheit,

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der Realität der gegenwärtigen Persönlichkeit zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht entsprechend. So tritt unter Umständen nicht deine reale gegenwärtige Person mit deinem realen gegenwärtigen Partner in Beziehung, sondern eine Chimäre aus der Vergangenheit mit einer anderen; alte Kämpfe leben wieder auf, alte Zu- und Abneigungen, Konflikte und Verwicklungen, ohne das die gegenwärtigen Akteure recht verstehen, was mit ihnen geschieht. So bleibt ihnen nichts übrig, als das, was sie selbst in früheren Jahren oder was Vater oder Mutter, Grossmutter oder Grossvater nicht zu Ende lebten, nun auszuleben – es sei denn, sie halten inne und werden sich dessen bewusst, was geschieht. Die Chance eines solchen Erwachens liegt darin, das, was einst nicht gelebt wurde, nun nicht unbewusst, gleichsam als Opfer, in seinem Schicksal auszuleben, sondern bewusst in seinem Innern zu fühlen, was geschieht, ohne sich von diesen Gefühlen davontragen zu lassen. Das ist die Erlösung, die den Gespenstern der Vergangenheit endlich erlaubt, in ihr wohlverdientes Grab zu sinken, und den gegenwärtig Lebenden, den Faden ihrer eigenen aktuellen Erfahrung nun, bereichert um eine neue Tiefendimension, wieder aufzunehmen. Das ganze Wesen atmet auf, befreit, erleichtert und erwacht, erlöst von der Bürde der Vergangenheit. Woran erkennt man nun den Einfluss der Vergangenheit in der Beziehung? Woher wisst ihr, dass ihr aus eurer aktuellen und eigenen Realität heraus handelt und miteinander kommuniziert und nicht als Marionetten der ungelebten Wesensanteile eurer Vorfahren oder eures eigenen inneren Kindes? Wenn ihr aus eurer eigenen aktuellen Realität heraus handelt und miteinander kommuniziert, ist euer Handeln und eure Kommunikation klar. Ihr seid eins mit dem, was ihr tut und sagt, und könnt euch verständlich machen und miteinander verständigen, wie verschieden auch immer die Standpunkte sein mögen. Kommunikation und Energie sind im Fluss, und ihr fühlt euch wohl mit dem, was ihr tut und sagt – nicht , weil ihr es für gut und richtig haltet ( darum geht es hier nicht, das kann der Fall sein oder nicht ), sondern weil ihr das sagt und tut, was ihr sagen und tun möchtet. Fühlt ihr euch jedoch zu Handlungen, Aussagen und Reaktionen

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getrieben, die euch selber unverständlich sind, die ihr hinterher bereut, die nicht dem entsprechen, was ihr eigentlich tun und sagen möchtet, ist eure Kommunikation unklar und verwirrend, stockt der Energiefluss und die Verständigung zwischen euch, so können das Hinweise darauf sein, dass ihr nicht aus der Mitte eurer aktuellen Realität heraus handelt, sondern getrieben von unbewussten eigenen Wesensteilen, die eigentlich in die Vergangenheit gehören, jedoch in der Vergangenheit weder gelebt noch wahrgenommen wurden und deshalb immer noch unerkannter Bestandteil eurer gegenwärtigen Persönlichkeit sind; oder getrieben von unbemerkten geistigen Einflüssen eurer Eltern und Vorfahren, deren Unerlöstes ihr teils aus Liebe, teils aus einem unbewussten Zwang heraus – ähnlich einem hypnotischen Einfluss – übernommen habt. Eigenes Vergangenes müsst ihr selbst aufarbeiten; fremdes Vergangenes nicht unbedingt. Ihr könnt diese Aufgabe übernehmen oder ablehnen – letzteres allerdings nur, wenn ihr dazu tatsächlich in der Lage seid. Habt ihr beispielsweise einen Teil vom Leid eurer Mutter oder eures Vaters auf euch geladen, weil ihr unbewusst meintet, Mutter oder Vater damit die Bürde erleichtern zu können, so werdet ihr wenn euch das bewusst wird, diese Belastung, nicht ohne weiteres ablegen können. Zuerst muss die Liebe, die euch bewegt hat, diese Last zu übernehmen, gewürdigt werden; zuerst muss zutiefst begriffen werden, dass ihr Vater und Mutter keinen Gefallen tut, wenn ihr versucht, ihre Last zu tragen; zuerst muss der unerkannte psychologische Grund gefunden werden – der immer mitschwingt - , der hinter eurer Lasten-Übernahme steckt ( beispielsweise der Wunsch, geliebt oder gebraucht zu werden ), und das, was hinter diesem Grund steckt – die Sehnsucht nach Liebe beispielsweise – muss gefühlt und ins Herz geschlossen werden. Dann erst kannst du deiner Mutter oder deinem Vater die Bürde, die du ihr oder ihm abgenommen hast, zurückgeben. Hast du es auf dich genommen, ein „ Familien-Karma “ zu vollenden und aufzulösen, so wirst du dich schwerlich durch einen reinen persönlichen Willens-Entschluss von dieser auf einer überpersönlichen Ebene übernommenen Aufgabe lösen können. Ein solches „ Familien-Karma „ kann beispielsweise darin bestehen, das in jeder Generation

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bestimmte negative Muster in der Familienstruktur sich wiederholen. Die Erlösung liegt nicht darin, dass nun auch du dieses selbe Muster bis zu Ende durchlebst, sondern dass du innehältst und aus deiner eigenen Verwicklung in das Geschehen aufwachst. Du als das gegenwärtige Glied der Kette besitzt den Schlüssel zur Auflösung des alten Musters – ganz einfach, indem du anders handelst als deine Vorgänger. Um aber anders handeln zu können, musst du herausfinden, aufgrund welcher eigener Gefühle und Gedanken du in das nämliche Muster verstrickt bist, dich der Gefühle durch Liebe und Verständnis erbarmen und aus der Hypnose der betreffenden Gedanken aufwachen. Nicht ablehnen, was an dich weitergegeben wurde, sondern es annehmen als Herausforderung zur Wandlung: darin liegt die Erlösung nicht nur für dich selber, sondern für die ganze Kette deiner Ahnen, die sich in dieses bestimmte Muster von Verwicklungen und Dramen verstrickt hatte.

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V

Die Bürde der Zukunft

Wie man die Visionen erkennen kann,die man in der Vergangenheit für die

Zukunft der Beziehung entworfen hat,und jene Visionen, mit denen man die

Wahrnehmung der gegenwärtigen Realitätüberdeckt. Wie man die Essenz dieser

Visionen verinnerlichen und den Ballastüber Bord werfen kann. Wie die wahre

Vision der Beziehung sich erfüllen kann.

Es gibt eine wahre und eine falsche Zukunftsvision. Die wahre Zukunftsvision entsteht aus den Träumen, die in der ewigen Gegenwart schlummern und darauf warten, in der zeitlichen Gegenwart Gestalt anzunehmen. Die falsche Zukunftsvision nährt sich aus Bildern und Projektionen aus der Vergangenheit. Sie ist ein Szenario, das vom unruhigen und ängstlichen Geist des Menschen entworfen wird, der immer Neuese zu seiner Ablenkung, Zerstreuung und Erfüllung sucht und dieses Neue als Fortsetzung oder Wiederholung dessen konzipiert, was er in der Vergangenheit gekannt hat.

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Die wahre Zukunftsvision blitzt in einer Ahnung auf, die aus der Tiefe des noch nicht gelebten, noch nicht Bekannten, nur tief in der Seele bereits Vertrauten, auftaucht, in Momenten plötzlichen Wissens, plötzlicher Hellsicht, einer unerwarteten Vision dessen, was sein könnte. Die falsche Zukunft nährt sich aus dem Wiederkäuen von Wunsch- und Angstgedanken. Suchst du die wahre Zukunft zu erahnen und zu verwirklichen, so musst du dich befreien von der Bürde der falschen Zukunft. Du musst den wahren Kern finden, der deinen selbst geschaffenen falschen Zukunftsvorstellungen zu Grunde liegt, und ihn vom Ballast der Gedanken und Bilder befreien. Du tust das, indem du den Lichtstrahl deiner Bewusstheit auf die Gedanken und Bilder richtest, die du über die Zukunft deiner Beziehung hegst, und sie so lange durchleuchtest, bis du die hinter ihnen verborgene Sehnsucht findest. Die Sehnsucht ist das Einzige, was an deiner falschen Zukunftsvision zum gegenwärtigen Zeitpunkt wahr und real ist. In ihr ist ein Funken der wahren Zukunftsvision enthalten. Du fachst diesen Funken an und verwandelst ihn in ein hell leuchtendes Feuer, indem du dieser Sehnsucht dein Herz öffnest und sie mit deiner Liebe, deinem Atem, deiner Aufmerksamkeit nährst. Brennt dieses Feuer der Sehnsucht hell in deinem Herzen, so kann es den Ballast der darum herum geschaffenen Bilder und Gedanken verbrennen und dem Entstehen – der Manifestation – deiner wahren Zukunft, jener Zukunftsvision, die deine Seele und die Seele deines Partners von eurer Beziehung entworfen hat, den Weg bahnen. Die wahre Zukunft ist die Vision des Ewig- Neuen. Wage es, in jedem Augenblick deine Sehnsucht zu fühlen und die Erwartungen über Bord zu werfen, und du öffnest dich dem Entstehen des Ewig-Neuen im zeitlichen Moment der Gegenwart. Das Ewig-Neue erblüht zuerst im Herzen, bevor es dein ganzes Wesen und deinen Körper als Schauer der Erregung erfasst. Der Weg von der Vision der Seele hin zu ihrer Verwirklichung in der alltäglichen Realität der Paarbeziehung führt über das Herz. Deshalb prüfe stets, ob dein Herz offen oder verschlossen ist. Ist es offen, so ist es durchlässig für das, was aus der schweigenden Tiefe ans Licht treten und gelebte

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Realität werden will. Ist es verschlossen, so bist du in deinen vergangenheitsbedingten Gedanken und Emotionen gefangen. Ist dein Herz verschlossen, so finde heraus, warum es verschlossen ist; was dich so sehr bedroht oder verletzt hat, dass du meintest, dich davor verschliessen zu müssen; und fühle den Schmerz und die Angst mit allen Fasern, mit aller Liebe, allem Mitgefühl und allem Verständnis, dessen du fähig bist. Auf diese Weise öffnest du dein Herz, sodass es wieder durchlässig wird für das Wahre und Schöne, das in diesem kostbaren und einzigartigen Augenblick deines Lebens in dir und durch dich sich manifestieren will. Denn kostbar und einzigartig ist jeder Augenblick deines Lebens, wenn du dein Herz für die Wunder, die er für dich bereit hält, offen hältst, anstatt ängstlich Ausschau zu halten nach dem Bekannten, an das du dich klammerst, weil du dir davon Glück versprichst. Das Rezept diese stetigen Schöpfens aus der Tiefe ist einfach: Halte dein Herz offen, indem du fühlst, was du fühlst, anstatt in Gedanken und Sorgen über die mögliche erwünschte oder unerwünschte Zukunft zu schwelgen. Sorgst du dich, dass etwas mit dir und deinem Geliebten geschieht, das euer Glück trüben könnte, dann fühle die Angst und die Sorge bewusst und befreie auf diese Weise die Sehnsucht, die diesen Ängsten und Sorgen zu Grunde liegt, von der niederdrückenden Last dieser Gefühle! Wage es, dich zu sehnen! Aus der Sehnsucht wird das Neue und Wahre geboren. Nicht aus der Nostalgie, der rückwärts gerichteten Sehnsucht des Gemüts nach vergangenem Glück, sondern aus der Sehnsucht deiner Seele, die rein und klar hervortritt aus den Tiefen deines Herzens, sobald du den Strahl deines Bewusstseins auf sie richtest. Frage dich stets: was ist meine tiefste Sehnsucht in diesem Augenblick? Es ist nicht nötig, um ihre Erfüllung zu bitten – der Sehnsucht Tür und Tor zu öffnen, ist alles, was notwendig ist, damit sie sich erfüllen kann. Unter allen Hoffnungen, allen Enttäuschungen, allen Erwartungen und allen Ängsten finde die Sehnsucht, die darunter verborgen ist und lasse sie leben! Sehnsucht geht stets mit Schmerz einher. Der Schmerz der

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Sehnsucht ist der Preis, den du bezahlst für das höchste Glück des vollständigen Lebendig-Seins in jedem Augenblick und für ein Voranschreiten von Erfüllung zu Erfüllung, immer reicherer und tieferer Erfüllung im gegenwärtigen Augenblick. Jeder Augenblick des Zusammenseins mit deinem oder deiner Geliebten hält ein Stück Erfüllung für dich bereit, wenn du wach bist und deine Chance ergreifst, sie wahr und tief in dich aufzunehmen. Du verstellst dir diese Chance, indem du, anstatt die Erfüllung des gegenwärtigen Augenblicks zu geniessen, dich in Gedanken an das zu klammern, was dir im gegenwärtigen Augenblick fehlt oder entgeht oder was dich stört, weil es nicht so ist, wie du es haben möchtest. Empfange das Leben im gegenwärtigen Augenblick mit offenen Armen und wachen Sinnen, und du wirst der Erfüllung zuteil, die allein dieser besondere Augenblick dir schenken kann.

Erfüllung

Die Vision einer erfüllten Beziehung entsteht aus sich selbst. Tief im Kern der Realität schlummern die Visionen all dessen, was werden will. Sie entstehen nicht als Folge oder Zusammensetzung von irgend etwas, das es schon gegeben hätte; sie entstehen aus sich selbst heraus, aus der göttlichen Schau, die jede in ihr schlummernde Möglichkeit mit den Augen der Liebe, der Bewunderung und der Sehnsucht ins Leben ruft. Hier, in dieser tiefen Kernschicht der Realität, liegt auch die Vision von Erfüllung, die jeder Beziehung zu Grunde liegt. Jede Vision, die aus etwas anderem zusammengestellt ist als aus dieser reinen, ursprünglichen, göttlichen Schau, trübt, überlagert, verzerrt das ursprüngliche Bild. Deshalb: Wenn dir an der Erfüllung der Vision, die deiner Paarbeziehung zu Grunde liegt, gelegen ist, dann hüte dich davor, mit den Mitteln deines Verstandes Visionen zu erschaffen, die euer zukünftiges Glück, die Form, den Inhalt und den Fortgang eurer Beziehung betreffen. Solche Visionen setzen sich aus Elementen zusammen, die deiner besonderen Beziehung zu diesem besonderen

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Menschen fremd sind; die aus vergangenen Beziehungen entlehnt sind, die du zu anderen Menschen gehabt oder von denen du gehört oder gelesen hast. Sobald dir bewusst wird, dass eine solche Vision in deinem Geist Gestalt angenommen hat un womöglich bereits dein Denken und Fühlen in Bezug auf deinen Partner und dich beherrscht, betrachte deine Vision bewusst und mit Abstand in allen Einzelheiten. Beobachte dich, während du dir selbst eure Beziehung beschreibst; mit welchen Eigenschaften du sie und deinen Partner ausstattest und dein eigenes Verhalten schilderst. Anstatt all dies wie gewohnt zu denken und dir und vielleicht auch anderen zu erzählen, beobachte wie du all dies denkst und beschreibst. So lernst du deine eigene Vision der gegenwärtigen Beziehung kennen, die sich wie ein Filter über deine Sinne geschoben hat und deine Wahrnehmung der Realität verzerrt.

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Erkenne dann, dass deine Vision keine Beschreibung der Realität ist, sondern nur die Art, wie du in manchen Augenblicken real vorhandene einzelne Elemente zu einem Gesamtbild zusammengefügt hast- unter Hinweglassung all dessen, was nicht in dieses Bild passt-, das entweder einer vergangenen Erfahrung entspricht oder einem bestimmten Klischee oder deiner Vorstellung von einer bestimmten archetypischen Konstellation.

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Destilliere dann aus deiner Vision die Essenz heraus. Atme die Atmosphäre dieser Vision, ihren Geschmack, ihren besonderen Geruch, ihr Wesen ein – nimm sie tief in dich auf. Es ist deine eigene Vision – sie hat nichts mit deinem Partner und nichts mit eurer Beziehung zu tun, aber viel mit dir selbst.

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Was ist an dieser Essenz, das dir gefällt? Das dir schmeichelt? Das dich fasziniert?

Nimm den Teil der Essenz, der dich fasziniert, der dir gefällt und gut tut. Tief in dich auf. Es ist etwas, wonach du dich gesehnt hast. Du hast diese Vision erschaffen und deinem oder deiner Geliebten darin eine Rolle zugewiesen, um auf diese Weise an etwas zu gelangen, nachdem du dich gesehnt hast; ein bestimmtes Seinsgefühl, eine bestimmte Art dich zu fühlen. Es ist ein Spiel mit dir selbst. Der Andere hat sich freundlicherweise dazu zur Verfügung gestellt, eine Nebenrolle auf deiner Bühne zu spielen ( so wie du möglicherweise auf der seinen ), um dir zu deiner persönlichen Erfüllung zu verhelfen. Kannst du nun das, was die Vision dir geschenkt hat – die Art, dich zu fühlen , nach der du dich gesehnt hattest – so voll und ganz in dich aufnehmen, dass du es dir zu eigen machst und deinen Partner aus seiner Rolle entlassen kannst? Dann tue das jetzt. Lasse ihn frei.

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Wenn die äußere Kommunikation zwischen euch gut ist und genügend gegenseitiges Vertrauen vorhanden ist, kannst du deinen Partner von dieser inneren Aktion berichten und ihn bitten, seinerseits zu prüfen, welche Vision es ist, die er von eurer gegenwärtigen Beziehung erschaffen hat, und diese auf die gleiche Art und Weise zu betrachten und zu untersuchen, um dich aus der Rolle zu befreien, die du in seiner Vision spielst. Wenn dir das Vertrauen zu solch einem Gespräch fehlt oder die Kommunikation zwischen euch schwierig ist, kannst du dasselbe im Geist tun. Du kannst den Geist deines Partners rufen und ihn bitten, dich aus der Rolle frei zu lassen, die du in seiner Vision eurer Beziehung für ihn spielst.

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Wenn du auf diese Weise deine Beziehung vom Filter deiner eigenen Vision der gemeinsamen Gegenwart befreit hast, kannst du darangehen, auf die gleiche Weise den Filter der Zukunftsvision zu entfernen, die du in deinem Geist aus Elementen der Vergangenheit entworfen hast. Zu diesem Zweck finde zunächst einmal heraus, welche Vision einer idealen Beziehung du grundsätzlich hegst. Erlaube dir, die ideale Beziehung zu entwerfen, und betrachte diesen Entwurf dann aufmerksam.

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Siehst du, wie du die Elemente deiner Zukunftsvision aus der Vergangenheit entlehnt hast? Erkennst du nun deine eigenen vergangenen Erfahrungen darin, nur in vollkommneter oder ergänzter Weise? Oer Erfahrungen Anderer, die dir in der Vergangenheit vermittelt wurden? Würdige dann jedes einzelne der Elemente, aus denen du deine Vision zusammengesetzt hast. Du würdigst es, indem du die Essenz aus dieser spezifischen Erfahrung herausziehst und dir nachträglich einverleibst – also das Besondere, das Schöne oder Gute, das diese Erfahrung dir gebracht hat, die besondere Qualität, die besondere Art, dich zu fühlen. Wecke dieses schöne Gefühl mit Hilfe deiner Erinnerung wieder in dir und versichere dich auf diese Weise, das es dir gehört, dass es Bestandteil deines Wesens geworden ist und das du es jederzeit in dir wachrufen kannst, ohne dafür einen Partner zu brauchen! Würdige auf diese Weise jedes der Elemente, aus denen du deine Vision der idealen Beziehung konstruiert hast, indem du aus jedem einzelnen Element das erwünschte Gefühl, das es dir bringt, heraus destillierst und anhand deiner Erinnerungen in dir wachrufst. So wird die Essenz deiner Vision der idealen Beziehung ein manifester Teil deines eigenen Wesens und Seinsgefühls, und du musst nicht mehr auf eine eventuelle Zukunft warten, um dich endlich so fühlen zu können, wie du dich gerne fühlen möchtest. +++

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Untersuche dann deine konkrete Zukunftsvision der gegenwärtigen Beziehung auf ähnliche Weise. Vermutlich gibt es Einiges an der gegenwärtigen Beziehung, das dir nicht gefällt oder dir verbesserungswürdig. Und vermutlich gibt es dazu eine korrigierte Version der Beziehung oder eine Idealvision – eine Vorstellung davon, wie die Beziehung sein muss, damit du glücklich bist, weil deine Wünsche und Bedürfnisse erfüllt werden. Male dir diese Vision eurer Beziehung sorgfältig aus und betrachte sie anschliessend wie ein Maler sein Bild. Destilliere dann aus dieser Vision deine tatsächlichen gegenwärtigen Wünsche heraus. Und destilliere aus diesen Wünschen deinen eigentlichen, tieferen Wunsch heraus ( das, um dessentwillen du dir wünschst, was du dir dir wünschst). Der eigentliche, tiefere Wunsch hinter den Oberflächen-Wünschen – das, um dessentwillen du dir das wünschst, was du dir wünschst - ist niemals etwas, das mit einem Anderen zu tun hat, sondern immer etwas, das dich selbst betrifft.

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Verwandle diesen Wunsch in ein Gebet. Und trage selber alles zu seiner Erfüllung bei, was du beitragen kannst; beispielsweise indem du, wie bei den vorangegangenen Schritten, dich mit dem Seinsgefühl, das du zu erreichen wünschst, an- und ausfüllst, indem du es in dir wachrufst – anhand von Erfahrungen, Vorbildern oder auf welche Art auch immer. Stell dir vor, du seiest bereits so und fühltest dich bereits so, wie du sein oder dich fühlen möchtest. Prüfe dann, was der Verwirklichung deines Wunsches im Wege steht ( nicht, wie dein Partner sie verhindert, sondern wie du selber sie verhinderst) – wovor du Angst hast. Werde deiner Angst gewahr, indem du sie körperlich spürst. Fühle sie, artikuliere sie, drücke sie laut aus. Schliesse sie in dein Herz, indem du ihr Verständnis und Erbarmen entgegenbringst. Lasse sie bewusst in dir leben ( anstatt dich unbewusst von ihr beherrschen zu lassen). So wird der Weg frei für die Verwirklichung deines Wunsches.

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Nun hast du die Beziehung zu deinem Partner von den Filtern deiner Visionen der Gegenwart und der Zukunft eures Verhältnisses befreit. Spürst du, welche Erleichterung dir das verschafft – und in der Folge, bei sehr sensiblen Menschen im selben Augenblick, auch deinem Partner oder deiner Partnerin? Spürst du, wie das Leben und die Liebe wieder in dein Herz fliessen können, wie du wieder frei bist für das, was wirklich ist? Wie du plötzlich in der Lage bist, dein Herz dem Menschen zu öffnen, der dein Geliebter oder deine Geliebte ist – so, wie er ist? Nun kann die wahre Vision, die eurer Beziehung zu Grunde liegt, ihre lebendige Schönheit entfalten. Was dafür notwendig ist? Nichts weiter als Offenheit und Vertrauen. Vertrauen in das Gute und schöne, das eurer Beziehung als Plan, als Vision zu Grunde liegt – Vertrauen in die göttliche Liebe, die sich hier auf eine besondere und einzigartige Weise manifestieren will. Erwarte weder von dir selber, anders zu sein, als du bist, um dieser Beziehung genügen zu können, noch erwarte es von deinem Partner. Nimm dich an und gib dich so wie du bist. Nimm ihn so wie er ist. Weder versuche dich zu korrigieren, noch ihn zu korrigieren – es gibt nichts zu verbessern an euch. Ihr seid in eben diesem Augenblick genauso erwünscht und notwendig für einander, wie ihr seid – und nicht anders. Die wahre Vision, die eurer Beziehung zu Grunde liegt, kann sich erfüllen, wenn jeder sein eigenes Sosein im gegenwärtigen akzeptiert und an das Sosein des Anderen im gegenwärtigen Moment hingibt. Entspannung – die Idee fallen lassen, man selber, der Andere oder die Beziehung müsse anders sein; Loslösung – von Konzepten und Ideen – und Vertrauen. Vertrauen bedeutet nicht die Abwesenheit von Angst; Vertrauen bedeutet wenn Angst vorhanden ist, das Gewahrsein der Angst, das Annehmen der Angst und die gläubige Hingabe an das Leben im Gewahrsein der Angst. Vertraue, vertraue! Die Vision, aus der deine Beziehung zu diesem besonderen Menschen entstand, ist eine Vision grosser Schönheit, auch wenn der gegenwärtige Anschein vielleicht dagegen spricht.

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Der gegenwärtige Anschein ist nichts als die Maske, unter der sich die Realität verbirgt. Nimm niemals den gegenwärtigen Anschein für die Realität.

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VI

Die Liebe zur Gegenwart

Wie man lernen kann, gegenwärtig zu sein.Welchen Einfluss Gegenwärtigkeit auf die

Beziehung haben kann.

Willst du das Leben lieben? Willst du Gott lieben? Willst du deinen Geliebten oder deine Geliebte lieben? Du kannst nur Liebe geben, wenn du den gegenwärtigen Augenblick mit aller Hingabe liebst. Betrachte den gegenwärtigen Augenblick mit Augen der Liebe, und alles, was du berührst und was dich berührt, wird gesegnet sein. Wenn du die Beziehung zu deinem Gefährten verbessern, verschönern, vertiefen willst, verschönere und vertiefe deine Beziehung zum gegenwärtigen Augenblick. >>Lieben<< heisst nicht „mögen“ oder „ schön finden“ oder in sonst einer Weise positiv beurteilen. Lieben heisst nicht zu beurteilen, sondern mit ganzem Herzen präsent zu sein, mit allen Sinnen aufzunehmen und mit vollem Händen zu geben, was immer du dem gegenwärtigen Augenblick zu geben hast. Nichts zurückhalten von dir selbst und nichts verschmähen von dem, was der gegenwärtige Augenblick dir als Geschenk ud Nahrung bietet. Das wiederum bedeutet nicht, zu allem ja zu sagen oder alles widerspruchslos hinzunehmen. Nimm das Geschenk, das der gegenwärtige Augenblick dir bietet, mit wachem und offenen Herzen

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auf, und gib als Antwort deine ganze Wahrheit – deine Wahrheit im gegenwärtigen Augenblick. Entspricht es dieser Wahrheit, nein zu etwas zu sagen, so sage nein, klar und kraftvoll, als Äusserung deiner Wahrheit, als Manifestation dessen, was in dir ist, in die äussere Welt hinein. Das ist es, was die Liebe von dir fordert. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn du dein Nein oder dein Ja nicht äussern kannst, weil du Angst vor den Konsequenzen hast, so spüre das Nein oder das Ja deutlich in dir und artikuliere es wenigstens innerlich. Stehe in deinem Innern zu deiner Wahrheit, auch wenn du nicht den Mut hast, sie zu äussern, und zu deiner Angst. Schliesse die Angst in die warmen und verständnisvollen Arme deines Herzens und achte sie. Wann immer du bemerkst, dass sich über das Geschehen des gegenwärtigen Augenblicks in deiner inneren Wahrnehmung gleichsam ein anderer Film schiebt – Bilder vergangener Erfahrungen, die den gegenwärtigen zu ähneln scheinen, oder ein Film aus Wünschen und Projektionen, einer ersehnten Zukunft entlehnt - , so entferne diese Bilder mit aller Entschiedenheit von deiner Wahrnehmung des gegenwärtigen Augenblicks. Sobald du dich für eine Weile zurückziehen kannst, erinnere dich an diese Bilder und schaue sie dir aufmerksam an. Richte deine Aufmerksamkeit dabei auf die Emotionen, mit denen sie beladen sind. Hole das nach, was du damals – in der betreffenden Phase der Vergangenheit – nicht tun konntest: durchlebe diese Gefühle mit aller Intensität, und dann lösche den Film. Lösche ihn durch einen kraftvollen Willensakt. Sobald die alten Gefühle vollständig durchlebt und angenommen sind, ist der Film der Erinnerung überflüssig gewordener Ballast in deinem Bewusstsein. Das gilt sowohl für Erinnerungen, die dich schmerzlich oder unangenehm berühren, als auch für solche, die du als schön und wertvoll erachtest. Alles hat seine Zeit und seinen Platz. Die Vergangenheit in der Vergangenheit und die Gegenwart in der Gegenwart. Fürchte nicht, die wertvollen Erfahrungen der Vergangenheit zu verlieren, wenn du dich von den alten Erinnerungen befreist. Nichts geht je verloren, und in einer Zeit jenseits der Zeit existiert jede deiner vergangenen und zukünftigen Erfahrungen und ist dein eigen.

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Auch im gegenwärtigen Augenblick ist sie als Echo und Schwingung stets enthalten. Jedoch wird deine Wahrnehmung des gegenwärtigen Augenblicks getrübt und verfälscht, sobald du in die Intimität mit der Realität des gegenwärtigen Augenblicks eintrittst. Wenn du mit deinem oder deiner Geliebten einen Augenblick der Nähe teilst, so wird dieser heilige Moment gestört, wenn du dir erlaubst, ihn mit den Augen der Vergangenheit oder der Zukunft zu beurteilen. Wenn dir etwas gefällt an deinem Geliebten oder deiner Geliebten im gegenwärtigen Augenblick, so atme das was dein Entzücken auslöst, tief in dein Wesen ein und gib ihm oder ihr alles, was im gegenwärtigen Augenblick dein wahres Wesen ausmacht, als Antwort. Sobald du aber bemerkst, dass du das, was dein gegenwärtiges Entzücken auslöst, vergleichen, katalogisieren oder festhalten möchtest – dass du also aus dem gegenwärtigen Augenblick in Vergangenheit oder Zukunft ausweichst -, so wirf einen Blick auf die Gedanken, mit denen du katalogisierst, vergleichst oder zu verewigen suchst, werde der mit ihnen verbundenen Emotion gewahr – und dann atme auf und aus und werde wieder frei für die Realität des gegenwärtigen Augenblicks. Werde frei, frei, frei! Du bist ein Kind des Lebens selbst, frei, von Erfahrung zu Erfahrung zu schreiten, dich zu wandeln, weiter und weiter zu gehen, ohne etwas von dem Schönen, das je dein war, zu verlieren! Wage es, dich zu lösen von allem, was dich hindert, tief und tiefer in die Wahrheit des gegenwärtigen Augenblicks einzutauchen und ihr mit deinem ganzen Sein zu antworten. Noch einmal: Mit deinem ganzen Sein zu antworten, bedeutet, mit deiner ganzen momentanen Wahrheit. Das ist nicht gleichbedeutend damit, alles auszusprechen, was dir in den Sinn kommt; aber alles zu sein und zu durchleben, was die Wahrnehmung des gegenwärtigen Augenblicks in dir auslöst. Nur wenn du frei wirst für die Gegenwart, wirst du frei für die Liebe. Wage es! Wage es,dich zu lösen von deinen Träumen , deinen Visionen, deinen Vorstellungen davon, wie es sein soll, von deinen Konzepten und deinen „ so-will-ich-die-Beziehung-und-so-will-ich-sie-nicht“ Gedanken und tritt ein in die lebendige und heilige Kommunikation und Kommunion mit dem gegenwärtigen Augenblick. So können eure Herzen sich für das, was wirklich ist, öffnen, anstatt

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sich aufgrund dessen, was gewesen ist und möglicherweise sein wird, zu verschliessen. Wenn du dich körperlich mit deinem oder deiner Geliebten vereinigst, dann tauche tief in die Wahrnehmung des gegenwärtigen Augenblicks ein. Betrachte jede Begegnung als neu und einzigartig, als Gelegenheit, dich noch weiter zu öffnen und zu wandeln. Lass jede deiner Gesten, jede deiner Berührungen wahr sein und mitten aus dem Herzen des Augenblicks entstehen. Betrachte jede sexuelle Begegnung als Kommunion – als Einswerden nicht nur mirt dem Körper, Herz oder Seele des geliebten Menschens, sondern mit der Gegenwart, mit der Realität des gegenwärtigen Augenblicks. Was nicht wahr ist, unterlasse oder beende. Wenn du fühlst, dass du nicht in der Lage bist, spontan im Einklang mit der Wahrheit des Augenblicks dem Fluss der Ereignisse zu folgen, weil Ängste oder Erwartungen dich daran hindern, dann atme Ängste oder Erwartungen tief in dein Herz hinein und öffne dich wieder der Neuheit des gegenwärtigen Augenblicks. Wage es, neu zu sein! Was ziehst du vor: Zu lieben wie ein Greis, gebeugt von der Last der Jahre und muede von zu vielen Erfahrungen, oder frisch und begeistert wie ein Jüngling, eine Jungfrau? Wage es, dich von deiner Bürde zu lösen und neu zu sein. Es ist möglich! Glaube nie, dass es unmöglich ist. Alles was du dazu brauchst, ist Mut. Mut dich zu lösen: von deiner Angst, deinen Erwartungen, deinen Erinnerungen und den Schlussfolgerungen, die du aus vergangenen Erfahrungen gezogen hast. Wage es! Sei neu! Sei rein. Mit jeder Erinnerung, jeder Schlussfolgerung, jeder Erwartung, mit jedem Ballast aus der Vergangenheit oder Zukunft in deinem Bewusstsein schwindet der Raum für die Gegenwart. Und mit ihm schwindest du selber dahin, erstickst nach und nach an deinen Gefühlen aus der Vergangenheit. Das ist es, was man Alter und Verfall nennt. Alter und Verfall treffen Beziehungen in gleicher Weise; und Erneuerung kann Beziehungen ebenso zuteil werden wie Individuen. Erneuerung ist nichts als das: sich zu lösen von der Bürde der Vergangenheit und der in der Vergangenheit geschaffenen Projektion der Zukunft.

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Leben, ganz gelebt, ist fortschreitendes Erwachen. In immer tiefere, immer vollständigere, immer bewusstere und somit immer lichtere Gegenwart hinein. Beziehung, ganz gelebt, ist fortschreitendes Erwachen. In immer tiefere, immer vollständigere Gegenwart – geteilte Gegenwart -, in immer bewusstere und lichtere Gegenwart hinein, bis nichts mehr bleibt als lichte Wahrheit – als Liebe. Wie kannst du dich aus der Hypnose vergangener Erfahrungen befreien? Entkleide die Erfahrungen ihrer Form und verinnerliche ihre Essenz, ihren emotionalen Gehalt. Und wandle diesen in der Liebe und dem Verständnis deines Herzens zu Mitgefühl und Kraft. Sei wach!! Sei wach für den gegenwärtigen Augenblick und wach für das Auftauchen jedweder Projektion aus der Vergangenheit. Viel mehr ist nicht nötig als die Wachheit und die Bereitschaft, immer wieder aufs Neue zu erwachen in die lebendige Gegenwart. Das Leben entfaltet sich wie eine Blüte; Blatt für Blatt, und aus seiner innersten Tiefe will immer wieder Neues auftauchen. Das ist die Verheissung des Augenblicks: das Neue, das aus seiner innersten Tiefe auftauchen will. Schaust du in die Augen deines Geliebten, dann suche dort weder die Antwort auf deine Fragen, Wünsche und Hoffnungen, noch Wiederholung vergangener Momente – sondern lebendige Begegnung im gegenwärtigen Augenblick. Anstatt einen Filter über die Wahrnehmung dessen, was dir aus diesen Augen entgegenschaut, zu schieben, indem du etwas Bestimmtes darin suchst, empfange die lebendige Gegenwart des geliebten Wesens und gebe die deine dafür. Dieser Moment rückhaltloser Begegnung und Offenheit für das, was im gegenwärtigen Augenblick wahr ist, ist der Kern für das Neue was werden will: das Kind. ( Note 6: Gemeint ist hier das „himmlische Kind“ der Beziehung, auf das im Kapitel „ Sexualität“ ausführlich eingegangen wird. ) Gegenwärtig sein im Feld der Beziehung bedeutet vor allem, kein Gefühl länger festzuhalten, als es aktuell ist – weder die Freude noch den Groll, weder die Trauer noch die Angst. Um ein Gefühl gehen lassen zu können, ist es notwendig, es vollständig zu durchleben. Wenn es sich um ein frisches, nur aktuelles Gefühl handelt, ist das leicht; es erfordert nur die entsprechende Wachsamkeit, es zu

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bemerken und zu fühlen, anstatt es zu verdrängen. Meistens aber hängt an einem aktuellen Gefühl ein Unterbau von Gefühlen aus der Vergangenheit, die, als sie aktuell waren, nicht oder nicht vollständig durchlebt wurden, sodass die Aufgabe nun darin besteht, nicht nur das aktuelle Gefühl – die oberste Schicht – vollständig zu durchleben, sondern auch den meist wesentlich grösserer Anteil vergangenen Gefühls, der sich darunter verbirgt und durch das aktuelle Ereignis mit ausgelöst wird. „ Durchleben“ bedeutet nicht nur erkennen, das die Emotion vorhanden ist, sondern sie zu spüren und, wenn angemessen, auch auszudrücken. Kein Gefühl, das vollständig durchlebt wurde, bleibt unverwandelt zurück, denn die Natur des Fühlens ist stetiger Wandel. Woran Beziehungen kranken und was sie mit der Zeit unfruchtbar und unbeweglich macht, ist die Tatsache, das die Menschen die Gefühle, die ihr Partner in ihnen auslöst, nicht vollständig, oft sogar überhaupt nicht durchleben, und sie genau dadurch weit über die Zeit, da sie aktuell und real waren, festhalten. Gegenwärtigkeit löst die Beziehung von alten Sünden, Vorwürfen, Schmerzen, Enttäuschungen und Erwartungen, mit anderen Worten, von all dem „Beziehungs – Karma“, das sich im Laufe der Zeit angesammelt hat. Radikale Gegenwärtigkeit verwandelt eine Beziehung aus einer fortlaufenden und kausal verknüpften Kette von Ereignissen in eine immer neu aus der Wahrheit des Augenblicks entstehende Angelegenheit von grosser Frische und Schönheit. Es bedeutet, weder berechenbar zu sein noch den Partner für etwas Berechenbares zu halten; es bedeutet, in seinem Partner nicht die Person zu sehen, die man bereits kennt, sondern sich stets dem zu öffnen, was man noch nicht kennt. Es bedeutet das Aufgeben jeglicher Vorstellung von Verlässlichkeit und Sicherheit und somit der grössten Illusion, die Beziehungen im Allgemeinen zu Grunde liegt. Die Vorstellung von Verlässlichkeit beinhaltet die Idee, irgend etwas koennte auf ewig so bleiben, wie es ist; ein widernatürlicher Gedanke, der sich aus der Angst vor dem Unbekannten herleitet. Dabei richtet sich die der Liebe innewohnende Sehnsucht stets auf das Unbekannte, nie auf das bereits Bekannte. Das bereits Bekannte kann mit Zärtlichkeit und Wertschätzung umfangen werden; die

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Triebkraft der Liebe aber, die Sehnsucht, richtet sich stets auf das Noch- nicht-Bekannte. Denn es liegt im Wesen der Sehnsucht, das, was noch nicht da ist, hervorzubringen. Schaust du deinen Geliebten mit den Augen der Liebe an, dich sehnend nach dem in ihm oder ihr, das noch nicht in Erscheinung getreten ist, so verhilfst du den neuen Zuegen seines Wesens, sich zu manifestieren. Das ist nicht dasselbe, wie etwas von ihm zu fordern, das du zu brauchen meinst, er oder sie aber nicht geben kann oder will. Hinter solchen Forderungen steckt nicht die Liebe zum Anderen, sondern der Wunsch nach Erfüllung eigener Bedürfnisse. Die eigenen emotionalen Bedürfnisse eines erwachsenen Menschen sollen jedoch niemals einer anderen Person überantwortet, gewissermassen zur Last gelegt werden; sondern der Betreffende selber soll sich seiner Bedürfnisse gewahr sein und sich um ihre Erfüllung bemühen. Verspürst du beispielsweise ein Bedürfnis nach Zärtlichkeit, so wecke die Zärtlichkeit in dir. Es ist eine Eigenschaft, de in dir, mehr oder weniger latent oder manifest bereits vorhanden ist. Wecke sie in dir und fülle dein ganzes Wesen, dein Herz und deinen Körper aus mit ihr, bis du von Kopf bis Fuss von Zärtlichkeit erfüllt bist, bis du überströmst von Zärtlichkeit und sie mit den Wesen, die du liebst, teilen kannst. Auf diese Weise weckst du die Zärtlichkeit auch in anderen, und sie kommt als Antwort auf deine eigene Zärtlichkeit zu dir zurück. Das trifft allerdings nur dann zu, wenn du wirklich von deiner eigenen Zärtlichkeit erfüllt bist, sozusagen in ihr ruhst und badest; nicht jedoch, wenn du sie, in der Erwartung, etwas zurückzubekommen, auf einen Anderen projizierst und als Bedürftiger zärtlich agierst. Bedürftigkeit ist ein natürlicher Zustand; es ist der natürliche Zustand alles Existierenden, denn alles Existierende ist im Werden begriffen und bedarf zu seiner Entfaltung der verschiedensten Elemente. Glaube deshalb nie aufgrund falsch verstandener spiritueller Lehren, du solltest deine Bedürftigkeit ablegen wie einen Fehler oder einen Makel. Auch ist es weder nötig noch gesund oder spirituell, zu glauben, du müsstest darauf verzichten, jemals der Zuwendung, nach der du verlangst, von anderen zu bekommen. Glaube auch nicht, du müsstest auf den Wunsch verzichten, Zuwendung von anderen zu bekommen. Wisse nur, dass die Quelle der Erfüllung all deiner seelischen Bedürfnisse in

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deinem eigenen Innern liegt. Andere können den Zustand des Erfülltseins vorübergehend in dir wecken; verstehst du jedoch nicht, ihn dir zu Eigen zu machen, indem du ihn als etwas wieder erkennst, das dir zutiefst vertraut ist, da es ja immer schon in dir vorhanden gewesen ist ( nur eben in Tiefen, die jenseits der Reichweite deines persönlichen Bewusstseins lagen), so werden sie ihn dir wieder von dir fortnehmen, wenn sie aufhören, sich dir in dieser bestimmten Weise zuzuwenden, die du als beglückend oder erfüllend empfindest. Ist es das herrliche Gefühl beglückender Sexualität, das du ersehnst und von dem du hoffst, dass dein Partner es dir schenken möge, so wecke die Sexualität in dir selber und fülle deinen Körper, dein Herz und dein ganzes Wesen mit ihr bis an den rand, bis du überströmst und dein sexuelles Erfülltsein mit deinem oder deiner Geliebten teilen kannst. So wird deine überströmende, vitale und freudige Sexualität als Echo verstärkt zu dir zurückkommen und deinem Partner Kraft und Freude schenken ( anstatt sie ihm zu rauben ) . Stets das Grössere, das Noch-nicht-Gewordene in deinem Geliebten zu sehen – verborgen hinter der dir vertrauten Erscheinung – hat also nichts damit zu tun, das aus ihm herauszulocken , was deine Bedürfnisse erfüllen könnte. Sondern ihm stets noch Schöneres, noch Besseres, noch Grösseres zuzutrauen; ihn jeden Morgen zu begrüssen in einer Haltung von Offenheit und Interesse für das Neue, das du an diesem Tag an ihm entdecken wirst – und dir selber mit der gleichen Haltung zu begegnen. Wie begrüsst du den neuen Tag? Wie den Beginn eines Abenteuers im Unbekannten? Oder wie eine lästige Fortsetzung der unerfreulichen Ereignisse vom Vortag? Entscheide! Du hast die Wahl.

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Das offene Herz

Wie man durch Eins-Sein mit sich selbstzur Liebe findet. Wovon die Schönheit einerBeziehung abhängt. Worin Liebe sich erfüllt.

Die Schönheit einer Beziehung hängt von der Bereitschaft der Beteiligten ab, ihr Herz für einander offen zu halten. Prüfe immer wieder aufs Neue, ob du im Zustand der Erwartung von Erfüllung persönlicher Wünsche bist oder im Zustand des offenen Herzens, das heisst der Liebe. Bist du im Zustand der Liebe, so bist Du bereit, stets das Beste und Schönste für deinen Partner zu sein und zu geben, anstatt von ihm etwas zu erwarten. Jedes Geschenk, das du von ihm erhältst, erfüllt dich mit Dankbarkeit und Freude. Mit Liebe wirst du es annehmen können, ohne zu glauben, du müsstest etwas dafür zurückgeben – dass du es nimmst von ganzem Herzen und mit Dankbarkeit und es dir zu eigen machst, ist Dank und Gegengabe genug. Im Zustand des offenen Herzens zu sein und stets bereit, das Beste und das Schönste zu geben, bedeutet nicht, immer nett und freundlich zu sein und ihm immerfort zuzustimmen oder dergleichen mehr. Es bedeutet vielmehr, dir in jedem Augenblick der Tatsache bewusst zu

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sein, dass dieser Augenblick einmalig und unwiederholbar ist; eine unwiederbringliche Gelegenheit, das zu sein und zu geben, was du nur in diesem Augenblick sein und geben kannst. Mache dir stets die Gegenwart des Todes bewusst; wisse, dass in jedem Augenblick der Tod euer Zusammensein in Raum und Zeit beenden kann. Was ist es, das du nicht gesagt hast in diesem Augenblick – was du verschwiegen hast? Was du versäumt hast? Was du zurückgehalten hast von dir? Was ist es, das du zu viel gesagt hast, zu viel getan? „ Zu viel“ deshalb, weil es nicht der Wahrheit entsprach? Nur die Liebe kann dir die Stärke geben, die es dir ermöglicht, in jedem Augenblick das Beste und das Schönste zu sein und zu geben, was du sein und geben kannst. Nur die Liebe kann dir Klarheit geben, die es dir ermöglicht, du selbst zu sein und im Einklang mit deinem innersten Wesen zu handeln, zu sprechen, zu schweigen, dich zu nähern oder zu entfernen. Die Liebe, wenn sie in dir aufscheint, gebietet dir, ganz und gar du selbst zu sein – nicht mehr und nicht weniger -, weil du grade so, wie du bist und ganz so, wie du bist, das Beste bist, was deinem Partner im gegenwärtigen Augenblick begegnen kann. Das, was dein Partner von dir braucht, ist deine Wahrheit. Das muss nicht bedeuten, stets alles mitzuteilen, was in dir vorgeht; aber es bedeutet, in dem, was du tust und sagst, authentisch zu sein. Wenn du etwas nicht tun oder sagen kannst, weil du dich vor den Folgen fürchtest, so sei deiner Angst gewahr, während du es unterlässt, das Betreffende zu tun oder zu sagen. Verschleiere sie nicht vor dir selber. Fühle sie. Tue nichts, um sie zu kaschieren oder zu überspielen. Sei einfach Angst. Auf diese Weise lebst und manifestierst du deine Wahrheit im betreffenden Augenblick, anstatt sie zu verbergen. Wenn möglich und nötig, kannst du die Angst auch artikulieren. Spüre die Angst und spüre den Impuls, etwas zu sagen. Das sind zwei Zustände, die in einem solchen Augenblick zugleich in dir existieren. Fühle sie beide! Welcher von beiden ist der Stärkere? Er wird dein Handeln bestimmen. Beobachte diesen Vorgang, während du beide Kräfte in dir spürst. Siegt die Angst? Dann fühle die Angst und zugleich den unterdrückten Impuls. Siegt der Impuls, zu sprechen oder zu handeln? Dann sprich oder handle und fühle zugleich die Angst.

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Vielleicht drückst du sie auch aus: „Ich habe Angst, dass du ärgerlich werden könntest, aber ich möchte dir sagen...“: das ist Ehrlichkeit. Bemühe dich nicht mit dem Willen, das zu erreichen; öffne dich nur stets von neuem der Liebe. Die Liebe ist es, die dir diesen Mut gibt, nicht der Wille. Frage stets die Liebe, was sie im gegenwärtigen Augenblick von dir will. Du fragst die Liebe nicht, indem du in Gedanken die Frage formulierst und in Gedanken eine Antwort erwartest, sondern indem du dein Herz öffnest. Das bedeutet, dem Geliebten und dir selbst mit einer Haltung der Liebe, der Achtung, der Freundschaft und des Mitgefühls zu begegnen und dir stets der Heiligkeit und Unschuld seines und deines tiefsten Wesens bewusst zu sein. Frage dich nicht, was der Andere von dir erwartet; lass dich auch nicht von dem leiten, was du selber von dir erwartest; sondern frage stets, was die Liebe von dir verlangt, die Liebe zu dir selbst und die Liebe zum Anderen; letztlich die Liebe zur Liebe. Die Liebe wird nie etwas anderes von dir verlangen als die Wahrheit. Klammere nichts von dem, was ist, aus deiner Vorstellung von Wahrheit aus! Wenn Groll in dir ist, so ist dieser Groll in diesem Augenblick Teil deiner Wahrheit. Fühle ihn, lase ihn in dir leben, spüre ihn, und wenn irgend möglich, drücke ihn aus. So kann der Teil deiner selbst, der Groll erleidet, teilhaben an deinem Leben, deinem Fühlen, deinem Selbst-Ausdruck, deiner Beziehung zu deinem Partner. Sei stets eins mit dem, was du bist, und du bist in jedem Augenblick du selbst. Das ist es, was gemeint ist. Und das ist es, was gebraucht wird. Nicht mehr und nicht weniger. Beziehe dich in allem, was du deinem Partner gegenüber tust und artikulierst, auf den heiligen und unschuldigen Kern seines Wesens. Erwarte Unschuld von ihm und beziehe dich auf Unschuld. Auf diese Weise bleibt dein Handeln und dein Ausdruck rein. Und alles, was rein ist, ist schön und wird mit Schönheit erwidert. Bevor du diese Behauptung mit Gegenbeweisen aus deiner vergangenen Erfahrung zu widerlegen versuchst, stelle sie lieber in der Gegenwart auf die Probe, indem du ausprobierst, ob sie trägt ! Jedes Wesen ist im Kern unschuldig und heilig – du selbst ebenso wie dein

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Partner. Lasse an deiner Beziehung zu deinem Partner stets deinen und seinen unschuldigen heilen Kern teilhaben, und nichts kann euch entzweien. Was liebst du, wenn du liebst? Liebst du das Bild, das du dir von der betreffenden Person gemacht hast? Liebst du die Wohltaten, die sie dir erweist? Liebst du die Funktion, die sie in deinem Leben erfüllt? Liebst du Teile ihres Selbst-Ausdrucks? Ihr, Lächeln, ihre Stimme, ihren Gang? Sei dir dessen bewusst, das all dies nicht Liebe ist, sondern Manifestation deiner persönlichen Vorlieben ist. Wahre Liebe bezieht sich stets auf den unschuldigen und heiligen Kern des geliebten Wesens und hilft auf diese Weise, diesen verletzlichen Kern hervorzubringen, indem sie ihm durch Liebe, Achtung und Mitgefühl einen heiligen und geschützten Raum bietet, indem er sich hervorwagen und zeigen kann, sodass der Betreffende selber seiner gewahr wird. Nichts anderes ist Liebe als dies. Diese Liebe sagt: „ Was immer du bist, ist im Kern unschuldig und heilig. Ich achte und ehre es. Was immer du tust, tust du aus deinem unschuldigen und heiligen Wesen heraus, weil du eben so bist wie du bist, und nicht anders. Was immer ich tue, tue ich aus meinem heiligen und unschuldigen Wesen heraus, weil ich eben so bin, wie ich bin und nicht anders.“ Vertraust du der Liebe? Vertraust der Liebe, die euch zusammengebracht hat als eben die Wesen, die ihr seid? Und lässt du sie ihr Werk tun? Dann achte dich selbst und deinen Geliebten als unschuldige und heilige Wesen und kehre immer wieder zu dieser Achtung zurück, wenn du sie verloren hast. Auf diese Weise lässt du dein und sein wahres Wesen erglänzen im Licht der Liebe, die euch geschaffen und für ihre Zwecke verbunden hat. Welches ist der Zweck, zu dem die Liebe euch verbunden hat? Liebe trachtet stets danach, sich zu erfüllen. Und Liebe findet ihre Erfüllung in jedem Augenblick, indem zwei Herzen sich einander öffnen und sich voneinander berühren lassen. Die Erfüllung, nach der Liebe strebt, ist kein Happy End, das allem Unglücklichsein ein- für alle mal

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ein Ende setzt, sondern es ist die Erfüllung eines lebendigen und einzigartigen Augenblicks von Berührung und Begegnung. Dieser Augenblick der Erfüllung geht stets mit Erschütterung einher; es sit der Moment, in dem die Kraft der Liebe die Mauern zum Einsturz bringt, die du um dein Herz und um dein wahres Wesen errichtet hast, um dich zu schützen. Es ist nicht die überwältigende Erschütterung der Verliebtheit; es ist eine sanftere und zugleich tiefere Erschütterung, wenn die Masken fallen und du deinem Partner von Herz zu Herz, von wahrem Wesen zu wahrem Wesen in die Augen blickst und weder dein Leid noch deine Freude, weder deine Schwäche noch deine Stärke vor ihm verbirgst noch vor seinem Leid und seiner Freude, seiner Schwäche und seiner Stärke die Augen und das Herz verschliesst. Es ist eine Erschütterung von Verstehen, Mitgefühl, Achtung und Erkennen. Die Erschütterung der Verliebtheit hingegen ist ein Überwältigtsein vom Glanz des Potenzials, das du durch die äussere Erscheinung deines Geliebten hindurchschimmern siehst ( sofern es sich nicht um eine Verliebtheit handelt, die nicht vom wahren Wesen des Partners ausgelöst wird, sondern von einem Trugbild, was du auf ihn projiziert hast ). Für einen Moment erblickst du die Schönheit und den Ganz seines wahren Wesens, von dem die Person, die du vor dir siehst, nur ein eingeschränkter Ausdruck ist, und bist geblendet. In diesem Sinne ist wahre Verliebtheit ein Wahrnehmen der tief inneren Realität hinter der Oberfläche der persönlichen Gestalt. Bewahre dir diese Augen, wenn du kannst; aber umschliesse mit deiner Liebe, deiner Achtung und deinem Mitgefühl auch alle Schwächen der derzeitigen eingeschränkten Manifestation dieses herrlichen Wesens – der Person. Es ist der grösste Fehler, die Person – dieses „ kleine Ich“ - zu verachten. Dem „ kleinen Ich“ - dem in Raum und Zeit manifestierten, begrenzten Teil des unbegrenzten, glanzvollen und herrlichen Wesens – gebührt im Gegenteil die allergrößte Achtung und das allergrößte Mitgefühl. Dein biologisches und psychologisches Erbe auf diesem Planeten in dieser Zeit anzutreten, auf dich zu nehmen und auszufüllen, erfordert grossen Mut und grosse Hingabe; wenn dir das einmal in seinem vollen Umfang bewusst geworden ist, verneigst du

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dich in Ehrfurcht an jedem Morgen und an jedem Abend vor dir selber – und vor deinem Partner und jedem anderen lebenden Menschen! Siehst du die Schönheit eurer Liebe? Die besondere Schönheit eurer einzigartigen Beziehung? Siehst du das Einmalige, das eben dadurch, dass ihr beiden besonderen Menschen zusammengekommen seid, entstanden ist und durch nichts anderes entstehen konnte? Siehst du die Schönheit eines jeden besonderen Augenblicks, den ihr miteinander teilt – in welcher Weise auch immer? Selbst wenn ihr streitet und euch verzweifelt bemüht, einander etwas mitzuteilen, was euer Herz in diesem Augenblick bewegt? Selbst wenn ihr nicht die richtigen Worte findet, so ist es doch ein Versuch, der Liebe Raum zu schaffen, indem ihr euch mitteilt! Geliebte, könntet ihr eure Schönheit in jedem Augenblick sehen, wie wir sie sehen, ihr wäret gerührt und erschüttert und entzückt und würdet lachen und weinen zugleich. Das ist, was wir euch zu vermitteln versuchen: unseren Blick. Den Blick der Liebe. Alles ist gesegnet, wenn du es mit den Augen der Liebe anschaust. Denn die Augen der Liebe enthüllen stets die tiefere Wahrheit, und die tiefere Wahrheit ist immer rein.

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Verliebtheit

Was Verliebtheit wirklich bedeutet. Wie wirmit unseren Erwartungen die Extase der

Verliebtheit ersticken. Wie man Verliebtheitvon der Bürde der Erwartungen befreien kann.

Verliebtheit ist der Augenblick, indem ein Schleier von deiner Wahrnehmung genommen wird und du etwas erfassen kannst – oder besser gesagt, erfasst wirst – von der Schönheit des wahren Wesens der geliebten Person. Dies gilt allerdings nur, wenn du in das wahre Wesen des betreffenden Menschen verliebt bist und nicht in ein Trugbild, was du auf ihn projiziert hast. Hältst du deinen Blick stets auf das wahre Wesen hinter der äusseren Gestalt, hinter der Maske der Person, hinter den momentanen Unzulänglichkeiten der Realität gerichtet, so kannst du stets im Zustand der Verliebtheit sein – einer Verliebtheit, die dich in Entzücken versetzt, die dich überwältigt, ohne dich jedoch an die Person oder die Personen, in die du verliebt bist, zu binden. Denn dir wird bewusst sein, dass deine Verliebtheit das Entzücken über die Schönheit des wahren Wesens ist und nicht über die

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Vorzüglichkeit oder Einzigartigkeit der Person. Diese Art Verliebtheit ist daher frei von Anhaftung, denn sie bezieht sich auf eine Ebene jenseits von Raum und Zeit, eine Ebene zeitloser Gültigkeit. Anhaftung existiert nur, wenn du dein Herz und dein Sehnen an etwas Zeitliches hängst und verhindern möchtest, das dieses Zeitliche vorübergeht, sich dir wieder entzieht. Das ist auch der Prüfstein für die Natur deiner Verliebtheit. Wenn deine Verliebtheit Ausdruck deines Überwältigt- Seins vom wahren Wesen des Geliebten ist, so bist du entzückt und hingerissen, jedoch frei von Anhaftung an die Person. Stellst du jedoch fest, dass du der Person anhaftest, dann enthält deine Verliebtheit eine Komponente von Projektion. Denn der momentane, begrenzte, zeitliche Ausdruck des Wesens- die Person- ist niemals von dieser überwältigenden Schönheit, die dich in den exstatischen Zustand der Verliebtheit versetzen kann; glaubst du, in die Person verliebt zu sein, so bist du in der Tat blind, nämlich für ihre – real vorhandenen und wichtigen Wesenszüge des Menschen darstellenden – Fehler und Schwächen, für ihre weniger schönen Seiten. Diese Art von Verliebtheit in eine Person wird weder ihr noch dir gerecht. Denn du blendest einen Teil deiner Wahrnehmung aus und bist dem zufolge nicht aufrichtig; und der ausgeklammerte Teil des betreffenden Menschens wird sich von dir nicht geliebt und gewürdigt fühlen. Du liebst also mit weniger als deiner Ganzheit weniger als seine Ganzheit, und daraus entsteht niemals jenes erlösende Heil-Sein, das die Liebe erzeugen kann, sondern stets Unheil. Es ist dieses Unheil, aus dem so viele der Missverständnisse entstehen, die schliesslich zu Trennung oder Verhärtung führen müssen. Die wahre Verliebtheit, die Verliebtheit, die sich aufgrund einer spontanen Schau des wahren Wesens deines geliebten einstellt, erfüllt dein Gemüt mit Demut und mit Wärme und lädt die Liebe in dein Herz ein, jene Liebe, die dich in die Lage versetzt, der Schönheit, die auf dem Grunde des Wesens deines Geliebten schlummert und die du kurz erblickt hast, zur Manifestation in seiner zeitlichen Persönlichkeit zu verhelfen. Dies hat allerdings nichts damit zu tun, zu versuchen, den Geliebten zu verbessern oder zu erziehen! Sondern im Gegenteil: Du bist der Grösse und Schönheit gewahr geworden, die bereits sein eigen

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ist – und wirst grade deshalb niemals mehr etwas anderes für ihn empfinden können als grosse Achtung und Wertschätzung, eine Achtung, die so gross ist, dass du gar nicht auf den Gedanken kommst, es gäbe etwas an ihm zu verbessern. Wenn du verliebt bist, tanzt du vor Entzücken; du tanzt vor Entzücken, weil du endlich – und sei es für kurze Zeit- eingetaucht bist in das Erleben der Wahrheit und weil du dieses Erleben, auch wenn es dir nicht bewusst ist, als den Zustand der Wahrheit wiedererkennst. Es gibt ein Gift, das diesen seligen Zustand abtöten und in eine Last und eine Lüge umwandeln kann. Dieses Gift heisst Erwartung. Verliebtheit ist ein reines und unschuldiges Entzücken an der Wahrheit. Erwartung heisst, die lebendige Wahrheit mit Vorstellungen zu bedecken, die aus der Vergangenheit stammen. Denn was kannst du von deinem Geliebten erwarten und fordern als das, was dir – aus eigener oder von anderen dir vermittelter Erfahrung – bereits aus der Vergangenheit bekannt ist? Sagst du zu der geliebten Person: „ Du löst so viel Entzücken in mir aus, ab jetzt sollst du täglich meine Hand halten“, so erstickst du die Begeisterung der Verzückung und verwandelst Liebe in Last und Bürde. Lasse sie frei! Bewundere ihre Schönheit und lasse sie sich in Freiheit entfalten! Brenne in deiner Liebe und halte das Feuer in dir lebendig, anstatt zu versuchen, es zu löschen, indem du vergeblich versuchst, deine Sehnsucht zu befriedigen! Fühle, wie das Feuer dir Kraft und Wärme schenkt, Begeisterung und Entzücken! Gib jeden Versuch auf, es dadurch zu löschen, das du den Geliebten nötigst, deine Sehnsucht zu stillen. Lasse ihn zu dir kommen nach seinen eigenen Gesetzen und seiner eigenen Art, und nähere dich ihm nach deinen Gesetzen und deiner Art. In aller Aufrichtigkeit und Reinheit folge nur dem natürlichen Impuls, der spontan und freudig der Wahrheit des Augenblicks entspringt, und niemals einem Impuls, der aus einer Überlegung, einer Erwartung entsteht! Fühlst du einen Impuls in dir aufsteigen, der nicht spontan der Wahrheit des Augenblicks entspringt, sondern als Folge von Überlegungen und Erwartungen, so zügle dich; folge ihm nicht. Wende dich stattdessen für einen Augenblick mit aller Liebe uns Aufmerksamkeit dir selber zu und werde dir der Gefühle, die deinen Gedanken und Erwartungen zu Grunde liegen, gewahr. Fühle sie

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aufrichtig und aufmerksam und umfange sie mit der Liebe und dem Verstehen deines Herzens. Finde und fühle die Sehnsucht hinter ihnen; nähre die Flamme der Sehnsucht mit deiner Aufmerksamkeit, mit deinem Ja zu ihr, und verwandle sie im Stillen in ein Gebet. Dann bist du wieder frei für die Wahrheit des gegenwärtigen Augenblicks. Sind 2 Menschen ineinander verliebt, ohne ihre Liebe durch gegenseitige Forderungen und Erwartungen zu begrenzen und zu lähmen, so tanzen sie miteinander einen neuen Tanz; einen Tanz, so vollendet wie ein Tanz nur sein kann, einen Tanz, dessen jede Bewegung aus der Mitte ihres Wesens, aus der Wahrheit des Augenblicks, mit anderen Worten, aus den Notwendigkeiten des Lebens und der Liebe selbst entsteht. Das ist das wahre Leben. Das ist wahre Liebe. Das ist wahre Verzückung – zu zweit. Seid ihr bereit, es zu wagen? Dann öffnet euer Herz, befreit euch von eurer Bürde der Erwartungen, wagt es, euch selber und einander frei zu lassen und vertraut der Schönheit und der Harmonie, die allem Leben zu Grunde liegt und die euch nach ihren eigenen geheimnisvollen Gesetzen zusammengebracht hat, die euch in Exstase vereint und in Frieden voneinander löst, wenn es an der Zeit ist, euch zu lösen! Angst vor dieser Lösung? Seid gewiss, dass der Tag kommen wird, da ihr euch lösen müsst; die grosse Loslösung steht euch allen bevor, früher oder später, im Augenblick des Todes. Übt die kleine Loslösung Tag für Tag, und die grosse wird euch leichter fallen. Wovon sollt und müsst ihr euch lösen? Nicht von einander – keine Angst, wahre Liebe verbindet auf ewig -, aber von allem, was nicht euer wahres Wesen ist. Dich zu lösen von der Anhaftung an ein Bedürfnis, eine Form, eine Gestalt, eine Person – ja letztlich sogar an die eigene Person -, das ist es, was gemeint ist. Niemals aber wirst du dich lösen müssen von dir selber – von dem, was du in deinem Kern bist, deinem wahren Wesen. Dieses ist ewig und enthält in sich auf ewig alles, mit dem du in Liebe verbunden bist. Dein ewiges Erbe bist du selbst, und es ist die Liebe, die dich

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durch alle Zeiten hindurch wachsen lässt, sodass der Kreis dessen, was du mit deiner Liebe umschliesst und als dich selber erkennst, immer grösser wird. Das ist die Reise deines Lebens. Sei gesegnet bei jedem neuen Schritt und an jedem neuen Tag.

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IX

Unerwiderte Liebe

Was dahinter steckt und wie man unnötigesLeid vermeiden kann. Wie man Ungleichge-wicht ausgleichen kann in einer Beziehung,

in der einer der Partner mehr und derandere weniger liebt.

Unerwiderte Liebe – jene Art von Emotion, die einen Menschen veranlassen kann, sich umzubringen, weil ein bestimmter anderer Mensch ihn nicht liebt – entsteht aus Projektion. Es ist nicht die Liebe, die diese Art von Schmerz verursacht; es ist die Projektion. Ihr projiziert verschiedene Aspekte, Erinnerungen und Sehnsüchte auf diesen bestimmten Menschen, und anstatt ihn selbst zu lieben, liebt ihr das Trugbild, das ihr auf ihn projiziert habt. Die häufigsten Projektionen:

der eigene Vater wird auf den Mann, die Mutter auf die Frau projiziert;

die Frau sieht in ihrem Geliebten den Bruder, den sie verloren hat oder den sie nie gehabt hat, sich aber sehnlichst gewünscht hat, der Mann in der Frau die ersehnte oder verlorene Schwester.

Die Frau sieht in ihrem Geliebten ein kleines Kind, das sie verzärteln kann und dessen Abhängigkeit von ihr angenehme

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Gefühle von Zärtlichkeit und Wärme in ihr weckt; das Gleiche kann umgekehrt auch einem Mann passieren, der in seiner Geliebten ein entzückendes kleines Mädchen sieht, das er beschützen darf;

der oder die ideale Geliebte wird auf den Anderen projiziert;

das eigene höhere Selbst wird auf den Angebeteten oder die Angebetete projiziert;

der verlorengegangene Seelenzwilling wird projiziert;

Animus oder Anima werden projiziert; das heisst, die Frau projiziert auf den Mann, den sie liebt, ihren „inneren Mann“ ( den männlichen Teil ihrer selbst, den sie nicht manifestiert, damit sie in dieser Welt als Frau in Erscheinung treten kann); und umgekehrt, der Mann projiziert auf die Frau seine „“innere Frau“, den unterdrückten beziehungsweise nicht gelebten weiblichen Teil seiner selbst;

ein Mensch, den man früher kannte und den man sehr liebte, wird auf die geliebte Person projiziert.

gewisse archetypische Traumbilder, wie sie in den Rollen grosser Film-oder Romanhelden verkörpert werden, werden auf den geliebten Menschen projiziert.

sogar die tatsächliche Schau des wahren Wesens des Geliebten kann zur Projektion werden, dann nämlich, wenn der Verliebte so sehr geblendet ist von der Schau der Schönheit des wahren Wesens der angebeteten Person und so süchtig ist nach dieser Schönheit, das er oder sie die Realität der Persönlichkeit nicht mehr wahrnimmt. Anstatt die aktuelle Persönlichkeit wahrzunehmen, sieht er das Potenzial und weigert sich, anzuerkennen, dass grosse Teile des Potenzials in der Persönlichkeit nicht manifestiert, also auf der persönlichen Ebene nicht vorhanden sind.

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Das, was süchtig macht, das, was dieses verzehrende Unglück der „ unerwiderten Liebe“ auslöst, die manche Menschen zum Selbstmord treibt, ist, wir wiederholen es, Nicht die Liebe, sondern die Projektion: Die Sucht nach der Begegnung mit bestimmten Aspekten der Realität , die man, um ihnen begegnen zu können, auf den Menschen projiziert, in den man sich verliebt ( damit diese Aspekte der Realität nicht nur vage geistige Visionen sind, sondern Realitäten in Fleisch und Blut ). Wenn du an „unerwiderter Liebe“ leidest, dann ist das Beste, was du dir selbst und dem Anderen zuliebe tun kannst, herauszufinden, wen oder was du auf den Geliebten oder die Geliebte projiziert hast. Du kannst diese Projektion nutzen, um dich den Gefühlen zu widmen, die sie in dir auslöst ( denn ihr projiziert um der Gefühle willen, die die Begegnung mit eurem Trugbild in euch erzeugt ). Erhalte also die Projektion aufrecht, und fühle bewusst und aufmerksam die Emotionen, die sie in dir auslöst. Fühle sie durch und durch, auch körperlich, bis du ihnen auf den Grund gegangen bist ( nicht indem du analysierst, sondern indem du spürst ); und das zu Grunde liegende Gefühl – beispielsweise die Sehnsucht nach der Mutter, dem Vater, dem Bruder, der Schwester, dem idealen Geliebten, der Gefährtin oder wem auch immer – schliesse ins Herz, indem du ihm Verständnis und Erbarmen entgegenbringst und es als Teil deiner selbst anerkennst. Das ist die Art, wie du deinen Geliebten oder deine Geliebte von der Projektion befreien kannst und dich selber vom Leiden an unerwiderten Gefühlen. Auch über die Projektion hinaus kann es immer noch geschehen, das du grosse Liebe und starkes Hingezogen-Sein zu einer Person empfindest, die diese Gefühle nicht erwidert; jedoch wird diese Liebe und dieses Hingezogen-Sein, wenn die Projektion entfernt oder zumindest entkräftet ist, nicht mehr jenes tiefe Leid verursachen, das dir deine Freiheit und deine Freude raubt. Du wirst dann diese Liebe und dieses Hingezogen-Sein einfach fühlen und anerkennen, ja du wirst sogar, wenn du beides ganz fühlst und annimmst, Kraft, Freude, Inspiration und neue Liebe daraus schöpfen können. Zur psychologisch bedingten Projektion gesellen sich weitere Faktoren. Ihr dürft nicht vergessen, dass jedes Individuum letztlich selber sein Schicksal in schöpferischer Weise gestaltet. Möglicherweise

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gehört das Erleben einer tragischen „grossen Liebe“ mit allen Konsequenzen zum Drehbuch deines Schicksals dazu – aus welchen Gründen auch immer deine Seele diese Erfahrung gewählt hat. Neben der gänzlich unerwiderten Liebe gibt es Fälle, wo die Liebe zwar auf Gegenseitigkeit beruht, aber es den einen Partner mehr „erwischt“ hat als den anderen. Hier gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie dieses Ungleichgewicht zustande kommt und ausbalanciert werden kann. Beispielsweise kann es vorkommen, das Partner B in Partner A nicht die reale Persönlichkeit sieht, sondern seine Vision von A's wahrem Selbst, und dass A sich dadurch überfordert fühlt. Er fühlt sich nicht geliebt als der Mensch der er ist, sondern als das Idealbild seiner selbst. Er erwidert durchaus die Liebe, die ihm entgegengebracht wird, muss sich aber der Projektion entziehen, von der er sich überfordert fühlt, und er tut dies, indem er entweder die Beziehung beendet oder sich innerlich von dem Partner abwendet oder zurückzieht. In anderen Fällen spielen unerlöste Elemente aus der Vergangenheit eine Rolle. Die Liebe wird erwidert, ist potenziell auf beiden Seiten gleich stark, aber während der eine Partner aus seiner persönlichen Geschichte heraus sich nur zögerlich an Bindung heranwagt ( weil er sie als erstickend erlebt hat ), ist der andere aus seiner Geschichte heraus geradezu süchtig nach Bindung ( weil es das ist, was ihm in der Kindheit gefehlt hat ). Dem „bindungssüchtigen“ Partner einer solchen Konstellation raten wir: Werde dir deiner Sucht bewusst. Erlaube dir ( endlich einmal! ), deine Sucht, deine Sehnsucht, dein Bedürfnis nach Bindung, nach Anbindung an einen bestimmten Menschen zu erforschen, zu fühlen und ihm – fühlend und spürend, nicht denkend! - auf den Grund zu gehen. Finde die Angst dahinter und hinter der Angst den Schmerz. Um diesen Schmerz geht es. Wagst du es, ihn zu fühlen und anzunehmen, so erlöst du ihn aus dem Gefängnis der Verdrängung und dich selber aus der Bindungssucht. Dem anderen, dem „bindungsscheuen“ Partner würden wir sagen: Werde dir deiner Angst gewahr! Gestehe dir ein, dass du diese Frau oder diesen Mann zwar liebst, aber Angst hast, dich zu binden; gestehe es dir nicht nur in Gedanken ein – das hast du vermutlich schon -, sondern fühle deine Angst. Lasse sie aufsteigen aus den Zellen deines

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Körpers in dein Bewusstsein; fühle sie durch und durch, bis du ihr auf den Grund gegangen bist; fühle das Beengt-Sein und den Zorn, die Ohnmacht und, ganz auf dem Grund, den Schmerz. Wagst du es, diesen Schmerz zu fühlen und ihn mit Liebe, Erbarmen und Verständnis zu umfangen, dann erlöst du ihn aus dem Gefängnis des Verdrängt- Seins und dich selber aus deinem Ich-will-und-ich-will-nicht-Dilemma. Liebe – die wahre Liebe, die selbstlose Liebe des Herzens – wird immer erwidert, sobald Berührung stattfindet ( also der Andere nicht sein Herz vor ihr verschliesst, weil er nicht fähig ist, Liebe anzunehmen ). Sie enthält kein selbstsüchtiges Element, gegen das sich der Geliebte verteidigen müsste, das ihm die Freiheit raubt oder das ihm aus welchem Grund auch immer unangenehm sein kònnte. Reine Liebe ist ansteckend. Was nicht immer erwidert wird, ist die Emotion, die Liebe genannt wird. Die Emotion „ Liebe „ ist nicht dasselbe wie die Liebe des Herzens. Als Emotion beinhaltet Liebe verschiedenen Aspekte:

Leidenschaft

Verliebtsein

Begehren

Verherrlichung

Überwältigtsein

Aufgewühltsein

Gerührtsein

Zärtlichkeit

Sympathie

Zuneigung63

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und so fort. In jedem dieser Aspekte sehnst du dich danach, Antwort von deinem Geliebten oder deiner Geliebten zu bekommen. Leidenschaft soll mit Leidenschaft, Zärtlichkeit mit Zärtlichkeit beantwortet werden, Sympathie mit Sympathie und so weiter. Das ist die Idealvorstellung der Romantik. Nun: Das Universum funktioniert nicht wie eine Wunschpartner-Agentur; jedenfalls nicht auf diese Weise. Es funktioniert eher wie eine gute Mutter, die dir alles gibt, was du zu deiner Ernährung und zu deinem Wachstum brauchst. Vielleicht ist Leidenschaft derjenige Aspekt, der zu diesem Zeitpunkt deines Lebens in dir entwickelt werden will; und vielleicht ist die beste Art, Leidenschaft in dir zu entwickeln, dir einen Mann oder eine Frau vorzusetzen, der oder die die grösste Leidenschaft in dir weckt, ohne sie aber zu erwidern oder ohne sie im selben Ausmass zu erwidern. Vielleicht ist das der Ansporn, den deine Leidenschaft braucht, um sich zu ihrer vollen Grösse entwickeln zu können. Natürlich kannst du, wenn du in einer solchen Lage bist, Entmutigung oder Verbitterung entwickeln. Wenn du jedoch ein Mensch bist, der auf dem Weg der Liebe, des Lichts, der Wahrheit wandelt, der, obzwar nicht wissend, was das Schicksal mit ihm vorhat, ihm dennoch blind vertraut – mit anderen Worten, wenn du ein spiritueller Mensch bist, dann wirst du deine Leidenschaft ehren und achten und annehmen und dafür danken , dass es etwas gibt, das Leidenschaft in dir weckt. Du wirst Leidenschaft in dir als Zug deines eigenen Wesens entdecken, fördern und anerkennen und dem Geliebten dafür danken, dass er sie in dir geweckt hat. Erwidert er sie nicht, so wirst du dir nicht erlauben, das Feuer der Leidenschaft von der Enttäuschung ersticken zu lassen; sondern du wirst die Enttäuschung ebenso ehren und achten, fühlen und annehmen wie die Leidenschaft. In deinem Herzen haben beide Platz – die Leidenschaft und die Enttäuschung, die Liebe und der Schmerz. Vergesst nie, dass es in diesem Leben nicht um die Ziele geht, die ihr euch setzt; nicht um eure Erfolge oder Misserfolge; nicht um eure Happy-Ends; nicht um die Sicherheit eurer festen Beziehungen; nicht um all das, worum ihr euch so sehr bemüht – noch nicht einmal um das Glùck; sondern es geht um euch selbst. Dieses Leben ist ein

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Experimentierfeld, indem ihr euch selbst kennen lernen, eure Fähigkeiten erproben, eure Qualitäten entwickeln und zur Erkenntnis gelangen könnt; es ist ein Fest, auf dem ihr euer Dasein feiern könnt; aber nichts von dem, das ihr für real haltet, ist real – jedenfalls nicht im bleibenden Sinne. All eure Errungenschaften, ob es eine glückliche Beziehung ist oder ein beruflicher Erfolg, ein grosses Vermögen, ein schönes Haus, eine solide Familie oder das Abenteuer einer grossen Liebe – all eure Errungenschaften sind vergänglich. Es geht nicht um die Errungenschaften. Es geht um das, was der Kampf um sie in euch weckt. Wenn ihr bereit seid, für irgendetwas in dieser Welt – sei es eine grosse Liebe, sei es ein Mann oder eine Frau, ein Kind, sei es eine Karriere, sei es ein Vermögen oder eine Weltreise – das Beste zu geben, ja euer Leben zu geben, dann macht ihr eben dadurch das Beste aus euch selber, das ihr aus euch machen könnt. Darum geht es. Alles andere ist mehr als vergänglich – es ist flüchtig. All eure Beziehungen sind vergänglich, sind flüchtige Erscheinungen, auch wenn sie fünfzig Jahre währen ( was sind fünfzig Jahre in der Unendlichkeit? ); das einzige an der Beziehung, das ewig bleibt, ist ihre Schönheit. Und die Schönheit besteht in der Liebe, die ihr einander entgegenbringt; in eurer Bereitschaft, euch immer wieder der Liebe zu öffnen, sei sie „erwidert“ oder unerwidert. Liebe ist ewig; Beziehung vergänglich. Für manche von euch ist das eine bittere Pille; manche kommen gar nicht darüber hinweg, dass sie sich von einem Menschen, den sie lieben, trennen mussten. Wir sehen diesen Schmerz und erkennen ihn an; aber wir sehen auch, dass sowohl der Schmerz als auch die „Beziehung“ Bestandteile eines Theaterstücks sind, eines Dramas, einer Komödie oder einer Tragödie, die ihr miteinander aufführt. Das, was du als deinen Geliebten bezeichnest, ist letztlich nur ein Kostüm, das der wahre Geliebte sich angezogen hat, um dich zu bezaubern; das, was du als „ ich“ ansiehst, ist letztlich nur ein Kostüm, das dein wahres Selbst angezogen hat, um eben dieses Theaterstück oder diesen Traum, die du als dein Leben bezeichnest, in dieser einzigartigen Weise erleben zu können; und beide, dein wahres Selbst und der wahre Geliebte, sind eins. Wenn zu zu dieser Erkenntnis tatsächlich gelangen willst, wenn du von ihr so sehr durchdrungen sein willst, dass sie dir in Fleisch und Blut

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übergeht, dann musst du dich buchstäblich zu ihr hindurchlieben. Du findest nicht zu dieser Erkenntnis, indem du den Weg des Asketen beschreitest und dich in eine Höhle zurückziehst; das kann eine Zeit lang, vielleicht auch mal eine Lebensspanne lang, ein Weg sein, dich von Illusionen zu lösen; aber die wahre Realisation dieser Erkenntnis erreichst du nur inmitten der Illusion. Indem du das Leben lebst, die Liebe fühlst und annimmst wie den Schmerz, die Leidenschaft wie die Bitterkeit, die Zärtlichkeit wie die Grausamkeit, die Sehnsucht wie den Überdruss, die Freundschaft wie das Begehren,; indem du das alles fühlst in all seinen Dimensionen und in und hinter diesem Fühlen das Leben selbst, die Fülle des ganzen Lebens, den Ozean der Glückseligkeit, entdeckst.

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X

Glück

Über Glück und Unglück in der Liebe.Wie wir vereiteln, dass das Glück uns findet,

und wie wir dafür sorgen können, dasses uns finden kann. Über den Ozean der

Glückseligkeit.

Glück ist der unbekannte Faktor im Leben des Menschen. Den einen trifft es, den anderen trifft es nicht; der Eine sucht ständig nach dem Glück, dem Anderen läuft es hinterher. „ Glück in der Liebe „ bedeutet, den Menschen zu treffen, mit dem man eine glückliche Paarbeziehung führen kann, und von ihm nie wieder verlassen zu werden. Das ist eine Vorstellung, von der viele Menschen besessen sind. Viele sind neidisch auf das Glück anderer, wenn sie grade keinen Partner haben oder wenn sie zwar einen Partner haben, mit diesem aber nicht glücklich sind. Manche sind davon überzeugt, dass dieses Glück nur etwas für die anderen ist, und haben jede Hoffnung aufgegeben, es je zu finden. Fast jeder, der sich verliebt und dessen Gefühle vom Objekt seiner Verliebtheit erwidert werden, hält sich für einen Glückspilz; fast jeder, der in einen Menschen verliebt ist, der seine Gefühle nicht erwidert, für einen Unglücksraben. Aus der Perspektive aller wahrhaft Liebenden besteht Glück darin, überhaupt lieben zu dürfen – ganz gleich, ob diese Liebe erwidert wird oder nicht. Worauf beruht dieser Unterschied in der Auffassung von Glück? Die

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einen meinen, das Glück bestünde darin, geliebt zu werden; die anderen meinen, das Glück bestünde darin, zu lieben. Und wieder andere sind der Auffassung, Glück bestünde darin, das Erleben von Liebe mit einem Menschen zu teilen – also zu lieben und geliebt zu werden.Aus höherer Perspektive betrachtet, gibt es kein Glück. Der Mensch beschliesst selber, was für ihn Glück und was für ihn Unglück bedeutet. Für den einen besteht das höchste Glück darin, sich mit dem Menschen, den er liebt, ein Heim einzurichten und darin für alle Zeiten gemeinsam zu leben; für den anderen ist diese Vorstellung ein Alptraum. Der eine ist glücklich, wenn sein Mann oder seine Frau friedlich lesend im Bett neben ihm liegt; der andere ist aus dem selben Grunde unglücklich, denn zu seiner Vorstellung von Glück gehört es, zusammen im Bett zu liegen, um einander leidenschaftlich zu umarmen, und friedliches Nebeneinander-Lesen entspricht unserer Vorstellung einer unglücklichen Ehe. Was ist Glück? Heute triffst du einen Menschen, der dich in Entzücken versetzt, und sagst: „ Welch ein Glück ich habe! „ Morgen hältst du den Tag eurer ersten Begegnung für den Tag, an dem das Unglück über dich hereinbrach. Heute bist du zutiefst unglücklich, weil dein Liebster oder deine Liebste dich verlassen hat; morgen hältst du gerade dies für einen Glücksfall, weil du etwas Neues entdeckst, das dich glücklich macht – eine neue Beziehung, eine neue Lebensweise, etwas, das nicht möglich gewesen wäre, wäre der alte Partner bei dir geblieben. Was ist Glück? „ Glück „ ist eine Art, Dinge zu beurteilen und infolge dieser Beurteilung vorübergehend Gefühle von Freude, Zufriedenheit, Erfülltsein zu hegen. „ Unglück „ ist eine andere Art, Dinge zu beurteilen, und infolge dieser Beurteilung vorübergehend Gefühle von Traurigkeit, Ärger oder Zorn zu hegen. Es gibt eine Art von Glücklichsein, die jenseits dieser Beurteilungen und jenseits dieser wechselnden Gefühlszustände liegt; ein Glücklichsein, das ein stetiger Strom, als wogender Ozean erfüllter, wissender, liebender, heiterer Glückseligkeit in euch existiert – vom Standpunkt eurer üblichen Bewusstseins-Einstellung aus latent

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existiert- und gelegentlich eurem Bewusstsein zugänglich wird, so ähnlich wie wenn bei trübem, regnerischem oder stürmischem Wetter für Momente der blaue Himmel zwischen dahinziehenden Wolken sichtbar wird. Der blaue Himmel ist immer da, aber die Wolken verbergen ihn vor euren Augen. Ebenso verbergen die Wolken eurer Emotionen den Ozean der Glückseligkeit vor eurem Bewusstsein. So wie ihr mit dem Flugzeug die Wolkendecke durchqueren müsst, um in die Sphäre ungetrübten Blaus aufzusteigen, so müsst ihr mit dem Transportmittel „ Aufmerksamkeit „ die dicken Schichten eurer Gefühle durchqueren, um in den Zustand ungetrübter Glückseligkeit eintauchen zu können. Ihr findet diese Glückseligkeit nicht, indem ihr eure Emotionen ignoriert, hinweg schiebt, hinweg denkt oder versucht, sie zu überwinden oder zu leugnen; ihr findet sie auf dem Grunde eurer Emotionen – auf dem Grunde jedweder Emotion. Die Emotion erhebt sich wie eine Welle aus diesem Ozean und sinkt wieder in ihn zurück; um dieses Zurücksinken in den Ozean der Glückseligkeit erleben zu können, müsst ihr eins sein mit der Emotion, mit ihr auftauchen und mit ihr zurücksinken. Das bedeutet, dass ihr die Emotion, wenn sie auftaucht, vollständig fühlen müsst, bis zu ihrem Wieder-Eintauchen in das Meer, aus dem sie sich erhoben hat. ( Note 7: Siehe auch: S. Nidiaye, Das Tao des Herzens Ariston Verlag, München 2000 ) Dieser Zustand der Glückseligkeit ist das, was die Menschen suchen, die sich gern und heftig verlieben und in der gegenseitigen Verliebtheit den Gipfel des Glücks betrachten. Sie sind bereit den höchsten Preis dafür zu bezahlen; den grausamen Absturz von ihrem hohen Gipfel zu riskieren; ja sogar ihr Leben zu zerstören – bis hin zum Selbstmord -, um Momente dieser Glückseligkeit zu erleben; ja tatsächlich ist es nicht nur so, dass sie für dieses Glück den Schmerz als Preis bezahlen, sondern der Abgrund des Schmerzes gehört zu dem Glück, das sie erstreben, ebenso dazu wie die schwindelerregende Höhe der gegenseitigen Verliebtheit. Und tatsächlich kommt diese grosse Gefühlsspanne zwischen Freude und Schmerz dem Erleben der allem zu Grunde liegenden, ursprünglichen, ewigen und eigentlich natürlichen Glückseligkeit sehr nahe. Denn im Ozean der Glückseligkeit sind alle Emotionen enthalten: im Keim sozusagen, als Potenzial, als Möglichkeiten – vor ihrem

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Auftauchen als einzelne Emotion – und als Essenz – nach ihrem Wieder-Herab-Sinken in den Ozean der Glückseligkeit. Der Unterschied besteht nur darin, dass das persönliche Glück und Unglück, das mit dem Rausch der gegenseitigen Verliebtheit und dem Ende derselben verbunden ist, ein vorübergehender Gemütszustand ist, der aus der Tatsache des Getrenntseins entsteht, während der Ozean der Glückseligkeit eine über persönliche Seins-Sphäre ist, in der die Einheit alen Seins und Fühlens beschlossen ist. Gehörst du zu den Menschen, die sich leidenschaftlich gern verlieben und bereit sind, jeden Preis für das Glück gegenseitiger Verliebtheit zu bezahlen, so ist gerade jene Neigung tatsächlich der Schlüssel, der dir Zugang zur echten Glückseligkeit verschaffen kann. Erlebst du alle Gefühle, die mit deiner Romanze einhergehen, vollständig, und nimmst sie vollständig an – den Rausch der Verliebtheit, das Gefühl der Verherrlichung, des Ausgeliefertseins, des Entzückens, der Sehnsucht, der Begegnung, der Erschütterung, des Beglücktseins, der Bangigkeit, der Angst, der Enttäuschung, des Schmerzes - , so hebst du dich als Welle von Emotionen aus dem Ozean der Glückseligkeit und sinkst in ihn zurück, ohne dich in einem der einzelnen Gefühle zu verlieren und in ihm gefangen zu bleiben. Dieses Gefangen-Bleiben in einem Gefühl entsteht dadurch, das du, anstatt sich mit der Welle zu bewegen, versuchst, an einem Gefühl festzuhalten, es gleichsam in dir erstarren zu lassen- aus Angst, es zu verlieren, wenn es ein schönes Gefühl ist, oder aus Angst, von ihm vernichtet zu werden, wenn es ein schlimmes Gefühl ist. Hast du einmal das Gefühl wahrer Glückseligkeit entdeckt, das dir innewohnt – das nicht von einem anderen erzeugt werden muss, sondern immer in dir vorhanden ist -, so kannst du lernen, es gleichsam als Grundmelodie unter den ständig wechselnden Emotionen deines Gemüts wahrzunehmen; unter der Angst ebenso wie unter der Freude, unter der Sorge ebenso wie unter dem Zorn, unter der Traurigkeit oder dem Glück der Verliebtheit. Diese grundlegende Gefühl von Glückseligkeit kann wie ein Magnet auf das sogenannte Glück wirken. Breitet sich sich seine Schwingung in deinem Wesen aus, so ziehst du mit Leichtigkeit die Elemente an, die du zu deiner Versorgung, zur Erfüllung deiner grundlegenden

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Bedürfnisse und zu deinem Wachstum und deiner Entfaltung brauchst, einschliesslich des richtigen Partners. Die Suche nach dem Glück hingegen kann dich daran hindern, dir der latent in dir vorhandenen Glückseligkeit bewusst zu werden; auf diese Weise schwingt diese Glückseligkeit nicht bis in dein persönliches Bewusstsein herüber, sondern bleibt vom Standpunkt des persönlichen Bewusstseins aus gesehen im Schlummerzustand. Die selige, erfüllende, reiche Grundschwingung, die „ Glück“ anzieht wie ein Magnet, fehlt in der Ausstrahlung deiner Persönlichkeit, und je mehr du ihres Fehlens gewahr wirst, desto mehr suchst du nach Glücks-Auslösern in der äusseren Welt, bis das Schicksal – dein wahrer Glücksgott – dich mit der Nase darauf stösst , das du am falschen Ort suchst. Möglicherweise stösst es dich darauf, indem es dir das beschert, was die Welt einen Unglücksfall nennt; Krankheit, Trennung, Unfall – irgendetwas, was dich zur Einkehr und Besinnung zwingt. So ist das Glück in Wirklichkeit immer mit dir, auch wenn du es nicht merkst. Was nun die Paarbeziehung angeht Wozu denn, wenn nicht um des Glücks willen, sucht der Mensch sich einen Partner, mit dem er eine Liebesbeziehung eingeht? Wenn das Glück etwas ist, das man nicht von anderen geschenkt bekommt, sondern nur im eigenen Innern findet, wozu dann überhaupt Beziehung? Suchst du dein Glück in der Beziehung, dann musst du deine Definition von Glück erweitern. Solange Schmerz und Unmut, Zorn und Trauer, Eifersucht und Angst aus deiner Idee vom Glück ausgeschlossen sind, wirst du mit Sicherheit früher oder später auf deiner Suche nach Glück von deinem Partner und von eurer Beziehung enttäuscht werden. Es gibt allerdings Menschen, die darauf verfallen, all diese negativen Gefühle einfach aus ihrer Beziehung auszuklammern, indem sie so tun, als gäbe es sie nicht, und sich und anderen „ glückliche Liebe“ vorspielen; aber jeder kann sehen, das sie nicht glücklich dabei sind. Wie kannst du also das Glück in der Beziehung finden? Gehe niemals eine Beziehung um des Glücks willen ein, das du darin suchst. Es gibt nur einen einzigen wahrhaft Glück bringenden Grund,

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eine Beziehung einzugehen: um der Liebe willen. Ist es die Liebe, die dich an die Seite eines bestimmten Menschen ruft, und bist du der Liebe bedingungslos ergeben, weil sie dein höchstes Ideal ist, dein einziger Gott und Lehrmeister – dann folgst du ihr freudig und fragst nicht danach, ob sie dir Glück oder Unglück beschert im üblichen Sinne. Die Liebe hat ihre Weisheit, die grösser ist als die Weisheit der Vernunft, grösser als die Weisheit der Welt und grösser als alle Weisheiten, die je in Büchern aufgeschrieben worden sind und werden. Sie ist die einzige Macht, die einzige Instanz, der du dich getrost überlassen kannst. Liebe allein führt dich zur richtigen Zeit an den richtigen Ort; Liebe gibt dir die richtige Handlungen, die richtigen Worte im richtigen Moment ein; Liebe gibt dir den Mut, wahrhaftig zu sein, klug zu sein,schweigsam zu sein oder zu sprechen. Liebe macht dich, wenn du dich ihr ergibst, zu einem Instrument der Erweckung, der Heilung, der Erleuchtung, der Stärkung, der Tröstung, der Unterstützung für den Menschen, in dessen Arme sie dich treibt – ebenso wie er es für dich wird. Gehst du eine Beziehung um der Liebe willen ein und bleibst der Liebe treu, dann ist Liebe immer bei dir, immer mit dir, immer um dich, sie führt dich und erfüllt dich und beschützt dich auf allen Wegen, und du fragst nicht mehr nach Glück oder Unglück, denn kein Glück ist grösser als das Glück, „ in Liebe“ zu sein. Bleibst du der Liebe immer noch treu, wenn dein Partner Seiten offenbart, die dir nicht gefallen? Wenn du dich über ihn ärgerst? Wenn du ihn einmal langweilig findest? Oder hässlich? Oder schwach? Der Liebe treu zu bleiben, bedeutet nicht, an der Form der Beziehung festzuhalten; sondern immer bereit zu sein, dein Herz zu öffnen: allem, was du selber fühlst und bist und allem, was dein Partner fühlt und ist. Du kannst „ in Liebe“ bleiben, auch wenn diese „ Liebesbeziehung“ sich auflöst; sogar in Zeiten des Streits oder der Langeweile. Wenn deine Treue zur Liebe durch nichts erschüttert werden kann, tritt der „ Ozean der Glückseligkeit“ immer stärker in dein Bewusstsein, ganz gleich, wie die Umstände sein mögen, und ganz gleich, welche Gefühls-Wolken dein Gemüt durchziehen.

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XI

Täuschung

Wie wir uns über das wahre Wesen unserer Geliebtentäuschen. Die verschiedenen Schichten der

Täuschung. Wie man ihrer gewahr wirdund sie durchschaut.

In deiner üblichen Art, die Menschen wahrzunehmen, die du liebst, erliegst du verschiedenen Schichten von Täuschung. Die erste Schicht ist die Täuschung durch den verzerrenden Filter deiner eigenen Geschichte. Deine Sinne vermitteln dir verschiedene Daten, die du anhand deiner Erfahrungen, der Schlüsse, die andere aus ihren Erfahrungen gezogen und dir vermittelt haben, interpretierst. Das ist die dicke Schicht der Täuschung. Wie kannst du diesen dichten Schleier der Täuschung über das wahre Wesen deiner oder deines Geliebten entfernen? Als erstes, indem du dieser Art verzerrter Wahrnehmung gewahr wirst. Entdecke das Bild, das du über Antlitz und Gestalt des geliebten Menschen mittels Interpretation deiner Wahrnehmung gelegt hast. Ist dein Geliebter beispielsweise ein Mann, der dir im Vergleich zu dir selber, vielleicht auch im Vergleich zu anderen Männern körperlich gross und stark erscheint und einen aufrechten Gang hat, so wirst du möglicherweise daraus ableiten, das er soviel Macht und Majestät besitzt wie ein König oder soviel Autorität wie dein Vater, falls du deinen Vater ebenfalls als gross und stark, aufrecht und langsam in seinen

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Bewegungen wahrgenommen hast. Ist deine Geliebte eine Frau mit runden und üppigen Formen, so wirst du möglicherweise daraus ableiten, dass sie mütterliche Wärme besitzt oder eine leidenschaftliche Geliebte oder ein besonders weibliches Wesen ist oder wie auch immer du diese äusseren Formen interpretierst. Untersuche das Bild, das du von deinem oder deiner Geliebten hast, auf diese Weise in allen Einzelheiten und werde dir aller Interpretationen deiner Wahrnehmung seiner oder ihrer Gestalt und Persönlichkeit gewahr. Mache dir bewusst, das alle Eigenschaften, die du aufgrund der Interpretation deiner Wahrnehmung in dieser Person siehst, nicht zu ihrem Wesen gehören, sondern zu deiner Interpretation, deiner Wahrnehmung ihrer Erscheinung. Auf diese Weise löst du dich vo deiner Interpretation. Sie wird immer noch ihren Platz in deinem denken und Fühlen beanspruchen, aber du wirst mit der Zeit immer schneller bemerken, wenn sie sich vor deine Wahrnehmung der Realität schiebt, sodass du sie weniger ernst nehmen wirst. Die zweite Schicht der Täuschung ist die Maske, mit der dein Geliebter sein wahres Wesen tarnt. Möglicherweise fühlt er sich weich, verletzlich und unsicher und verbirgt dies hinter einer Haltung von Stärke und Unnahbarkeit; oder er fühlt sich ausser Stande, einem anderen Menschen Wärme und Mitgefühl entgegenzubringen ( da er beides in sich selber entbehrt ) und tarnt diesen Mangel mit der Haltung und Ausstrahlung von Interesse und Freundlichkeit. So dicht kann diese Maske sein, dass nicht einmal der beste Freund dieses Menschen sie durchschaut; wie viele Menschen sind überrascht, wenn sie in Augenblicken, da der Freund von einer Krise erschüttert wird, plötzlich Einblick in die wahren Gefühle hinter seiner Maske bekommen! Diese Maske ist es, was das Ego genannt wird, das falsche Ich. Allerdings enthält sie nicht nur Falsches und Unwahres; immer liegt auch etwas Wahres in den Elementen, aus denen sie zusammengesetzt ist. Denn wenn du deine Weichheit und Verletzlichkeit hinter einer Maske aus Härte und Stärke verbirgst, so muss doch tatsächlich auch ein wenig wahre Härte und Stärke in dir vorhanden sein, sonst könntest du diese Haltung nicht einnehmen und beibehalten.

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Worauf richtet sich deine Liebe, wenn du liebst? Gefällt dir die Maske, das Bild, das der geliebte Mensch dir von sich entgegenhält in der Hoffnung, von dir geachtet, geliebt und nicht verletzt zu werden? Verlierst du deine Liebe, wenn diese Maske fällt und hinter dem grossen, starken, beherrschten Mann der ängstliche, unsichere und verletzliche Mensch zutage tritt? Wirst du diesen ebenso lieben und ehren wie den grossen starken Meister, den du in ihm sahst und der dich so stark angezogen hat? Bejahe diese Frage nicht zu vorschnell; wenn du sehr verliebt bist, wirst du dazu neigen, zu sagen: „ Aber selbstverständlich werde ich ihn dann noch lieben!“ Prüfe dein Herz, bevor du diese Frage leichtfertig beantwortest. Und du, verliebter Mann: Wenn die Frau, die du aufgrund ihrer üppigen Formen, ihreres weichen und kraftvollen, Sinnlichkeit versprechenden Körpers verehrst, sich in Momenten der Wahrheit als Mensch entpuppt, der zutiefst verletzt ist in seiner Sexualität, unfähig, sich hinzugeben, ängstlich und prüde oder unbeweglich und im innersten starr vor Angst – oder wenn die Frau, von der du dir mütterliche Wärme versprachst, sich plötzlich als hilfloses und anhängliches kleines Mädchen offenbart, das, weit davon entfernt, dich zu beschützen und zu umsorgen, selber beschützt und umsorgt werden will, was tust du dann? Bist du bereit, die Person hinter der Maske zu lieben, die vielleicht gerade das Gegenteil ist von dem Wesen, das die Maske darstellt? Bist Du bereit? Dann öffnest du dich einer tiefen Schicht der Realität des Wesens, mit dem du eine Paarbeziehung eingegangen bist. Aber gib Acht: auch diese Schicht ist noch Täuschung. Hast du den Schleier deiner eigenen Projektion entfernt, hat das geliebte Wesen seine Maske - sein Ego – vor dir fallen gelassen und steht nun vermeintlich nackt vor dir, so ist auch diese Blösse immer noch Tarnung seines wahren Wesens. Der Mann, der sich äusserlich mit Stärke und Unnahbarkeit tarnt, fühlt sich, um bei unserem Beispiel zu bleiben, innerlich weich und verletzlich, vielleicht sogar ängstlich und unsicher. Dies mag seine zeitliche psychologische Wahrheit sein, eine in seiner Psyche existierende Realität, aber es ist nicht sein wahres Wesen. Es ist seine

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eigene Täuschung in Bezug auf sein wahres Wesen, abgeleitet aus der Interpretation vergangener Erfahrungen. Die Psyche des Menschen ist eine Anhäufung unerlöster Elemente aus der Vergangenheit. Sie stellen eine Realität dar, die dem Denken und Fühlen des Menschen zu Grunde liegt und beides in jeder Hinsicht beherrscht und prägt; aber es ist die letzte grosse Täuschung und von allen Schleiern der am Schwierigsten zu entfernende. Nur Liebe kann diesen letzten Schleier entfernen, Selbst-Liebe, die sich der unerlösten Gefühle erbarmt und sie in ihre verstehenden Arme nimmt, so wie man kleine Kinder in die Arme nimmt, die sich vor Gespenstern fürchten. Denn niemand ist in Wahrheit verletzlich oder hilflos, klein oder unfähig oder wie auch immer sich der unerlöste psychische Teil des Menschen fühlen mag. All dies sind Arten, sich zu fühlen, die Verständnis, Erbarmen und Mitgefühl verdienen, aber nicht aus der Wahrnehmung der Wahrheit entstanden sind, sondern aus Täuschung und Missverständnis. Der Mensch in seinem Kern ist ein heiliges und heiles, ewiges, ganzes und unverletzliches Wesen, und nichts anderes ist seine wahre Realität. Erst wenn du es wagst, dieser Realität deine Augen und dein Herz zu öffnen, erkennst du das wahre Wesen – dein eigenes und das deines Geliebten. Wagst du es? Dann beginnt das Abenteuer deines Erwachens. Unseren Segen hast du – und die Kraft der Liebe wird mit dir sein.

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XII

Gestalten und das Hinnehmen

Das aktive und das passive Prinzip in derBeziehung. Wann ist es Zeit, aktiv, und wann,

passiv zu sein? Wer soll aktiv und wer sollpassiv sein? Muss Beziehung aktiv gestaltet

oder passiv hingenommen werden?

Aktiv gestalten und passiv annehmen sind zwei Prinzipien, die in einer Liebesbeziehung zusammen gehören und zusammen wirken wie Yin und Yang, Ebbe und Flut. In einer harmonischen Beziehung befinden sie sich in einem einigermassen ausgewogenen Verhältnis zueinander. Ausgewogen in diesem Sinne bedeutet, dass jeder der Partner zu Zeiten aktiv gestaltet und zu Zeiten passiv hinnimmt. Eine Schein-Harmonie kommt zustande, wenn einer der Partner ständig das aktive Gestalten übernimmt und der andere das passive Annehmen – besser Hinnehmen genannt – dessen, was ist. Ebenso wie das Auftreten von Ebbe und Flut in der Natur hat das Aktive und Passive in der Beziehung seine natürliche Ordnung. Diese ist immer dann gestört, wenn einer der Partner oder wenn beide nicht in der Lage sind, eines der zwei Prinzipien in Handlung umzusetzen. Ist beispielsweise die Frau unfähig, die Kommunikation aktiv so zu gestalten, wie es ihren Wünschen und Bedürfnissen entspricht, dann übernimmt der Mann – vordergründig meist scheinbar bereitwillig – diesen Part. Ist er jedoch auf Dauer dazu gezwungen, fühlt er sich, meist ohne es zu merken, überfordert und reagiert mit irgendeiner Form von Ärger, Groll oder Verweigerung; die Frau ihrerseits mit Frustration.

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Wie kann eine auf diese Weise gestörte Harmonie wieder hergestellt werden? Die Frau, in unserem Beispiel, muss ihrer Unfähigkeit gewahr werden, ihre Wünsche und Bedürfnisse in angemessener Weise zu artikulieren – und zu akzeptieren, das dies so ist. Anstatt sich ihre Unfähigkeit anzukreiden oder in ihr zu erstarren und zeitlebens ein Opfer ihrer Frustration zu bleiben, muss sie hier das Prinzip des passiven Annehmens ausüben: mit anderen Worten, sich dazu bekennen und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Immer, wenn der Mann etwas bestimmt, was sie eigentlich anders haben möchte oder jedenfalls lieber selbst bestimmen möchte, kann sie innerlich zu ihm sagen: „ Bestimme du das, ich will es so. Wenn ich zu bestimmen hätte, würde ich es anders machen ( und ausführen, in welcher Weise ), aber ich möchte, dass du bestimmst, und deshalb bin ich mit dem, was du bestimmst, einverstanden.“ Wenn sie das eine Weile bewusst und absichtlich geübt hat, in aller Konsequenz, wir sie sich dessen bewusst werden, was sie wirklich fühlt und wünscht, und mit der Zeit wird sie in der Lage sein, hier und da die Führung zu übernehmen. Der Mann seinerseits, der sich in eine solche Lage gedrängt fühlt, kann sich sagen: „ Ich werde bestimmen, wo es lang geht, ich will es so. Du könntest auch gelegentlich die Führung übernehmen, aber es ist mir doch lieber, wenn ich dir diese Dinge aus der Hand nehme. Ich will es so.“ Auf diese Weise übernimmt auch er die Verantwortung für seinen Anteil am festgefahrenen Muster und wird sich dessen, was er wirklich wünscht und fühlt, gewahr. Nach und nach wird seine innere Wahrheit ans Tageslicht des Bewusstseins kommen und das Muster durchbrechen, sodass er vielleicht in der Lage ist, zu sagen: „ Ich weiss nicht, wo es lang gehen soll. Ich habe auch keine Lust, es zu entscheiden. Übernimm du das.“ Die gleichen Empfehlungen können natürlich sinngemäß auf alle anderen aus der natürlichen Ausgewogenheit gefallenen Konstellationen angewandt werden. Aufgrund der unterschiedlichen körperlichen und psychischen Gegebenheiten bei Männern und Frauen wird der Mann im Allgemeinen eher dazu neigen, das Ruder zu übernehmen, während die Frau im

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Allgemeinen etwas mehr dazu neigen wird, die Dinge so hinzunehmen, wie sie ihr vorgesetzt werden. Ein leichtes Ungleichgewicht dieser Art kann noch im Rahmen einer von erotischer Polarität getragenen, vollkommenen Harmonie liegen – aber nur ein leichtes. Hier geht es übrigens nicht um eine Art demokratischen Prinzips - „ wenn ich der Entscheidungen treffe, denen du dich beugen musst, dann musst du zum Ausgleich auch drei Entscheidungen treffen, denen ich mich beugen muss“ - , sondern es geht darum, die viel subtileren natürlichen Strömungen in der Beziehung zu beachten. Es geht darum, darauf zu achten, wohin der Fluss des Lebens im jeweils gegenwärtigen Augenblick sich bewegen will. Es erfordert ein Eingestimmtsein auf etwas Tieferes als die jeweiligen persönlichen Wünsche und Vorstellungen, auch als auf die gemeinsam definierten Beziehungsziele. Es erfordert ein Eingestimmtsein auf die grundlegenden Strömungen und Ziele des Lebens selbst, die sich in der gegebenen Beziehung manifestieren wollen. Anders ausgedrückt: Es erfordert ein stetiges oder stets erneuertes Eingestimmtsein auf die innere Stimme, diese Ebbe und Flut zu erfassen und zu fühlen, ob es jeweils angemessen ist, zu führen oder sich führen zu lassen, aktiv zu gestalten oder passiv hinzunehmen. Inwieweit ist Beziehung überhaupt etwas, was es aktiv zu gestalten gilt, oder etwas, das man hinnehmen muss, wie es ist? Ist es besser zu sagen: „ Ich wünsche mir eine ruhige beziehungsweise eine aufregende oder zärtliche, erotische oder kameradschaftliche Beziehung“ - oder von all diesen persönlichen Wünschen und Vorstellungen Abstand zu nehmen und die Beziehung so zu akzeptieren, wie sie sich ergibt? Dieser Fragestellung vorweg geschaltet werden muss die viel grundsätzlichere Frage : Wünscht du, das Abenteuer und Risiko einer immer wieder neuen und frischen Beziehung mit der lebendigen Wahrheit des Augenblicks einzugehen – oder dich im Kokon einer aus Vorstellungen, Überzeugungen und Urteilen der Vergangenheit gesponnenen Beziehung vor der immer neuen, herausfordernden Lebendigkeit des gegenwärtigen Augenblicks zu schützen? Mit anderen Worten, was bedeutet „Beziehung“ für dich? Etwas Festes, woran du dich du dich festhalten kannst? Ein Schutzwall gegen die Stürme des

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Lebens? Sicherheit vor Einsamkeit? Oder bedeutet es für dich nur das, was das Wort sagt, nämlich „ in Beziehung zu treten“? Wenn es für dich bedeutet, als lebendiger Mensch mit einem anderen lebendigen Menschen in Beziehung zu treten, dann trittst du ein in das Abenteuer, dich von der Beziehung verwandeln zu lassen. Vielleicht bist du mit dem Wunsch angetreten, diese besondere Beziehung zu etwas besonders Schönem , besonders Wahrem, besonders Haltbarem zu gestalten; vielleicht habt ihr beide einander in diesem Sinne die allerschönsten Versprechungen gegeben; und musstet dann feststellen , dass, mehr als ihr die Beziehung gestaltet, sie jeden von euch gestaltet. Denn Beziehung ist Leben: Leben ist In-Beziehung-Sein und immer wieder neu In-Beziehung-Treten; und das Leben ist es, das dich gestaltet, während du denkst, du gestaltetest dein Leben. Es ist wahr, dass du schöpferisch bist; aber das Leben ist es, das sich in dir als „du“ gestaltet durch das, was du deine schöpferischen Impulse nennst.

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XII

Sexualität

Was die Art, wie man Sexualität lebt,über die eigene Geschichte und Beziehungzum Leben aussagt. Wie man die Sexualitätvon dieser Bürde befreien kann. Was manopfern muss, um zu gegenwärtiger und authentischer Sexualität zu gelangen.

Sexualität reflektiert deine Art, mit dem Leben umzugehen. Wie liebst du das Leben? Liebst du das Leben wie etwas, dem du dich hingeben möchtest? Dann wirst du die Neigung verspüren, dich deiner oder deinem Geliebten hinzugeben. Liebst du das Leben wie etwas, das du meistern, bezwingen, kontrollieren, unterwerfen willst? Dann wirst du die Tendenz haben, ebenso mit deiner oder deinem Geliebten zu verfahren. Liebst du das Leben wie etwas, das dich bezaubert und das von Geheimnissen erfüllt ist, die du ihres mysteriösen Kerns nicht berauben willst? Dann wirst du mit Behutsamkeit oder Ehrfurcht deine Geliebte oder einen Geliebten berühren, zart und sanft. Liebst du das Leben wie etwas, aus dem du möglichst viel Angenehmes oder Aufregendes herausholen willst? Dann wirst du in der sexuellen Begegnung stets irgendein Ziel verfolgen – das Ziel der Befriedigung oder das Ziel des höchstmöglichen Reizes.

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Erscheint die das Leben wie ein stets sich wiederholender Ablauf von eigentlich schon Bekanntem, das manchmal ganz angenehm sein kann? Dann wirst du auf ebenso eine Weise deine Sexualität leben – als eine einigermassen zufrieden stellende, aber im Grossen und Ganzen, da du ja bereits alles kennst, langweilige Angelegenheit. Und so fort. Untersuche deine Art, Sexualität mit deinem Partner zu leben, auf diese Weise, und du wirst herausfinden, auf welche Weise du das Leben liebst und lebst. Betrachtest du das nicht oberflächlich, sondern als tief empfundene Kontemplation, so hast du deine Art, das Leben zu leben, einmal ganz bewusst und aufmerksam erfahren. Versuche nicht, diese Art zu beurteilen oder zu verbessern; sondern erlebe sie in einem Zustand erhöhter Aufmerksamkeit – gleichsam als Kontemplation – konzentriert und wach.

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Wonach suchst du im Leben? Was erregt dich im Leben? Auf welche Weise ergänzt das Leben dein eigenes Sein? Das sind Fragen, die du dir stellen kannst, um zu betrachten, auf welche Weise du mit dem Leben und der Sexualität umgehst.

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Betrachte ferner folgende Fragen: Was würde geschehen, wenn du in der Sexualität auf jegliches Wollen und Wünschen verzichtest und dich nur hingibst? Was würde geschehen, wenn du deine Passivität aufgibst und rückhaltlos aktiv wirst? Was würde geschehen, wenn du deinen eigenen Stil, deine von früheren Erfahrungen geprägte sexuelle Art völlig aufgibst und dich dem Stil deines Partners unterwirfst?

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Was würde geschehen, wenn du es völlig aufgibst, dich anzupassen, und in eurer sexuellen Begegnung deinen eigenen Stil lebst? Was würde geschehen, wenn du mit deinem Partner über eure Sexualität redest? Was würde geschehen, wenn du bittest? Wenn du verlangst? Wenn du tust und gibst, was du wirklich tun und geben möchtest? Wenn du einmal eine sexuelle Begegnung forderst, die nur für dich gedacht und nur nach deinen Bedürfnissen gestaltet ist? Und eine schenkst, die nur nach den Bedürfnissen deines Partners gestaltet ist? Was würde geschehen, wenn du auf Befriedigung verzichtest?

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All diese Fragen sind dazu gedacht, dich an deine Angst heranzuführen. Wenn eine Frage darunter ist, deren Beantwortung Angst in dir weckt, dann setze dich im Geist dem, was dir Angst macht, einmal vollständig aus. Fühle die Angst, spüre sie in deinem Körper und schliesse sie ins Herz, indem du sie anerkennst und verstehst. Auf diese Weise wirst du frei von dem Zwang, den sie auf dich ausübt. Nach der Liebe selbst – der Liebe des Herzens – ist die Sexualität das höchste Gut des Menschen. Denn sie allein ermöglicht die Begegnung zweier Menschen auf allen Ebenen – körperlich, emotional, geistig und seelisch. Diese Begegnung ist an sich schöpferisch, auch wenn kein Kind aus ihr entsteht. Sie ist schöpferisch insofern, als sie den Menschen – jeden der beiden Beteiligten - neu erschaffen kann, sofern sich beide während der sexuellen Begegnung einander vollständig öffnen. Es ist nicht einfach so, das dabei zwei Menschen vermischt werden, wie wenn man blaue und rote Farbe zusammenschüttet und Violett dabei herauskommt; sondern durch die Begegnung der beiden entsteht ein neues Drittes, das mehr ist als die Summe der beiden – genauso wie es bei einem realen Kind aus Fleisch und Blut der Fall ist -, und wenn dieses neue Dritte befruchtet ( = inspiriert ) wird durch den heiligen Geist der Liebe, dann hat es auch

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die Kraft, jeden der beiden Liebenden von Grund auf zu verwandeln. Das ist das grosse Potenzial der Sexualität. In die körperliche Ebene kanalisiert, entsteht daraus die Vater – und Mutterschaft; wenn darauf verzichtet wird, ein Kind zu zeugen, und dennoch die ganze Öffnung auf allen Ebenen in Liebe stattfindet, wird sozusagen ein himmlisches Kind gezeugt, das den beiden Liebenden fortan inspirierende Muse sein wird. Dieses Kind ist eine Realität in den höheren Welten! Nicht wie eine Persönlichkeit auf der irdischen Ebene, die im Werden und Wachsen begriffen ist, sondern wie ein Potenzial, ein stets gegenwärtiges Potenzial, aus dem die beiden Liebenden immer neue, tiefere, schönere Inspiration schöpfen können, sofern sie sich ihrer Liebe auf allen Ebenen immer wieder von neuem öffnen. Was bedeutet es nun, sich im sexuellen Akt einander auf allen Ebenen zu öffnen? Oder anders herum, woran erkennst du, dass du während des Aktes auf irgendeiner Ebene verschlossen bist? Verschlossen bist du überall da, wo du etwas von dir zurückhältst. Was auch immer es ist, das du fühlst und bist in dem Augenblick, da du dich mit deinem oder deiner Geliebten vereinigst: Lasse alles – alles! - teilhaben an der Vereinigung. Das ist die Art, wie du dich ganz öffnest. Das bedeutet nicht nur, all die Liebe zu fühlen, die in dir ist, all die Zärtlichkeit und all das Verlangen, die Wärme, das Feuer, die Leidenschaft – es bedeutet auch, deine Angst zu fühlen, wenn Angst in dir ist, deine Gegenwehr, wenn Gegenwehr in dir ist, dein Zögern, wenn Zögern in dir ist, oder deine Wut, wenn Wut in dir ist, deinen Frieden oder deine Unruhe, deine Sehnsucht und deine Ungeduld, deine Zärtlichkeit und deine Grausamkeit, dein Wollen und dein Nichtwollen: das du alles fühlst und lebst, während du dich mit deinem oder deiner Geliebten vereinigst – das du nichts zurückhältst, nichts ausklammerst, nichts übergehst und nichts zur Seite stellst; das du nackt in das Bett eurer Liebe steigst und nichts bedeckst. Lebe alles, sei alles, was du bist, gleich, ob es in deine Vorstellung von Liebe passt oder nicht – gib dich mit allem, auch mit deinem Widerspruch. Das ist die Art, wie du den Geliebten oder die Geliebte mit offenen Armen empfängst. Das ist die Art, wie ihr die vollkommene Vereinigung erreicht und das „himmlische Kind“ eurer Liebe zeugt.

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Wenn diese Vorstellung eines „himmlischen Kindes“ dir zu fremd, zu esoterisch, zu verrückt erscheint, dann erinnere dich daran, wie inspiriert du warst, als du zuletzt auf diese vollständige Weise geliebt hast und dich geliebt wusstest! Und wenn dir das noch nicht widerfahren ist, dann erinnere dich, wie die Liebe zu einem Menschen die grossen Künstler stets aufs Neue inspiriert hat! Es ist das himmlische Kind ihrer Liebe, der Engel, den sie zeugten mit ihrer oder ihrem Geliebten, der sie inspiriert hat – nicht der oder die Geliebte selbst. Dieses „himmlische Kind“ kann übrigens auch von zwei Menschen gezeugt werden, die einander als Mann oder Frau lieben, ohne sich sexuell zu vereinigen. Bist du dir er einmal der Realität dieses „himmlischen Kindes“ eurer Liebe gewiss, dann werden dich auch Tod und Trennung nicht schrecken, denn dieses Kind ist kein Kind in Raum und Zeit, sondern in der zeitlosen geistigen Welt. Es ebt weiter, stets bereit, euch von neuem zu inspirieren, wenn ihr nach einer Trennung in dieser oder anderen Welten wieder zusammenfindet; es lebt weiter nach eurem Tod, auf ewig Teil von euch – Teil eures höheren geistigen Wesens, der nach Belieben von euch ausgesandt werden kann, um auch andere zu beglücken und zu inspirieren. Wie viele Lieder dieser Welt sind entstanden, weil eines dieser Engelkinder einen Künstler dazu inspiriert hat! Wie viele Gedichte, wie viele Dramen, wie viele Bilder, wie viel Schönes in dieser Welt ist aus der Inspiration dieser von der Liebe geschaffenen Engel hervorgegangen. Ja, Engel werden auch von Menschen, nicht nur von Gott persönlich ohne Zutun des Menschen. Liebe ist es, die Engel erzeugt, und das ist keine kitschige Metapher, sondern eine Realität. Zurück zur Sexualität. Ein Thema von höchstem Interesse, nicht wahr? Das ist natürlich, denn nirgendwo sonst – ausser im Zweikampf – begegnet ihr einander in der Totalität eures Seins, Körper und Psyche eingeschlossen. Nirgendwo sonst gebt ihr euch einem Anderen nackt. Grösste Ehrfurcht ist deshalb angemessen, wenn ihr euch auf das Feld der Sexualität begebt. Das heisst nicht, dass ihr eure Liebesspiele allzu ernst nehmen sollt oder gar für das Wichtigste auf der Welt haltet – aber wenn ihr wach genug seid, um etwas von der Realität hinter eurer

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Begegnung zu erfahren, dann könnt ihr nicht anders als von Ehrfurcht erfüllt sein. Nirgendwo sonst als in der sexuellen Begegnung zwischen Mann und Frau kann das Universum sich selbst als Gegenüber in so vollständiger Form auf allen Ebenen erfahren und von dieser lebendigen Begegnung mit sich selbst als Gegenüber so sehr entzückt, entflammt, berauscht und verwandelt werden. Denn das ist es, was geschieht, wenn ein Mann und eine Frau sich einander in Liebe und Offenheit körperlich hingeben. Das Universum entdeckt sich selbst als Gegenüber in einer multidimensionalen Erfahrung – auf allen Ebenen – und entzückt, berauscht und verwandelt sich an und durch diese Begegnung mit sich selbst. ( Statt „Universum“ könnt ihr auch „Gott“ sagen.) Wie könnt ihr nun diese grossen Inspirationen – für euch vielleicht nur Behauptungen – einsetzen und in eure sexuelle Begegnung einbringen? Das eine wurde euch schon gesagt: Öffnet euch einander. Gebt euch einander mit allem, was ihr im gegenwärtigen Augenblick fühlt und seid, und haltet nichts zurück, weil es eurer Meinung nach nicht zum sexuellen Zusammensein passt. Seid authentisch, anstatt etwas von euch zu verbergen oder zu versuchen, anders zu erscheinen, als ihr seid. Das Zweite: Ladet das Universum ein, an eurer Begegnung teilzuhaben. Es hat ohnedies teil an eurer Begegnung, aber normalerweise seid ihr dessen nicht gewahr; und das bedeutet, dass das Universum nicht bewusst an eurer Begegnung teilhat, sondern nur unbewusst. Denn ihr seid das Bewusstsein des Universums. Das Dritte: Lasst euer sexuelles Handeln aus der Tiefe aufsteigen und nicht von der Oberfläche eurer selbst. Mit anderen Worten, löst euch von vergangenen Erfahrungen; von Routine, von Verhaltensmustern; von Bildern; von Erwartungen; und lasst das, was ihr tut oder nicht tut, aus euren spontanen echten und ersten Impulsen entstehen. Das wird in den meisten Fällen Training erfordern. Erwartet keine Leistung von euch selbst, sondern übt einfach. Es ist im wesentlichen die gleiche Art von Übung wie das Trainieren der Intuition. Wenn du

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deine Intuition trainieren willst, dann musst du unablässig üben, deiner inneren Stimme zu folgen anstatt deinem Verstand und deiner Emotion. Im Feld der Sexualität bedeutet das, unablässig dem Fluss der spontanen Impulse zu folgen, anstatt deinen Gewohnheiten oder von Erwartungen bestimmten, zielgerichteten Handlungen. Wage es, auf Ziel und Ergebnis zu verzichten und ganz und gar der Eingebung des Augenblicks zu folgen – im Leben wie in der Sexualität-, und du wirst immer das Schönste und Beste sein, erleben und geben, was du sein, erleben und geben kannst. Aber verlange niemals Leistung von dir. Nicht Leistung ist verlangt, sondern Hingabe – endlich nichts mehr angestrengt zu versuchen, nichts mehr anzustreben, nichts mehr zu leisten, nichts mehr zu vermeiden – dich nur noch hinzugeben: dem, was der heilige Augenblick der Begegnung von dir verlangt. Als Impuls wird er es dir unmissverständlich sagen, sobald du dich darauf einstimmst und bereit bist, dich hinzugeben.

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XIV

Die hohe Schule der Liebe

Die Kunst, ein Paar zu sein und dennochzwei eigenständige Wesen zu bleiben.

Jedes Wesen ist in jeder Phase seiner Existenz im Wachstum begriffen. Habt ihr euch als Paar wie zwei Hälften zu einem Ganzen formiert, so müsstet ihr schon eine vollkommende Einheit bilden – sozusagen ganz eins erden -, wenn ihr nicht beginnen wolltet, euch als Hälfte des ganzen unwohl zu fühlen, sobald eure Gestalt ( eure psychisch-geistig-energetische Gestalt) sich im Zuge ihres Wachstumsprozesses verändert. Stellt euch das einmal bildlich vor. Stellt euch vor, ihr wäret zwei Halbkugeln, die zusammen eine vollkommende, schöne, runde Kugel bilden. Nun beginnt die eine Hälfte der Kugel ihre Form zu verändern. Die einzige Weise, wie die Kugel heil und ganz bleiben kann, ohne auseinander zu brechen, bestünde darin, dass die andere Hälfte sich in vollkommener Weise der Veränderung der einen anpasst. Das würde bedeuten, dass sie dort, wo die eine Hälfte konkav wird, konvex wird, und umgekehrt. Viele Paare versuchen sich genau so zu verhalten. Aufgrund ihres Gefühls vollkommener Zusammengehörigkeit in bestimmten besonderen Momenten glauben sie, ein Paar zu sein, würde bedeuten, sich in jedem Augenblick ihres gemeinsamen Lebens in solch vollkommener Weise zu ergänzen. Es ist ungefähr so, als versuchte man gemeinsam zu tanzen, zu spielen oder zu wandern, während

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man mit unelastischen Schnüren aneinander gefesselt ist. Es ist sicher eine interessante Übung, diese Art der Fortbewegung zu erlernen; aber wer möchte in Wirklichkeit sein ganzes Leben auf diese Weise verbringen? Viele versuchen es, obwohl sie diese Frage mit Sicherheit verneinen würden, jedenfalls in Momenten, in denen sie bei klarem Verstand sind. Sie versuchen es deshalb, weil sie Angst haben, das die Kugel – diese schöne runde und vollkommene Kugel, die sie als Paar in besonderen Momenten gebildet haben – sonst auseinander bricht. Um zu begreifen, wie ihr als Paar ein vollkommenes Ganzes bilden könnt, ähnlich wie zwei Hälften einer Kugel, und dennoch zwei eigenständige Wesen bleiben, müsst ihr die Art, wie ein harmonisches Ganzes entsteht, auf neue Weise verstehen. Das Bild der zwei Hälften einer Kugel ist der materiellen Wirklichkeit entlehnt, und zwar einer oberflächlichen Sicht der materiellen Wirklichkeit, der Sicht nämlich, die eure Augen euch vermitteln. Könntet ihr mit Hilfe geeigneter Instrumente ( oder einer Umstellung eurer Augen ) tiefer in die materielle Wirklichkeit eindringen, wie beispielsweise Atomphysiker es tun, so würdet ihr die bewegliche, schwingende, vernetzte, eigentlich Materie – leere Grundeigenschaft der Realität erkennen, und aus dieser Sichtweise könntet ihr ein anderes Bild für die Bildung eines gemeinsamen Ganzen aus zwei Bestandteilen ableiten. Bei der Kunst, als Mann und Frau ein Paar zu sein, geht es jedoch im Wesentlichen nicht um die körperliche Ergänzung – die von der Natur ohnehin gegeben ist -, sondern um das Zusammenspiel der Persönlichkeiten, also um die psychische und geistige Realität . Auf der psychischen und geistigen Ebene nun bildet der Mensch kein festes und festumrissenes, vom Rest der Welt abgetrenntes Ganzes, sondern eher so etwas wie ein Schwingungsfeld, das sich mit Stimmungen, Emotionen und Erkenntnissen wandelt. Die Schwingungsfelder von Menschen, die durch Liebe miteinander verbunden sind, durchdringen einander eher – ohne sich dabei zu verlieren -, als das sie einander ergänzen wie zwei Hälften einer Kugel auf der physischen Ebene. Verändert sich die Eigenschwingung des einen Feldes, so schwingt die entsprechende Ebene des anderen Feldes entweder in Resonanz mit, oder es entsteht Dissonanz, ein Gefühl von Gestört- oder

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Abgestossensein. Ist die Fähigkeit eines Partners, seine Eigenschwingung konstant zu halten, stärker ausgeprägt als die des anderen, so wird er diesen dominieren. Der in diesem Sinne schwächere Partner wird sich daran gewöhnen, mit dem stärkeren mitzuschwingen, und seine Eigenart wird von der Art des anderen sozusagen aufgesogen. Eine Zeit lang kann er sich dabei wohl fühlen; es entsteht jedoch eine Verzerrung innerhalb des eigenen Systems: die Seele, das eigentliche Wesen, kann sich mit der Zeit immer weniger auf der geistigen, psychischen, energetischen und schliesslich auch physischen Ebene ausdrücken und sendet Signale des Unbehagens: Zorn, Traurigkeit, Krankheit, Depression oder Sehnsucht nach Veränderung. Wie können nun zwei Menschen ein Paar bilden – ein rundes, vollkommenes Ganzes -, ohne ihre Eigenart aufzugeben? Um das zu verstehen, müsst ihr der feineren Ströme gewahr werden, die euch verbinden. Tatsächlich wird die Verbindungszone – das, was bei den beiden Hälften einer Kugel die beiden Schnittflächen sind, die einander zugewandten Oberflächen der Hälften – durch jene feinen Strömungen gebildet, welche durch die Bewegung entstehen, die sich innerhalb des Energiefeldes enes Partners bilden und ihre Fortsetzung im Energiefeld des Anderen finden, je nachdem wie dieser Andere auf die Impulse reagiert, die von seinem Partner ausgesandt werden. Entwickelt ihr eine feine Aufmerksamkeit für diese Strömungen, so könnt ihr wahrnehmen, wie eure Energiefelder miteinander tanzen, mit anderen Worten, wie ihr miteinander tanzt. Diese Tanz-Bewegung lässt sich nicht mit dem Willen steuern; sie geschieht in und zwischen euch und wird von eurem unwillkürlichen Gedanken, Gefühlen und Stimmungen gesteuert, von der Art, wie ihr innerhalb eurer selbst mit euch selber umgeht und wie ihr, jeder von euch, auf das Leben antwortet. Solange ihr ein ungebrochenes und vollkommenes Ganzes bildet, werdet ihr diese Strömungen als angenehm, harmonisch, beglückend und unterstützend empfinden. Gibt es jedoch Unstimmigkeiten zwischen euch, Stellen, an denen das gemeinsame Ganze auseinander zu driften oder zu brechen droht, werdet ihr die Strömungen, die euch verbinden, entweder als störend, belastend oder anstrengend

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empfinden oder als unterbrochen ( nicht mehr wahrnehmbar ). Wollt ihr das ausgleichen, um wieder zusammenzufinden, so könnt ihr diese Wahrnehmung als Feedback-System benutzen. Geht in euch und stellt fest, wodurch die Störung ausgelöst wurde. Hat euer Partner etwas getan, was euch gekränkt, verletzt, geärgert oder was euch einfach nicht gefallen hat? Habt ihr etwas getan oder gesagt, was ihn verärgert oder verletzt oder ihm nicht gefallen hat? Hat sich in euch unmerklich etwas verändert, sodass ihr eurem Partner nun anders gegenübersteht, und er, vielleicht ohne es zu merken, hat darauf mit Angst, Befremden oder Unmut reagiert? Oder umgekehrt, hat euer Partner sich verändert, und diese Veränderung löst in euch Unbehagen aus? Was immer es ist, findet es heraus. Es ist leicht herauszufinden. Denn ihr wisst es schon. Ihr müsst es nur entscheiden, das, was ihr wisst, auch in euer Bewusstsein zu holen ( anstatt etwas auszublenden, weil es euch Angst macht oder unbequem ist ). Schaut es euch an, ohne es in irgendeiner Weise zu beurteilen, zu beschönigen, zu korrigieren oder sonstwie zu verändern. Schaut es euch einfach an. Beobachtet dabei euren Atem, euren Körper, eure Emotionen; nehmt wahr, was in eurem Energiefeld geschieht, wie ihr euch fühlt. Bereits diese bewusste Wahrnehmung einer zuvor unbewussten Gegebenheit kann dazu führen, dass die energetischen Strömungen, die euch miteinander verbinden, wiederhergestellt werden und sich harmonisieren können. Richtet, wenn ihr wieder mit eurem Partner zusammen seid, eure Aufmerksamkeit auf diese Strömungen. Sie liefern euch Informationen darüber, ob ihr und ob euer Partner die subtile Veränderung, die in euch vorgegangen ist, verarbeitet habt. Fühlt sich der Energiefluss wieder harmonisch an, so könnt ihr das, wenn ihr ihn nicht unmittelbar wahrnehmen könnt, daran erkennen, dass ihr euch in der Gegenwart eures Partners wieder wohlfühlt, dass ihr euch wieder unterstützt und erhoben fühlt, wenn ihr zusammen seid, dass euer Körper sich entspannt und dass eure gemeinsame Stimmung entweder angenehm beschwingt oder angenehm friedlich ist. Fühlt ihr euch immer noch unwohl, so bedarf es möglicherweise

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eines klärenden Gesprächs, einer gemeinsamen Meditation ( falls ihr beide meditiert ) oder einer Zeit des Abstands, um die im Innern des einen und/oder des anderen vorgegangene Veränderung verarbeiten zu können und zu neuem Zusammenklang zu finden. Ganz grundsätzlich besteht die Kunst, ein Paar zu sein und dabei dennoch zwei eigenständige Wesen zu bleiben, darin, in stetigem und engen Kontakt mit der Seele zu sein; mit der tiefen, ganz grundsätzlichen, ganz eigenen Schwingung seiner eigenen Seele. Dies erreichst du durch regelmäßige Meditation, wobei hier die Meditation mehr sein muss als ein reines Gewahrsein dessen, was die körperlichen Sinne dir vermitteln, mehr auch als reine Beobachtung von Gedanken und Gefühlen; mehr auch als ein angenehm leerer Trance-Zustand oder ein euphorisches Herumschweifen in Vorstellungen von Lichtwelten oder dergleichen. Meditation in diesem Sinne bedeutet eine Rückkehr zu dir selber; zum Kern deines eigenen Wesens; ein intimes In-Kontakt-Treten mit deiner eigenen Seele. Die Seele deiner Seele ist Gott; deine Seele jedoch ist der Kern, aus dem deine Individualität hervorgeht wie eine Pflanze aus dem Samen. Diesem Kern ist deine Eigenart sozusagen eingeprägt; die Einzigartigkeit, zu der du dich entfalten sollst und willst als einmaliger und besonderer Ausdruck der Seele des Universums. Bei der Einstimmung auf deine Seele kann dir alles helfen, was dich an deine Seele erinnert; alles, was mit ihr verwandt, was dir zutiefst vertraut ist und dich an dich selber erinnert: bestimmte Musik, Bilder, Landschaften, Wesen, die du als Seelenverwandte empfindest, bestimmte Lieder, Worte, Mantras, Gebete, bestimmte Düfte, Farben, ja sogar Bewegungen und Töne, die du selber erzeugst, wenn du deinen eigenen Tanz tanzst oder dein eigenes Lied singst. Pflegst du diesen Kontakt mit deiner Seele, so sind deine Stimmungen, Gedanken, Gefühle, deine Handlungen, so ist dein ganzes Leben von der eigenen Art deiner Seele durchdrungen. Auf diese Weise schwingt dein ganzes feinstoffliches System in deiner eigenen Melodie und bildet einen mehr oder weniger harmonischen Zweiklang mit der Melodie deines Partners. Pflegst du den intimen Kontakt mit deiner Seele, so regst du ganz automatisch deinen Partner an, dasselbe zu tun.

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Wenn ihr nun in das gemeinsame Feld „ Paar “ eintretet, so erklingt in diesem gemeinsamen Feld in ungebrochener Schönheit die Melodie eines jeden von euch; und die Liebe, die euch verbindet – eure Muse, ihr erinnert euch, das himmlische Kind eurer Liebe – wird euch inspirieren, eure eigene Melodie so zu variieren, dass sie ein harmonisches, kontrastreiches, bald beschwingendes, bald friedvolles Zusammenspiel mit der Melodie eures Partners ergibt. Eure Muse – das „ himmlische Kind “ eirer Liebe . Wird euch zu Zeiten auch ein neues, gemeinsames Lied eingeben; mit anderen Worten, es wird Zeiten geben, da ihr als Paar eine neue, besondere, eigenständige Art entwickelt, einen Stil sozusagen, der weder der Stil des einen noch der des anderen ist, sondern dadurch entsteht, dass ihr beide zusammenkommt. Das sind schöne und besondere Momente, die fast jedes Paar kennt. Jedoch ist es im Interesse der Lebendigkeit, Beweglichkeit, der Entwicklung und auch der Gesundheit des Ganzen und der Einzelnen notwendig, diese Plateaus gemeinsamer Einstimmung, auf denen der besondere Paar-Stil entsteht, auch beizeiten wieder zu verlassen, um sich von einander zu lösen und zur eigenen Art und Einstimmung zu finden. Musikalisch ausgedrückt: Wenn ihe einmal eine schöne Melodie zusammen erfunden habt, müsst ihr nicht fortan immer dieses selbe Lied singen; ihr könnt es ruhig vergessen und darauf vertrauen, dass euch zu gegebener Zeit – wenn jeder aus seiner kreativen Einsamkeit wieder in das Paar-Feld zurückkommt – neue gemeinsame Lieder einfallen werden. Eure Seele ist stets ganz und „ rund “. Sie strebt danach, sich in immer neuer und immer reicherer und vollständiger Weise zu manifestieren ( als ihr, in eurer Persönlichkeit und eurem Leben ), und um dies tun zu können und um diesen Selbst-Ausdruck zu feiern und zu teilen, verbindet sie sich mit anderen Seelen. Niemals aber verbindet sie sich mit einer anderen Seele, um sich in ihr zu verlieren oder zu vergessen oder mit ihr zu einer neuen Einheit zu verschmelzen oder zusammengegossen zu werden . Eure Seele bleibt immer sie selbst, immer frei, immer ganz, immer vollständig. Die Einheit, die ihr sucht, die wahre Einheit, existiert auf einer Ebene jenseits der Individualität; die Seele eurer Seele ist eins. Die Seele

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eurer Seele ist Gott, ist die Seele des Universums. In Gott und nur in Gott, in der Seele des Universums, die die Seele eurer Seele ist, findet ihr die Einheit, die ihr sucht, wenn ihr danach trachtet, mit einem anderen Wesen zu verschmelzen. Hier seid ihr ohnehin eins, immer, ewig, in jedem Augenblick, unauflösbar eins. Als Individuum aber – als individuelle Seele, die ihren Ausdruck in individuellen Persönlichkeiten findet – strebt ihr danach, das Potenzial des Universums in einmaliger, einzigartiger, unverwechselbarer und besonderer Weise zu manifestieren – eben in eurer Weise. Und als Paar – als Zusammenschluss eines weiblichen und eines männlichen Individuums zu einer Einheit – trachtet ihr danach, das Entzücken der Seele des Universums an sich selber als Gegenüber in einzigartiger Weise zu manifestieren. Feiert die Begegnung! Feiert den Tanz! Feiert einander! Und feiert euch selbst. Und teilt euer Fest mit allen, die euch begegnen. Nicht indem ihr ihnen von eurer Liebe vorschwärmt, sondern indem ihr sie lebt und weitertragt und einfliessen lasst in die kleinsten Gesten eures alltäglichen Lebens. Die Zärtlichkeit, die dein Geliebter in dir weckt: lasse sie allen Wesen zugute kommen, die dir begegnen. Die Leidenschaft, die deine Geliebte in dir weckt: lasse sie allen deinen Handlungen und Strebungen zugute kommen. Die Schönheit, die du in dem Menschen siehst, den du liebst: Sieh sie in allen Wesen, die dir begegnen. Die Liebe, von der du in seiner Gegenwart durchdrungen bist: Lasse sie dein ganzes Sein, dein ganzes Leben, all deine Begegnungen, Handlungen und Worte durchdringen. So kann sich die Liebe erfüllen.

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XV

Energetische Vereinbarkeit

Wie man ein Verständnis für die Gegeben-heiten entwickeln kann, die dazu führen,dass ein Mann und eine Frau energetisch

„kompatibel“ sind. Was energetischeKompatibilität für die Beziehung bedeutet

und woran man sie erkennen kann.

Ein Mann und eine Frau können energetisch kompatibel sein oder nicht. „Kompatibilitaet“ in diesem Sinne – ein Begriff, der der Computersprache entlehnt ist- bedeutet, dass die Energiesysteme der beiden Partner so geartet sind, dass sie einander in positiver ( das heisst, entwicklungsfördernder ) Weise beeinflussen können; dass sie einander Informationen und Anregungen übermitteln können, die sowohl dem Wachstum als auch der Eigenart beider Partner dienlich sind – anstatt, wie es bei der sexuellen Vereinigung zweier nicht kompatibler Energiesysteme geschieht, Wachstum und Eigenart der Partner zu hemmen beziehungsweise neutral, also wirkungslos, zu sein. Die Natur – die komplexe Natur des Menschen – hat es so eingerichtet, dass nur solche Menschen sich auf den drei unteren Ebenen – der sexuellen, erotischen und emotionalen – zu einander hingezogen fühlen, die in der tat energetisch kompatibel sind. Nur folgen viele Menschen ihrer Natur nicht, sondern missachten die

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Warnsignale ihres Körpers und ihrer Intuition und begeben sich aus Unachtsamkeit und Gier ( nach sexueller und emotionaler Befriedigung) dennoch in Beziehungen mit Menschen, die energetisch nicht zu ihnen passen. Die Folge davon sind oft Unverträglichkeits-Symptome, die auf der körperlichen oder psychischen Ebene wahrgenommen werden ( da der energetische Zustand von den meisten Menschen nicht unmittelbar wahrgenommen wird ). Das bedeutet beileibe nicht, dass jedes körperliche Symptom oder jedes psychische Unwohlsein, das anlässlich einer Beziehungs-Situation auftaucht, ein Zeichen energetischer Unverträglichkeit ist. Die energetische Unvereinbarkeit ist eher daran zu erkennen, dass es ein beständiges, zwar unterdrücktes, aber doch nicht ganz überhörbares inneres Nein zu der Beziehung gibt, ein stetiges Unbehagen, ein Gefühl, nicht ganz der Wahrheit entsprechend zu leben. Anders herum: Wenn zwei Menschen, die sich in einer Paarbeziehung befinden, energetisch kompatibel sind, dann erkennt man das daran, dass beide einander Wachstums-Impulse geben und nach der Phase des Impuls-Gebens und des anschliessenden Impuls-Verarbeitens zu einem Zustand neuer Harmonie finden. Eine ausgewogene, harmonische Beziehung zweier lebendiger (( das heisst, für Entwicklung offener ), energetisch kompatibler Menschen wird immer diese beiden Phasen aufweisen – genau genommen drei Phasen: Impuls-Geben, Impuls_Verarbeitung, neue Harmonie. Dieser Vorgang geschieht wechselseitig und oftmals zeitversetzt, sodass die Phasen nicht streng getrennt und geordnet wahrgenommen werden, sondern ineinander verwoben und einander wiederum wechselseitig beeinflussend. Der gleiche Prozess läuft ab, wenn das Schicksal in Gestalt von Begegnungen mit Dritten oder sonstigen Ereignissen auf beide Partner einen Wachstums-Impuls ausübt. Jeder der beiden wird das betreffende Ereignis auf seine Weise verarbeiten ( auch wenn einer von beiden oder beide versuchen werden, den Partner so zu beeinflussen, das er auf das Ereignis ebenso reagiert wie sie selbst ); beide werden, wenn sie sich auf das Ereignis einlassen, ein wenig verändert werden; und

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auf dieser neuen Basis entsteht eine neue Harmonie. Solange all dies abläuft, kann man davon ausgehen, das die Partner energetisch vereinbar, also „kompatibel“ sind. Wenn aber die Energiesysteme einander zu fremd sind – also inkompatibel, nicht vereinbar -, dann können sie einander keine wachstumsfördernde Information und Anregung geben ( weil die Impulse vom andern Energiesystem nicht in die eigene Art übertragen werden können ). Es ist so ähnlich als würden ein Chinese und eine Amerikanerin sich miteinander unterhalten, ohne der Sprache des jeweils anderen mächtig zu sein. Es käme nicht viel dabei heraus. Wir können das Beispiel noch ein Stück weiter benutzen. Nehmen wir an, der Chinese und die Amerikanerin heiraten, ohne jemals etwas über Sprache und Eigenart des anderen gelernt zu haben – es gäbe bald einen Wust von Missverständnissen. Weiter ist das Beispiel allerdings nicht heranziehbar, denn energetische Unvereinbarkeit ist in einer Paarbeziehung weitaus gravierender als sprachliches Nichtverstehen. Stell Dir vor, du müsstest dein ganzes Leben mit einer Person verbringen, die nach etwas riecht, das deine Nase verabscheut, und du hast eine ungefähre Vorstellung davon, was energetische Unvereinbarkeit bedeutet. Ein solches Widerstreben sagt nichts aus über den Wert der betreffenden Person; es sagt lediglich, dass du aus Gründen, die nur mit dir selbst zu tun haben, ihre Nähe meiden solltest. Die Natur hat dem Menschen Sinne gegeben, äussere und innere, auf die er sich in dieser Hinsicht verlassen kann. Die Augen, wenn man sie in der üblichen oberflächlichen Art gebraucht, sind noch die trügerischsten davon; verlässlicher im Hinblick auf die energetische Vereinbarkeit ist das Ohr ( wie wirken die Schwingungen der Stimme deines Partners auf dich? Es geht nicht darum, ob du die Stimme schön findest, sondern was sie in dir bewirkt ), die Nase ( könnt ihr einander riechen? ) und der Tastsinn. Als verfälschende Filter können sich allerdings Kindheitserinnerungen dazwischenschieben und Romantik. Kindheitserinnerungen: Vielleicht bist du ein Mensch, der einen grossen Nachholbedarf an Hautkontakt hat, und jedweder Kontakt zu nackter Haut, die dir auch nur einigermassen angenehm ist, versetzt dich in Entzücken. Dann hast du möglicherweise deinen gesunden

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Instinkt für die energetische Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit mit einem Sexualpartner ausser Kraft gesetzt, weil du einfach jeden nimmst, der dich in die Arme schliesst und dir das Gefühl von Wärme, Nähe und Geborgenheit gibt, von dem du als Baby nicht genug bekommen hast. Romantik beziehungsweise Sentimentalität: Vielleicht bist du aufgrund unbewusster Projektionen so sehr von Verliebtheit und Haben-Wollen ergriffen, dass du alles im Glanz dieser Emotion vergoldest und beschönigst und deshalb nicht mehr auf die Signale deines Instinkts achtest. Vielleicht magst du den Geruch deines Partners nicht, redest dir aber ein, dass du ihn so sehr liebst, dass du sogar diesen zugegebenermassen abstossenden Geruch trotzdem gern hast, weil es eben seiner ist. Das ist eine Lüge. Lüge ist niemals Liebe und niemals gesund. Besser, dir ehrlich zu sagen: Ich mag nicht, wie er riecht, aber ich möchte trotzdem mit ihm zusammen sein. Jedes „Ich mag nicht“ kann eine Hinweis auf energetische Unvereinbarkeit sein. Es kann aber auch ein Fingerzeig auf eine psychologische Schwierigkeit sein, die es anzuschauen gilt. Vielleicht denkst du jedes Mal, wenn du deine Freundin Kartoffeln schälen siehst: „ Ich mag nicht, wie sie Kartoffeln schält.“ Das kann ganz einfach darauf zurückzuführen sein, dass deine Mutter die Kartoffeln auf diese Weise geschält hat und dass du einen tiefen Groll gegen deine Mutter hegst. Ebenso gut aber kann die Art, wie deine Freundin die Kartoffeln behandelt, für dich eine Information über ihre Energie-Konstellation sein, und dein „Ich mag nicht“ signalisiert, dass diese für dich unverträglich ist. Beides kann zutreffen – und es gibt kein allgemein gültiges Rezept, wie man das auseinanderhalten kann. Du musst es anhand der gegebenen Hinweise selbst herausfinden. Um festzustellen, ob ihr energetisch kompatibel seid oder nicht, müsst ihr eure Aufmerksamkeit auf die energetische Ebene richten. Anstatt nur die physische und psychische Qualität eures Kontakts wahrzunehmen, muesst ihr die sehr viel subtileren Bewegungen oder Stagnationen der Energie wahrnehmen, die bei eurem Zusammensein

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entstehen. Das erreicht ihr durch Ausrichtung der Wahrnehmung und durch Übung. Der erste Schritt – wenn ihr nicht von Natur aus Energie bewusst wahrnehmen könnt – besteht darin, zu beschliessen, Energie wahrzunehmen. Ihr könnt das in der „Trockenübung“ der Meditation ausprobieren. Spürt euren Atem, schliesst die Augen, und während ihr der Ebbe und Flut der Atembewegung folgt, versucht das feine Auf und Ab der Energie in und um euren Körper wahrzunehmen, gekoppelt mit dem natürlichen Fluss des Atems, aber feiner und breiter als dieser und die Zellen eures Körpers unmittelbarer durchdringend als der Atem. Denkt nun an euren Partner. Erinnert euch an seine körperliche Präsenz Beobachtet, was in eurem Energiefeld in dem Augenblick geschieht, da ihr in die Präsenz des Partner eintretet. Breitet die Energie sich aus? Ihm entgegen? Zieht sie sich von ihm zurück? Wohin? Ins innere des Körpers? Oder in eine andere Richtung? Entsteht Stagnation? Wirbel? Wellen? Wärme? Hitze? Kaelte? Wo strömt die Energie frei und warm? Wo ist sie blockiert? Wo entsteht ein Gefühl von Spitzen oder Stacheln (Abwehr )?

+++

Könnt ihr malen oder zeichnen, was in eurem Zusammensein mit euren Energiefeldern geschieht, wie würde dieses Bild aussehen?

+++

Die wachsende Fähigkeit zur Wahrnehmung der Energie wird euch mit der Zeit enthüllen, was auf einer sehr feinen, grundsätzlicheren Ebene zwischen euch geschieht – ob eure Energiefelder einander in positiver, dass heisst verstärkender, harmonisierender und Knoten lösender Weise beeinflussen, ob sie einander hemmen, oder ob sie sich neutral zueinander verhalten. In den beiden letzten Fällen seid ihr energetisch nicht kompatibel, im ersten seid ihr in der Tat das, was wir energetisch kompatibel nennen. Wir können euch nicht raten, wie ihr diese Informationen auswerten sollt. Ihr müsst selber entscheiden, was ihr damit anfangt. Kann man

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hoffen, dass zwei Menschen, die nicht auf diese Weise energetisch kompatibel sind, doch soviel Liebe zueinander entwickeln können, dass dieser Zustand sich mit der Zeit verändert? Natürlich ist das möglich, aber es erfordert geradezu übermenschliche Mühe, und oft ist das Bemühen in solche Fällen nicht von aufrichtiger Liebe getragen, sondern von gegenseitiger Abhängigkeit aufgrund psychologischer Projektionen ( der Partner soll Vater oder Mutter ersetzen oder dergleichen ). Denn die Natur ist von vollkommener Intelligenz. Sie lässt nicht einen Mann und eine Frau in echter Liebe zueinander entbrennen, wenn sie nicht energetisch vereinbar sind, das heisst, wenn ihre Energiefelder nicht so geartet sind, dass sie einander positiv beeinflussen, fördern, stärken, harmonisieren und heilen können. Prüft und zieht eure Schlüsse. Dieses Leben gehört euch. Es steht euch ganz zur Verfügung. Ihr selbst, ganz wie ihr seid, mit allem, was ihr an biologischem, psychologischem und spirituellem Erbe mitgebracht habt, wollt gelebt werden, manifestiert, entfaltet, in der einzigartigen Schönheit und Sinnhaftigkeit dieses Lebens, das kein anderer leben und erfüllen kann als ihr selbst. Niemand kann und darf euch sagen, was gut und richtig ist für euch, denn darin besteht ja gerade die Schönheit und der Sinn eures Lebens, das ihr euch selber lebt in eurer eigenen Weise. Betrachtet eure Paarbeziehung im Licht dieser Aussagen und dessen, was sie in euch bewirken; betrachtet euer energetisches, körperliches, emotionales und spirituelles Zusammenspiel mit ehrlichen und klaren Augen und fragt euch, was die Liebe für euch will – was das Schönste und Beste ist, das ihr in und mit dieser Beziehung tun könnt. Und das Schönste und Beste ist immer das Wahre. Man muss die Wahrheit nicht manipulieren, verbessern oder umgestalten, um das Schönste und das Beste entstehen zu lassen, man muss sie nur leben! Denn das, was ganz und gar wahr ist, ist bereits das Schönste und das Beste. Denn Gott ist Wahrheit. Und was wollt ihr mehr? Geht und meditiert darüber. Und dann lacht und seid frei.

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XVI

Treue

Die Unmöglichkeit einer Treue, die eineBürde der Vergangenheit ist.

Was authentische Treue bedeutet.

Wahre Treue beinhaltet keine Einschränkung. Bitte lest diesen Satz zweimal und meditiert darüber, bevor ihr weiterlest.

+++

Wahre Treue ist natürliche Treue. Wenn ihr erfüllt seid von der Liebe zu eurem Partner – auf allen Ebenen einschliesslich der körperlichen -, dann werdet ihr niemals das Verlangen haben, „untreu“ zu sein, das heisst eine sexuelle, erotische oder romantisch-emotionale Beziehung mit einem anderen Partner zu haben. ( denn dies sind die drei Ebenen, auf denen ihr einander als Paar treu oder untreu sein könnt. Alle höheren Ebenen sind in eurer Konvention nicht an diese Art von Treue gebunden. Ihr könnt geistige und seelische Verbindungen mit vielen Wesen haben, ohne einander als Liebespartner untreu zu sein. Wenn ihr einander auf einer dieser Ebenen untreu werdet ( im Sinne der üblichen Definition ), dann deshalb, weil auf dieser Ebene eure Beziehung nicht existiert oder gestört der unterbrochen ist. Sonst würde das Bedürfnis nach einer Paarbeziehung auf der betreffenden Ebene

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mit einer anderen Person nicht existieren. Dies gilt für Männer ebenso wie für Frauen, entgegen eurer gängigen Ansicht. Männer haben allgemeiner Ansicht zufolge mehr als Frauen das Bedürfnis, sexuelle Beziehungen mit mehr als einer Frau zu unterhalten. Nun, das mag so sein oder auch nicht; es berührt nicht die Richtigkeit unserer Aussage. Ebenso kann man von Frauen sagen, dass sie das Bedürfnis haben, Beziehungen mit mehr als einem Mann zu unterhalten, die sich auf der zweiten und dritten, der erotischen und der romantisch-emotionalen Ebene bewegen. Beides berührt nicht die Richtigkeit unserer Aussage, die wir hier zur eingehenden Kontemplation wiederholen: Das Bedürfnis nach einer Paar-Beziehung auf der sexuellen, erotischen und/oder romantisch- emotionalen Ebene mit einer anderen Person als dem erklärten Liebespartner besteht dann nicht, wenn beide Partner von der wechselseitigen Liebe auf diesen Ebenen durchdrungen und erfüllt sind. Es besteht nur dann, wenn auf der betreffenden Ebene beziehungsweise den betreffenden Ebenen die Beziehung entweder nicht existiert ( vielleicht nur vorgetäuscht oder manipuliert ) oder gestört oder unterbrochen ist. Das liegt daran, dass ein Mann und eine Frau, die von ihrer wechselseitigen Liebe auf allen Ebenen erfüllt und durchdrungen sind, sich als Mann und Frau fühlen wie eine Einheit – wie zwei Hälften eines Ganzen, und wenn dieses Ganze lebendig ist, atmet, durchlässig ist und beweglich, dann werden sich beide in diesem Zustand des Ein-Paar-Seins wohl und rund und vollständig fühlen, sodass keinerlei Sog nach oder von aussen in Richtung auf einen anderen Liebespartner entsteht. Denn Mann und Frau sind dazu geschaffen, als Paar zu existieren – jedenfalls auf der Stufe der Entwicklung, auf der die Menschheit sich befindet -, und nichts fühlt sich deshalb natürlicher an, als ein Paar zu sein. Auch eingefleischte Junggesellen wissen das im tiefsten Innern; sie scheuen nur die Unbequemlichkeiten, Schwierigkeiten und psychischen Verletzungen, die das Zusammensein mit einer anderen Person mit sich bringt. Sie fürchten, ihren eigenen Raum zu verlieren – weil sie nicht gelernt haben, ihn einzunehmen und zu schützen; sie

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fürchten, in ihrem fest gefügten Sosein, ihrer Gewohnheit, sich selbst und das Leben zu sehen und zu leben, infrage gestellt und erschüttert zu werden; sie fürchten allerlei Schmerzen und Beengungen, die ihnen beim Leben zu zweit unvermeidlich erscheinen, ohne zu ahnen, dass es nur ihre eigenen Schmerzen und Beengungen sind, unter denen sie zu leiden beginnen, sobald es eine Projektions-Fläche gibt, auf der diese ihrem Bewusstsein erscheinen – einen Partner. Ein Paar zu sein ist also der natürliche Zustand von Mann und Frau. Damit ist nicht gesagt, dass ihr Paare sein sollt oder das es gut und richtig sei, sich mit einem Partner zusammenzutun; nur das es natürlich ist, nichts weiter. Es hat nichts mit Wertung zu tun. Wir wiederholen diese Aussage nur, um klarer hervortreten zu lassen, weshalb Treue ein natürliches Phänomen ist, sobald zwei Menschen auf allen Ebenen, zumindest aber auf den drei unteren, auf die eure Definition von Treue sich bezieht, von ihrer wechselseitigen Liebe durchdrungen sind und diese am Leben erhalten. ( Dieser Punkt ist wichtig und wird später weiter ausgeführt. ) Nun: diese Treue ist dennoch selten, da dieser Zustand selten ist. Er ist deshalb selten weil nur die wenigsten Menschen – in eurem Kulturkreis und eurer Zeit, nur auf diesen Bereich beziehen sich unsere Aussagen – auf den drei Ebenen, von denen die Rede ist ( 1., 2. und 3. chakra ) mit sich selber im Reinen sind. Und auf jeder Ebene, auf der ihr mit euch selber nicht im Reinen seid, kann auch keine reine und vollständige Beziehung zu eurem Partner bestehen. Wenn auf allen drei Ebenen Unklarheiten und Unreinheiten innerhalb eurer selbst bestehen, könnt ihr dennoch auf diesen Ebenen eine Beziehung zu einem Partner unterhalten, jedoch wird die Beziehung auf jeder dieser Ebenen Lücken oder Knoten oder beides aufweisen. Eine Lücke bedeutet, dass die Verbindung unterbrochen ist, dass auf der betreffenden Ebene die Liebe nicht fliessen kann. Ein Knoten bedeutet einen Stau, der ebenfalls den freien Fluss der Energie auf der entsprechenden Ebene – vom Chakra des einen zum Chakra des anderen Partners – unterbricht. Lücken entstehen überall dort, wo blinde Flecken in der Selbst-Wahrnehmung existieren. Knoten entstehen immer dort, wo Gefühle sich stauen.

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Blinde Flecken in der Selbst-Wahrnehmung bedeuten, dass man etwas von dem, was man auf der entsprechenden Ebene fühlt, empfindet, erlebt oder erleidet nicht wahrnimmt – dass man es aus seiner Wahrnehmung ausblendet, also verdrängt. Knoten entstehen dadurch, dass sie Gefühle, Empfindungen, Erlebnisse, die man auf der entsprechenden Ebene hat oder hatte, nicht weiter fliessen konnten, sondern festgehalten wurden. Aus solchen festgehaltenen Emotionen und Empfindungen entstehen energetische „Knoten“, und aus diesen Knoten Verhaltensmuster. ( Wir werden das hier nicht weiter ausführen – ihr könnt das in euch selbst einer genauen Analyse unterziehen. ) Wenn ihr die Lücken schliessen und die Staus auflösen möchtet, dann braucht ihr nur sehr aufmerksam zu sein für das, was zwischen euch und eurem Partner auf den betreffenden Ebenen vor sich geht. In dieser Hinsicht ist die Beziehung ein hervorragendes Rückmeldungs-System, ein Spiegel für euch selber. Wenn ihr sehr ehrlich hinschaut, werdet ihr feststellen können, auf welcher Ebene die Energie zwischen euch – die wortlose Kommunikation -, nicht frei fliessen kann: auf der sexuellen, der erotischen oder der emotionalen. Wenn du nun beobachtest, dass es in eurer Beziehung auf diesen drei Ebenen – denen, in denen die Frage der Treue relevant ist – hapert und klemmt oder mangelt, dann hast du die Wahl. Du kannst, wie viele es versuchen, an der Beziehung „arbeiten“, damit sie freier, offener, ehrlicher, bewusster, vollständiger wird – oder du kannst die Beziehung zu deinem Partner in Ruhe lassen und dir für die Ebene(n), auf der oder denen es hapert oder schwierig oder unbefriedigend ist, einen anderen Partner suchen. Wir empfehlen allerdings weder das eine noch das andere. Nicht das Arbeiten an der Beziehung macht die Beziehung gesund und vollständig; auch nicht das Arbeiten an deinem Partner. Sondern die Beziehung so, wie sie ist, zu achten, anzuerkennen und in aller Aufmerksamkeit wahrzunehmen, um dich von ihr belehren zu lassen: das ist eine Herangehensweise, die zu Wachstum und wachsender Gesundheit führen kann. Das Gleiche gilt für dein Verhältnis zu dir selbst: Anstatt an dir zu arbeiten, um dich zu verbessern – was gäbe es zu verbessern an dem göttlichen Kunstwerk, das du bist? - erlebe dich, wie du bist, erkenne dich an, wie du bist, achte und ehre dich in

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deiner Einzigartigkeit, in deinem Sosein, und lasse dich von deiner eigenen Natur belehren! So wächst du durch jede Beziehung und in jeder Hinsicht dem Gesund-und Vollständig-Sein in müheloser und liebevoller Weise entgegen. Was die andere Lösung betrifft, das Ausweichen auf andere Partner: es kommt darauf an, was du in deinem Leben, deiner Beziehung zum anderen Geschlecht, deiner Liebe suchst und anstrebst. Beziehungen, die du eingehst um der reinen Befriedigung deiner Bedürfnisse willen, werden der Liebe und dem Wachstum wenig dienen. Was nicht bedeutet, dass wir sie verwerflich nennen; wir werten nicht. Alles wird von uns dem Zweck entsprechend betrachtet – dem Zweck, den ihr selber definiert und anstrebt ( hier: erfüllende Liebesbeziehungen ) oder dem allem zugrunde liegenden göttlichen Zweck. Ist es euer Zweck, Erfüllung in Liebesbeziehungen zu finden, so werdet ihr diesem Zweck schwerlich gerecht, wenn ihr euch in „ Ich-in-Paarbeziehung-zu-X“ und „Ich-in-Paarbeziehung-zu-Y“ und zu „Z“ aufspaltet. X bedeutet vielleicht guten Sex, Y erotisches Knistern und Z romantische Illusion. Wahrscheinlich müsst ihr es ausprobieren, um festzustellen, das darin keine Erfüllung liegt. Ebenso wenig wie in dem Konzept „X liefert mir alles – guten Sex, erotisches Knistern, Zärtlichkeit und Romantik“ Erfüllung liegt. Wann erlebt ihr Erfüllung? Wann fühlt ihr euch zutiefst erfüllt? Schliesst die Augen und lasst die Frage auf euch wirken.

+++ Zutiefst erfüllt fühlt ihr euch – was das Thema diese Buches betrifft -, wenn ihr euch ganz der Liebe geöffnet habt und somit ganz von ihr durchdrungen seid ( denn die Liebe durchdringt euch im selben Moment, da ihr euch ihr öffnet, was nicht anders sein kann, da Liebe der natürliche Zustand ist von allem, was ist. ) In diesem Zustand gibt es nicht mehr die Unterscheidung zwischen

Liebe-die-ich-gebe und Liebe-die-ich-empfange; wenn ihr ganz von Liebe durchdrungen seid, ist es euch unmöglich zu sagen, ob ihr die

Liebe fühlt, die von euch zu eurem Geliebten geht oder die Liebe, die 114

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von ihm zu euch fliesst, die Liebe die er in euch weckt oder ihr in ihm; oder die Liebe, die in euch beiden entsteht durch euer beider Zusammensein; oder die Liebe Gottes, an der ihr in diesem besonderen Augenblick durch die Art eures Zusammenseins auf einmalige Weise teilhabt und sie auf einzigartige Weise in die Existenz bringt, sozusagen aus dem Schlummerzustand erweckt und aktualisiert! Wer vermöchte das noch zu unterscheiden? Denn da ist eben einfach Liebe. Und ihr fühlt sie mit eurem ganzen Sein – als Körper, als Psyche, als Gedanke, als Erkenntnis, als Zärtlichkeit, als Verzückung, als Verlangen, als Hingabe, als Erbarmen, als Verstehen, als Überwältigtsein, als Dahinschmelzen, als Stolz, als Weite, als Schönheit, als Licht – unendlich viele Facetten ein- und derselben Liebe. Muss man monogam sein, um das erleben zu können? Oder muss man, im Gegenteil, sich der Liebe mit so vielen Menschen wie möglich hingeben, um in diesen seligen Zustand zu gelangen? Nichts von beidem – nur einfach sich ganz und gar der Liebe öffnen. Wenn du dich der Liebe ganz und gar geöffnet hast, während du dich mit deinem Partner körperlich vereinigst, wird im Allgemeinen – vorausgesetzt, eure Energiestrukturen passen zusammen, wie im vorigen Kapitel erläutert – keinerlei Verlangen mehr existieren, Gleiches mit anderen Partnern zu erleben. Denn die Liebe, von der du durchdrungen bist, erfüllt dich mit Dankbarkeit und Zärtlichkeit, mit Achtung und Mitgefühl für den, mit dem du dieses Erleben geteilt hast, und diese Dankbarkeit und Zärtlichkeit, diese Achtung und dieses Mitgefühl werden das Band sein, das euch in freiwilliger und natürlicher Treue vereint. Es gibt auch falsche und ungesunde Treue. Falsche und ungesunde Treue liegt dann vor, wenn du in deiner Treue nicht wahrhaftig bist; wenn deine Treue nur vorgespiegelt ist; wenn du so tust, als ob du deinem Partner treu bist, obwohl du dich in Wirklichkeit nach anderen verzehrst. Wen soll diese Treue beglücken? Weisst du nicht, das die einzige Trennwand, die zwischen euch existiert, durch das Fleisch eures Körpers und die Begrenzungen der körperlichen Sinnesorgane gebildet wird, während ihr auf allen übrigen Ebenen so eng verbunden seid,

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dass ihr alles voneinander wahrnehmen könnt? Weisst du nicht, dass jede Lüge ein Unbehagen in deinem Partner und natürlich in dir selber auslöst? Wem soll also diese Treue dienen? Sie ist nur der Diener eurer Angst – eurer Angst vor der Unsicherheit, der Veränderung, dem Verlassen-Werden, dem „Weniger-wert-sein-als-jemand-anders“. Du tust weder dir noch deinem Partner einen Gefallen, wenn du diesen Ängsten dienst . Denn wie anders kann ein Mensch von diesen Ängsten kuriert werden als eben dadurch, dass er sich ihnen stellt und ausprobiert, ob er das Gefürchtete nicht doch überleben kann?

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XVII

Trennung

Warum Trennung notwendig ist. Über die Unmöglichkeit der Trennung. Wie man

durch das Durchleben der Trennung zur Einheit finden kann. Der unschätzbare Wert

des Schmerzes.

Trennung ist nötig , damit die Arbeit der Integration geschehen kann. Das bedeutet, das zwei Liebende, selbst wenn sie ihr ganzes Leben miteinander teilen möchten, doch immer wieder Phasen benötigen, in denen sie ihre Energie, ihre Aufmerksamkeit und ihre körperliche Gegenwart voneinander lösen. Das ist für Gesundheit und Wachstum des Individuums ebenso notwendig wie Perioden des Schlafes zwischen den Zeiten des Wachseins. So wie der Schlaf nötig ist, um das, was während der wachen Zeit aufgenommen und erlebt wurde, zu verarbeiten, so sind Zeiten des Getrenntseins notwendig, um das während des Zusammenseins miteinander Geteilte und Erlebte zu verarbeiten und zu integrieren. Wenngleich die beiden Liebenden auf einer sehr tief inneren – zeitlosen, raumlosen – Ebene der Realität auch dann verbunden sind, wenn Körper, Energiefeld und Bewusstsein eines jeden vom anderen gelöst ist, und auch wenn diese Verbundenheit, letztlich Einheit die eigentliche und grundlegende Realität ist -, so ist es doch Ziel und Zweck der Schöpfung, sich in jedem einzelnen Individuum auf einzigartige und eigenständige Weise auszudrücken. Dass Menschen voneinander lernen, einander inspirieren und beeinflussen, gehört zum

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Prozess der Individuation und Entfaltung des Einzelnen – oder des Gesamten im Einzelnen – so natürlich und notwendig dazu, wie die Pflanze Licht und Wasser zu ihrem Wachstum braucht. Jedoch erleidet der Gesamtorganismus Individuum Schaden, wenn ein Mensch sich ununterbrochen mit seinem Bewusstsein und seiner Energie mit einem anderen verbindet. Diese Art ununterbrochener Verbindung ist nur in den ersten Monaten des Lebens gesund und notwendig, wenn der Säugling noch kein von der Mutter abgetrenntes Ich-Bewusstsein hat und körperlich so verletzlich und abhängig ist, dass er rund um die Uhr Schutz und Aufmerksamkeit braucht. Nun: Getrenntsein ist gewissermassen der Schlaf der Beziehung, ebenso notwendig für beide Beteiligten wie der Nachtschlaf für die Gesundheit des Menschen. ( Ausnahmen gelten im Hinblick auf beides nur für sehr hoch entwickelte Menschen, die aufgrund beständiger Meditation ein so vollständiges Bewusstsein haben, dass sie so gut wie keinen Schlaf brauchen. Zwei Menschen dieser Art können es sich leisten, in fast ununterbrochener Verbindung miteinander zu sein, ohne Schaden zu leiden. Aber das ist nicht unser Thema.) Jedoch ebenso wie der Schlaf der Nacht für die wachen Stunden des Tages hat die Phase der Trennung auch eine wichtige Funktion für die Beziehung: sie schenkt ihr neue Inspiration. Wenn jeder der Liebenden in der Phase der Trennung das, was er in der Zeit des Zusammenseins vom Partner aufgenommen und mit diesem gemeinsam erlebt hat, in sein eigenes Wesen integriert – und das, was nicht zu seinem eigenen Wesen passt, ausscheidet -, dann können beide bei ihrer nächsten Begegnung sozusagen eine neue Runde, eine neue Etappe ihrer Beziehung antreten, in der neue Themen gemeinsam bearbeitet, neue Kanäle der Inspiration geöffnet werden und die Liebe in neue Tiefen vordringen kann. Aber mehr noch: In der Phase der Trennung werden beide Liebenden – sofern sie diese Phase nutzen, um sich wirklich voneinander zu loesen – neue Inspirationen schöpfen aus ihrer eigenen Welt, ihrer Begegnung mit sich selbst in Meditation oder schöpferischer Arbeit aus ihrer kreativen Einsamkeit, aber auch ihren Begegnungen mit anderen Menschen, anderen Wesen, mit der Natr. Sie haben Gelegenheit, das, was ihr einzigartiges Eigenes ist, wieder hervorzuholen, zu stärken und

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zu bereichern, um dann erneuert, vertieft und mit frischer Inspiration wieder in die Beziehung hineinzugehen und diese dann zu erfrischen, zu vertiefen und zu bereichern. Wenn du es nicht wagst, deinen Geliebten oder deine Geliebte in den Tagen oder Stunden der Trennung ganz loszulassen, dann hast du Angst, ihn oder sie zu verlieren. Stelle dich deiner Angst, indem du dir das Gefürchtete einmal mit allen Konsequenzen ausmalst, um endlich einmal deine – stets im Untergrund vorhandene! - Furcht in ihrem vollen Ausmass kennen zu lernen! Erbarme dich ihrer, indem du die fühlst, anstatt zu versuchen, sie mit Gegenmassnahmen in Schach zu halten. Sobald du deine Angst ins Herz geschlossen hast, bist du frei dich zu lösen. In Wahrheit fürchtest du nicht, den Geliebten oder die Geliebte zu verlieren, sondern die Liebe. Du hast Angst, mit ihm oder ihr die Liebe zu verlieren. Die Liebe aber – jede Liebe, die einmal in dir geweckt wurde und lebendig war – ist dein und kann dir nie wieder genommen werden. Wage es, deinen Geliebten gehen zu lassen und die Liebe zu behalten! Probiere es aus! Du wirst sehen, die Liebe bleibt. Es gibt nichts zu fürchten. Gemeint ist hier übrigens keineswegs nur eine unirdische, überpersönliche Liebe, sondern die ganz besondere und persönliche Liebe, die dein Geliebter oder deine Geliebte in dir weckt. Diese Liebe halte wach in dir, indem du sie fühlst und wie einen kostbaren Schatz in deinem Herzen hältst, während du dich mit Körper, Energie und Bewusstsein von deinem Geliebten löst. Du wirst sehen: Diese Liebe bleibt und wächst und blüht in dir auch während eurer Trennung, wenn du sie pflegst. Du pflegst sie, indem du sie ehrst und heilig hältst und ihr Platz auf dem Altar deines Herzens gibst, auch wenn dein Bewusstsein mit anderen Dingen beschäftigt ist.Lass die kleine oder grosse Flamme dieser Liebe immer in deinem Herzen leuchten, und sie wird dich wärmen und inspirieren, wo immer du bist.

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Über die Unmöglichkeit der Trennung

Dein ganzes Wesen rebelliert dagegen, von deinem oder deiner Geliebten getrennt zu werden, auch wenn dein Verstand weiss, dass das von Zeit zu Zeit gut und notwendig sein mag. Das liegt daran, dass deine geistige Heimat eine Welt ist, in der Trennung nicht existiert. In Wahrheit bist du ein geistiges Wesen, nicht räumlich, nicht zeitlich, sondern unbegrenzt und ewig, und jedes Wesen ist in seinem wahren Sein mit dir ewig verbunden. Entfernung entsteht in dieser geistigen Welt durch andersartiges Fühlen und Denken, durch andersartige seelische Stimmung, Nähe durch ähnliches Fühlen, Denken und ähnliche seelische Stimmung. Diese Worte drücken die Realität nicht genau aus, sie können sie nur andeuten. Eher ist es so, dass geistig-seelische Nähe, die als enge Verbundenheit empfunden wird und aufgrund gleicher oder ähnlicher Gestimmtheiten entsteht, als musikalische Harmonie und Resonanz beschreiben werden kann. Diese Nähe durch innere Übereinstimmung existiert unabhängig von Zeit und Raum. Wo diese Nähe vorhanden ist, gibt es keine Trennung. Dein Innerstes weiss um diese Verbundenheit. Dein persönliches Bewusstsein weiss nicht um sie, fühlt sie nicht oder nur in besonderen Momenten, ahnt sie nur; denn es ist in den Raum-Zeit-Rahmen eingespannt und schaut nur selten über ihn hinaus. Aber aufgrund dieser Ahnung sehnt es sich nach dem Zustand der Einheit oder des Verbunden-Seins, den es zeitweise aus den Augen verliert, zurück. Das ist der Grund, warum du gegen Trennung rebellierst, ja warum dir Trennung von denen die du liebst, widernatürlich erscheint und dann, wenn sie dir durch Tod eines Geliebten oder dadurch, dass er oder sie dich verlässt, aufgezwungen wird, empfindest du dies als unverständlich und grausam, ja sogar wenn du selber die Trennung herbeiführst, weil sie dir notwendig erscheint, kann dies der Fall sein. Sei getrost; die wahre Nähe kann dir nie verloren gehen, und um falsche Nähe ist es nicht schade, wenn sie dir entrissen wird. Wenn du dich einem Menschen zutiefst verbunden fühlst und doch gezwungen bist, dich zeitweise oder ganz von ihm zu trennen, so liegt gerade in dieser räumlichen Trennung die grösste Chance für das Wiederfinden der wahren Einheit. Denn so wie der Körper zu Zeiten ein

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ein Vehikel sein kann, um Nähe zu spüren, so kann er bisweilen auch eine Trennwand sein, die wahre Vereinigung verhindert. Wenn du dich aus der körperlichen Nähe deines oder deiner Geliebten aus welchem Grund auch immer entfernt hast, so hast du die Chance, in deinem Fühlen und Denken, in der Einstimmung und Ausrichtung deines Bewusstseins jene Ebene zu erreichen, auf der ihr tatsächlich untrennbar verbunden seid. Der Preis allerdings, den du dafür bezahlen musst, ist das Akzeptieren des ( vorübergehenden oder endgültigen ) körperlichen Getrennt-Seins samt allem Schmerz, den es dir verursacht. Fühlst du diesen Schmerz aufrichtig und vollständig, so findest du gerade auf dem Grund dieses Schmerzes – wenn du diesen Kelch sozusagen bis zur Neige geleert hast – den Grund, der euch vereinigt, den gemeinsamen Boden, auf dem ihr steht, den Schatz, das kostbare Geheimnis eurer Herzen: die Liebe. Und hast du erst einmal die Liebe gefunden, so kann nichts auf der Welt dich mehr glauben machen, dass es Trennung gibt. Dies sind Worte, die du nicht mit dem Verstand begreifen kannst, sondern nur mit dem Herzen, und mit dem Herzen kannst du nur begreifen, indem du dich durch alles, was dein Herz in diesem Zusammenhang bewegt, aufrichtig und ohne Gegenwehr hindurchfühlst.

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XVIII

Verbindungen

Wie man vom Herzen aus Verbindunghalten kann, auch wenn eine Beziehung zur

Zeit nicht oder überhaupt nicht mehr existiert.Was wahre Verbundenheit bedeutet.

Wie man mit Trennung und Verbindung zugleich leben kann.

Verbundenheit existiert immer. Sie mag bewusst sein oder unbewusst, aber sie existiert immer, zwischen allen Wesen, ohne Ausnahme. Es gibt immer eine besondere Verbundenheit zwischen Menschen, die sich durch die Liebe ihrer Herzen nahe stehen oder einmal nahe gestanden haben. Diese besondere Verbundenheit unterscheidet sich von der allgemeinen Verbundenheit mit allen Wesen dadurch, dass sie in Form einer physischen Beziehung geweckt, manifestiert und aktualisiert wurde und als diese besondere Beziehung Gestalt angenommen hat. Nun: Diese Beziehung mag vergehen – aus welchen Gründen auch immer unterbrochen oder beendet werden - , aber die Verbundenheit bleibt. Auch wenn du davon vielleicht nichts mehr wissen willst – mit einem Menschen, mit dem du einmal in Beziehung standest, ganz besonders wenn es sich um eine Beziehung mit körperlicher Vereinigung handelte, bleibst du immer in einer besonderen Verbindung. Geistig-seelische Verbindungs-Kanäle existieren auch weiterhin, auf denen Informationen und Impulse hin und her fliessen

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(bildlich gesprochen ). Du kannst die Verbindung auf der körperlichen, der bio-energetischen und der psychischen Ebene sogar bewusst und absichtlich abschneiden; auf geistig-seelischer Ebene bleibt ihr verbunden. Diese Verbundenheit kann sozusagen schlafen oder wach sein; latent oder aktiv. Wünschst du sie aktiv zu erhalten, weil du den betreffenden Menschen liebst, auch wenn die Beziehung beendet ist, dann brauchst du ihm nur einen Platz in deinem Herzen zu geben. Das bedeutet nicht nur, an ihn zu denken; sondern sein Wesen in deinem Herzen lebendig zu halten, was wiederum erfordert, das du bereit bist, dein Herz auch all dem Schmerz zu öffnen, der möglicherweise mit der Erinnerung an Zusammensein und Trennung verbunden ist. Du kannst eine lebendige Herzensverbindung herstellen und halten mit jedem Menschen, den du liebst. Damit diese Verbindung lebendig ist, musst du dich von der Erinnerung an die Person, wie sie einmal war, lösen; du musst dich auf den gegenwärtigen Menschen einstellen und dein Bewusstsein von sämtlichen Erinnerungen leeren; dich im Herzen sammeln und dich still und gesammelt darauf einstellen, mit seinem Herzen Verbindung aufzunehmen. Wenn das mit Respekt, Liebe und vollständiger Hingabe an die Wahrheit – an das was wirklich ist, statt an das, was du dir wünschst oder vorstellst – geschieht, dann wird es dir möglich sein, mit dem Herzen des betreffenden Menschen in einen lebendigen Austausch zu treten. Du wirst fühlen oder zumindest ahnen können, was dieser Mensch fühlt; du wirst von dem, was du fühlst, an ihn vermitteln können; du wirst erfassen können, was er in diesem besonderen Augenblick von dir brauchen kann, und ihm übermitteln können, was du von ihm wünschst. Halte nicht Ausschau nach Ergebnissen dieser Kommunikation; die Botschaften mogen auf einer dem Wachbewusstsein nicht zugänglichen Ebene empfangen und gegeben werden. Aber du wirst bereits im Augenblick dieser inneren Kommunikation spüren, ob der Kontakt zustande gekommen ist, und verstehen, was sein Herz und was dein Herz sagt – vorausgesetzt, du traust deinen inneren Wahrnehmungen. Die eigentliche, die tiefere Verbindung aber ist nicht Kommunikation, sondern Kommunion. Versenke dich schweigend in dein Herz und denke an deinen Freund oder deine Freundin, ohne etwas empfangen

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oder senden zu wollen. Verweile einfach im Gefühl seiner oder ihrer Gegenwart und erlaube dir, für einen Augenblick vollkommen still und ohne Erwartungen und Gedanken mit ihm oder ihr zu verschmelzen. Hast du diese Kommunion der Herzen einmal erlebt, so hast du Frieden gefunden in dieser Beziehung. Wünsche, Erwartungen, Bedauern oder Vorwürfe, Sehnsucht oder Hoffnung mögen sich bisweilen noch im Meer deines Herzens wie Wellen erheben; aber du weisst, du brauchst nur in seine Tiefe zu tauchen, um den Frieden des Wissens, der Einheit und der immerwährenden Liebe zu finden. Das ist die Art, wie du Trennung und Verbundenheit zugleich erleben und darin Frieden finden kannst.

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XIX

Nähe

Über die Sehnsucht nach Nähe und die Angst vor Nähe. Was wahre und was falsche

Nähe bedeutet. Wie man die Sucht nachfalscher Nähe überwindet und wahre Nähe

findet. Warum manche Menschen Angst vor Nähe haben und wie sie selber und ihre

Partner damit umgehen können.

Nähe ist etwas, wonach der Mensch sich sehnt, seit er die Geborgenheit des Mutterschosses verlassen musste. Nur die Nähe der Mutter konnte nach diesem Auszug aus dem Paradies seinen Hunger nach dem verlorenen Eins-Sein stillen; und wenn dieser Hunger nie wirklich gestillt wurde – es sei denn, weil die Mutter zu oft oder überhaupt abwesend war, sei es, weil sie zwar körperlich anwesend, aber geistig weit entfernt war -, bleibt zeitlebens eine Sucht nach Nähe zu einem anderen Menschen als beherrschender Faktor in der Psyche vorhanden. Ähnlich wie der Körper des Menschen zum Zeitpunkt der Geburt aus dem Paradies der Einheit mit der Mutter hinausgetrieben wurde, so wurde auch seine Seele aus dem Schoss der kosmischen Mutter, dem undifferenzierten Eins-Sein mit Gott, mit Allem-was-Ist, zum Zeitpunkt der Geburt der Individualität, dem eigentlichen Urknall des Universums, herausgetrieben und sehnt sich nach dem ursprünglichen Eins-Sein zurück.

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So wie sich die Sehnsucht des Kindes nach dem anfänglichen Eins-Sein mit der Mutter durch die Nähe der Mutter gestillt wird, so wird die Sehnsucht der Seele nach ihrem ursprünglichen Eins-Sein mit Gott-Mutter durch die Nähe Gottes gestillt. Verliert und vergisst sich die Seele in ihrer Rolle auf der Bühne der raum-zeitlichen Existenz, so wähnt sie sich fern von Gott und leidet. Erwacht sie aus dem Traum der Existenz und erinnert sich an sich selbst, so fühlt sie die Nähe der Mutter, jenes all-seienden Wesens, von dem sie Teil und Ausdruck ist, und getröstet, gestärkt, „ gestillt “ kann sie wieder in die Rolle schlüpfen, die sie in ihrer gegenwärtigen Inszenierung einnimmt. Es ist also die Nähe der Mutter, die der Mensch, der sich nach Nähe sehnt, sucht; auf einer oberflächlichen Ebene die Nähe der Person, die seine Mutter war; auf einer tieferen Ebene die Nähe der göttlichen Mutter; der ursprünglichen Einheit, aus der sene individuelle Seele hervorgegangen ist. Es gibt noch eine andere Nähe, nach der der Mensch sich sehnt. Es ist die Nähe des Anderen – des grundsätzlich und vollständig vom eigenen Wesen Verschiedenen, des Gegenübers, nach der er sich sehnt, und die Sehnsucht nach dieser Nähe ist es, die die erotische Anziehung bestimmt, die Mann und Frau aufeinander ausüben. Der Mensch fürchtet diese Nähe ebenso, wie er sich nach ihr sehnt. Er fürchtet sie, weil er die Erschütterung fürchtet, die in ihm dadurch hervorgerufen wird, dass er es wagt, dem grundsätzlich und vollständig Anderen mit ganzem Wesen gegenüberzutreten und ihm in die Augen zu schauen; und er sehnt sich danach, weil er aufgrund der Polarität von Mann und Frau in diesem Gegenüber seine Ergänzung sucht, vor allem aber sehnt er sich nach diesem grundsätzlich und vollständig Anderen, weil es das ist, was seinem Wesen fehlt. Es gibt noch weitere Ebenen von Nähe; es gibt die Nähe, die dadurch entsteht, dass zwei Menschen einander ihre Herzen öffnen; es gibt die Nähe, die durch langjährige Vertrautheit entsteht, ja sogar durch langjährige, konsequente Freundschaft. All dies sind verschiedene Ebenen, auf denen ein-und dasselbe Phänomen erlebt oder abgewehrt wird: Nähe. Sprechen wir zunächst zu all denen, die sich verzweifelt nach Nähe

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sehnen, die für einen Augenblick der Nähe mit dem oder der Geliebten ihr ganzes Leben hingeben würden ( und oft genug auch hingeben ) und immer wieder an Partner geraten, die ihnen gearde das verweigern, was sie so dringend brauchen: Nähe. Es wird oft behauptet, dass diese Rolle meist von Frauen eingenommen wird. Das mag an der Oberfläche so aussehen, aber oft verbirgt sich hinter einer selbstempfundenen und auch nach aussen hin manifestierten Sucht nach Nähe eine grosse Angst vor tatsächlicher Nähe. Oft kämpfen diese scheinbar Nähe-Süchtigen in Wirklichkeit einen ständigen Abwehrkampf gegen tatsächliche Nähe; gerade dadurch, dass sie um Nähe kämpfen, zwingen sie den Partner geradezu, Barrieren zu errichten und sich immer mehr hinter ihnen zu verschanzen, und auf dies Weise erreichen sie das, was sie in einer tieferen Schicht ihrer Psyche eigentlich wünschen: nämlich sicher zu sein vor Nähe. Umgekehrt kann in einem Menschen, der sich konsequent, stur, verzweifelt oder trotzig gegen Nähe wehrt, eine grosse Sehnsucht nach Nähe verborgen sein, die er aber weder sich selber noch seinem Partner eingesteht, aus Angst, durch dieses Eingeständnis verletzbar zu werden. So besteht nun die Aufgabe für denjenigen, der die Rolle des Nähe-Suchenden spielt und darin nicht glücklich ist, zuerst einmal darin, zu prüfen, ob er wirklich Nähe sucht oder ob er in Wahrheit Nähe fürchtet und durch seine Manöver verhindert. Du also, der du dich verzweifelt nach Nähe sehnst: Werde deiner Angst vor eben dieser Nähe gewahr! Du entdeckst deine Angst, indem du dir vorstellst, was geschehen würde, wenn dein Partner über die Barrieren klettert und tatsächlich ganz und gar präsent, bei dir und mit dir und für dich da ist. Kannst du seiner Nähe standhalten? Oder löst die Flucht-Tendenzen in dir aus? Wenn Letzteres der Fall ist, widme dich deiner Angst. Erlaube deiner Angst, in dir aufzusteigen und auszubreiten, damit du sie – endlich – fühlen und in dein Herz schliessen kannst. Stellst du aber fest, dass du der Nähe deines Partners freudig standhalten kannst, dann ist in deinem Kampf um Nähe tatsächlich die Sehnsucht nach Nähe die treibende Kraft und nicht die Angst vor ihr. Was also tun, wenn du dich verzweifelt nach Nähe sehnst und dein

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Partner sich vor ihr verschanzt? Es ist sehr einfach. Die Nähe, die du suchst, findest du nicht bei ihm. Sie ist nicht etwas, das ein anderer dir bringen kann; sie ist etwas, das du selber in dir trägst und dessen Entfaltung, Entwicklung und Manifestation du in dir selber fördern kannst. Kurz gesagt: Sei dir selbst nahe, und alles andere wird dir nah sein – auch der Geliebte, nach dessen Nähe du dich sehnst. (Wir verzichten darauf, klarzustellen, welcher Geliebte hier gemeint ist; der göttliche oder der menschliche. Die Aussage gilt für beide.) Pflege die Nähe zu dir selbst, die Intimität mit deiner Seele; durch Meditation, Kontemplation, Gebet, Gesang, Spaziergang, Tanz, durch Malen, Schreiben, Blumen pflanzen oder Bergsteigen – was immer dich dir selber näher bringt, was immer di hilft, in jenen heiligen Raum einzutreten, den nur du selber bewohnst und in dem du zutiefst allein bist und zugleich mit einem lebendigen, beseelten Kontakt mit allem, was dir, äusserlich oder innerlich, begegnet. In dieser Nähe, der Intimität mit dir selber, bist du Gott nahe, bist du deinem oder deiner Geliebten nahe, bist du den Meistern oder Heiligen, mit deren Stimmung du gerade in Resonanz bist, nahe, oder den Komponisten, deren Musik du hörst; den Pflanzen, den Tieren, den Sternen, der Luft, allem, was dich umgibt oder was in dein Bewusstsein hereingeweht kommt. In dieser Nähe mit dir selber fragst du nicht mehr danach, wie du die Nähe deines Geliebten erringen kannst; du bist ihm einfach nahe, ohne das er irgend etwas dazu tun muss – und auch ohne das er sich gegen deine Nähe verteidigen müsste. Denn diese Art von Naeh, die du mit und in dir selber herstellst und aus der heraus du dann auch ihm nahe bist, ist unaufdringlich und stellt keine Forderungen. Sie achtet und belässt ihn in seiner Eigenart; sie braucht nichts von ihm. Sie genügt sich selbst. Zum Trost für alle, die mit diesen Aussagen nicht zufrieden sind ( da sie sie nur gelesen und noch nicht angewandt haben!), kann gesagt werden, dass diese Art von Selbst- Nähe auf andere Menschen sehr anziehend wirkt und es ihnen leicht macht, ihre Rüstungen und Verteidigungs-Barrieren fallen zu lassen. Nun zu den anderen, den „ Nähe-Flüchtern“. Ebenso wie bei den

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Nähe-Süchtigen beschrieben, müssen auch die „ Nähe-Flüchter“, wenn sie sich an die Hinterfragung dieses Phänomens heranwagen, erst einmal klären, ob hinter ihrer Flucht vor Nähe nicht in Wirklichkeit eine grosse Sehnsucht nach Nähe besteht, die sich nur deshalb verbirgt, weil bewusst oder unbewusst die Ansicht besteht, dass sie unerfüllbar ist und daher nur zu Frustration führen kann; oder deshalb, weil ihr bewusstes Eingeständnis gleichzeitig Eingeständnis der Verletzlichkeit bedeuten würde. Um diese Sehnsucht zu finden, müsst ihr euch vorstellen, das wirkliche Nähe tatsächlich möglich ist, und zwar in einer Atmosphäre von Vertrauen und Geborgenheit, in der keinerlei Gefahr besteht, enttäuscht oder verletzt zu werden. Ist es diese Sehnsucht, die ganz in der Tiefe eurer Psyche euer Handeln bestimmt, so könnt ihr ihr den Weg an die Oberfläche bahnen, indem ihr euch eurer Angst erbarmt: eurer Angst vor Enttäuschung und eurer Angst vor Verletzung. Ist eure Angst vor Nähe jedoch grösser als eure Sehnsucht nach Nähe oder erstickt diese ganz und gar, dann gehört ihr tatsächlich zur Gruppe der „Nähe- Flüchter“, an die wir uns jetzt wenden. Wovor ihr letztlich flüchtet, ist nicht die Nähe eines anderen, sondern es ist eure eigene Nähe. Vielleicht verschanzt ihr euch in der Einsamkeit und seid der Meinung, dass ihr ein Leben führt, das der Nähe zu euch selbst gewidmet ist. Tatsächlich aber seid ihr auf der Flucht vor euch selbst, vor jenen Aspekten eurer selbst, die euch Furcht einflössen, weil ihr mit ihnen nie vertraut geworden seid. Ihr seid deshalb nie mit ihnen vertraut geworden, weil ihr sie, sobald ihr ihrer gewahr wurdet, aus eurem Bewusstsein verbannt habt. Möglicherweise habt ihr sie so schnell und gründlich verbannt, dass ihr sie nicht kennt. Aber ihr seht sie in Anderen, ohne zu erkennen, das es eben jene Aspekte sind, die ihr in euch selber verbannt habt; und das ist der tiefere Grund, warum ihr die Nähe dieser Anderen fürchtet. Letztlich fürchtet ihr sogar die Nähe zu Gott. Vielleicht sucht ihr sie zunächst, aber wenn der Gesuchte endlich einmal wirklich nahe ist, flüchtet ihr. Denn Er – oder Sie -, jenes unheimliche Wesen, das überall ist und alles sieht und alles weiss, jenes übernatürliche Wesen, für das ihr Gott haltet, sieht bis auf den Grund eurer Seele, und in seiner Nähe

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und unter seinem durchdringenden Blick enthüllt sich alles, offenbart sich alles, tritt alles an die Oberfläche, was ihr in euch tragt und sorgfältig vor euch selber verborgen habt. Die Nähe Gottes ist ein Schock, der eure Selbstgefälligkeit – die zerbrechliche Decke der Zufriedenheit, in die ihr euch gehüllt und mit der ihr eure inneren Dämonen verdeckt habt – zerschmettert, ebenso wie die wahre Nähe eines anderen Menschen, wenn ihr sie wirklich zulasst. Das ist es, was ihr befürchtet. Deswegen fürchtet ihr euch vor Nähe. Aber seid getrost, ihr seid in guter Gesellschaft. Die meisten Menschen fürchten sich vor Nähe, auch diejenigen, die Nähe zu suchen meinen. Es sind die allerwenigsten, die den Schock wirklicher Nähe ertragen können. Wirkliche Nähe ist Konfrontation, Begegnung, Berührung; wirkliche Nähe verwandelt. Kein Stein im Gebäude deiner Selbstbetrachtung bleibt an seinem Platz, wenn du in die wirkliche Nähe zu Gott oder zu einem anderen Menschen eintrittst und dich ihr aussetzt; und, mehr noch, nicht nur passiv die Nähe des Anderen auf dich einwirken lässt, sondern ihr auch aktiv mit deiner eigenen Präsenz standhältst. Ihr, die ihr Angst habt vor Nähe: Prüft, wovor ihr wirklich Angst habt, und findet es in euch. Ihr, die ihr Nähe sucht: Prüft, was ihr wirklich sucht, und findet es in euch. Alles liegt in euch selber – Nähe und Ferne; alles, was ihr ersehnt und alles, was ihr fürchtet. Sogar den Geliebten, dessen Nähe ihr sucht oder flüchtet, findet ihr in euch.

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XX

Heimweh nach der vollkommenenBeziehung

Woher unsere Sehnsucht kommt. Wie wirnach Hause finden in die vollkommene

Beziehung. Wie wir ihre Vollkommenheit auchin unseren unvollkommenen Paar – Beziehungen

entdecken können.

Jeder Mensch sehnt sich insgeheim nach der vollkommenen Beziehung. Einige bekennen sich zu dieser Sehnsucht, andere nicht. Diejenigen, die sich nicht dazu bekennen – vor sich selbst und vor anderen – haben entweder die Hoffnung aufgegeben, diese vollkommene Beziehung zu führen, enttäuscht und verletzt worden; manche sind in ihrer Sehnsucht nach der vollkommenen Beziehung schon so früh verwundet worden, dass sie sich schon zu einer Zeit, da sie noch nicht bewusst nachdenken konnten, vor ihr verschlossen haben und deshalb als Erwachsene meinen, diese Sehnsucht sei ihnen fremd. Tatsächlich ist sie keinem Menschen fremd, auch dem Einsiedler nicht. Dieser zieht sich in seine Höhle oder Zelle zurück, um die vollkommene Beziehung zu finden; nur ist er der Ansicht, dass sie niemals zu einem anderen Menschen existieren könne, sondern nur zu seinem innersten Selbst, zu Gott. Andere ziehen sich aus Enttäuschung oder Verbitterung von den Menschen zurück; sie meinen, auf Beziehung verzichten zu können, während sie in Wirklichkeit ihre Hoffnungen unter der Decke der Bitterkeit begraben haben. Wieder

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andere wehren sich mit Händen und Füssen dagegen, mit einem Menschen eine enge und verbindliche Beziehung einzugehen; auch ihnen ist die Sehnsucht nach der vollkommenen Beziehung keineswegs fremd, nur glauben sie nicht daran, dass sie sich realisieren lässt, weil sie Beziehung nur als etwas Beängstigendes erlebt haben. Die Sehnsucht nach der vollkommenen Beziehung ist deshalb im Menschen – latent oder manifest – vorhanden, weil er aus der vollkommenen Beziehung kommt und sich zeit seiner Wanderung durch die Existenz nach ihr zurücksehnt. Die vollkommene Beziehung, die seine Heimat ist, ist der Zustand, in dem er sich vollkommen angenommen, vollkommen verstanden, vollkommen geachtet, vollkommen wahrgenommen und vollkommen geliebt weiss. Dieser Zustand ist die Heimat des Menschen, und es ist die Liebe Gottes, die ihn auf diese Wise umfängt. Nun ist der Mensch im Zuge seiner Existenz nicht etwa aus dieser Liebe herausgefallen, aber er hat sie verlassen; er hat gewissermassen den sicheren Schoss der Mutter aufgegeben, um auf eigene Faust Welt und Leben zu erobern und zu gestalten. Wenn er dabei auf die Nase fällt, weint er und schreit er wieder nach der Mutter; wenn aber alles nach seinen Wünschen läuft , vergisst er sie. Die Mutter jedoch ist immer da; sie ist immer für ihn da, ob er sich ihr zu-oder von ihr abwendet; sie kann auch gar nicht anders, denn er ist ja ein Teil von ihr. Der Zustand der vollkommenen Beziehung, nach dem der Mensch sich unbewusst zurücksehnt und den er in seinen Beziehungen zu anderen zu realisieren versucht, existiert deshalb latent immer in seinem eigenen Innern; in seiner eigenen Beziehung zu seinem Ursprung, seiner Quelle, seinem Selbst. Erinnere dich der folgenden Schlüsselworte, wann immer Leid und Schmerz über dich hereinbrechen und du dich allein und einsam fühlst: Es gibt eine Liebe, in der du vollkommen gesehen wirst, vollkommen verstanden wirst, vollkommen geachtet und vollkommen geliebt, so, wie du bist. Deine Liebe ist da, immer, und du kannst jederzeit in ihre Arme flüchten. Das ist die vollkommene Beziehung, nach der du dich sehnst. Was ist dein Teil an dieser vollkommenen Beziehung zu deinem wahren Geliebten? Dein Teil ist, dass du seine Liebe erwiderst. Dass dein Herz

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ihm entgegenfliegt mit offenen Armen, wo immer du ihn erkennst – in dir selber oder in anderen. Und hast du erst einmal die Liebe Gottes in dir entdeckt, so kannst du gar nicht anders als sie zu erwidern. Solange du diese vollkommene Beziehung in dir selber und zu dir selber – zu deinem innersten Selbst, das das innerste Selbst aller Wesen ist – nicht gefunden hast existiert die Sehnsucht nach der vollkommenen Beziehung in dir und taucht als Hoffnung auf, sobald du dich verliebst. Hier könnte sie sein, diese vollkommene Beziehung; hier könnte der mensch sein, der mich versteht, der mich sieht, wie ich bin, und der mich liebt, wie ich bin. Kein Mensch jedoch kann einen anderen Menschen in dieser vollkommenen Weise lieben, ganz einfach deshalb, weil kein Mensch in seiner Selbsterkenntnis und seiner Selbstliebe so weit gediehen ist, dass er alles verstehen, wahrnehmen und achten kann. Alles, was du in dir selber nicht wahrnimmst, nicht verstehst und nicht achtest, kannst du auch in einem anderen nicht wahrnehmen, nicht verstehen und nicht achten. Suchst du also mit einem Menschen die vollkommene Beziehung, so musst du den vollkommenen Menschen suchen, den Menschen, der so voller Liebe und Verstehen ist, dass er dein Bedürfnis danach, vollkommen gesehen, gewürdigt, verstanden und geachtet zu werden, erfüllen kann; und du selber muesstest ebenso vollkommen sein, sonst könntest du ihm nicht auf gleiche Ebene begegnen. Das scheint ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen zu sein, nicht wahr? Was kann man also als unvollkommener Mensch mit unvollkommenen Partnern tun? Verstehen, dass die vollkommene Beziehung, die du suchst, immer vorhanden ist; dass sie nicht nur in deinem eigenen Innern als geistiger und emotionaler Zustand existiert, sobald du dich ihr zuwendest; sondern dass sie auch diejenige Realität ist, die all deinen Beziehungen zu Grunde liegt. Denn all deine unvollkommenen Beziehungen zu unvollkommenen Menschen sind Bestandteil und Ausdruck der vollkommenen Beziehung, die Gott – das Universum – zu dir hat. Jede deiner Beziehungen versorgt dich mit dem, was du zum jeweiligen Zeitpunkt brauchst; jede gibt dir ein Stück der Erfüllung, die du suchst; jede eine Facette der Liebe, die du suchst. Dies zu erkennen fällt euch schwer, weil ihr die Realität aufgefächert in Zeit erlebt und nicht in ihrer

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Totalität. Du bist dir immer nur eines kleinen Ausschnitts der Wirklichkeit bewusst; und dieser Teil ist notwendigerweise nicht das vollkommene Ganze. Zurück zu deiner unvollkommenen Beziehung zu deinem unvollkommenen Geliebten. Du erreichst die vollkommene Beziehung zu diesem besonderen Menschen nicht dadurch, dass du an ihm, an dir oder an der Beziehung arbeitest und versuchst, etwas zu verbessern; du erreichst sie dadurch, dass du als der Mensch, der du bist, mit ihm als der Mensch, der er ist, in Beziehung trittst, indem du aus deinem Sosein und seinem Sosein die Beziehung sich so entwickeln lässt, wie sie sich natürlicherweise entwickeln will. Das ist die Art, wie du dich der Vollkommenheit, die eurer unvollkommenen Beziehung zu Grunde liegt, nähern und ihr zur Entfaltung verhelfen kannst.

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XXI

Schönheit

Wie Liebe für uns realer wird, wenn wir Schönheit zu unserem Leitprinzip machen.

Was ist Schönheit? Schönheit ist das, was die Seele an ihre eigene Natur erinnert, die in der Inkarnation, in Persönlichkeit, Psyche und Körper sich nur in eingeschränkter und verzerrter Form ausdrücken kann. Das ist nicht etwa ein Fehler, sondern liegt in der Natur der Inkarnation. Alles jedoch, was die Seele an ihre ursprüngliche Natur erinnert, wird vom Menschen als schön empfunden. Denn die Natur der Seele ist vollkommene Schönheit, und diese vollkommene Schönheit sucht sie im irdischen Leben und in jeder Beziehung zu manifestieren – jeweils neue Facetten ihrer Schönheit in besonderer und einzigartiger Weise. Ein Mensch kann in seinem Herzen voller Schönheit sein und doch äusserlich ein unproportioniertes Gesicht, einen trägen und unförmigen Körper oder ein schroffes Gebaren haben. Die Schönheit seiner Seele, die in seinem Herzen fühlbar wird, wird sich in seiner Sehnsucht äussern, seinem Lächeln, seinem Weinen, seinen Werken, seinen Handlungen, vielleicht gelegentlich auch einmal in Worten oder Gesten. Wenn du dich von der Fassade nicht täuschen lässt, weder der körperlichen noch der psychischen, und dein Gewahrsein, deine Einstimmung auf das Herz des Geliebten richtest, wirst du immer wieder berührt, manchmal überwältigt sein von der Schönheit die du da fühlst oder erahnst. Halte deinen Blick stets auf diese Schönheit

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gerichtet, und du wirst immer das Schönste und Beste für deinen Geliebten tun und sein, was im gegenwärtigen Augenblick möglich ist – wie unzulänglich auch immer dein Vermögen sein mag, in jedem Augenblick der Mensch zu sein, der du gern sein möchtest. Stets auf der Höhe deiner selbst zu sein, immer mutig, ehrlich, selbstlos oder was auch immer du dir unter einem liebenden Menschen vorstellst, ist nicht so wichtig – viel wichtiger ist es, deinen Blick und deine Einstimmung stets weniger auf die Person des Geliebten, seine Äusserungen, seine persönlichen Fehler und Unzulänglichkeiten und mehr auf die Schönheit zu richten, die in seinem Herzen verborgen ist. Und das gleiche gilt für dich selber. In deinem Schmerz, deiner Liebe, deinem vergeblichen Bemühen, ein besserer Mensch zu werden, in deiner Freude an Blumen und Licht, in deiner Sehnsucht nach Schönheit, nach Grösse, nach Liebe, in deinen Tränen der Enttäuschung, ja selbst in deiner Wut – die ja nur deshalb existiert, weil die Liebe in dir missachtet wurde – kannst du die Schönheit deiner Seele erkennen, die in deinem Herzen fühlbar ist. Halte den Blick nicht auf die Fehler und Unzulänglichkeiten deiner Person gerichtet, sondern auf die Schönheit , die in deinem Herzen wohnt! Und du wirst – ungeachtet aller Fehler, die du machen magst – stets das Schönste und Beste sein, was du im gegenwärtigen Augenblick sein kannst – für dich, für deinen Geliebten, für eure Beziehung und für alles, womit du in Berührung kommst. Betrachtest du einen Baum, die Sichel des Halbmonds, den sternenbesäten Nachthimmel, die dahinziehenden Wolken, den Horizont, das Lächeln eines Kindes, den Flug eines Vogels, die zärtliche Geste einer Mutter, eines Freundes, so sieh die Schönheit, die sich darin ausdrückt. Öffne dein Herz der Schönheit, die hinter allem verborgen und sogar noch im Herz des Verbittertsten zu finden ist: Lasse dich berühren von Schönheit, wo immer sie auftaucht. So hältst du Herz und Seele lebendig. Was auch immer geschieht zwischen dir und deinem Geliebten: Hältst du dein Herz der Schönheit offen, richtest du deinen Blick stets auf die Schönheit, die auch hinter einem zornigen Wort noch verborgen ist – die Schönheit der verletzten, enttäuschten Unschuld oder die Schönheit der Empörung über Falschheit oder Ungerechtigkeit -, so wirst du immer voller Liebe sein.

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Eure Beziehung, wie auch immer sie sich äusserlich gestaltet, besitzt in der Tiefe ihres Wesens ihre ganz besondere Schönheit. Diese Schönheit tritt zutage in besonderen Momenten der Vertrautheit, in Augenblicken grosser Hingabe, in all jenen Momenten, wo einer oder beide ihre Grenzen überschreiten, um sich der Liebe zu öffnen; sie tritt in Momenten von Nähe zutage, im Schmerz der Trennung, der Freude, einander wiederzusehen; in Augenblicken tiefer Übereinstimmung, aber auch in jedem Moment, wo Einer dem Anderen sein Herz öffnet und seine wahren Gefühle mitteilt. Dich auf die Schönheit einzustimmen und sie stets wahrzunehmen, hinter allem, was geschieht, wird dir auch in schwierigen Zeiten helfen, dein Herz offenzuhalten. Hier ist allerdings nicht gemeint, irgend etwas an deiner Wahrnehmung zu leugnen oder zu beschönigen oder alles positiv zu beurteilen, was geschieht. Das wäre Lüge. Schönheit ist nicht etwas, was du durch eine besonders wohlwollende Art der Interpretation herstellen musst, sondern sie ist etwas, was auf dem Grunde des Herzens vorhanden ist. Du kannst sie nur finden, wenn du in deinem Herzen aufrichtig bist; wenn du fühlst , was du wirklich fühlst, ohne es zu unterdrücken oder zu beschönigen oder zu korrigieren, und dein Herz dem öffnest, was dein Partner wirklich fühlt. Schönheit ist das, was auf dem Grunde der Wahrheit zu finden ist – niemals in der Lüge.

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Harmonie

Wieso das, was wir üblicherweise alsHarmonie bezeichnen, getarnter Krieg ist.Was man aufgeben muss, um zu wahrer Harmonie zu gelangen, und wie man es

aufgeben kann.Was wahre Harmonie bedeutet.

Wenn ein Mensch seinem wahren Wesen gemäß lebt, ist er in Harmonie mit sich selbst. Wenn zwei Menschen in Harmonie mit sich selber sind und ihre Beziehung zueinander gemäß dem wahren Wesen dieser Beziehung leben, leben sie miteinander in Harmonie. Nun ist dies Harmonie kein statischer Zustand, der ein-für allemal vorhanden ist und sich niemals wandelt; sondern der Mensch entwickelt sich, jeder auf seine Weise und in seinem Tempo, und demgemäß entwickelt sich auch die Beziehung. Wenn einer der Partner einen neuen Entwicklungsschritt tut, so regt er einen Entwicklungsschritt in dem anderen an; nicht unbedingt den gleichen Schritt, sondern eben den, der der Natur und dem gegenwärtigen Entwicklungsstand des Partners entspricht. Stösst dieser Wachstumsimpuls beim Partner auf Widerstand – er weigert sich, zu antworten oder in sich zu gehen, um die neue Situation zu erfassen und auf sie mit einer Erweiterung der eigenen Persönlichkeit zu antworten -, so entsteht Disharmonie. Diese ist von Natur aus vorübergehend und natürlicher Teil der Beziehung. In der Phase der Disharmonie geht es darum, dieses neue Gefühl zu erfahren, es als Teil der Beziehung zum gegenwärtigen Zeitpunkt

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kennenzulernen. In manchen Fällen brechen Beziehungen auseinander, wenn eine solche Krise auftaucht. Dies geschieht dann, wenn einer der Partner oder beide nicht begriffen haben, dass Disharmonie ein vorübergehender Zustand ist, der dann, wenn er von beiden ehrlich und aufmerksam durchlebt und angenommen wird, die Tendenz hat, sich in eine neue Harmonie hineinzulösen. Manche Menschen verlassen die Beziehung, sobald die Krise da ist, weil sie sich nach einer Beziehung sehnen, die immer harmonisch ist, und sie suchen sich, getrieben von diesem Wunsch, einen neuen Partner. Zur Sinfonie einer Beziehung gehört jedoch das disharmonische Moment ebenso wie das harmonische Zusammenspiel. Wenn die beiden Liebenden die Zeit der Disharmonie aufmerksam und ohne sie aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen oder sie zu beschönigen durchleben, finden sie zu einer tieferen, vollständigeren Harmonie. Saiten des Wesens, die vor der Krise nicht mitschwingen durften – unterdrückte oder noch nicht entwickelte Seiten der Persönlichkeit – kommen plötzlich mit ins Spiel und verändern das ganze Bild. Der Betreffende nimmt sich selbst anders wahr, und aus dieser veränderten Selbst-Wahrnehmung heraus sieht er auch den Partner mit anderen Augen, verhält sich anders, denkt anders, fühlt anders, stellt möglicherweise andere Forderungen an den Partner, an die Beziehung. Der Partner sieht sich mit einer neuen Lage konfrontiert. Er hat die Wahl: das neue zu ignorieren und so zu tun, als ob noch alles beim Alten wäre – was zu Verdrängung, Unwahrheit und Unzufriedenheit führt, zu Unbehagen, letztlich Krankheit; die Beziehung zu verlassen, weil er sich mit den neuen Bild nicht anfreunden kann; zu protestieren und seinen Zorn oder seine Trauer zu äussern – was immerhin eine lebendige Reaktion ist, die Kommunikation und damit Verständigung und Veränderung ermöglicht; oder in sich zu gehen und sehr ehrlich zu prüfen, wie die neue Situation auf ihn wirkt, und diese Wirkung aufmerksam und ohne Bewertung zu durchleben. Hierin liegt für ihn der Schlüssel zu einem eigenen neuen Entwicklungsschritt. Einen grossen Schritt zurücktreten, den Partner mit neuen Augen betrachten, die Beziehung, so wie sie jetzt ist, in aller Ehrlichkeit erfühlen und dann

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das, was dieses Gewahrwerden mit dir macht, ganz einfach durchleben, kennenlernen, auch durchleiden: das ist alles, was nötig ist, damit das Neue, das die veränderte Lage in dir anregen will, entstehen, wachsen und sich entfalten kann. Üblicherweise aber habt ihr eine Vorstellung davon, wie Harmonie in einer Beziehung aussieht. Die Vorstellung ist von Erinnerungen aus eurer eigenen Vergangenheit geprägt – im Wesentlichen aus dem Grundgefühl, das in eurer eigenen Ursprungs-Familie herrschte ( entweder wollt ihr es genau so wieder haben oder auf gar keinen Fall wieder so wie zu Hause ); von Begegnungen mit Menschen, die eine harmonische Ehe führten, und von verinnerlichten Leitbildern aus Literatur und Film. Könnt ihr all das beiseite lassen und euch selber und den Menschen, mit dem ihr ein Paar bildet, und eure Beziehung unvoreingenommen und ehrlich betrachten? Es ist schwer, nicht wahr? Es verlangt einen aufrichtigen Entschluss, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Das ist der Schlüssel zu wahrer Harmonie: Den Anderen zu sehen , zu respektieren und sein zu lassen, wie man ist; und den Rest – die Beziehung – Gott oder dem Leben zu überlassen. Beziehung nicht herzustellen, nicht zurechtzubiegen, nicht zu manipulieren, zu erzwingen, sondern sie sich so entfalten zu lassen, wie sie sich entfalten will, wenn beide in ihrer Wahrheit leben und einander in ihrer Wahrheit leben lassen. Listet einmal auf, was für euch zu einer harmonischen Beziehung gehört. Mögliche Beispiele:

dieselbe Musik lieben die gleichen Ansichten haben gern miteinander kochen die sexuellen Vorlieben teilen konstruktiv streiten können dem selben spirituellen Ideal verpflichtet sein gerne zusammen tanzen/wandern/spazieren gehen etc.

+++

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Betrachtet dann anhand eurer Liste, in welchen Punkten ihr versucht, die Gegebenheiten , euch selbst oder den Partner so zurechtzubiegen, in der Realität oder im Geist, dass diese Forderungen erfüllt werden.

+++ Betrachtet dann die Realität. Seht euren Partner als ganzes und eigenständiges Wesen in seiner Welt mit seinen eigenen Vorlieben und Gedanken; und seht euch selber losgelöst von ihm als eigenes und ganzes Wesen mit euren eigenen Vorlieben und Gedanken; sammelt alle Elemente wieder ein, die eigentlich zu euch gehören, die ihr aber der Beziehung zuliebe aufgegeben habt, und entfernt alle Elemente, die ihr der Beziehung zuliebe übernommen habt, die euch aber eigentlich nicht entsprechen. Seht euren Partner ganz, heil und eigenständig in seiner Welt, und euch selber ebenso ganz, heil und eigenständig in eurer Welt.

+++

Übt euch täglich in dieser Betrachtung. Und versucht nach und nach diese Kontemplation in Realität umzumünzen. Lasst ihm seine Rock-Musik, auch wenn ihr sie nicht ausstehen könnt. Hört euren Mozart, auch wenn er das langweilig findet. Gesteht euch ein, dass ihr seine Ansichten in puncto Politik nicht teilt. Übt euch darin, ihn immer mehr so sein zu lassen, wie er ist, und euch selber immer mehr so zu akzeptieren, zu achten und zu verhalten, wie ihe seid. Und lasst aus dieser neuen Einstellung die wahre Beziehung, die wahre Harmonie entstehen. Alles andere ist Lüge und macht auf die Dauer krank und unglücklich. Die übliche Herangehensweise an Liebesbeziehungen ist egozentrisch und bedürfnis-orientiert. „ Willst du mit mir in einer harmonischen Beziehung leben, so musst du...( bitte ergänzen ). Tust du das nicht, so schmolle ich / ziehe mich zurück / grolle dir / bestrafe dich / verlasse dich..., das alles kann ich aber nicht tun, weil ich Angst habe, dich zu verlieren und allein zu sein, also bleibt mir nichts anderes

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übrig, als:

traurig zu sein, damit du siehst, was du mir antust zu verkümmern chronisch gereizt, vorwurfsvoll und unzufrieden zu sein dich zu bestrafen, indem ich deine Bedürfnisse nicht erfülle.“

Der Partner geht üblicherweise mit seinem eigenen, biografie-bedingten Katalog von Forderungen und von Reaktionen bei Nichterfüllung seiner Forderungen in die Beziehung; beide reagieren auf Nichterfüllung ihrer eigenen Forderungen; und reagieren zusätzlich auf die Reaktion des jeweils Anderen. Das ist Krieg. Gelegentlich werden Kompromisse geschlossen; man erklärt sich bereit, die eine oder die andere Forderung zu erfüllen, vorausgesetzt,dass.... Dann gibt es einen Waffenstillstand. In Zeiten,in denen beide die Forderungen des anderen erfüllen – beispielsweise am Anfang einer neuen Beziehung- gibt es sogar Frieden. Dieser Friede ist jedoch nur die Kehrseite des Krieges, die momentane Abwesenheit von Krieg. Krieg lauert an allen Ecken und Enden, denn jeder der beiden hat seinen Katalog von Forderungen, entsprechend seiner ungestillten (Kindheits-) Bedürfnisse, und niemand kann auf Dauer immer einen Katalog von Forderungen entsprechen. Unter den offenen Forderungen liegen verdeckte, unbewusste Forderungen. An der Oberfläche deiner Psyche sehnst du dich vielleicht danach, bedingungslos geliebt und geachtet zu werden, in deiner tieferen Schicht jedoch existiert das Bedürfnis, wieder zu erleben, wie du nicht bedingungslos geliebt und geachtet wirst – weil es dir als Kind so ergangen ist und weil du das wiedererleben möchtest, um es bewusst zu verarbeiten und heilen zu können. So sind verschiedene Schichten eurer Psychen miteinander verzahnt und zu komplizierten Mustern verwoben, von denen ein grosser Teil an der Oberfläche zwar in seinen Auswirkungen erkennbar ist, aber nicht in der Tiefe als Ursache gesehen wird. Ihr treibt miteinander in einem Meer von unverständlichen Regungen, Gedanken, Emotionen und Verwicklungen, und in der äussersten Schicht versucht ihr, Harmonie

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herzustellen, indem ihr eine Übereinkunft trefft darüber, wie miteinander umzugehen sei. Erkennt ihr an diesem Bild, dass auf diese Weise niemals wahre Harmonie entstehen kann? Wahre Harmonie entsteht durch Liebe. Liebe achtet jeden in seiner Besonderheit und fördert jeden in seiner Eigenständigkeit. Nehmt grossen Abstand voneinander, atmet tief durch, befreit euch vom Ballast eurer Vorstellungen und Erwartungen an den Partner und die Beziehung – mit denen ihr euch selber Fesseln anlegt -, atmet auf, wenn ihr das Gefühl für euch selbst, für eure eigene Natur, eure eigene Welt, eure eigene Atmosphäre wieder gefunden habt -, und dann verneigt euch tief vor dem wahren Wesen eures Partners! Beziehung und Harmonie muss man nicht herstellen; Beziehung und Harmonie stellt das Leben her. Alles, was du zu tun hast, ist da zu sein – zur rechten Zeit am rechten Ort – und da zu bleiben, wenn dein Herz dir sagt, dass du da bleiben sollst! Alles übrige überlasse dem Gott, dessen Wesen Liebe und Beziehung ist und in dessen Herzen alles am richtigen Platz ist – auch du und dein Geliebter oder deine Geliebte. Neben Harmonie gibt es auch Übereinstimmung. Übereinstimmung kann zur Harmonie gehören, muss aber nicht. Eure Harmonie besteht vielleicht gerade darin, dass der eine Beethoven liebt und der andere Brahms; dass der eine gern schnell läuft und der andere gern langsam geht; musikalisch gesehen, kann die Grundnote eures Wesens mit der Grundnote des Wesens eures Partners harmonisch zusammenklingen wie ein C mit einem E – wenn ihr euch selber und einander so sein lasst, wie ihr seid. Jene grundlegende Übereinstimmung aber, die euch, wenn ihr ihr einmal begegnet, mit tiefer Zufriedenheit erfüllt, entspricht eher einem Oktavenverhältnis: Euer Grundton ist dann derselbe wie der eures Partners, nur in einer anderen Oktave, also wie C und C'. Diese Art grundsätzlicher Übereinstimmung herrscht zwischen Menschen derselben Seelenfamilie; diese besteht genau in jener Gleichheit der seelischen Gestimmtheit, die vom persönlichen Bewusstsein dann als Gefühl von Übereinstimmung wahrgenommen wird.

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XXIII

Ursprung und Zweck derBeziehung

Worin jede Beziehung ihren wahren Ursprunghat und worin ihr letztlicher Zweck liegt.

Wie die Erinnerung an diesen Ursprung unddie Hingabe an diesen Zweck jede Beziehung

heilen und heiligen kann.

Jede Liebesbeziehung hat ihren Ursprung in einem Traum des Schöpfers, und ihr Zweck ist es, diesen Traum zu erfüllen, indem er gelebt wird. Dieser Traum entspringt einer Vision, die sich spontan aus dem Herzen des Universums als Sehnsucht erhoben hat, eine Vision von strahlender Schönheit, die sich im Herzen der Liebenden wiederspiegelt und sich in ihrer Sehnsucht ausdrückt. Damit dieser Traum sich erfüllen kann, muss die Sehnsucht gelebt werden. Wenn du dein Herz wach hältst und in dir selbst aufrichtig bist, kannst du immer die Sehnsucht in dir fühlen, die nach Erfüllung strebt. Diese Erfüllung muss nicht herbeigeführt, gemacht, bewerkstelligt werden, sondern sie geschieht von selber, wenn du deine Sehnsucht lebst. Lass dir niemals einreden, deine Sehnsucht sei nicht erfüllbar. Die Sehnsucht trägt ihre Wahrheit, ihren Grund, ihren Zweck und ihre Erfüllung in sich, wenn du dem Weg folgst, den sie dir weist; jeder Schritt auf diesem Weg birgt ein Stück Erfüllung. Es ist nicht so, dass der Weg der Sehnsucht dich ihrem Ziel entgegenträgt – sondern jeder

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Schritt, den du auf dem Weg der Sehnsucht gehst, ist bereits eine Erfüllung in sich. Das können nur die begreifen, die es auf sich nehmen, den Schmerz, der mit der Sehnsucht einhergeht, zu fühlen, anstatt ihr Herz vor der Sehnsucht zu verschliessen, um vor dem Schmerz sicher zu sein. Fühle und lebe! Lebe und fühle! Lass jeden deiner Schritte von deiner Sehnsucht bestimmt sein und nicht von deinem ängstlichen Verstand, der stets auf Sicherheit vor Leid und Schmerz bedacht ist. Was ist Sicherheit? Sicherheit ist nur ein anderes Wort für das Grab, in dem deine Sehnsucht und deine Hoffnungen, die strahlende Vorfreude, mit der du dieses Leben angetreten hast, bestattet sind. Suchst du die Sicherheit, so suchst du den Tod. Der Tod aber – der endgültige Zustand von Sicherheit vor allem Leben und damit vor allem Schmerz – ist die grösste Illusion. Leben bist du! Nicht Lebendes, nicht Gelebtes, nicht Lebenslauf, der beginnt und endet – sondern das Leben selbst, kondensiert und konzentriert in der Form, die du Ich nennst. Leben bist du, und Sehnsucht ist der Strom, der dich vorwärts trägt, zu immer neuen Ufern, immer tieferer und reicherer Erfüllung in dir selbst. Denn die Reise deines Lebens, die die Reise der Erfüllung deiner Sehnsucht ist – in jeder Phase erfüllt sich eine Sehnsucht – findet in Wahrheit in dir selber statt, innerhalb deiner selbst und nicht in einer fremden Welt ausserhalb von dir. Jede Begegnung mit deinem oder deiner Geliebten ist eine Begegnung mit dir selbst. Er oder sie zeigt dir ein anderes Gesicht deiner selbst – eines, das dir noch fremd und neu ist, eines das von dir erkannt, gesehen, geliebt, gewürdigt und verherrlicht werden will in deiner Liebe, im Entzücken der Entdeckung. Das ist Verliebtheit: die Verherrlichung einer anderen Erscheinung deiner selbst im Spiegel deiner Liebe. Die Sonne zeigt dir dein Licht, der Himmel deine Weite, und dein Geliebter oder deine Geliebte hilft dir, die Schönheit deines eigenen Herzens in deiner Liebe zu ihm oder zu ihr zu entdecken. Erinnerst du dich an den Traum,der eurer Beziehung zu Grunde liegt? Kannst du ihn ahnen? Fühlst du etwas von der ursprünglichen Schönheit und Unschuld eurer Verbindung? Bist du bereit, an seiner

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Erfüllung mitzuwirken? Dann lasse niemals zu – welcher Schmerz auch damit verbunden sein mag – dass deine Sehnsucht verschüttet und begraben wird. Wenn Hoffnungslosigkeit, Entmutigung, Trauer, Resignation, Bitterkeit Besitz von dir ergreifen wollen, dann erbarme dich ihrer, indem du sie mit allen Fasern fühlst, und dann fühle deine Sehnsucht und deine Hoffnung zugleich. Lass nicht die Entmutigung die Hoffnung töten oder die Bitterkeit die Sehnsucht, sondern lass Entmutigung und Hoffnung, Bitterkeit und Sehnsucht nebeneinander in deinem Herzen wohnen. Ausserhalb des Herzens – wenn dein Herz sich vor ihnen verschliesst – bekämpfen sie einander; innerhalb deines Herzens können sie friedlich nebeneinander wohnen wie Löwen und Lämmer im Paradies. Jede Beziehung findet ihre Erfüllung, in dieser oder einer anderen Zeit. Erfüllung ist nicht immer dasselbe wie ein Happy-End im romantischen Sinne. Erfüllung findet dann statt, wenn der Traum, der der Beziehung zweier Liebenden zu Grunde liegt, gelebt wurde; der Traum der Seele, nicht der Traum des von romantischen Vorbildern geprägten Gemüts. Die Sehnsucht sorgt dafür, dass das geschehen kann, manchmal auf Umwegen, manchmal nicht innerhalb der Zeit und Form, die der Mensch sich vorstellt; aber unfehlbar und immer. Ihr könnt den Strom der Sehnsucht allerdings aus eurem Bewusstsein verdrängen und aus eurem Herzen verbannen; und damit zeitliche Verzögerungen in den Lauf der Dinge bringen; aber gänzlich abschneiden von der universellen Sehnsucht, die in eurer Seele lebt, könnt ihr euch niemals. Im Grunde habt ihr keine Wahl, als ihr selbst zu sein und eure authentische Sehnsucht zu leben; die berühmte Wahl des Menschen besteht letztlich nur darin, zu seinem wahren Wesen und seiner Sehnsucht ja oder nein zu sagen. Ein Nein aber verändert weder das wahre Wesen noch die Sehnsucht; es verursacht lediglich Aufschub, Unbehagen und Krankheit. Willst du wissen, wie du dich von Krankheit und Leid befreist? Es ist sehr einfach. Gestatte deinem wahren Wesen – deiner Wahrheit bedeutet das, nicht mehr und nicht weniger -, sich auszubreiten, und erlaube deiner Sehnsucht, aus der Tiefe, in der du sie vergraben hast,

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emporzusteigen in dein Gemüt und dein Denken und dein Fühlen, dein Leben, deine Beziehungen zu bewässern und zu beleben! Wirf immerfort das Licht deines Bewusstseins auf alles, was in dir ist – ohne Ausnahme -, und alles gesundet und blüht. Es ist sehr einfach. Lebe! Fühle! Lebe! Es ist Zeit! Es ist an der Zeit, deine eingebildeten Fesseln abzuschütteln und dein wahres Wesen zu befreien. Weine, wenn du traurig bist, lache wenn du fröhlich bist, und schimpfe wenn du zornig bist! Lebe und fühle! Dich zu manifestieren bist du hier – nicht, dich zu verbergen. Dich auszuleben bist du da – nicht dich zu korrigieren oder „Lektionen zu lernen“! Das Leben ist keine Schule – es ist ein Fest! Gelebt will es werden, gefeiert, nicht auswendig gelernt, rezitiert, analysiert, berechnet oder katalogisiert! Lebe! Fühle! Sei! Und sei frei! Dies ist ein Appell an alle, die bereit sind, zu erwachen aus den dumpfen Träumen des Gefangen-Seins, Gebunden-Seins, Zurechtgestutzt-Seins, aus dem Gefängnis der Angst, der Schuld, der Enttäuschung und Verbitterung. Seid Ihr schuldig, dann wagt es, die Schuld zu fühlen! Ganz und gar. Und dann sagt zu eurem Herzen: Jetzt verstehe ich, was es bedeutet, sich schuldig zu fühlen. Jetzt kann ich weitergehen. Die Zeit der Qualen ist vorbei. Die alte Beziehung, Produkt von Verpflichtung, Schuld, Sühne, Vorwurf, Angst, Verstrickung ist gestorben. So sehr ihr es auch versucht, ihr seid nicht mehr in der Lage, euch allzu lange darin aufzuhalten. Die neue Beziehung ist noch nicht geboren. Dieses Buch erschafft sie aus der Vision, die allen Paarbeziehungen zu Grunde liegt. Nun ist es an euch, sie in Fleisch und Blut zu verwirklichen, auszuleben – und zu erfüllen. Jeder Einzelne und jedes Paar auf seine eigene Weise. Und doch webt ihr alle zusammen, jeder an seinem Platz, an einem gemeinsamen Teppich; einem neuen Teppich, gewoben aus neuer Schönheit und neuer Liebe, auf dem die Liebenden, die nach euch kommen, in grösserer Freiheit und Vollständigkeit miteinander tanzen können, als ihr es gewagt habt. Seid ihr bereit?

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Anhang

Fragen und Antworten

Vorbemerkung

Vielleicht geht es ihnen wie mir, nachdem Sie dieses Buch zu Ende gelesen haben, und sie fühlen sich inspiriert, motiviert, beschwingt, tief berührt und erhoben. Manches von dem was gesagt wurde, lässt vielleicht Fragen übrig; hinzu kommen Fragen, die in den vorstehenden Kapiteln nicht behandelt wurden. Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Freundinnen und Freunden habe ich einige dieser Fragen formuliert. Um die Antworten zu erhalten, habe ich mich auf dieselbe Quelle eingestimmt, aus der auch die Texte der vorangegangenen Kapitel stammen. Hier also eine Auswahl unserer Fragen, die, wie ich hoffe, den Fragen entsprechen oder ähneln, die auch Sie als Leser oder Leserin dieses Buches bewegen.

Etwas in mir rebelliert gegen eine Aussage im Kapitel „Unerwiderte Liebe“. Ihr habt gesagt, dass das Leben nicht wie eine Wunschpartner-Agentur funktioniert, sondern eher wie eine gute Mutter, die ihren Kindern das gibt, was sie in Wirklichkeit brauchen. Dass sie uns deshalb vielleicht eine unerwiderte Leidenschaft beschert, damit wir den Aspekt „Leidenschaft“ in uns entwickeln. Also sie hält uns das vor, wonach wir uns sehnen, damit wir eine bestimmte Fähigkeit entwickeln... Das ist grausam. Ich kann das nicht glauben. Ich glaube nicht, das Gott eine Rabenmutter ist, die ihre Kinder quält, damit etwas aus ihnen wird. Diese Idee macht mich wütend. Bitte stelle deine Frage.

Warum bekommen wir nicht die Liebe, nach der wir uns sehnen?

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Die Liebe, nach der ihr euch sehnt, ist immer da. Ihr sucht sie nur am falschen Ort. Überfordert nicht die armen Männer und die armen Frauen, in die ihr euch verliebt; sie können nur das geben, was sie haben. Niemand kann mehr geben als das, was er hat. Auch du nicht, nicht wahr? Es gibt nur einen der alles hat, was du ersehnst. Er ist es, der dich liebt. Er ist der Freund, nach dem du dich sehnst, der Geliebte, nach dem du dich sehnst, der Vater, der Bruder, die Schwester, die Mutter, die Freundin. ErSie, ist all das.

Aber ich sehe ihn nicht. Ich kann seine Arme nicht um mich fühlen. Ich höre seine Stimme nicht. Was habe ich von einem Gott, der nur eine Idee ist? Wo ist denn dieser Geliebte? Ja, ich weiss schon, was ihr sagen werdet. Er ist in mir selber. Aber davon habe ich nichts. Das sind nur Gedanken. Was habe ich von Gedanken? Die machen mich nicht satt.

Er ist mehr als ein Gedanke, mehr als eine Idee. Er ist Realität. Er ist die Realität hinter der Realität. Es gibt zwei Wege, sie zu erkennen: der eine, indem du dich dir selber zuwendest – der Realität hinter deiner eigenen Realität, dich sozusagen nach innen wendest zur Quelle deines Seins. Es ist genau diese Quelle, aus der du alles trinken kannst, wonach du dich sehnst. Der andere Weg besteht darin, das du nach aussen gehst und ihn dort findest. Du musst genau wissen, was du suchst. Du musst wissen, wen du suchst. Du suchst den Geliebten, nicht wahr? Nun, der Geliebte ist in allem, was dir begegnet. Auch in deinem menschlichen Geliebten ist Er ( und in anfassbarer Form, nicht wahr? ); aber dort ist nur ein Teil von ihm manifestiert. Der Rest der Welt liefert dir die übrigen Teile, aufgefächert in Raum und Zeit. Du siehst immer nur einen Ausschnitt, und dann jammerst du, das du den Rest nicht siehst. Erweitere deine Wahrnehmung, um auch den Rest sehen zu können. Das ist alles. Alles ist da. Nichts fehlt. Alles ist da, wonach du dich sehnst. Alles ist im Überfluss vorhanden. Es gibt Liebe für dich im Überfluss. Du wirst zärtlich geliebt, leidenschaftlich, verständnisvoll, freundschaftlich, schwesterlich, mütterlich, väterlich, brüderlich – alles, was du suchst, ist schon da. Du musst es nur finden. Entscheide, wo du suchen willst:

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innen oder aussen. Natürlich kannst du auch innen und aussen suchen. Aber du musst wissen, was du suchst. Suchst du das Begrenzte, Eingeschränkte?

Nein, ich suche das Unbegrenzte. Aber es soll manifestiert sein.

Dann musst du einen langen Atem haben. Oder einen grossen Überblick. So, wie du die Realität wahrnimmst, jedenfalls in deinem üblichen Bewusstseins-Zustand, nimmst du immer nur einen Ausschnitt wahr. Dieser Ausschnitt ist begrenzt. Akzeptiere, das er begrenzt und eingeschränkt ist. Liebe den Ausschnitt der Realität und wisse, dass es nur ein Ausschnitt ist. Oder suche das Unbegrenzte – und dann wisse, dass es sich in jedem Begrenzten manifestiert.

Ist mir alles zu philosophisch. Ich will Liebe, und ich will einen Geliebten, den ich anfassen kann und der mich liebt. Ganz einfach.

Wenn es ganz klar ist, das es das ist, was du suchst, und nichts anderes, dann bekommst du das, wonach es dich verlangt. Ohne jeden Zweifel. Was sollte dem im Wege stehen? Werde dir nur dessen bewusst, was du suchst. Es ist sehr einfach. Alles was fehlt, ist Klarheit. Stelle immer wieder Klarheit her. Finde immer heraus, was du wirklich wünscht.

Kann ich nicht verschiedene Wünsche nebeneinander haben? Zum Beispiel habe ich den Wunsch danach, mein Ideal selbstloser Liebe zu realisieren. Aber zugleich habe ich den Wunsch nach ganz irdischer Erfüllung in der Liebe zu einem Mann. Geht das nicht zusammen?

Natürlich geht das zusammen. Es ist gut, dass du das einmal in aller Klarheit formuliert hast. Du selber warst es, die bisher gedacht hat, das ginge nicht zusammen. Wenn du beide Wünsche in dir ehrst und akzeptierst und in ein Gebet umwandelst, warum sollte es nicht gehen? Was stünde im Wege? Die göttliche Rabenmutter, der Rabenvater, der dir genau das verweigert, was du am sehnlichsten wünscht?

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Du weisst, dass es die nicht gibt. Es sind Projektionen deines eigenen Geistes. Das Leben ist eins. Du bist das Leben, dein Geliebter ist das Leben, und dein potenzieller Geliebter ist das Leben. Dein Leben ist eins und unteilbar. Lebe es einfach. Vergiss deine Fragen.

Wie ist das mit dem Seelenzwilling? Im Buchtext habt ihr ihn erwähnt. Gibt es ihn wirklich? Ich habe immer daran geglaubt. Ich bin schon von klein auf überzeugt gewesen, dass ich einen ganz bestimmten Menschen suche – nicht einen bestimmten Typ Mensch, nicht bestimmte Eigenschaften, sondern einen bestimmten Menschen, einen den es schon gibt und den ich schon kenne, und der so etwas wie eine andere Hälfte zu dem Ganzen, das meine Seele bildet: mein Seelenzwilling. Ich bilde mir sogar ein, ihn zu kennen. Was sagt ihr dazu?

Natürlich gibt es den Seelenzwilling. Er ist eine Realität im kollektiven Bewusstsein...

Ha! Damit wollt ihr wieder sagen, dass es ihn wie alles andere auch in Wirklichkeit nicht gibt.

Sehr richtig. Es gibt ihn ebenso, wie es ihn nicht gibt. Wir fangen hier ganz von vorne an, vor Adam und Eva. Am Anfang war das Nichts, in dem Alles beschlossen war. Vom In-sich-ruhenden-Nichts-in-dem-Alles-beschlossen-Ist, hin zu All-dem-was-Ist-führt eine Bewegung. Diese Bewegung nennt man Sehnsucht. Mit anderen Worten: Er-Sie-Es-,der-die-das das Nichts war, in dem Alles ruhte, sehnte sich danach, Alles zu werden. So begann es Gestalt anzunehmen. Es manifestierte sich als sein eigenes Gegenüber. Nun war es zu zweit: das Nichts, in dem Alles beschlossen war, und das Alles, das aus Nichts hervorgegangen war. Das war das ur-anfängliche Paar, das Yin und das Yang, die Mutter und der Sohn-Gefährte, Frau und Mann. ( Das nehmt bitte alles nicht allzu ernst, errichtet keine neuen Doktrinen darauf, es sind nur Wort-Spiele, die den Sinn haben,

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euch an die Realität zu erinnern, die aber nicht die Realität wörtlich wiedergeben, denn das können Wörter nun einmal nicht. Betrachtet es als Symbol-Märchen. Im Übrigen ist diese Schöpfungsgeschichte nicht als linearer Zeitablauf zu verstehen. Der Ur- Anfang ist immer. ) Aus diesem einen Yin und diesem einen Yang, dieser einen Frau und diesem einen Mann, ist das ganze Universum hervorgegangen. Das ursprüngliche Paar hat sich vervielfältigt und Paar nach Paar gebildet. All dies geschah lange, bevor sich die Manifestation zu der Form verdichtet hat, die eure physische Wirklichkeit darstellt – auf der Ebene des Traums, wenn ihr so wollt, die der physischen Realität vorangeht. Ihr wart also geträumte Paare, bevor ihr reale Paare wurdet. Nun: Jede Selee hat in der Tat ihren Ideal-Partner; ihren engsten Gefährten; diejenige Seele ( hier ist von der individuellen Dimension der Seele die Rede, der individuellen Wesenheit, nicht der kosmischen, der Gesamtseele ), die ihr so nahe steht, dass sie sich in völliger Übereinstimmung mit ihr befindet, dass sie einander vollkommen verstehen und einander in völliger Selbstverständlichkeit vollkommene Liebe entgegenbringen. Dieser „ Seelenzwilling“ existiert in der Tat. Er ist eine Realität in der Welt der Seele. Er muss aber keineswegs in Fleisch und Blut euren Lebensweg kreuzen; und selbst wenn er das tut, muss er keineswegs gewillt oder in der Lage sein, mit euch ein irdisches Paar zu bilden. Er hat sein eigenes Schicksal zu durchlaufen und zu gestalten, so wie ihr das eure; dass ihr mit ihm im Kern eures Wesens ein vollkommenes Gespann bildet, auf der Ebene der Seele, ist ohnehin selbstverständlich; aber möglicherweise hat er – derjenige Teil von ihm, der derzeit in Fleisch und Blut manifestiert ist – zur Zeit andere Bedürfnisse als ihr, ist mit anderen Dingen beschäftigt. Ihr könnt es euch so ähnlich vorstellen wie mit einem biologischen Zwillings-Paar, nehmen wir an, Junge und Mädchen, um in der Analogie zu bleiben. Dass sie eineiige Zwillinge sind, ist ihnen genug; sie stehen einander so nahe, dass es nicht notwendig ist, dass sie ihr Leben lang einander körperlich nahe sind. Diese Art Verwandtschaft ist unabhängig vom physischen Zusammensein. Ihr kennt sicher alle Beispiele dafür; sei es für Blutsverwandtschaft, sei es für Seelenverwandtschaft, die nicht unbedingt ständig in Form physischen Zusammenseins gepflegt und aktualisiert werden muss. Je grösser die Verwandtschaft, desto

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selbstverständlicher die Beziehung, und desto geringer das Bedürfnis, ununterbrochen zusammen zu sein. Die Nähe ist selbstverständlich, sie ist über Raum und Zeit erhaben. Das ist in noch viel grösserem Masse der Fall bei den sogenannten Seelenzwillingen.

Tröstet mich nicht. In meinen Seelenzwilling ( falls er das wirklich ist ) war ich wahnsinnig verliebt und ich habe mich fast zu Tode gelitten, als er mich verliess.

Trotzdem spürst du, dass unsere Aussagen stimmen, nicht wahr?

Ja. Ich fühle mich erleichtert. Ich habe immer gespürt, wie nahe wir uns stehen, und dass das unabhängig davon ist, ob wir in „Beziehung“ sind oder nicht. Ich ahne sogar, dass ich es akzeptieren, ja vielleicht sogar gutheissen kann, dass er eben nicht mein Mann ist. Zumal ich gerade mit einem anderen Mann sehr glücklich bin.

Sehr richtig. Im Übrigen kannst du auch einfach aufhören dir Gedanken zu machen, und der Wahrheit des Augenblicks folgen.

Die Schamanen ( der Schule Carlos Castanedas ) behaupten, dass unsere Suche nach dem Partner in Wirklichkeit nur die Suche nach unserem Energiekörper, unserem energetischen Doppel ist. Dass wir das verwechseln. Ist das so?

Aus unserer Sicht ist das nicht so. Die Suche nach dem Partner ist in Wirklichkeit die Suche nach der Liebe: nach dem Lieben-und-Geliebt-werden-zugleich; danach, sich selbst als Gegenüber zu erleben und sich mit diesem Gegenüber in vollkommener Weise zu vereinigen. So wie das Nichts und das Alles es am Ur-Anfang taten, Gottfrau und Gottmann, wenn ihr so wollt. Theoretisch passen diese beiden Aussagen übrigens ineinander; wenn euch das Vergnügen macht, könnt ihr sehen, wie ihr sie zusammenbekommt. Warum nehmt ihr nicht das Leben als das was es ist?

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Was ist es denn?

Leben.

Und was bedeutet das?

Dass es ganz einfach gelebt werden will.

Stimmt. Wir wollen immer alles wissen und einordnen, ich glaube, damit wir uns sicher fühlen.

Ihr seid sicher. Ihr seid Leben. Ihr könnt leben und „sterben“, ihr könnt in die Luft fliegen und explodieren, ihr könnt traurig sein oder glücklich, ihr könnt trauern oder euch freuen...Ihr seid doch immer Leben. Leben, das sich verwandelt, Leben, das sich entwickelt, Leben, das sich entfaltet, das sich ausbreitet, das sich zusammenzieht, das sich einstülpt...letztlich, das tanzt. Das ist alles. Was gibt es zu fürchten?

Ihr habt gut reden. Ihr seid nicht betroffen, wenn uns eine Bombe auf den Kopf fällt.

Stimmt. Ihr auch nicht.

Waaaas? Habt ihr mal gespürt, wie weh das tut, wenn einem nur ein Stück Eisen auf den Fuss fällt? Oder was Kopfschmerzen bedeuten? Geschweige denn, wie man daran leiden kann, wenn jemand stirbt, den man liebt? Oder elend zugrunde geht?

Langsam, langsam. Da ist viel Empörung, nicht wahr? Spürst du sie? Anstatt dich nur zu ereifern?

Ja. Ich spüre sie.

Darum geht es. In diesem Augenblick ist das Leben in dir ein Aufruhr der Empörung. In einem anderen Augenblick ist das Leben in dir

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Schmerz. In einem anderen Moment ist es Freude. In einem anderen Kraft. In einem Müdigkeit. In einem anderen Frische. In einem anderen Staunen. In einem anderen Schönheit. In einem anderen Elend. Das ist alles. Du aber bist nicht die Empörung, nicht die Freude und nicht das Elend: Du bist das Leben, das sich sich selbst als all das und in all dem erlebt. Und ebenso bist du das Leben, das sich als du und in dir erlebt. Du bist nicht du – du bist das Leben, das sich als du erlebt. Das bedeutet nicht, dass dieses Erleben frei von Schmerz oder Leid wäre.

Okay, verstehe. Können wir jetzt wieder auf die Ebene der vielleicht dummen und banalen, aber doch in Wahrheit und Tatsächlichkeit in uns existierenden Beziehungs-Fragen zurückkehren?

Gern. Immer noch empört?

Ein bisschen. Fühlst du es auch? Oder schimpfst du nur?

Danke für den Hinweis. Ja, ich fühle die Empörung.

Gern geschehen. Es macht uns Spass. Macht es dir auch Spass, deine Empörung zu fühlen?

Ja, stimmt, irgendwie macht es Spass. Fühlt sich jedenfalls kraft-und temperamentvoll an. Nun weiter. Hier ist gleich noch ein Thema was mich empört. Nämlich was wir Frauen mit uns machen, wie wir uns in unseren Beziehungen quälen und was wir uns von den Männern gefallen lassen. Gerade habe ich dreimal dasselbe Lied gehört : „ Ich stelle mich auf die Beziehung ein und nehme demzufolge auch Rücksicht auf die Bedürfnisse des Anderen; er aber bleibt eigenständig und unabhängig und tut einfach, was er will, ohne auf mich Rücksicht zu nehmen.“ Nun gibt es ja Autoren, die behaupten dass diese unausgewogene Konstellation mit der Natur von Mann und Frau zu tun hat. „ Frauen lieben immer, Männer haben zwischendurch zu tun „ witzelte Helen Fielding, und David Deida behauptet, dass für einen

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richtigen Mann die Aufgabe die Nummer eins in seinem Leben ist, während für einen richtige Frau der Mann die Nummer eins ist. Damit ist das Leid für uns Frauen ja schon vorprogrammiert. Wie seht ihr das? Muss das so sein?

Da werden verschiedene Dinge zusammengemischt, die nicht zusammen gehören. Zunächst einmal zur grundsätzlichen Natur von Mann und Frau. Das scheint ein wichtiger Punkt zu sein. Hier muss man unterscheiden zwischen Sozialisation und Natur. Die Natur hat dem Mann mehr körperliche Kraft gegeben, eine grössere Fähigkeit, seine Energie zu bündeln und einen grösseren Drang nach Aktivität , nach Selbstbehauptung und Herrschaft; der Frau hingegen mehr Flexibilität, eine grössere Empfänglichkeit, mehr Intuition, einen grösseren Drang, Beziehungen zu schaffen und die Welt heil zu halten. Das sind einige der naturgegebenen Unterschiede. Wobei es natürlich Ausnahmen gibt; so hat es äusserst kriegerische Frauenstaaten gegeben; und es hat sehr wohl Männer gegeben, die die spezifisch weiblichen Eigenschaften sehr stark entwickelt hatten, ohne dabei ihre Männlichkeit aufzugeben. Es kommt immer auf die Mischung der männlichen und weiblichen Anteile an. Sie differiert von Individuum zu Individuum. Daneben gibt es die sozialisations-bedingten Unterschiede zwischen Mann und Frau. Wenn Frauen einige Jahrhunderte lang die Rolle des Kochens und Haushütens zugewiesen wurde, dann entwickelten sie mit der Zeit natürlich diejenigen Eigenschaften, die das Kochen und Haushüten in einem Menschen anregt. Wenn Männer einige Jahrhunderte lang die Rolle eingenommen haben, Geld zu verdienen, Kriege zu führen und die Welt zu regieren, dann entwickelten sie natürlich die Eigenschaften, die ein Mensch entwickelt, der diese Funktionen erfüllen muss. Nun: Wenn man beides zusammennimmt – die naturgegebenen Unterschiede und die sozialisations-bedingten Unterschiede – dann ergibt sich in der Tat daraus ein bestimmtes für diese Zeit und diesen Kulturkreis typisches Beziehungs-Muster zwischen Mann und Frau. Die Frau passt sich an, der Mann behauptet sich; die Frau ist eher passiv in der Gestaltung der Interaktion, der Mann eher aktiv; die Frau

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unterwirft sich eher, der Mann dominiert; die Frau ist an der Pflege der Beziehung interessiert, der Mann eher daran, seine Eigenständigkeit und Freiheit zu bewahren. Das sind jedoch keine wirklich archetypischen Unterschiede, und sie sind auch nicht unausweichlich. Wenn die Frau daran interessiert ist, aus diesem Muster auszubrechen, dann muss sie zunächst einmal in sich gehen und prüfen, was sie eigentlich wirklich wünscht. Wünscht sie sich Eigenständigkeit? Ist das ihr wirklicher Wunsch? Oder ist die Einsamkeit und Freiheit, die mit einer Eigenständigkeit verbunden ist, ihr eher unheimlich? Was wünscht du? Wenn du ehrlich bist, wirst du wahrscheinlich antworten, dass du deinen Mann oder Geliebten anders haben willst ( oder einen anderen Mann ). Er soll ebenso erpicht auf Beziehung sein, wie du es bist; er soll seine Freiheit ebenso opfern, wie du es tust; er soll genau so gern Händchen halten, wie du es tust. Aber, einmal ganz abgesehen davon , dass du einen solchen Mann in Wirklichkeit nicht besonders attraktiv finden würdest, kannst du deinen Mann oder deinen Geliebten nicht ändern; du kannst dir höchstens einen Anderen suchen, der diese Anforderungen erfüllt, wobei fraglich ist, ob du dich in ihn verlieben würdest. Du kannst nur deine eigene Position in diesem Schachspiel „Beziehung“ ändern. Was möchtest du erreichen? Ausgewogenheit. Beide sollen gleich frei und gleich gebunden sein. Was können wir – hier meine ich die betroffenen Frauen – dazu tun, das diese Ausgewogenheit sich einstellt?

Es ist sehr einfach. Du musst die Bindung in dir selber mit der Freiheit in die selber ins Gleichgewicht bringen. Offenbar seid ihr eurem Gefühl nach – sonst würdet ihr euch nicht beschweren – zu sehr auf die Seite der Bindung gerutscht und habt eure Freiheit vernachlässigt. Findet Freiheit! Es ist sehr einfach.

Wir alle haben uns viele Jahre lang um diese Freiheit bemüht und es nicht geschaft, sie zu erreichen. Wir haben trotzdem immer wieder

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unsere Freiheit der Beziehung geopfert, während der Mann unbeirrt sein Leben gelebt hat.

Dann habt ihr nicht wirklich Freiheit gesucht. Prüfe noch einmal. Gehe in dich und prüfe ganz ehrlich, was du wünscht. Wir garantieren dir: Wenn du Freiheit wünscht, wirst du Freiheit finden. Wenn du Abhängigkeit wünscht, wirst du Abhängigkeit finden. Du bekommst immer, was du in Wahrheit wünschst. Was wünschst du also in Wahrheit?

Ihr habt recht. Zufällig habe ich genau das heute morgen in meiner Meditation herausgefunden. Zu meinem Erstaunen habe ich entdeckt, dass ich die ganze Zeit, ohne es zu wissen, Abhängigkeit gesucht habe. Am liebsten wäre mir natürlich wechselseitige Abhängigkeit gewesen, aber auch mit einseitiger habe ich vorlieb genommen, weil ich mich darin sicher gefühlt habe. Es erinnert mich an meinen Hund: Als er noch ganz klein war und immer an der Leine ging, hat er sich einmal aus seiner Leine freigestrampelt und stand plötzlich ohne sie da. Er selber war darüber viel erschrockener als ich. So ging es mir, als ich versuchte, mir vorzustellen, dass ich die emotionale Unabhängigkeit, die ich mir so sehr gewünscht hatte, tatsächlich besitze. Es machte Angst.

Richtig. Es ist immer Abhängigkeit, die ihr wünscht, wenn ihr in Beziehungen geratet, in denen ihr euch als abhängig erlebt. Warum wünscht ein Mensch Abhängigkeit? Weil er sich in der Abhängigkeit sicherer fühlt als in der Unabhängigkeit. Also ist das was du suchst, nicht Abhängigkeit, sondern Sicherheit. Du möchtest dich sicher fühlen, geborgen, aufgehoben. Du möchtest einen sicheren Platz in diesem Universum haben. Und da du nie ganz erwachsen geworden bist, weisst du nicht, dass du selber dieser sichere Platz bist; du denkst immer noch, dass du diesen sicheren Platz nur durch einen anderen Menschen finden kannst. Gestehe dir dein Bedürfnis nach Sicherheit ein; danach, irgendwo einen sicheren Platz zu haben, eine sichere Beziehung, einen Menschen, zu dem du mit Sicherheit gehörst und den dir niemand

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nehmen kann. Gestehe es dir nicht nur ein, sondern fühle es. Erlaube dir, es zu fühlen. Es ist ein kindliches Gefühl, nicht wahr? Du kannst es ins Herz schliessen. Du kannst es in ein Gebet verwandeln. Und dann kannst du es loslassen. Die Sicherheit, die du ersehnst und um die du nun gebetet hast, wird nach und nach in deinen Besitz übergehen. Nach und nach wirst du entdecken, was wahre Sicherheit bedeutet; was wahre Beziehung bedeutet. Dann wirst du weniger abhängig sein von der Sicherheit, die dir dein Partner bieten kann; und du wirst das wieder entdecken, was immer schon dein eigen gewesen ist, was du aber verleugnet hast: deine Freiheit. Denn Frauen sind ihrer Natur nach nicht weniger frei als Männer. Sie haben weniger das Bedürfnis, sich selbst zu beweisen, durchzusetzen und zu behaupten; das liegt nacht daran, dass sie weniger frei sind, sondern daran, dass sie freier sind als Männer. Ihre Freiheit – ganz archetypisch gesprochen – liegt darin, zu sein und in diesem Sein zu ruhen; die archetypisch männliche Freiheit liegt darin, zu tun. Wenn also eine in diesem Sinne frei Frau sich mit einem freien Mann zusammenschliesst, so kann das bedeuten, dass die Freiheit, die die Frau geniesst, ganz anders aussieht als die Freiheit, die der Mann geniesst; und das dennoch beide sich vollkommen frei fühlen.

Und was ist mit uns (Männern)? Was ratet ihr uns, wenn wir in einer solchen unausgewogenen Beziehungs-Konstellation stecken und darunter leisen...zumindest darunter leiden, dass undere Frauen sich darüber beschweren?

Ihr fürchtet, eure Freiheit zu verlieren, wenn eine Frau euch im Namen der „ Beziehung „ mit ihrer Liebe umklammert, nicht wahr? Ihr fürchtet um eure Eigenständigkeit. Deshalb betont ihr Freiheit und Eigenständigkeit, so lange es irgend geht, und wenn ihr sie irgendwann im Zuge der Beziehung oder der Ehe eingebüsst habt, dann werdet ihr doch immer wieder Lücken entdecken, in die die Beziehung noch nicht hineingewuchert ist, in denen ihr ganz Mann und ganz ihr selbst sein könnt. Nun: Was ihr noch nicht entdeckt habt, ist, dass ihr ganz in

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Beziehungen gleichzeitig ganz frei sein könnt. Beziehung und Freiheit schliessen einander nicht aus. In Beziehung zu sein, bedeutet in Kommunikation zu bleiben, ganz gleich, was geschieht; bedeutet die Bereitschaft, sich einander zu öffnen, ganz gleich, was geschieht; bedeutet, einander nicht aus den Augen zu verlieren und nicht im Stich zu lassen, ganz gleich was geschieht und welche Form die Beziehung annimmt. Es bedeutet nicht, sein eigenes Selbst aufzugeben; es bedeutet nicht, irgendeine Aktivität, eine Tätigkeit, eine Neigung aufzugeben , es bedeutet nicht, Kompromisse zu machen in Bezug auf die Lebensführung. Sondern wahre Beziehung bedeutet, als der, der du bist, mit der Frau, die du liebst, als die, die sie ist, in Beziehung zu treten.

Das ist es ja genau, was ich tue, und darüber beschwert sie sich.

Es ist nicht ganz das, was du tust. Du trittst ihe gegenüber als der, der du bist, aber du trittst nicht in Beziehung. In Beziehung zu treten würde bedeuten, in Kommunikation zu bleiben; also sie über deine Gefühle und deine Absichten nicht im Unklaren zu lassen, sie zu fragen, was sie fühlt und was ihre Absichten sind, und darüber in einen fruchtbaren Dialog einzutreten. Beziehung würde bedeuten, dich ihr zu öffnen und ihr so viel Vertrauen zu vermitteln, dass auch sie sich dir öffnen kann ( da sie sicher sein kann, dass du sie respektierst, zu verstehen versuchst und nicht wegläufst ); Beziehung würde bedeuten, sie auch dann, wenn du etwas tust, was dich von ihr entfernt, nicht aus den Augen zu verlieren und nicht im Stich zu lassen. Dann könnte sie sich sicher fühlen, dass sie mit dir in einer „ Beziehung“ is; und du könntest ganz und gar du selbst bleiben und dein Leben in aller Freiheit leben. Es bedarf des Mutes. Du müsstest den Mut haben, dich ihr zu öffnen, obwohl du Angst hast, ausgelacht, gedemütigt oder vereinnahmt zu werden; du müsstest den Mut haben, mit deiner ganzen Wahrheit in die Kommunikation mit ihr einzutreten ( anstatt einfach zu schweigen oder dich zu entfernen ), Damit du diesen Mut haben kannst, musst du deine Angst entdecken. Nicht um sie zu „ überwinden“ - das ist nicht nötig -, sondern um sie kennenzulernen und dich mit ihr anzufreunden, anstatt

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dich von ihr beherrschen zu lassen. Wovor hast du Angst? Du fürchtest, dass du wehrlos ausgeliefert bist. Du fürchtest das unbewusst deshalb, weil du noch nicht ganz erwachsen geworden bist. Du weisst noch nicht, dass du ein erwachsener Mann bist und ebenbürtig einer erwachsenen Frau gegenüberstehst. Du glaubst, du bist ein Kind und stehst deiner Mutter gegenüber, die dich vielleicht liebt, aber dir deine Macht und deine Freiheit rauben kann, möglicherweise sogar gerade durch die Liebe, die sie dir entgegenbringt. Finde die Angst. Fühle sie. Schliesse sie ins Herz. Dann erst bist du wirklich frei. Bis dahin ist deine Freiheit nicht Freiheit, sondern Angst vor Unfreiheit und somit selber Unfreiheit.

Ich stehe in einer sehr erfüllenden Liebesbeziehung und bin zugleich in einen anderen Mann verliebt. Obwohl mein Partner und ich uns ausdrücklich Freiheit zugestehen, habe ich ein schlechtes Gewissen wegen meiner Beziehung zu dem anderen. Was kann ich tun?

Wo liegt das Problem? In meinem schlechten Gewissen. Ich denke, das ist nicht besonders gesund und auch nicht förderlich, weder für die eine noch für die andere Beziehung.

Wenn dein Problem tatsächlich nur in deinem schlechten Gewissen besteht, so hast du nicht weiter zu tun, als dein Herz diesem Schuldgefühl zu öffnen, indem du nicht nur darüber nachdenkst, sondern auch zulässt, es zu fühlen; und ebenso dem Grund deines Schuldgefühls, nämlich deiner Verliebtheit in den zweiten Mann. Aber dein Problem scheint umfassender zu sein. Versuche zu formulieren, worin es besteht.

Ja, ich habe Zweifel bekommen an der Beziehung zu meinem Partner. Dadurch, dass ich mich auf eine Affäre mit dem anderen Mann eingelassen habe, ist meine Verbindung mit dem einen sozusagen gelockert worden. Nun weiss ich nicht mehr, was richtig ist. Wäre es

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nicht ehrlicher und besser, die Beziehung, die sozusagen einen Riss bekommen hat, aufzulösen?

Ist das Dein Wunsch?

Nein. Überhaupt nicht.

Wieso sollte es dann besser sein? Ihr habt recht. Jetzt sehe ich klarer. Aber ist es denn in Ordnung, mehrere Beziehung zugleich zu haben?

Ist es denn für dich in Ordnung?

Ich glaube schon.

Für wen sonst sollte es nicht in Ordnung sein? Für meine Partner...

Konfrontiere sie mit der Tatsache und frage sie, ob es für sie in Ordnung ist.

Ja. Ich weiss schon, dass es so ist.

Und dennoch hast du Zweifel, ob es „ in Ordnung“ ist. Wieso? Prüfe.

Ich habe festgestellt, dass Gesten der Liebe und Intimität schnell einen etwas unehrlichen Charakter bekommen, wenn man Intimität mit mehreren Partnern teilt. Ich glaube, damit hat mein Zweifel zu tun.

Sei authentisch. Liebe jeden so, wie du ihn liebst; drücke in deinen Handlungen genau das aus, was du empfindest – nicht mehr und nicht weniger. Dann gibt es keine Unehrlichkeit.

Und was ist mit der Energie? Ich abe gelesen, dass einer Frau von 162

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jedem Mann, mit dem sie einmal intim war, Energie abgezogen wird, wenn sie nicht diese energetische Verbindung ausdrücklich abschneidet. Ist das so?

Das ist richtig beobachtet. Allerdings gibt jeder Mensch Energie ab an alles, womit er sich, bewusst oder unbewusst, beschäftigt; ihr zerstreut ununterbrochen eure Energie in alle Richtungen. Eure sexuellen Beziehungen jedoch nehmen euch nicht nur Energie, sondern, wenn auch sie auf vollständige Weise vollzogen werden, geben sie euch auch Energie.

Was heisst „vollständige“ Weise?

Vollständig in diesem Sinne bedeutet, dass die sexuelle Energie sich auf allen Ebenen ausbreitet und auch die Herzen der Partner berührt und öffnet, bevor die eigentliche sexuelle Vereinigung stattfindet. (genau beschrieben wird dies im Kapitel „Intuition und Sexualität in: S. Nidiaye, Die Weisheit der inneren Stimme, Econ Ulstein List Verlagsgruppe, München, 2011 )

Noch einmal zurück zu meinen beiden Männern. Ich glaube, die Frage, die mir am meisten auf den Nägeln brennt, hat mit der „ Nebenbeziehung“ zu tun.

Das scheint uns auch so.

Ich denke viel an diesen Mann, und da ist ein einziges grosses Fragezeichen. Ich weiss nicht, ob er mich ebenso mag wie ich ihn...

....und würdest du es gerne wissen?

Ja!

Frag einfach dein Herz.

Wenn ich mein Herz frage, was er fühlt, dann spüre ich Verbundenheit, freundliche Zuneigung, auch körperlicher Art, auch eine Ahnung von einem Bedürfnis, die Beziehung mit mir

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aufrechtzuerhalten,weil sie aus irgendeinem Grunde wichtig ist.... und sie nicht zu verderben, indem man sie allzu persönlich-emotional werden lässt. Das ist ja auch ungefähr das, was er mir sagt. Ich fühle genauso, nur dass ich ausserdem grosse Sehnsucht nach ihm habe. Ich glaube, darin liegt das Problem: dass ich grosse Sehnsucht nach ihm habe, während er sich mit gelegentlichen zufälligen Treffen begnügt und damit zufrieden ist.

Ist es wirklich er, nach dem du Sehnsucht hast? Prüfe, wonach du dich sehnst.

Meine Liebe und Zuneigung meint tatsächlich ihn selber. Aber die Sehnsucht...Vielleicht ist darin noch Projektion enthalten... Vielleicht sehne ich mich auch nach der Wärme und dem Licht, das ich beim Kontakt mit ihm spüre...

So ist es. Nun schaffst du Klarheit. Befreie die geliebte Person von dem, was du auf sie projizierst; wünsche dir die ersehnten Qualitäten und Zustände direkt, ohne diesen Wunsch an eine bestimmte Person zu binden; und wenn beides geschehen ist, prüfe, was dich dann noch mit jenem realen Menschen verbindet.

Danke. Ich glaube, das, was übrig bleibt, ist Zuneigung, Freundschaft, Zärtlichkeit und eine Art Entzücken, das er in mir auslöst.

Wenn dein Herz gross genug ist, um all das zu umfassen: die Zuneigung, die Freundschaft, die Zärtlichkeit und das Entzücken, das dieser Mann in dir auslöst; die Sehnsucht nach dem besonderen Erlebnis von Licht und Wärme, das er dir geschenkt hat; und die Liebe zu deinem ersten Partner; und schliesslich das Schuldgefühl, den Zwiespalt und den Schmerz: dann kannst du den Reichtum, den diese beiden Beziehungen dir erschliessen, ehrlich und aufrichtig geniessen und zugleich in der Wahrheit und in der Liebe bleiben. Früher oder später wird wieder das Bedürfnis nach einer einzigen und eindeutigen Beziehung in dir entstehen. Bis dahin sei ehrlich und aufmerksam.

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Ich möchte zurùckkommen auf eine Frage, die eure unpersönliche Sichtweise in mir aufwirft. Ihr habt gesagt, und ich weiss es ja auch ( zumal ja „ihr“ ich seid und ich „ihr“ bin, nämlich mein eigenes höheres Selbst )...

Darauf gehen wir gleich ein. Aber erst deine Frage.

Wir sind, sagtet ihr, nicht wir, sondern wir sind das Leben, das sich als wir und in uns selbst erlebt. Richtig? Nun weiss ich aber, dass Liebe, wirkliche Liebe, immer den betreffenden Menschen meint, ihn selber, ganz persönlich. Das heisst, wenn ich jemanden wirklich liebe, dann gilt diese Liebe ihm und nicht beispielsweise seinen Eigenschaften oder seiner Funktion in meinem Leben. So gesehen ist Liebe eine ganz persönliche Sache. Wenn sie nicht den Geliebten ganz persönlich meint, ist sie nicht Liebe. Das haben auch schon Klügere als ich gesagt. Wie passt das aber zu der Tatsache, das alles Persönliche Illusion ist, da wir ja das Leben sind?

Haben wir je gesagt, dass alles Persönliche Illusion ist?

Ihr habt von Theaterstücken gesprochen und davon, dass die eigentliche Realität die ist, dass wir nicht X oder Y sind, sondern das Leben selbst. Also muss alles Persönliche Illusion sein. Das ist eure Logik. Es ist die Realität. Die Realität entzieht sich dieser Art von Logik. Es ist real, das ihr das Leben seid; ebenso real ist es, dass das Leben sich als du oder er oder sie in ganz persönlicher Weise erlebt. Das ist ja sozusagen der Witz an der Sache.

Aha. Das Persönliche oder Individuelle ist also ebenso eine Realität wie die Tatsache, dass alles aus einem Stück ist.

Du hast es erfasst. Beides ist Realität. Es ist eine Frage der Perspektive.

Aber die Sache mit dem Theaterstück? Die deutet doch auch darauf165

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hin, dass das Persönliche nicht real ist, sondern nur ein Kostüm, das die eigentliche Realität – Gott oder das Leben – sich angezogen hat?

Das Bild ist nicht vollständig gedeutet. Ja, es stimmt, dass deine Person so etwas ist wie ein Kostüm, das sich das Einzige und Alleinige Wesen angezogen hat; jedoch das, was es in diesem Kostüm und dieser Inszenierung erlebt – mit anderen Worten das, als was es sich selber entdeckt -, das ist eine Realität. Gut. Zurück zu meiner Frage: Wenn Liebe wirklich Liebe ist, behaupte ich und behaupten wie gesagt auch grosse Weise ( deren Namen mir entfallen sind ), dann meint sie wirklich den betreffenden Menschen ganz persönlich. Deshalb übrigens wird eine allgemeine Menschenliebe von eben diesen Weisen als Unfug betrachtet. Sie sagen, man kann nur lieben, was man kennt. Und kein normaler Mensch ( wenn man mal von solchen Grössen wie Buddha oder Jesus absieht ) kennt alle Menschen. Also, was ich wissen möchte, ist eigentlich: Wie passt diese Tatsache, dass es Personen in Wirklichkeit gar nicht gibt und alles eins ist? Wenn wir alle einfach nur das Leben sind, das mit sich selbst spielt, dann ist diese Auffassung doch unsinnig?

Sie ist nicht unsinnig. Es ist, wie schon erklärt, alles eine Frage der Perspektive. Die Perspektive, in der du dich als Individuum erlebst, das eine anderes Individuum liebt, und zwar um seiner selbst willen, wie du forderst, ist eine Perspektive; die Perspektive, in der du dich als das Leben – oder Gott – erlebst, das oder der mit sich selber spielt, eine andere. Kein Widerspruch. Nur zwei Perspektiven.

Und die individuelle ist ebenso gültig wie die universelle?

Es sind zwei Perspektiven. Keine ist gültiger als die andere. Es sind einfach Perspektiven. Verstehst du?

Ja. Da bin ich erleichtert. Ich hänge nämlich an der Individualität ( nicht meiner eigenen, meine ich, sondern der Individualität

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überhaupt ) und halte sie für eine kostbare Sache, ebenso die individuelle Liebe.

Freue dich an beidem! Und lerne, beide Perspektiven einzunehmen. Die des Lebens, das sich als Individuum erlebt – und die des Individuums, das sich als Leben erlebt.

Letzt habt ihr mich reingelegt...

Gern geschehen. Nun wollen wir noch eingehen auf deine Behauptung, dass du und ich identisch sind.

So war das nicht gemeint...

Warte, Du und wir sind nicht identisch. Wir sind zwei Perspektiven ein-und derselben Realität. Wenn du als „du“ sprichst, bist du dir deiner selbst als Individuum bewusst, das mit anderen Individuen in Beziehung ist. Wenn du als „wir“ sprichst, bist du dir deiner selbst als einer unteilbaren Realität bewusst. Diese beiden Perspektiven sind nicht identisch. Deshalb sind „wir“ etwas anderes als „du“.

Richtig. Und doch bin ich beides ich – in einem vollständigeren Sinne.

Ja. Aber du weisst es nicht.

Stimmt. Ich erinnere mich nur, dass ich es manchmal wusste. Und deshalb glaube ich es.

Das ist nicht dasselbe wie Wissen.

Ja. Danke.

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Wenn die Liebe mit den Jahren sozusagen immer breiter wird, das heisst, wenn man mehr und mehr sein Herz öffnet und immer mehr Wesen in seine Liebe einschliesst, somit in sozusagen unpersönlichere Dimensionen der Liebe vorstösst, ist man dann trotzdem noch in der Lage, mit einem einzelnen Menschen diese besondere Paar-Liebes-Beziehung zu haben?

Ja. Das hat nichts miteinander zu tun. Im Gegenteil: Die eine besondere Liebe zu dem Menschen, mit dem man ein Paar bildet, dient dazu, überhaupt Liebe in dir zu wecken. Im Idealfall inspiriert sie dich dazu, diese Liebe mit allen Menschen, denen du begegnest, zu teilen. Jede einzelne Liebe vergrössert insgesamt deine Liebesfähigkeit. Das ist der natürliche Weg. Sonst besteht die Gefahr des Selbstbetrugs. Es gibt Personen die persönliche Beziehungen meiden, um sich der kosmischen Liebe zu öffnen, von der sie meinen, durch die persönliche Beziehung abgeschnitten zu werden; enige wenige Mönche, Nonnen und Einsiedler gehen diesen Weg mit Erfolg. Die Menschen aber, die in der Welt leben, lernen Liebe und erweitern ihre Liebesfähigkeit dadurch, dass sie persönliche Beziehungen eingehen und nicht dadurch, dass sie sie meiden. Wenn jemand behauptet, seine Liebe für alle und alles sei so gross, dass er sich nicht mehr auf eine persönliche Liebesbeziehung mit einer einzelnen Person einlassen könne, und daher jede Bindung oder Beziehung ablehnt, so steckt dahinter im Allgemeinen, oberflächlich betrachtet, jenes Missverständnis, das wir eben aufzuklären versucht haben; aber wenn man tiefer hinschauen würde, würde man in den meisten Fällen Angst dahinter finden und die Unfähigkeit oder den Unwillen, sich mit dieser Angst zu konfrontieren.

Warum flachen Beziehungen mit der Zeit meistens so ab? Wie kann man einer Beziehung die Tiefe, die Lebendigkeit und auch die Spannung erhalten?

Was abflacht, ist nicht die Beziehung; sondern euer Verhältnis zum Leben flacht ab, wenn ihr euch über lange Zeit hinweg mit derselben

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Person in derselben Art von Beziehung befindet. Wo hat das Leben Schönheit und Tiefe? Wo ist es spannend? Wo berührt es euch sehr stark? Weckt euch auf? Schenkt euch ein Gefühl von Erfüllung? Es ist immer dann, wenn ihr dem Universum sozusagen nackt gegenübersteht; wenn ihr euch konfrontiert mit der Unsicherheit, der Gefahr, wenn ihr euch der Natur aussetzt, dem Abenteuer, dem Unwägbaren, dem, was euch erschüttern kann. In euren Beziehung habt ihr jedoch die Tendenz, euch gemeinsam, bildlich gesprochen, mit der Beziehung zu umgeben wie mit einem Haus, in dem ihr euch sicher einrichten könnt und das euch Schutz bietet gegen die Unbilden und Unwägbarkeiten des Lebens. Es ist kein Wunder, dass ihr darin das Gefühl entwickelt, abzuflachen, dass die Spannung verloren geht, auch der Zauber. Wenn ihr Spannung, Zauber, Tiefe, Kraft, Schönheit eurer Beziehung aufrecht erhalten oder jedenfalls immer wieder wecken und erneuern wollt, dürft ihr kein Haus aus ihr machen. Ihr dürft euch nicht darin einrichten. Ihr müsst euch selbst und euren Partner sehen als das, was ihr seid: Unwägbare Wesen, unauslotbar in ihrer Tiefe, unberechenbar, von unbegrenzten Möglichkeiten und Fähigkeiten und grosser Wandlungskraft. Anstatt euch sicher einzurichten in eurer Art, eine Beziehung zu führen, musst ihr die Wahrheit des Augenblicks leben – eure eigene Wahrheit im jeweils gegenwärtigen Augenblick – und dann schauen, welche Art von Beziehung daraus entsteht. Dies wäre eine Beziehung, die sich stetig wandelt. Das einzig Bleibende könnte die Beziehung selbst sein; die Tatsache, dass ihr, auf welch Art auch immer, miteinander in Beziehung seid – so ähnlich wie ein bestimmter Fluss immer ein bestimmter Fluss bleibt, auch wenn ständig neues Wasser durch ihn hindurchfliesst.

Wie kann man in der monogamen und langjährigen Beziehung die sexuelle Spannung erhalten und Gleichförmigkeit in der Sexualität vermeiden?

Hierauf ist Antwort genug gegeben worden im Kapitel über Sexualität. Ergänzend können wir noch darauf hinweisen, dass auch die sexuelle Beziehung sich ständig erweitern, vertiefen, wandeln, auch

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verjüngen kann, wenn ihr es nur zulasst. Es erfordert in jedem Augenblick bereit zu sein, ein grosses Risiko auf sich zu nehmen: das Risiko, nicht das zu bekommen, was man wünscht; das Risiko, dass die Dinge anders laufen, als man wünscht, oder auch einmal gar nicht laufen; das Risiko, gesehen zu werden – manche Menschen fürchten das -, das Risiko, sich zu verlieren ( wenn man sich hingibt ), das Risiko, sich lächerlich zu machen...Viele Risiken. Wer Risiken scheut, der wird sich wohler fühlen, wenn er Sexualität mit demselben Partner immer auf die gleiche Art erlebt, einer Art, in der er sich sicher fühlt. Im Übrigen gilt auch für diese Frage die gleiche Antwort wie die auf die vorherige Frage gegebene.

Ich möchte noch etwas über die erotische Spannung wissen; nicht über die körperlich ausgelebte Sexualität, sondern die erotische Spannung zwischen Mann und Frau. Diese geht ja im Zuge langjähriger Vertrautheit oft verloren. Kann man etwas tun, um sie zu erhalten?

Ja. Trotz fester Beziehung oder Ehe dich selber weiterhin als erotisches Wesen erleben. Das bezieht sich auf die Gesamtheit deines Lebens, nicht nur auf die Beziehung mit deinem Mann oder deiner Frau. Weil ihr einander sexuelle Treue versprochen habt, hört ihr oft auf, euch als erotische Wesen zu fühlen. Ihr blendet diesen Teil eurer Realität einfach aus eurer Wahrnehmung aus, damit ihr nicht Gefahr lauft, zu sexuellen Beziehungen mit Anderen verführt zu werden.

Aber das ist nicht so einfach... Wie kann ich mir dieses erotische Grundgefühl erhalten, was ja auch impliziert, dass es von anderen als meinem Partner wahrgenommen wird . Und dass auch ich andere als meinen Partner als erotisch attraktiv wahrnehme – und zugleich meinem Partner treu bleiben?

Nachlesen im Kapitel „Treue“. Wenn eure Beziehung auf den für Treue relevanten Ebenen lebendig ist, wird die Versuchung, dich mit

anderen in sexuelle Beziehungen einzulassen,gering bis nicht vorhanden sein. Dennoch kannst du es geniessen, dich, auch, wenn du

allein oder unter Menschen bist, als erotisches Wesen zu erleben.170

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Gefahr für die Ehe oder die feste Beziehung besteht eher dadurch, dass du diesen Aspekt aus deinem Leben ausklammerst. Damit riskierst du nämlich, dass der Energiefluss auf der sexuellen und erotischen Ebene zwischen euch schwächer oder blockiert wird und dass dies, zunächst unterschwellig, später offenbar, eure Beziehung gefährdet. Mehr Mut! Was habt ihr zu befürchten? Dass eure Beziehungs-Häuser einstürzen? Umso besser! Sie sind ohnehin eine Illusion. Wahr ist nur die Liebe. Und das ist die Wahrheit, auch wenn es euch unbequem ist. Das Leben mag übrigens keine festen Häuser. Es lässt von Zeit zu Zeit Erdbeben geschehen, damit sie einstürzen. Lasst eure Beziehung nicht wie ein festes Haus sein, das bei jedem Erdbeben einstürzen kann, sondern wie ein Fluss! Fliesst mit dem Leben, fliesst miteinander!

Manche Menschen haben den Eindruck, dass die allgemeine Tendenz zu offenen Beziehungen hingeht, und dass die monogame Beziehung zum Sterben verurteilt ist beziehungsweise sich so verändert, dass der bisherige feste und einzige Partner in Zukunft eher so etwas sein wird wie der Hauptpartner. Was haltet ihr davon?

Wollt ihr unsere Meinung wissen? Ihr wisst, dass wir keine Meinung haben. Tut, was euch Spass macht oder was euch richtig erscheint. Auch eure Tendenzen interessieren uns nicht. Du musst die Frage anders formulieren, damit du von uns eine Antwort bekommst.

Nun, ihr habt ja gerade ein ganzes Buch diktiert, aus dem eine eindeutige Vorliebe für Paarbeziehungen spricht , für ausschliessliche Liebesbeziehungen zwischen einem bestimmten Mann und einer bestimmten Frau... Ihr scheint also doch eine Meinung zu haben.

Irrtum. Wir beschreiben die Gegebenheiten, die dem, was ihr als Realität erlebt, zu Grunde liegen. Wir beschreiben, woraus eure Realität hervorgeht. Wir beschreiben es deshalb, damit es euch inspiriert, mehr aus der Tiefe heraus zu leben und weniger von der Oberfläche her.

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Weil es erfüllender ist. Und das ist es, was ihr sucht – Erfüllung, nicht wahr?

Gut. Draus schliesse ich, dass es in diesem Sinne erfüllender ist, sich auf die Schrecknisse und Gefahren einer monogamen Beziehung einzulassen...

Es kommt darauf an, was du in deinem Leben suchst. Alles hàngt davon ab, was du zu verwirklichen suchst. Jeder muss sich dieser Frage selber stellen. Es gibt keine allgemein gültige Antwort. Finde heraus, was deine grundlegenden Bestrebungen, Sehnsüchte und Ideale sind; und dann betrachte deine Beziehung oder Beziehungen in diesem Licht . Dienen sie deinem Streben? Oder dienen sie ihm nicht? So findest du deine eigene Antwort auf die gestellte Frage. Entscheide, was dir wichtig ist! Es ist sehr einfach. Tatsächlich musst du nur lernen, dein Herz zu fragen und „frei nach Herz“ zu leben. Das ist nicht dasselbe, wie jedem Impuls zu folgen, der durch irgendeinen äusseren Reiz ausgelöst wird. Frage immer dein Herz. Allerdings musst du, damit es dir antwortet, erst einmal lernen, dein Herz zu öffnen. Und das heisst, du musst deine Angst kennen lernen. Denn Angst ist es, die dein Herz verschliesst; Angst vor einem bestimmten Schmerz. Du öffnest dein Herz, indem du ihn fühlst, anstatt alles zu tun, um ihm aus dem Weg zu gehen. Nd dann gewöhne dir an,dein Herz zu fragen – bei allem, was du tust. Anstatt blindlings Impulsen zu folgen, anstatt Opfer deiner vorprogrammierten Reaktionen zu sein oder dich in fruchtlosen Grübeleien zu verstricken. Frage immer dein Herz.

Wann ist es aus eurer Sicht richtig, sich zu trennen, oder wann ist es richtiger, doch zusammen zu bleiben, auch wenn der Gedanke an Trennung da ist und die Beziehung schwierig ist?

Trennung wird sich immer dann als Notwendigkeit aufdrängen, wenn keine Entwicklung innerhalb der Beziehung mehr möglich ist. Solange noch Entwicklung möglich ist, kann es sinnvoll sein, in der Beziehung

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zu bleiben, wenn keine schwerwiegenden Gründe dagegen sprechen. Aber warum fragt ihr nicht einfach euer Herz?

Viele Menschen haben Schwierigkeiten damit. Sie können nicht genau unterscheiden, ob es die Stimme ihres Herzens ist, die spricht, oder die Stimme ihrer Emotionen, ihrer Angst, ihres Verstandes.

Die Stimme des Herzens ist die Stimme der Wahrheit. Es ist sehr einfach. Ihr müsst nur sehr ehrlich in euch gehen und herausfinden, was ihr wirklich wünscht. Und dann zu dem stehen, was ihr wirklich wünscht, und euren Partner darüber informieren. Das bedeutet, in Beziehung zu sein.

Also, wenn ich mir einen anderen Mann wünsche oder wenn ich mir wünsche, dass mein Mann anders ist, als er ist oder dass die Beziehung anders ist, soll ich ihm das mitteilen?

Betrachte nicht oberflächlich, sondern in der Tiefe, was du wünschst. Betrachte es sehr genau. Was fehlt dir genau an eurer Beziehung? Finde es genau heraus, und dann wünsche es dir. Bist du in der Lage, dir zu wünschen, dass eure Beziehung sich so entwickelt und vervollständigt, dass das Fehlende sich darin entfalten kann? Das ist eine wichtige Frage. Sie zeigt dir, ob du bereit bist, der Beziehung mit diesem Menschen eine Chance zur Weiterentwicklung zu geben oder nicht. Wenn du sie reinen Herzens mit Ja beantworten kannst, dann kannst du auch dafür sorgen – auf welche Weise auch immer -, dass das, was dir fehlt, integriert wird. Vielleicht ist es etwas, das du selber in dir entwickeln oder in die Beziehung einbringen musst, anstatt es vom Partner zu verlangen. Vielleicht ist es etwas, das du durch dein Verhalten in ihm anregen kannst. Vielleicht musst du auch einfach Gott, dein höheres Selbst, deine Engel oder die höhere Instanz, an die du glaubst, um das Fehlende bitten, und dich dann bereit machen, es zu empfangen und ihm Raum zu geben. Oder du musst deine Sichtweise ändern und anfangen, deinem Partner das zuzutrauen, was du ihm bisher nicht zugetraut hast. Es gibt viele Möglichkeiten, wie du die Verantwortung übernehmen kannst für deinen Wunsch und dafür

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sorgen, dass er sich erfüllt – innerhalb der Beziehung. Stellst du aber fest, dass du dir bei ehrlicher Betrachtung gar nicht wünschst, dass sich dein Traum innerhalb dieser Beziehung erfüllt, kannst du untersuchen, warum das so ist. Hier gibt es im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: entweder du hegst soviel Groll gegen deinen Partner, dass du dir nicht wünschen kannst, dass alles zwischen euch wieder gut wird ( weil dein Groll nach Rache oder Genugtuung verlangt, dann ist es an der Zeit, dich einmal um diesen Groll zu kümmern, indem du ihn bewusst fühlst und dich durch ihn hindurch fühlst, bis du den Schmerz dahinter entdeckst. Dieser Schmerz ist es, vor dem dein Groll versucht hat, dich zu schützen. Sobald du den Schmerz fühlst, sind beide, Groll und Schmerz, erlöst, und du kannst wieder dein Herz öffnen ); oder aber du kannst dir die Erfüllung deines Wunsches innerhalb dieser Beziehung deshalb nicht wünschen, weil du spürst, dass es Zeit ist, die Beziehung zu beenden – sei es, dass ihre Zeit abgelaufen ist, sei es dass dieser Mann oder diese Frau nicht der richtige Partner für dich ist, sei es, dass du einen anderen Mann oder eine andere Frau liebst. Dann ist es Zeit, dieser Tatsache ins Auge zu schauen und für sie die Verantwortung zu übernehmen. Das bedeutet, dich den Schmerzen und Schwierigkeiten einer Trennung auszusetzen, anstatt sie vor dir herzuschieben in der Hoffnung, dass dir das Leben das abnimmt. Ist die Frage damit hinreichend beantwortet? Ich glaube ja. Vielleicht solte ich noch fragen, ob man sich schuldig macht, wenn man jemanden verlässt, mit dem man lange zusammen war und dem man durch die Trennung sehr weh tut; im Extremfall kommt es ja auch vor, dass Menschen sich umbringen, weil sie verlassen worden sind.

Wenn du meinst, die Verantwortung für das Schicksal eines anderen Menschen auf dich nehmen zu müssen – und wenn du das, aus welchen Gründen auch immer, gern tust -, dann fühle dich schuldig. Aber im Ernst: Schuld lädst du immer dann auf dich, wenn du nicht deine Wahrheit lebst; das heisst, wenn du Liebe vortäuschst, wenn du nicht sagst, was du eigentlich sagen möchtest, nicht tust, was du tun

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möchtest, oder etwas sagst oder tust, was du eigentlich gar nicht sagen oder tun möchtest. Schuld nicht nach dem moralischen Urteil eines höchsten Richters, sondern Schuld nach deinem eigenen inneren Urteil. Dieses Schuldgefühl ist eine Korrekturvorrichtung deiner Seele. Es zeigt dir an, wo du von deiner eigenen Wahrheit abweichst.

Wenn es also meiner Wahrheit entspricht, jemanden, der an mir hängt, einfach zu verlassen, oder jemanden zusammenzuschlagen oder umzubringen, dann ist das in Ordnung?

Hier werden wieder Dinge vermischt, die nicht zusammengehören. Vielleicht entspricht es deiner Wahrheit, das gemeinsame Leben mit einem bestimmten Menschen zu beenden. Dann ist es durchaus in Ordnung, das zu tun. Hier handelt es sich um Beziehung zwischen erwachsenen Menschen; und erwachsene Menschen sind in der Lage auf eigenen Füssen zu stehen. Niemand ist Wahrheit abhängig davon, dass ein bestimmter anderer Mensch mit ihm zusammenlebt oder ihn liebt. Das ist kindlich. Wenn ihr meint, eine Trennung nicht überleben zu können, müsst ihr euch um die Angst und den Schmerz des Kindes in euch kümmern. Das bedeutet erwachsen zu werden. Jemanden zusammenzuschlagen, entspricht nie deiner Wahrheit. Ebenso wenig, wie jemanden umzubringen. Menschen die andere zusammenschlagen, absichtlich verletzen, beleidigen, herabsetzen oder gar umbringen, kennen ihre eigene Wahrheit nicht. Hinter aggressiven Handlungen stecken Emotionen; und es muss sich ein ganzer Berg von Emotionen angestaut haben, bis ein Mensch das Bedürfnis verspürt, einen anderen Menschen zu verletzen oder gar zu töten. Die eigene Wahrheit ist nicht das Bedürfnis, zu verletzen oder zu töten, sondern der Schmerz, der nie gefühlt wurde und der durch Wut, Groll, Hass oder Zorn verdeckt wird. Noch einmal zurück zur Ausgangsfrage. Wenn ihr einen Menschen verlasst und euch deshalb schuldig fühlt, dann schützt euch euer Schuldgefühl davor, den eigentlichen Schmerz fühlen zu müssen. Den Schmerz der Liebe. Den Schmerz, den ihr dem Anderen bereitet habt und den Schmerz, den euch das bereitet. Öffnet ihr furchtlos euer Herz diesem Schmerz, dann ist das Schuldgefühl „überwunden“, weil

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überflüssig geworden.

Wenn ich gelernt habe, mir meiner Gefühle bewusst zu sein und ihnen mein Herz zu öffnen, und treffe mit jemandem zusammen , der das nicht gelernt hat; der also beispielsweise in seinem Groll oder Ärger auf wen auch immer einfach feststeckt, weil er nicht in der Lage, vielleicht auch nicht bereit ist, Verantwortung für seine Gefühle zu übernehmen und in sich zu gehen, um herauszufinden, was eigentlich hinter ihnen steckt – wie gehe ich damit um?

Wo ist das Problem? Versuche zu formulieren, was dir daran Schwierigkeiten bereitet.

Ich sehe, wie er sich quält, und kann ihm nicht helfen.

Du hilfst ihm, indem du dein Herz für ihn aufmachst. So lange du dich über ihn erhebst und mitleidig auf ihn herabschaust, hast du dein Herz nicht geöffnet. Wenn dein Herz offen ist, respektierst du ihn. Er lebt sein Leben so wie du das deine; er geht seinen eigenen Weg so wie du den deinen; er kämpft seine Kämpfe auf seine Art und lernt aus ihnen auf seine Art. Wer sagt, dass es einzig und allein gut und richtig ist, so zu sein wie du? Erst öffne dein Herz in Demut. Fühle, was er fühlt – fühle es wirklich, anstatt es dir nur vorzustellen. Dann ziehst du deinen Hut vor ihm.

Danke. Und was ist in den Fällen, wo ich selber von der Unbewusstheit eines Menschen in Bezug auf das, was er fühlt, betroffen bin?

Wie kannst du von etwas betroffen sein, das ihn alleine betrifft? Na ja, wenn es sich um eine Beziehung handelt und beispielsweise darum, dass mein Freund, Mann oder Geliebter sich auf eine Art und Weise verhält, die mir wehtut oder unangenehm ist; wenn ich spüre, was bei ihm dahinter steckt, er selber aber nicht, was kann ich dann

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tun?

Ihn darauf aufmerksam machen.

Dann wird er wütend, weil er ja nicht weiss, was er fühlt.

Wenn er wütend wird, hast du ihn nicht in freundschaftlicher Weise aufmerksam gemacht, sondern in feindseliger oder überheblicher. Betrachte ihn als Freund und nicht als Menschen, von dem du etwas willst – und mache ihn als Freund auf das aufmerksam, was du wahrnimmst. Betrachte und behandle ihn als Freund und erwarte von ihm Freundschaft. Sprich über solche Dinge nur in Momenten, wo dein Herz offen ist und du ihm wirklich Freund bist. Überlasse es ihm, deine Anregung aufzugreifen oder nicht. Es geht dich nichts an. Du hast deine Freundespflicht erfüllt, indem du ihm gesagt hast, was du wahrnimmst. Der Rest ist seine Sache.

Aber es betrifft mich doch....wenn wir in Beziehung stehen.

Es betrifft dich nicht. Wenn du dich betroffen fühlst, dann deshalb, weil es in dir selber ein Problem gibt, um das du dich noch nicht gekümmert hast, eine unentdeckte Emotion, die nichts mit deinem Partner zu tun hat, sondern mit dir selber. Finde diese Emotion und kümmere dich um sie. Das wird deine innere und deine äussere Realität verändern.

Ich konstruiere ein Beispiel, damit ihr versteht, was ich überhaupt meine. Wenn der Partner, sagen wir mal, mitten in der Nacht im gemeinsamen Ehebett aufsteht, um die Waende mit einer Fliegenklatsche nach Fliegen und anderen Insekten abzusuchen und dabei einen grässlichen Lärm macht; und wenn ich aufgrund meiner Intuition oder meiner Beobachtung oder Kenntnis spüre, dass diese nächtliche Insektenausrottung in Wirklichkeit nicht seine Wut auf die Insekten ist, sondern auf mich; da soll ich sagen, dass mich das nicht betrifft?

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Ein drastisches Beispiel. Nun, in diesem Fall hast du nur eins zu tun: für dich selber zu sorgen. Du kannst ihn bitten, damit aufzuhören, weil dich das stört. Es ist sehr einfach. Und du kannst ihn auf deine Beobachtung aufmerksam machen: darauf, dass du den Eindruck hast, dass er wütend auf dich ist. Vielleicht kannst du ihm auch sagen, dass dir das leid tut und dass du gerne wissen würdest, was ihn so wütend gemacht hat, damit du es verstehen und eventuell ändern kannst, indem du dich anders verhältst. Es ist alles sehr einfach, wenn ihr ehrlich seid und euer Herz öffnet. Die Probleme entstehen dadurch, dass ihr euer Herz verschliesst und daher selber gar nicht wisst, was ihr fühlt; wenn ihr euch dann äussert, äussert ihr nicht eure wahren Gefühle – die ihr gar nicht kennt -, sondern allerlei verworrene vorgeschobene Gefühle und Argumente.

Inwieweit habe ich überhaupt das Recht, von einem Partner, der sich mit mir in eine feste Beziehung einlässt, etwas zu verlangen?

Du hast keinerlei Recht. Du kannst nur Verantwortung übernehmen für dich selber und für die Tatsache, das du dich auf diese Beziehung eingelassen hast. Es gibt keinen Rechtsanspruch, den ein Mensch auf einen anderen erheben kann. Natürlich könnt ihr Abmachungen treffen oder Verträge schliessen; natürlich könnt ihr verlangen, dass der andere sich daran hält; aber was ist, wenn er es nicht tut? Selbst wenn der Richter dann über den Fall entscheidet und feststellt, dass euer Partner euch dies oder das schuldig ist, und wenn der Partner oder Ex-Partner sich dann widerstrebend dazu bereit erklärt, weil ihm gar nichts anderes übrig bleibt – habt ihr dann euer Recht? Tatsächlich habt ihr das, was ihr verlangt, erst dann wirklich, wenn der andere es euch aus freien Stücken gibt. Sonst werdet ihr nie zufrieden sein. Etwas, was aus freien Stücken gegeben werden soll, kann man aber weder verlangen noch einfordern; wenn man es verlangt und einfordert, vereitelt man gerade dadurch, dass es einem aus freien Stücken gegeben wird. „Recht“ - und „Forderung“ - diese dem Rechtssystem entlehnten Begriffe haben in einer Liebesbeziehung nichts zu suchen. Diese Art Gerechtigkeit hat ihren Platz überall dort, wo keine Liebe herrscht. Sie

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ist der Ersatz für Liebe. Wo es keine Liebe gibt – oder wenig Liebe -, muss eine Instanz geschaffen werden, die für Gerechtigkeit sorgt. Wo es Liebe gibt, ist „Gerechtigkeit“ nicht nötig. Liebe weiss immer, was gebraucht wird, und ist immer bereit, es zu geben. Eine Beziehung der Liebe – eine Liebesbeziehung – basiert nicht auf „Recht“ und auf „Forderungen“, sondern auf Liebe. Andernfalls ist sie keine. Entscheidet euch, was ihr wünscht. Und lebt danach.

Das sind harte Lehren...

Eure Art, Beziehungen zu leben, ist hart. Macht sie ein wenig weicher. Gönnt euch und gebt einander mehr Liebe. Und das bedeutet auch, euren Geliebten oder eure Geliebte zu respektieren und ihm oder ihr zuzugestehen, so zu leben, so zu sein, so zu lieben und sich so zu äussern, wie es ihm oder ihr entspricht. Macht euch ein wenig weicher... Seid liebevoller zu euch selbst. Anstatt zu fordern, zu verlangen und einzuklagen, setzt euch mit den tieferen Gefühlen auseinander, die hinter euren Forderungen stehen; findet eure Sehnsucht, euren Schmerz, eure Liebe, eure Unschuld, eure kindlichen Bedürfnisse, und öffnet euer Herz all diesen Gefühlen. Kümmert euch um sie, wie eine gute Mutter sich um ihre Kinder kümmert: voller Verständnis und Mitgefühl. So versorgt ihr euch selber mit Liebe und könnt den Partner aus dem Krieg der Forderungen entlassen. Und dann könnt ihr vielleicht endlich mit Dankbarkeit und Liebe das annehmen und würdigen, was er euch gibt: seine Art, euch seine Liebe und Verbundenheit zu zeigen. Seine Schönheit. Die Ehre und das Privileg, sein Leben teilen zu dürfen und Einblick in sein Herz und sein Wesen zu bekommen. Und je mehr Liebe ihr euch selber gebt, desto mehr werdet ihr in der Lage sein, zu erkennen, welchen Wert ihr selber habt und welches Geschenk ihr selber seid für euren Partner und für all die Menschen, denen ihr begegnet. Ihr werdet es dann leichter haben, eure Geschenke als freie Geschenke der Liebe zu geben, anstatt als Handelsware, für die ihr im Gegenzug etwas verlangt, und zwar nicht irgend etwas, sondern etwas ganz bestimmtes... Liebe, Liebe, Liebe. Wenn es euch an Liebe fehlt und ihr deshalb meint, diese Anregungen nicht umsetzen zu können, dann erbittet,

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erbetet, ersehnt Liebe und macht euch bereit, euch der Liebe zu öffnen: Liebe ist im Überfluss vorhanden; Liebe ist der Grund-Zustand allen Seins. Ihr müsst euch ihm nur öffnen. Und ihr öffnet euch ihm ganz einfach durch Bereitschaft.

Nun würden wir gerne etwas über Paare hören, die Kinder haben. Ihr habt erklärt, dass wir aus unseren Beziehungen keine Häuser machen sollen. Kinder aber brauchen doch so ein festes Beziehungs-Haus um sich herum, ist das nicht so? Gelten dann für Elternpaare andere Regeln als für kinderlose Paare?

Selbstverständlich macht das einen Unterschied. Wenn ihr euch entscheidet, Kinder in die Welt zu bringen, dann entscheidet ihr euch dafür, Wesen in eure Obhut zu nehmen, die euch eine gewisse Zahl von Jahren lang brauchen. Was das feste Beziehungs-Haus betrifft: Es ist eure Ansicht, dass Kinder so etwas brauchen. Wir sehen, dass es in dieser Welt zahllose Kinder gibt, die so etwas nicht haben und trotzdem gedeihen.

Aber sie leiden sehr. Ich selber leide noch heute, in ziemlich hohem Alter, darunter, dass ich in den ersten Jahren meiner Kindheit kein festes Zuhause und keine festen Bezugspersonen hatte. Haben wir jemals gesagt, dass es darum geht, ohne Schmerz und Leid zu leben? Bestehst du immer noch darauf, dass es eine Welt geben muss, in der es keinen Schmerz und kein Leid gibt?

Ich gebe zu, dass dieser Kindertraum immer noch in mit vorhanden ist, und ich glaube, dass jeder Mensch ihn im Grunde seines Herzens hegt.

Du kannst dieses Paradies finden, und du weisst auch schon wo: In deinem eigenen Herzen.

Ja, ich weiss. Aber nochmal zurück zu den Kindern, die kein 180

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Zuhause haben oder Scheidungswaisen sind oder aus zerrütteten Familien kommen: Ist das denn richtig so? Haben Eltern nicht die Verantwortung, ihren Kindern ein gutes und festes Zuhause zu bieten?

Jeder Mensch kann nur das sein, was er ist. Jeder Mensch, der ein Kind in die Welt setzt, das ein Wunschkind ist, hat zunächst einmal Liebe in sich für dieses Kind und den aufrichtigen Wunsch, diesem Kind ein gutes Zuhause zu bieten, nicht wahr? Wenn es anders kommt, dann deshalb, weil er an seine eigenen Grenzen gestossen ist und nicht in der Lage war, sie zu überschreiten. Wer sollte darüber richten?

Aber nochmal zurück zu meiner Frage: Brauchen denn Kinder nicht eigentlich, dass ihre Eltern in einem festen „Beziehungs-Haus“ leben?

Was Kinder brauchen, ist, erstens, dass jemand ihnen in diese Welt hinein verhilft – dass also ein Mann und eine Frau durch ihren Sexualakt dem betreffenden Wesen die Tür in diese Welt öffnen -, und dann, dass jemand sie ernährt und ihnen die Welt erklärt. Alles Übrige brauchen sie nicht. Es ist schön, wenn sie es bekommen; aber wenn sie es nicht bekommen, hat es seinen Sinn: Es gehört zu ihrem selbst gewählten Schicksal. Wenn du sie als Opfer betrachtest, versagst du ihnen den Respekt, der ihnen gebührt. Niemand ist ein Opfer. Jeder gestaltet sein Schicksal selbst – aus unter – oder überbewussten Motiven heraus, die du nicht erkennen kannst, es sei denn du hättest tiefen Einblick in die Seele des betreffenden Menschen.

Also können wir, wenn wir Eltern sind, mit unserem Leben machen, was wir wollen? Wir können uns trennen, wenn es uns passt, und die Kinder müssen sehen, wie sie damit klar kommen? Wir können die Kinder weggeben, wenn das möglich ist und wenn es uns passt?

Das sind theoretische Fragen. Wenn ihr tatsächlich Eltern seid, werdet ihr nicht so leichtfertig damit umgehen. Dafür hat das Universum gesorgt. Zumindest die Mutter ist so stark mit ihrem Kind verbunden, dass sie es keineswegs einfach weggeben und seinem Schicksal überlassen wird.

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Das kommt aber vor!

Wenn es vorkommt, dann könnt ihr sicher sein, dass die betreffende Mutter Qualen durchgestanden hat und gute Gründe hatte für ihre Entscheidung. Schau nur deinen eigenen Fall an. Denk an all das, was du entbehrt hast in deinen Kinderjahren. Bis heute leidest du unter diesem Mangel. Aber hat nicht gerade dieser Mangel dir zu der grossen Tiefe verholfen, die du dir erschlossen hast? Haben nicht gerade diese Schmerzen und Leiden dazu geführt, dass du gelernt hast, dein Herz zu öffnen und wahre Liebe zu entwickeln? Und gehört nicht der tragische Selbstmord deiner Mutter und ihre grosse Liebe zu deinem Vater ebenso zu der einzigartigen Schönheit deines Schicksals und Lebens wie die Geschichte deiner eigenen Lieben? Möchtest du tauschen?

Nein. Ich verstehe, was ihr meint.

Jedes andere Wesen, das gewählt hat, in eine schwierige oder zerrüttete Ehe oder Familie hineingeboren zu werden, hat dies aus gutem Grund gewählt. Kinder kommen nicht nur, um zu nehmen, sie kommen auch, um zu geben. Viele von euch sind aus Liebe gekommen, um euren Eltern zu helfen, ihre Herzen zu öffnen. Kinder sind zerbrechliche, unschuldige kleine Wesen; aber in ihrer tieferen Realität, sind sie ebenso grosse und selbstverantwortliche Wesen wie Erwachsene. Ihr werdet ihnen nur gerecht, wenn ihr beides zugleich seht. Das beste, was ihr euren Kindern geben könnt, ist eure Liebe und eure Aufrichtigkeit. Liebe und Aufrichtigkeit könnt ihr aber nur geben, wenn ihr euch selbst achtet. Wenn ihr euch selbst samt allem, was ihr fühlt, Achtung und Erbarmen entgegenbringt -wenn ihr euch so achtet mit eurer Wut, eurem Ärger, euren Kämpfen, eurer Unvollkommenheit -, dann seid ihr genauso, wie ihr seid, das Beste, das ihr euren Kindern geben könnt. Das gilt für jeden Elternteil, ob Vater oder Mutter in gleichem Masse. Euer Kind hat euch nicht deshalb als Eltern gewählt, weil es euch anders braucht, als ihr seid, sondern weil es euch gerade so braucht und wünscht, wie ihr seid.

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Und damit enden wir. Erinnert euch immer daran: Ihr seid nicht hier, um jemand anders zu sein als ihr selbst, sondern um gerade das zu sein, was ihr seis, um gerade der oder die zu sein, der oder die ihr seid. Euer Geliebter oder eure Geliebte wählt euch nicht deshalb, um mit jemandem zusammen zu sein, der anders ist als ihr, sondern um mit dem Menschen, der ihr seid, zusammen zu sein. Dasselbe gilt für Kinder, und dasselbe gilt für die ganze Welt. Und ebenso für Gott. Er-Sie hat euch nicht in die Welt gesetzt, damit ihr anders seid als ihr seid; sondern damit ihr ihr selber seid und euch zu eurer eigenen Vollkommenheit entwickelt. In Freude und Liebe. Und Liebe, um es noch einmal sehr klar zu sagen, bedeutet, euch selber zu ehren, zu achten, zu bejahen, zu verstehen als die, die ihr seid; euch und euren Partner zu ehren, zu achten, zu bejahen als der, der er ist. Erfreut euch an euch selbst; erfreut euch an einander; und dann geht und teilt eure Freude mit jedem, der euch begegnet. Wenn euch etwas nicht gefällt an euch selber, dann umschliesst es mit dem Erbarmen und der Zärtlichkeit eures Herzens; und gebt ihm die Liebe, die es braucht. Wenn euch etwas nicht gefällt an eurem Partner, so umschliesst es mit dem Erbarmen und der Zärtlichkeit eures Herzens und gebt ihm die Liebe, die es braucht. Alles braucht Liebe; alles sehnt sich nach Liebe; sei es „schön“ oder „hässlich“ . Liebe enthüllt immer die Schönheit, die allem zu Grunde liegt. Ihr müsst euch nicht schön machen; ihr seid bereits schön, genauso wie ihr seid. Ihr müsst euch nur mit den Augen der Liebe anschauen, um das sehen zu können – euch selber, euren Partner und die Beziehung, die euch verbindet. Die Schönheit eurer Beziehung liegt in der Liebe, die ihr euch selber und einander entgegenbringt. Betrachtet eure Beziehung als eine Gelegenheit, die Liebe wachsen und sich entfalten zu lassen, und sie ist immer gesegnet. Dann geht und segnet eure Liebe und euer Leben und eure Geliebten. Und nehmt euch selber etwas weniger wichtig.

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