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RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE VORTRÄGE VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 10 3 Seite: 1

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RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN

DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 10 3 Seite: 1

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Zu den Veröffentlichungen

aus dem Vorfragswerk Rudolf Steiners

Die Gesamtausgabe der Werke Rudolf Steiners (1861—1925) gliedertsich in die drei großen Abteilungen: Schriften — Vorträge - Künst-lerisches Werk (siehe die Übersicht am Schluß des Bandes).

Von den in den Jahren 1900 bis 1924 sowohl öffentlich wie für dieMitglieder der Theosophischen, später Anthroposophischen Gesell-schaft zahlreichen frei gehaltenen Vorträgen und Kursen hatte RudolfSteiner ursprünglich nicht gewollt, daß sie schriftlich festgehaltenwürden, da sie von ihm als «mündliche, nicht zum Druck bestimmteMitteilungen» gedacht waren. Nachdem aber zunehmend unvollstän-dige und fehlerhafte Hörernachschriften angefertigt und verbreitetwurden, sah er sich veranlaßt, das Nachschreiben zu regeln. Mit die-ser Aufgabe betraute er Marie Steiner-von Sivers. Ihr oblag die Be-stimmung der Stenographierenden, die Verwaltung der Nachschriftenund die für die Herausgabe notwendige Durchsicht der Texte. DaRudolf Steiner aus Zeitmangel nur in ganz wenigen Fällen die Nach-schriften selbst korrigieren konnte, muß gegenüber allen Vortragsver-öffendichungen sein Vorbehalt berücksichtigt werden: «Es wird ebennur hingenommen werden müssen, daß in den von mir nicht nachge-sehenen Vorlagen sich Fehlerhaftes findet.»

Über das Verhältnis der Mitgliedervorträge, welche zunächst nurals interne Manuskriptdrucke zugänglich waren, zu seinen öffent-lichen Schriften äußert sich Rudolf Steiner in seiner Selbstbiographie«Mein Lebensgang» (35. Kapitel). Der entsprechende Wortlaut ist amSchluß dieses Bandes wiedergegeben. Das dort Gesagte gilt gleicher-maßen auch für die Kurse zu einzelnen Fachgebieten, welche sich aneinen begrenzten, mit den Grundlagen der Geisteswissenschaft ver-trauten Teilnehmerkreis richteten.

Nach dem Tode von Marie Steiner (1867—1948) wurde gemäß ihrenRichtlinien mit der Herausgabe einer Rudolf Steiner Gesamtausgabebegonnen. Der vorliegende Band bildet einen Bestandteil dieser Ge-samtausgabe. Soweit erforderlich, finden sich nähere Angaben zu denTextunterlagen am Beginn der Hinweise.

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 103 Seite: 2

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RUDOLF STEINER

DAS JOHANNES-EVANGELIUM

Ein Zyklus von zwölf Vorträgengehalten in Hamburg

vom 18. bis 31. Mai 1908

1995

RUDOLF STEINER VERLAGDORNACH / SCHWEIZ

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 10 3 Seite: 3

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Nach vom Vortragenden nur teilweise durchgesehenen Nachschriften

herausgegeben von der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung

Die Herausgabe besorgten Paul Jenny und Paul G. Bellmann

1. Auflage (Zyklus 3) Berlin 1909;2., mit wesendichen Änderungen versehene Auflage(Zyklenform) Berlin 1912: 3. Auflage (Zyklenform)

Berlin 1915; 4. Auflage Dornach 1928;5. Auflage Dornach o. J. (1939); 6. Auflage Dornach 1949

Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach:

7., durchgesehen Auflage 1955;8. Auflage 1962; 9., neu durchgesehene Auflage 1975;

10. Auflage 1981; 11. Auflage 1995

Bibliographie-Nr. 103

Saturn-Siegel auf dem Umschlag und Einband nach Entwurf von Rudolf Steiner

Alle Rechte bei der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung, Dornach/Schweiz© 1995 by Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung, Dornach/Schweiz

Printed in Germany by WB-Druck, Rieden

ISBN 3-7274-1030-2

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 103 Seite: 4

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INHALT

ERSTER VORTRAG, Hamburg, 18. Mai 1908 9Die Lehre vom LogosDie göttlich-geistige Art des Johannes-Evangeliums. Widersprüche inden Evangelien. Das Johannes-Evangelium und die drei anderen Evan-gelien. Der «schlichte Mann aus Nazareth» der «aufgeklärten Theo-logie». Das Eindringen des Materialismus in das religiöse Leben. DieLehre vom Logos. Die Sprache als menschliche Fähigkeit. Der Menschund die anderen Naturwesen: Was zuletzt in der Zeit und im Räumeerscheint, war im Geiste zuerst da. Der Ursprung des Menschen ausdem göttlichen Schöpferwort und seine Heraufentwickelung zum logos-oder wortbegabten Wesen.

ZWEITER V O R T R A G , 19. Mai 1908 26

Christliche Esoterik. Der göttliche VormenschDer physische Leib des Menschen als vielfach umgestaltetes Wesen.Ein physisches Wesen kann nicht bestehen, wenn es nicht zu einemÄtherleib, astralischen Leib und einem Ich hinzugehört. Die Lehreder christlich-esoterischen Schule von Athen. Der Sinn der Entwicke-lung durch die Inkarnationen hindurch. Im Astralleib ist heute schongöttliches Geistselbst, im Ätherleib göttlicher Lebensgeist und im phy-sischen Leib göttlicher Geistesmensch vorhanden. Die Fähigkeit desWortes kam an das Menschenwesen mit dem Erdendasein heran. Derphysische Menschenleib hat sein Urbild in dem Logos; der Logosward Leben auf der Sonne; auf dem Monde gliederte sich der astra-lische Leib ein, der Lichtleib, das Leben ward Licht; auf der Erde'trat das Ich hinzu. Zum Verständnis des Johannes-Prologs.

DRITTER VORTRAG, 20. Mai 1908 43

Die Mission der ErdeDie Entwickelung des Ichs, des vollen Selbstbewußtseins und die Ent-wickelung der Erde und der Erdenmenschheit. Das dumpfe hellsehe-rische Bewußtsein während der lemurischen Zeit und unser heutigeswaches Tagesbewußtsein. Die Erde ist der planetarische Zustand fürdie Entwickelung der Liebe. Der alte Mond, der Planet oder der Kos-mos der Weisheit. Der Träger der Liebe kann nur das selbständige Ichsein. Die geistigen Liebeskräfte der sechs Elohim der Sonne und dieKraft der Liebe, die Jahve dem Menschen einpflanzt. Der ChristusJesus als die Verkörperung des Logos. Esoterisches Christentum undursprüngliche Gnosis. Der Christus als Bringer des freien «Ich-bin»-Bewußtseins.

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 10 3 Seite: 5

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V I E R T E R V O R T R A G , 22. Mai 1908 62

Die Auferweckung des LazarusZum Aufbau des Johannes-Evangeliums. Wie die Einweihung in denalten Mysterien vor sich ging. Die Auferweckung des Lazarus: dieEinweihung des Jüngers, «den der Herr lieb hatte», durch Christusselbst. Über den Schreiber des Johannes-Evangeliums. Johannes derTäufer als Vorbereiter und Vorverkünder des Christus. Der Johannes-Prolog (in der Übersetzung durch Rudolf Steiner). Das individuelleIch und seine Herauslösung aus dem Gruppen-Ich. Der ««geboreneSohn. Liebe als freie Gabe des Ich. Vergeistigung der Liebe. Im Chri-stus-Prinzip liegt die Überwindung des Gesetzes. Die Hochzeit zuKana.

FÜNFTER VORTRAG, 23. Mai 1908 83

Die vorchristliche Einweihung. Die Hochzeit zu KanaDas Johannes-Evangelium zerfällt in zwei Teile: in den Teil vor derAuferweckung des Lazarus und in den Teil nach der Auferweckung.Die sieben Grade der vorchristlichen Einweihung. Das Gespräch mitNathanael. Die Hochzeit zu Kana. Die Mission des Christus: demMenschen die volle Kraft des Ich, die innere Selbständigkeit in dieSeele zu bringen. Der Dionysoskult und die Aufgabe des Alkohols.Das Gespräch mit Nikodemus und das Gespräch mit der Samariterin.Die Heilung des Sohnes des Königischen. Das letzte Zeugnis Johannesdes Täufers über Jesus.

SECHSTER VORTRAG, 25. Mai 1908 104

Das Ich-B inDas Gespräch mit Nikodemus. Der Mensch in der lemurischen undatlantischen Zeit. Der Mensch ist einstmals geboren worden aus Luftund Wasser und er muß später im Geiste wiedergeboren werden. Der«Menschensohn». Moses als Vorverkünder des Gottes, der das ver-körperte «Ich-Bin» ist. «Manna», Manas oder Geistselbst und das«Brot des Lebens», Buddhi oder Lebensgeist.

SIEBENTER VORTRAG, 26. Mai 1908 121

Das Mysterium von GolgathaDas Mysterium von Golgatha: die Vereinigung des Sonnen-Logos mitder Erde. Veränderung in der Aura der Erde. Durch das Mysteriumvon Golgatha hat die Erde die Kraft in sich, die sie mit der Sonnewieder zusammenführen wird. Der Christus ist der Geist der Erdeund die Erde sein Leib. Die Ausbildung der höheren Wesensglieder:Manas, Buddhi und Atma. Die Entwickelung des Menschen geschiehtdadurch, daß er von seinem Ich aus nach und nach Astralleib, Äther-

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leib und physischen Leib durchläutert und durchkraftet. Die Heilungdes Blindgeborenen. Christus und das Karmagesetz; Christus und dieEhebrecherin.

A C H T E R V O R T R A G , 27. Mai 1908 136

Die Entwickelung des Menschen im Zusammenhang mit demChristus-PrinzipDie Erscheinung des Christus Jesus in der nachatlantischen Zeit. DieAtlantierzüge nach dem Osten. Die uralt-indische, die uralt-persischeund die ägyptisch-babylonisch-assyrisch-chaldäische Kulturepoche. Dieälteste römische Zeit. Beziehungen zwischen der ägyptischen undunserer Kulturepoche. In der mittleren der nachatlantischen Kulturen,im griechisch-lateinischen Zeitalter, tritt der Christus Jesus auf derErde auf; der Gott selbst tritt als Mensch, als Einzelpersönlichkeit auf,ist unter den Menschen im Fleisch verkörpert.

N E U N T E R V O R T R A G , 29. Mai 1908 152

Die prophetische Kunde und die Entwickelung des Christen-tumsDer Bewußtseinszustand des atlantischen Menschen. Der Bewußt-seinswandel in den ersten drei nachatlantischen Kulturepochen. Pro-phetische Vorverkündigung des Ich-Bin, des Logos, des Christus. Dasalthebräische Prinzip. Die griechisch-lateinische Epoche: der Menschstellt seine eigene Geistigkeit, sein Ich verobjektiviert hinaus in dieWelt. Ägyptische Pyramide, griechischer Tempel und gotischer Dom.Das Christus-Ereignis mußte in die vierte Epoche fallen. «MutterJesu» und «Heiliger Geist».

Z E H N T E R V O R T R A G , 30. Mai 1908 168

Das Wirken des Christus-Impulses innerhalb der MenschheitDie sieben «Rassen» der atlantischen Zeit und die sieben «Kultur-epochen» der nachatlantischen Zeit. In der atlantischen Zeit mußte derMensch seinen physischen Leib zu einem Werkzeug des Ich machen,in den einzelnen nachatlantischen Kulturepochen macht er auch dieanderen Glieder seiner Wesenheit zu Ich-Trägern. Die künftige Manas-Kultur und die künftige Buddhi-Kultur. Die drei Zeitepochen der Ge-schichte des Christentums: 1. Die Zeit der Vorverkündigung desChristentums bis zum Erscheinen des Christus Jesus, 2. das tiefsteHeruntertauchen des menschlichen Geistes in die Materie und dieVermaterialisierung selbst des Christentums und 3. die geistige Erfas-sung des Christentums durch anthroposophische Vertiefung. DieHochzeit zu Kana. Wie durch drei Weltentage hindurch der Christus-Impuls innerhalb der Menschheit wirkt.

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 103 Seite: 7

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ELFTER VORTRAG, 30. Mai 1908 183

Die christliche EinweihungDas Wesen der Einweihung. Der Eingeweihte muß ein «heimatloserMensch» werden, ein objektiver Mensch im vollen Sinne des Wortes;er muß die Keime aufnehmen zu der großen Bruderliebe. Christus istder Geist der Erde und die Erde ist der Leib Christi. Worauf dieWahrnehmung in einer höheren Welt beruht. Meditation, Konzen-tration und Kontemplation. Die drei Methoden der Einweihung. Diesieben Stufen der christlichen Einweihung.

ZWÖLFTER VORTRAG, 31. Mai 1908 195

Das Wesen der Jungfrau Sophia und des Heiligen GeistesDas Prinzip der Einweihung. «Katharsis» oder Reinigung: die Be-arbeitung des astralischen Leibes durch Meditation und Konzentration.Das Durcharbeiten der Gedanken der «Philosophie der Freiheit».Abdruck des Astralleibes im Ätherleib. «Photismos» oder Erleuch-tung. Selbsterkenntnis und Selbstbefruchtung. Die «Jungfrau Sophia»,der geläuterte Astralleib und der «Heilige Geist», das kosmische Wel-ten-Ich, das die Erleuchtung bewirkt. Namengebung zur Zeit derEvangelien. Die christliche Esoterik nennt die Mutter Jesu die «Jung-frau Sophia». «Jesus von Nazareth» und der «Christus Jesus». DasIch des Jesus von Nazareth verläßt bei der Johannes-Taufe dessenKörper und fortan ist in ihm der Christus-Geist, der aus ihm spricht.Auf Golgatha floß der Christus selbst ein in das Wesen der Erde. ImJohannes-Evangelium sind verborgen die Kräfte zur Entfaltung der«Jungfrau Sophia». Maria Magdalena und der Auferstandene. DieErscheinung des Auferstandenen am See Genezareth. Der ungläubigeThomas. Die Wiederkunft des Christus im Ätherischen. Die welt-historische Bedeutung der anthroposophischen Geisteswissenschaft.

Hinweise

Zu dieser Ausgabe 218

Hinweise zum Text 218

Namenregister 220

Rudolf Steiner über die Vortragsnachschriften 221

Übersicht über die Rudolf Steiner Gesamtausgabe . . . . 223

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 10 3 Seite: 8

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ERSTER VORTRAG

Hamburg, 18. Mai 1908

Unsere Vorträge über das Johannes-Evangelium werden ein dop-peltes Ziel haben. Das eine wird sein, die geisteswissenschaftlichenBegriffe als solche zu vertiefen und nach mancherlei Richtungen hinzu erweitern; und das andere Ziel ist gerade dies, durch diejenigenVorstellungen, die uns dabei vor die Seele treten werden, die großeUrkunde des Johannes-Evangeliums selbst uns nahezubringen. Dasbitte ich festzuhalten, daß die Vorträge nach diesen beiden Richtun-gen hin gemeint sind. Es soll sich nicht etwa bloß handeln um Aus-einandersetzungen über das Johannes-Evangelium, sondern an derHand desselben wollen wir in tiefe Geheimnisse des Daseins ein-dringen, und wir wollen durchaus festhalten, wie eigentlich diegeisteswissenschaftliche Betrachtungsweise beschaffen sein muß,wenn sie anknüpft an irgendeine der großen historischen Urkunden,die uns durch die verschiedenen Religionen der Welt überliefertworden sind.

Man könnte nämlich glauben, wenn der Vertreter der Geisteswis-senschaft über das Johannes-Evangelium spricht, er wolle das in demSinne tun, wie es sonst auch vielfach geschieht; einfach eine solcheUrkunde zugrunde legen, um aus ihr diejenigen Wahrheiten, umdie es sich handelt, zu schöpfen, und diese Wahrheiten auf dieAutorität der religiösen Urkunden hin vorbringen. Das kann abernimmermehr die Aufgabe geisteswissenschaftlicher Weltenbetrach-tung sein. Sie muß eine völlig andere sein. Wenn die Geisteswissen-schaft ihre wirkliche Aufgabe gegenüber dem modernen Menschen-geist erfüllen will, dann muß sie zeigen, daß der Mensch, wenn er nurseine inneren Kräfte und Fähigkeiten gebrauchen lernt, die Kräfteund Fähigkeiten des geistigen Wahrnehmens, daß er dann, wenn ersie anwendet, eindringen kann in die Geheimnisse des Daseins, in das,was in den geistigen Welten hinter der Sinnenwelt verborgen ist. Daßder Mensch durch den Gebrauch der inneren Fähigkeiten zu den Ge-heimnissen des Daseins vordringen kann, daß er zu den schöpfe-

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 103 Seite:9

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rischen Kräften und Wesenheiten des Universums durch seine eigeneErkenntnis gelangen kann, das muß der modernen Menschheit immermehr zum Bewußtsein kommen.

Und so müssen wir sagen, daß die Geheimnisse des Johannes-Evangeliums unabhängig von jeder Tradition, von jeder historischenUrkunde von dem Menschen gewonnen werden können. Manmöchte, um das ganz deutlich zu sagen, einmal in einer extremenWeise das aussprechen. Dann könnte man so sagen: Nehmen wiran, durch irgendein Ereignis gingen alle religiösen Urkunden demMenschen verloren und dieser behielte nur die Fähigkeiten, die ergegenwärtig hat, dann müßte er trotzdem - wenn er sich nur dieFähigkeiten, die er hatte, bewahrt - in die Geheimnisse des Daseinseindringen können; er müßte hingelangen können zu den göttlich-geistigen schaffenden Kräften und Wesenheiten, die hinter der physi-schen Welt verborgen sind. Und die Geisteswissenschaft muß durch-aus auf diese, von allen Urkunden unabhängigen Erkenntnisquellenbauen. Dann aber, wenn man also unabhängig forscht, wenn manunabhängig von allen Urkunden die göttlich-geistigen Geheimnisseder Welt erforscht hat, dann geht man an die religiösen Urkunden.Dann erst erkennt man sie in ihrem wahren Werte. Denn dann ist manin einer gewissen Weise frei und unabhängig von ihnen. Man erkenntin ihnen dann, was man zuvor selbständig gefunden hat; wer einensolchen Weg gegenüber den religiösen Urkunden eingeschlagen hat,von dem können Sie sicher sein, daß diese Urkunden niemals an Wertfür ihn verlieren, niemals etwas verlieren von der Ehrfurcht undVerehrung, die man ihnen gegenüber haben kann. Durch einen Ver-gleich mit etwas anderem lassen Sie uns einmal klarmachen, um wases sich dabei handelt.

Es könnte jemand sagen: Euklid, der alte Geometer, hat uns zu-erst jene Geometrie gegeben, die heute ein jedes Schulkind lernt aufeiner gewissen Stufe des Schulunterrichts. Aber ist das Lernen derGeometrie durchaus gebunden an dieses Buch von Euklid? Ich frageSie, wie viele lernen heute die elementare Geometrie, ohne eineAhnung zu haben von dem ersten Buch, in das Euklid die elemen-tarsten Dinge über Geometrie hineingelegt hat? Sie lernen die Geo-

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metrie unabhängig von dem Buche des Euklid, weil sie einer Fähig-keit des Menschengeistes entspringt. Dann, wenn man Geometrieaus sich gelernt hat und hinterher an das große Geometriebuch desEuklid kommt, weiß man dies in der richtigen Weise zu würdigen;denn erst dann findet man das, was man sich zu eigen gemacht hat,und lernt die Form schätzen, in der die entsprechenden Erkenntnissezum ersten Male aufgetreten sind. So kann man heute die großenWeltentatsachen des Johannes-Evangeliums durch die im Menschenschlummernden Kräfte finden, ohne von dem Johannes-Evangeliumetwas zu wissen, wie der Schüler die Geometrie lernt, ohne von demersten Geometriebuche des Euklid etwas zu wissen.

Wenn man, ausgerüstet mit dem Wissen über die höheren Welten,an das Johannes-Evangelium herantritt, sagt man sich: Was liegtdenn da vor in der Geistesgeschichte der Menschheit? Die tiefstenGeheimnisse der geistigen Welten sind hineingeheimnißt in ein Buch,sind der Menschheit gegeben in einem Buche. Und da wir vorherwissen, was Wahrheiten über die göttlich-geistigen Welten sind, er-kennen wir dann erst die göttlich-geistige Art des Johannes-Evange-liums in dem richtigen Sinne, und das wird überhaupt der richtigeSinn sein, sich solchen Urkunden zu nähern, welche über geistigeDinge handeln.

Wenn sich solchen Urkunden, welche über geistige Dinge handeln,Leute nähern, welche sehr gut der Sprache nach alles verstehen, wasin solchen Urkunden liegt, wie zum Beispiel im Johannes-Evange-lium, also bloße Philologen - und selbst die theologischen Forschereiner gewissen Art sind heute eigentlich nur Philologen in bezugauf den Inhalt solcher Bücher -, wie verhält sich der Vertreter derGeisteswissenschaft zu solchen Forschern? Nehmen wir nochmalsden Vergleich mit der Geometrie des Euklid. Wer wird denn derrichtigere Ausleger sein? Der gut mit Worten in seiner Art über-setzen kann und gar keine Ahnung hat von den geometrischen Er-kenntnissen? Es wird etwas Sonderbares herauskommen, wenn einsolcher sich an die Geometrie des Euklid machen wird, wenn ervorher gar nichts von der Geometrie versteht! Lassen Sie aber denÜbersetzer selbst einen unbedeutenden Philologen sein, er wird,

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 10 3 Seite: 11

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wenn er Geometrie versteht, das Buch in der richtigen Weise würdi-gen können. So verhält sich gegenüber vielen anderen Forschern derVertreter der Geisteswissenschaft 2um Johannes-Evangelium. Viel-fach wird es gegenwärtig so erklärt, wie die Philologen die Geo-metrie des Euklid erklären würden. Geisteswissenschaft aber liefertaus sich die Erkenntnisse der geistigen Welten, die im Johannes-Evangelium aufgezeichnet sind. So ist der Geisteswissenschafter demJohannes-Evangelium gegenüber in derselben Lage wie der Geo-meter dem Euklid gegenüber: er bringt schon mit, was er in demJohannes-Evangelium finden kann.

Wir brauchen uns nicht bei dem etwa erhobenen Vorwurf aufzu-halten, daß auf diese Weise manches in die Urkunde hineingesehenwerde. Wir werden bald sehen, daß der, welcher den Inhalt ver-steht, nicht nötig hat, etwas in das Evangelium hineinzulegen, wasnicht darin ist. Wer die Art der geisteswissenschaftlichen Auslegungversteht, wird sich bei diesem Vorwurf nicht besonders aufhalten.Wie andere Urkunden nicht an Wert und Verehrung verlieren, wennman ihren wahren Inhalt erkennt, so ist dies auch mit dem Johannes-Evangelium der Fall. Es erscheint dem, der eingedrungen ist in dieGeheimnisse der Welt, als eines der allerbedeutungsvollsten Doku-mente im menschlichen Geistesleben.

Wir können uns dann fragen, wenn wir uns genauer auf den Inhaltdes Johannes-Evangeliums einlassen: Wie kommt es denn, wenn demGeistesforscher das Johannes-Evangelium als eine so bedeutungs-volle Urkunde erscheint, daß es gerade von Theologen, die doch zuErklärern berufen sein sollten, immer mehr und mehr in den Hinter-grund gegenüber den anderen Evangelien gedrängt wird? Dies soll alseine Vorfrage berührt werden, bevor wir in das Johannes-Evangeliumselbst eintreten.

Sie alle wissen, daß in bezug auf das Johannes-Evangelium merk-würdige Anschauungen und Gesinnungen Platz gegriffen haben. Inalten Zeiten wurde es verehrt als eine der tiefsten und bedeutungs-vollsten Urkunden, welche der Mensch hatte über das Wesen undden Sinn des Wirkens des Christus Jesus auf Erden; und in den älte-ren Zeiten des Christentums wäre es wohl niemandem eingefallen,

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Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 103 Seite: 12

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dieses Johannes-Evangelium nicht als ein wichtiges geschichtlichesDenkmal für die Ereignisse in Palästina aufzufassen. In neuerenZeiten ist es anders geworden, und gerade die, welche glauben, amfestesten zu stehen auf dem Boden geschichtlicher Forschung, habenam meisten den Grund unterwühlt, auf dem eine solche Anschauungüber das Johannes-Evangelium stand. Seit einer Zeit, die ja schonnach Jahrhunderten zählt, hat man angefangen, aufmerksam zu wer-den auf die Widersprüche, die sich in den Evangelien finden. Dahat sich besonders unter den Theologen nach mancherlei Schwan-kungen das folgende herausgestellt. Man hat gesagt: Es kommenviele Widersprüche in den Evangelien vor, und man könne sichkeinen klaren Begriff machen, wie es kommt, daß von vier Seiten inden vier Evangelien die Ereignisse in Palästina in verschiedenerWeise erzählt werden. Man sagte: Wenn wir die Darstellungen neh-men, die nach Matthäus, nach Markus, nach Lukas, nach Johannesgegeben werden, so haben wir so viele verschiedene Angaben überdieses und jenes, daß man unmöglich glauben kann, daß sie allemit den historischen Tatsachen übereinstimmen. Das wurde nachund nach die Gesinnung derjenigen, die diese Dinge erforschenwollten.

Nun hat sich in neuerer Zeit die Anschauung gebildet, daß manin bezug' auf die drei ersten Evangelien einen gewissen Einklangüber die Darstellung der palästinensischen Ereignisse sich bildenkönne, daß das Johannes-Evangelium aber in einer weitgehendenArt abweiche von dem, was die drei ersten Evangelien erzählen,und daß deshalb in bezug auf die historischen Tatsachen mehr dendrei ersten Evangelien geglaubt werden müsse und das Johannes-Evangelium weniger geschichtliche Glaubwürdigkeit habe. So istman allmählich dazu gekommen, zu sagen: Dieses Johannes-Evange-lium ist überhaupt nicht in derselben Absicht entstanden wie diedrei ersten. Diese Evangelien wollten nur erzählen, was sich zu-getragen hat; der Verfasser des Johannes-Evangeliums aber habediese Absicht gar nicht gehabt, sondern eine ganz andere. Und manhat aus verschiedenen Gründen der Annahme sich hingegeben, daßdas Johannes-Evangelium überhaupt verhältnismäßig spät nieder-

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Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 103 Seite: 13

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geschrieben worden sei. Wir werden auf diese Dinge noch zu spre-chen kommen. Ein großer Teil der Forscher glaubt, daß das Johannes-Evangelium erst im dritten oder vierten Jahrzehnt des zweiten christ-lichen Jahrhunderts niedergeschrieben worden sei, vielleicht auchschon im zweiten Jahrzehnt des zweiten Jahrhunderts; und dahersagten sie sich: Also ist das Johannes-Evangelium niedergeschriebenin einer Zeit, wo das Christentum in einer bestimmten Form sichschon ausgebreitet hatte, wo es vielleicht auch schon Gegner hatte.Diese oder jene Gegner waren aufgetreten gegen das Christentum,und diejenigen, die diese Meinung annehmen, sagten sich: In demSchreiber des Johannes-Evangeliums haben wir einen Menschen voruns, der insbesondere bestrebt war, eine Lehrschrift zu geben, eineArt Apologie, etwas wie eine Verteidigung des Christentums gegen-über den Strömungen, die sich dagegen erhoben hatten. Nicht aberhätte der Schreiber des Johannes-Evangeliums die Absicht gehabt,die historischen Tatsachen treu zu schildern, sondern zu sagen, wieer sich zu seinem Christus stelle. - So sehen viele nichts anderesin dem Johannes-Evangelium als eine Art religiös durchströmtenGedichtes, das der Schreiber aus einer religiös-lyrischen Stimmungheraus in bezug auf seinen Christus niedergeschrieben habe, umauch andere zu begeistern und in dieselbe Stimmung zu bringen.Vielleicht wird man nicht überall mit so extremen Worten dieseMeinung eingestehen. Wenn Sie aber die Literatur studieren, wer-den Sie finden, daß dies eine weitverbreitete Meinung ist, die vielenunserer Zeitgenossen sehr zur Seele spricht, ja, es kommt einesolche Meinung der Gesinnung unserer Zeitgenossen geradezu ent-gegen.

Seit einigen Jahrhunderten hat sich innerhalb der Menschheit, dieimmer mehr zum Materialismus in ihrer Gesinnung gekommen ist,eine gewisse Abneigung herausgebildet gegen eine solche Auf-fassung des geschichtlichen Werdens überhaupt, wie sie uns gleichin den ersten Worten des Johannes-Evangeliums entgegentritt. Den-ken Sie doch nur daran, daß die ersten Worte keine andere Erklä-rung zulassen, als daß in dem Jesus von Nazareth, der gelebt hatim Anfange unserer Zeitrechnung, verkörpert war eine Wesenheit

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Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 103 Seite: 14

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höchster geistiger Art. Der Schreiber des Johannes-Evangeliumskonnte nach seiner ganzen Art nicht anders, indem er von Jesusspricht, als beginnen mit dem, was er das «Wort» oder den «Logos»nennt; und er konnte nicht anders als sagen:

«Dieses Wort war im Urbeginne, und alles ist durch das Wort ent-standen.» (i, 2-3)

oder durch den «Logos». Nehmen wir dieses Wort einmal in seinervollen Bedeutung, dann müssen wir sagen: Der Schreiber des Johan-nes-Evangeliums sieht sich gedrängt, den Urbeginn der Welt, dasHöchste, wozu sich der Menschengeist erheben kann, als Logos zubezeichnen und zu sagen: «Alle Dinge sind durch diesen Logos, denUrgrund der Dinge, gemacht!» Und dann setzt er fort und sagt:

«Dieser Logos ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnet.»

Das heißt nichts anderes als: Ihr habt ihn gesehen, der unter unsgewohnt hat; ihr werdet ihn nur verstehen, wenn ihr ihn nehmt so,daß in ihm dasselbe Prinzip wohnte, durch das alles, was um euchherum ist an Pflanzen, Tieren und Menschen, gemacht ist. - Willman nicht in verkünstelter Weise interpretieren, so muß man sagen,daß im Sinne dieser Urkunde ein Prinzip allerhöchster Art sich ein-mal im Fleische verkörpert hat. Vergleichen wir die Anforderung,die mit solcher Vorstellung an des Menschen Herz gestellt wird, mitdem, was heute mancher Theologe sagt. Sie können es gegenwärtigin theologischen Werken lesen und in Vorträgen in mannigfacherWeise hören: Wir appellieren nicht mehr an irgendein übersinnlichesPrinzip; uns ist derjenige Jesus am liebsten, den uns die drei erstenEvangelien schildern, denn das ist der «schlichte Mann aus Naza-reth », der anderen Menschen ähnlich ist.

Das ist in gewisser Art ein Ideal geworden für viele Theologen*Die Menschen haben das Bestreben, alles, was geschichtlich gewor-den ist, möglichst auf gleiche Stufe zu stellen mit allgemein mensch-lichen Ereignissen. Es stört die Menschen, daß ein so Hoher heraus-ragen soll, wie es der Christus des Johannes-Evangeliums ist. Daher

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sprechen sie von diesem als von der Apotheose Jesu, des «schlichtenMannes von Nazareth», der ihnen deshalb so gefällt, weil sie sagenkönnen: Wir haben ja auch einen Sokrates und andere große Män-ner. - Er unterscheidet sich ja von diesen anderen, aber sie habendoch einen gewissen Maßstab an einer gewöhnlichen banalen Mensch-lichkeit, wenn sie sprechen können vom «schlichten Manne ausNazareth». Dies Sprechen vom «schlichten Manne aus Nazareth»,das Sie heute schon in zahlreichen theologischen Werken, auch intheologisch-akademischen Schriften vorfinden, in dem, was man die«aufgeklärte Theologie» nennt, das hängt zusammen mit dem seitJahrhunderten herangebildeten materialistischen Sinne der Mensch-heit; denn diese glaubt, daß es nur Physisch-Sinnliches geben könneoder daß nur dieses eine Bedeutung habe. In denjenigen Zeiten derMenschheitsentwickelung, in welchen der Blick der Menschheit nochhinaufgegangen ist zu dem Übersinnlichen, konnte der Mensch sagen:Außen, in der äußeren Erscheinung mag diese oder jene historischePersönlichkeit sich gewiß vergleichen lassen mit dem schlichtenManne aus Nazareth, aber in dem, was als Geistiges und Unsicht-bares in dieser Persönlichkeit war, da ist dieser Jesus von Nazarethein Einziger! Als man aber den Hinblick und den Einblick in dasÜbersinnliche und Unsichtbare verloren hatte, verlor man auch denMaßstab für alles, was über den Durchschnitt der Menschheit hinaus-ragte, und das zeigte sich ganz besonders in der religiösen Auf-fassung des Lebens. Darüber geben Sie sich nur gar keiner Täu-schung hin! Der Materialismus ist zuerst eingedrungen in das religiöseLeben. Viel, viel weniger gefährlich für die geistige Entwickelung derMenschheit ist der Materialismus in bezug auf die äußeren natur-wissenschaftlichen Tatsachen als in bezug auf die Auffassung derreligiösen Geheimnisse.

Wir werden zu sprechen haben - als ein Beispiel - über die wahrespirituelle Auffassung des Abendmahls, die Verwandlung von Brotund Wein in Fleisch und Blut, und wir werden im Laufe dieser Vor-träge hören, daß durch diese spirituelle Auffassung das Abendmahlwahrhaftig nicht an Wert und Bedeutung verliert. Aber es wird ebeneine spirituelle Auffassung sein, die wir kennenlernen werden. Und

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die war auch die alte christliche Auffassung, als noch mehr spiri-tueller Sinn war unter der Menschheit; sie galt noch in der erstenHälfte des Mittelalters. Da wußten viele die Worte: «Dies ist meinLeib...; dies ist mein Blut!» (Markus 14, 22 und 24), so aufzufassen,wie wir das kennenlernen werden. Aber diese geistige Auffassung gingim Laufe der Jahrhunderte notwendigerweise verloren. Wir werdendie Gründe dafür kennenlernen. Da gab es im Mittelalter eine sehrmerkwürdige Strömung, die tiefer, als Sie es glauben mögen, einge-drungen ist in die Gemüter der Menschheit, denn wie die Seelen sichnach und nach entwickelt und was sie erlebt haben, können Sie vonder heutigen Geschichte sehr wenig erfahren. Um die Mitte des Mittel-alters ist eine tiefgehende Strömung vorhanden in den christlichenGemütern Europas; denn es war von autoritativer Seite aus der ehe-malige spirituelle Sinn der Abendmahlslehre ins Materialistische um-gedeutet. Die Menschen konnten sich bei den Worten: «Dies ist meinLeib...; dies ist mein Blut», nur vorstellen, daß ein materieller Vor-gang, eine materielle Umwandlung von Brot und Wein in Fleisch undBlut geschehe. Was früher geistig vorgestellt wurde, fing man an, imgrob materiellen Sinne sich vorzustellen. Hier schleicht sich der Mate-rialismus, lange bevor er die Naturwissenschaft ergreift, ein in dasreligiöse Leben.

Und ein anderes Beispiel ist nicht minder bedeutsam. GlaubenSie nicht, daß in irgendeiner der maßgebenden Erklärungen der«Schöpfungsgeschichte» im Mittelalter die sechs Schöpfungstage sogenommen worden sind als Tage, wie sie heute sind, als Tage vonvierundzwanzig Stunden. Keinem der maßgebenden theologischenLehrer wäre das auch nur eingefallen; denn sie haben verstanden,was in den Urkunden steht. Sie haben noch gewußt, einen Sinn zuverbinden mit den Worten der Bibel. Hat es denn einen Sinn über-haupt gegenüber der Schöpfungsurkunde, von vierundzwanzigstün-digen Schöpfungstagen zu sprechen in unserer heutigen Art? Washeißt denn ein Tag? Ein Tag heißt das, was durch das Umdrehungs-verhältnis der Erde gegenüber der Sonne bewirkt wird. Von Tagenim heutigen Sinne können Sie nur reden, wenn die Verhältnissezwischen Sonne und Erde und ihre Bewegung so vorgestellt werden,

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wie sie heute sind. Daß aber Sonne und Erde in solchen Verhält-nissen zueinander gestanden haben, wird in der Genesis erst vomvierten Zeitraum, vom vierten «Tage » der Schöpfung erzählt. «Tage »können daher überhaupt erst am vierten Tage der Schöpfungs-geschichte anfangen. Vorher wäre es sinnlos, sich Tage vorzustellen,wie sie heute sind. Da erst überhaupt am vierten «Tag» die Einrich-tung kommt, wodurch Tag und Nacht möglich werden, konntevorher nicht von Tagen im heutigen Sinne die Rede sein! Wiederkam die Zeit herauf, wo die Menschen nicht mehr wußten, daßdamit die geistige Bedeutung von Tag und Nacht gemeint sei, woman sich nur denken konnte, daß solche Zeit, die man sich in physi-schen Tagen vorzustellen hat, möglich ist. So wurde für einen mate-rialistisch denkenden Menschen, selbst für einen Theologen, ein Tag,wie er heute ist, auch der Schöpfungs-«Tag», weil er nur jenenkennt.

Ein älterer Theologe redete anders über solche Dinge. Ein solchersagte sich vor allem, daß in den alten religiösen Urkunden nichtsUnnötiges an wichtigen Stellen steht. Als ein Beispiel dafür wollen wireine Stelle betrachten. Man nehme einmal im 2. Kapitel des erstenBuches Mose den 21. Vers; da heißt es:

«Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf fallen auf den Men-schen, und er entschlief.»

Auf diese Stelle legten die alten Erklärer einen ganz besonderen Wert.Diejenigen, die sich schon ein wenig befaßt haben mit der Entwicke-lung der geistigen Kräfte und Fähigkeiten des Menschen, werden wis-sen, daß es verschiedene Arten von Bewußtseinszuständen gibt, daßdasjenige, was wir heute bei dem Durchschnittsmenschen «Schlaf»nennen, nur ein vorübergehender Bewußtseinszustand ist, der sichkünftig - wie heute schon bei den Eingeweihten - umwandeln wird ineinen Bewußtseinszustand, wo der Mensch leibbefreit hineinsieht indie geistige Welt. Deshalb sagte der Erklärer: Gott Heß Adam in einentiefen Schlaf fallen, und da konnte er wahrnehmen, was er mit denphysischen Sinneswerkzeugen nicht wahrnehmen konnte. Das ist ge-meint als ein hellseherischer Schlaf, und was erzählt wird, ist das, was

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man erfährt in einem höheren Bewußtseinszustand; daher fällt Adam«in einen Schlaf». Dies war eine alte Erklärung; und man sagte, eswürde auch nicht erwähnt werden in einer religiösen Urkunde, «Gottließ einen tiefen Schlaffallen auf den Menschen», wenn er auch schonfrüher in einen Schlaf verfallen wäre. Darauf werden wir hingewiesen,daß es der erste Schlaf ist, und daß der Mensch früher in Bewußtseins-zuständen war, wo er noch geistige Dinge ständig wahrnehmenkonnte. Das ist es, was den Leuten erzählt wurde.

Heute handelt es sich nun darum, zu zeigen, daß es einmal ganzspirituelle Erklärungen der biblischen Urkunden gegeben hat, unddaß der materialistische Sinn, als er heraufkam, das hineingelegt hat,was heute in der Bibel von den aufgeklärten Leuten bekämpft wird.Das hat erst der materialistische Sinn gemacht, was er nun selbst be-kämpft. So sehen Sie, wie in der Tat der materialistische Sinn in derMenschheit heraufgezogen ist und wie dadurch das wahre, echte,wirkliche Verständnis für die religiösen Urkunden verlorengegangenist. Wenn die Geisteswissenschaft ihre Aufgabe erfüllen und demMenschen zeigen wird, welche Geheimnisse hinter dem physischenDasein liegen, dann wird man schon erkennen, wie diese Geheimnissein den religiösen Urkunden geschildert werden. Der äußere trivialeMaterialismus, den heute die Menschen für so gefährlich halten, ist nurdie letzte Phase des Materialismus, den ich Ihnen geschildert habe. Erstwurde die Bibel materialistisch interpretiert. Hätte nie ein Mensch dieBibel materialistisch erklärt, so hätte auch nie in der äußeren Wissen-schaft ein Haeckel die Natur materialistisch erklärt; und was im vier-zehnten und fünfzehnten Jahrhundert als Grund gelegt worden ist inreligiöser Beziehung, das ging als Frucht im neunzehnten Jahrhundertauf in der Naturwissenschaft; und das hat dazu geführt, daß es unmög-lich ist, dem Johannes-Evangelium gegenüber zu einem Verständniszu kommen, wenn man nicht in die geistigen Urgründe eindringt. Mankann den Wert des Johannes-Evangeliums nur dann unterschätzen,wenn man es nicht versteht. Und weil diejenigen, die es nicht mehrverstanden haben, angekränkelt waren von einer materialistischenGesinnung, erschien es ihnen eben in dem vorhin geschildertenLichte.

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Ein ganz einfacher Vergleich wird erklären, in welcher Art dasJohannes-Evangelium von den drei andern abweicht.

Denken Sie sich einen Berg. Auf dem Berge und am Bergabhangestehen auf gewissen Höhen verschiedene Menschen, und diese ver-schiedenen Menschen - sagen wir drei - zeichnen nun ab, was sieunten sehen. Jeder wird es nach der Stelle, wo er steht, verschiedenzeichnen; aber gewiß ist jedes von diesen drei Bildern doch wahrfür den Standpunkt, um den es sich handelt. Und derjenige, der nunoben auf dem Gipfel steht und das zeichnet, was unten ist, wirdwieder einen andern Anblick gewinnen und schildern. So ist derAnblick der drei Evangelisten, der Synoptiker Matthäus, Markus,Lukas, gegenüber dem des Johannes, der nur von einer andern Stelleaus die Sache beschreibt. Und was haben gelehrte Erklärer nicht allesherbeigetragen, um dieses Johannes-Evangelium begreiflich zu ma-chen! Manchmal muß man sich wirklich wundern, was alles von denexakten Forschern gesagt wird, was so leicht zu durchschauen wäre,wenn nicht unsere Zeit eine Zeit des denkbar größten Autoritäts-glaubens wäre. Der Glaube an die unfehlbare Wissenschaft ist heuteauf dem höchsten Punkt angekommen!

So ist denn gleich der Eingang des Johannes-Evangeliums etwassehr Schwieriges für den materialistisch angehauchten Theologen ge-worden. Die Lehre von dem Logos oder Wort hat den Leuten großeSchwierigkeiten gemacht. Sie sagen sich: Wir möchten doch so gern,daß alles einfach, schlicht und naiv ist, und da kommt dann dasJohannes-Evangelium und spricht von so hohen philosophischenDingen, von dem Logos, dem Leben, dem Lichte! - Der Philologeist gewöhnt, immer zu fragen, woher das stammt. Mit neueren Wer-ken macht man es nicht anders. Lesen Sie die Werke über den Goethe-schen «Faust». Überall finden Sie nachgewiesen, woher dieses oderjenes Motiv stammt; da werden durch Jahrhunderte zum Beispielalle Bücher aufgestöbert, um zu sehen, woher Goethe das Wort vom«Wurm» hat, das er gebraucht. Und so fragt man auch: Woher hatJohannes den Begriff des «Logos»? Die anderen Evangelisten, diezu dem einfachen, schlichten Menschenverstand gesprochen haben,drücken sich nicht so philosophisch aus. Nun sagte man weiter, der

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Schreiber des Johannes-Evangeliums wäre eben ein Mensch mit grie-chischer Bildung gewesen, und dann wies man darauf hin, daß dieGriechen in Philo von Akxandrien einen Schriftsteller haben, der auchvon dem Logos spricht. Also dachte man sich, daß in gebildetengriechischen Kreisen, wenn man von etwas Hohem sprechen wollte,man von dem Logos sprach, und daher hat der Johannes das auf-genommen. Und so nahm man das wieder für einen Beweis, daß derSchreiber des Johannes-Evangeliums nicht auf derselben Überliefe-rung gefußt hat, auf der die Schreiber der andern Evangelien fußten,sondern - so sagte man - er hat sich beeinflussen lassen von dergriechischen Bildung und dementsprechend die Tatsachen umgeprägt.Und gerade die Anfangsworte des Johannes-Evangeliums

«Im Urbeginne war das Wort, und das Wort war bei Gott, und einGott war das Wort.»

beweisen, daß der philonische «Logos»-Begriff in den Geist desSchreibers des Johannes-Evangeliums eingedrungen ist und die Dar-stellung beeinflußt hat!

Solchen Leuten möchte man nur einmal den Anfang des Evange-liums des Lukas dagegenhalten:

« Sintemalen sich viele unterwunden haben, Rede zu führen von denEreignissen, so unter uns geschehen sind,wie uns das überliefert haben diejenigen, die von Anfang selbstAugenzeugen und Diener des Wortes gewesen sind,deshalb habe ich es für gut befunden, nachdem ich das alles, wie esvon Anfang war, mit Fleiß erforscht, dir zu erzählen, mein guterTheophilus.» (Lukas i, 1-3)

Hier steht am Anfange gerade, daß das, was er erzählen will, Über-lieferung ist derjenigen, die «Augenzeugen und Diener des Wortesgewesen sind». Es ist sonderbar, daß Johannes das aus der griechi-schen Bildung haben soll und daß Lukas, der doch nach dieser An-sicht zu den schlichten Männern gehörte, ebenfalls von dem «Logos »spricht! Solche Dinge sollten selbst die autoritätsgläubigen Menschendarauf aufmerksam machen, daß es wirklich nicht eigentlich exakte

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Gründe sind, die 2u solchen Resultaten führen, sondern Vorurteile;die materialistische Brille ist es, die diese Anschauung über dasJohannes-Evangelium herauf gebracht hat, daß es in der eben charak-terisierten Weise neben die anderen Evangelien hinzustellen sei, -was wir leicht daraus entnehmen können, daß auch im Lukas-Evange-liurn die Rede davon ist. Was von denen gesagt wird, die da Augen-zeugen und Diener des Logos gewesen sind, das bedeutet, daß vondem Logos in den alten Zeiten gesprochen wurde als von etwas, wasdie Leute kannten und mit dem sie vertraut waren. Und das ist es,was wir uns jetzt besonders vor die Seele führen müssen, damit wirtiefer eindringen können in die ersten paradigmatischen Sätze desJohannes-Evangeliums.

Wovon spricht derjenige, der damals das Wort «Logos» oder dasWort «Wort» gebrauchte in unserm Sinne? Wovon spricht er?

Nicht durch theoretisches Erklären und abstraktes begrifflichesAuseinandersetzen kommen Sie zu dieser Vorstellung des Logos,sondern Sie müssen sich durch das Gemüt in das ganze Empfindungs-leben aller derjenigen hineinversetzen, die so von dem Logos ge-sprochen haben. Auch diese Leute haben die Dinge um sich herumgesehen. Aber es genügt nicht, daß der Mensch bloß das ansieht, wasum ihn herum ist, sondern es kommt darauf an, wie sich daran dieEmpfindungen seines Herzens und seines Gemütes knüpfen, wie erdies oder jenes für höher oder niedriger hält, je nachdem, was er inihnen sieht. Sie alle richten Ihre Blicke auf die Sie umgebendenNaturreiche, auf Mineralien, Pflanzen, Tiere und Menschen. Sie nen-nen den Menschen das vollkommenste, das Mineral das unvollkom-menste Geschöpf. Innerhalb der betreffenden Naturreiche unter-scheidet man wieder höher und niedriger stehende Wesen. Zu den ver-schiedenen Zeiten empfanden die Menschen das ganz verschieden.

Diejenigen, die im Sinne des Johannes-Evangeliums sprachen, emp-fanden vor allem eines als etwas ganz Bedeutsames: Man sah herunterauf das niedere Tierreich und ließ den Blick schweifen hinauf bis zudem Menschen - und verfolgte etwas ganz Bestimmtes in dieser Ent-wickelungsrichtung. Da sagte ein solcher Bekenner der Logoslehre:Eines ist es, was uns am tiefsten den Vorzug der höheren Wesen vor

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den niederen darstellt: die Fähigkeit, das, was im Innern lebt, nachaußen durch das Wort tönen zu lassen, den Gedanken der Umwelt imWort mitzuteilen. Es würde ein solcher Bekenner der Logoslehregesagt haben: Sieh dir an das niedere Tierl Es ist stumm, es drücktnicht aus seinen Schmerz oder seine Lust. - Nehmen Sie die niederenTiere: sie zirpen oder geben andere Töne von sich usw.; aber es istdas das äußere Schaben und Reiben der physischen Organe, die datönen, wie ein Hummer es auch kann. Je höher wir hinaufkommen,desto mehr entwickelt sich die Fähigkeit, daß sich das Innere im Tonmanifestiert und das, was die Seele erlebt, im Ton mitteilt. Und des-halb, sagte man, steht der Mensch über den anderen Wesen so hoch,weil er nicht nur imstande ist, mit Worten zu bezeichnen, was seineLust oder sein Schmerz ist, sondern weil er das, was über das Persön-liche hinausgeht, was geistig, unpersönlich ist, in Worte zu fassen, inGedanken auszudrücken vermag.

Und man sagte nun unter diesen Bekennern der Logoslehre: Es gabeine Zeit, bevor der Mensch in seiner heutigen Gestalt da war, in deres ihm möglich ist, sein innerstes Erlebnis in Worten nach außen er-tönen zu lassen. Es gab vorher eine andere Zeit. Es hat lange Zeitgebraucht, daß sich unsere Erde bis zu der heutigen Gestalt hindurch-entwickelte. - Wir werden hören, wie diese Erde geworden ist. -Wenn wir aber die früheren Zustände prüfen, finden wir den Men-schen in seiner heutigen Gestalt noch nicht und auch keine Wesen,die von innen heraus ertönen lassen können, was sie erleben. Mitstummen Wesen beginnt unsere Welt, und nach und nach erst zeigensich Wesen und erscheinen auf unserem Wohnplatz, die die innerstenErlebnisse nach außen tönen lassen können, die des Wortes mächtigsind. Aber das, was vom Menschen heraus am spätesten erscheint -sagten sich die Bekenner der Logoslehre -, das war in der Welt selbstam frühesten da. Wir denken uns, der Mensch war in seiner heutigenGestalt in früheren Erdzuständen noch nicht da; aber in unvollkom-mener, stummer Gestalt war er da und hat nach und nach sich biszum logos- oder wortbegabten Wesen heraufentwickelt. Daß er daskonnte, rührt davon her, daß das, was bei ihm zuletzt erscheint, dasschöpferische Prinzip, in einer höhern Wirklichkeit von Anfang an

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da war. Was sich losringt aus der Seele, das war das göttliche schöp-ferische Prinzip im Anfang. Das Wort, das aus der Seele tönt, derLogos, war im Anfang da, und der Logos hat die Entwickelung sogelenkt, daß zuletzt ein Wesen entstand, in dem er auch erscheinenkonnte. Was zuletzt in der Zeit und im Räume erscheint, war imGeiste zuerst da.

Wenn Sie einen Vergleich nehmen wollen, um sich das klar-zumachen, so können Sie ungefähr sagen: Hier habe ich diese Blumevor mir. Diese Blumenkrone, diese Blumenglocke, was war sie voreiniger Zeit? Es war ein kleines Samenkorn. Darinnen war der Mög-lichkeit nach diese weiße Blumenglocke. Wäre sie nicht der Möglich-keit nach darinnen gewesen, diese Blumenglocke hätte nicht ent-stehen können. Und woher kommt das Samenkorn? Es kommt wiedervon einer solchen Blumenglocke her. Dem Samenkorn geht die Blütevoran; und so, wie die Blüte der Frucht vorangeht, so hat sich dasSamenkorn, aus dem diese Blüte entstanden ist, herausentwickelt auseiner gleichen Pflanze. So betrachtete der Bekenner der Logoslehreden Menschen und sagte sich: Gehen wir zurück in der Entwicke-lung, so finden wir in früheren Zuständen den noch stummen Men-schen, der nicht des Wortes fähig war; aber wie der Same von derBlüte herkommt, so kommt der stumme Menschensame von demsprechenden, wortbegabten Gotte im Urbeginn her. Wie das Mai-glöckchen den Samen und der Same wieder das Maiglöckchen erzeugt,so erzeugt das göttliche Schöpferwort den stummen Menschensamen;und als das göttliche Schöpferwort hineinschlüpft in den stummenMenschensamen, um darin wieder aufzugehen, tönt aus dem Men-schensamen das ursprüngliche göttliche Schöpferwort hervor. Gehenwir zurück in der Menschheitsentwickelung, so treffen wir ein unvoll-kommenes Wesen, und die Entwickelung hat den Sinn, daß zuletzt alsBlüte der Logos oder das Wort, das das Innere der Seele enthüllt, er-scheint. Es erscheint im Anfange der stumme Mensch als Samen deslogosbegabten Menschen, und dieser geht hervor aus dem logos-begabten Gotte. Es entspringt der Mensch aus dem nicht wortbegab-ten, stummen Menschen, aber zuletzt ist im Urbeginn der Logos oder dasWort. - So dringt derjenige, der die Logoslehre im alten Sinne er-

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kennt, vor zu dem göttlichen Schöpferwort, das der Urbeginn desDaseins ist, worauf der Schreiber des Johannes-Evangeliums im An-fange hinweist. Hören wir, was er im Anfange sagt:

«Im Urbeginne war das Wort, und das Wort war bei Gott, und einGott war das Wort.»

Heute, will er sagen, wo ist heute das Wort? Heute ist auch dasWort da, und das Wort ist beim Menschen I und ein Menschlichesist das Wort! Und so knüpft der Schreiber des Johannes-Evangeliumsden Menschen an den Gott an, und wir hören in der Tat eine fürjedes Menschenherz leicht begreifliche Lehre ertönen im Beginnedieses Johannes-Evangeliums.

Ich wollte Ihnen heute in diesem einleitenden Vortrag mit allgemei-neren Worten einmal mehr vom Empfindungs- und Gefühlsstand-punkt aus schildern, wie ursprünglich ein Bekenner der Logoslehresolche Worte des Johannes-Evangeliums empfunden hat. Und nach-dem wir uns so in die Stimmung hineinversetzt haben, wie sie war,als zuerst diese Worte gehört wurden, werden wir um so besser dieMöglichkeit haben, in den tiefen Sinn, der diesem Johannes-Evange-lium zugrunde liegt, einzudringen.

Wir werden weiter sehen, wie das, was wir Geisteswissenschaftnennen, wahrhafte Wiedergabe ist des Johannes-Evangeliums, undwie die Geisteswissenschaft uns in die Lage versetzt, dieses Johannes-Evangelium um so gründlicher zu verstehen.

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Z W E I T E R V O R T R A G

Hamburg, 19. Mai 1908

Die ersten Worte des Johannes-Evangeliums rühren in der Tat gleichan die tiefsten Weltgeheimnisse. Man sieht das, wenn man die ihnenzugrunde liegenden geisteswissenschaftlichen Wahrheiten vor dieSeele hintreten läßt; und wir werden tief hineingreifen müssen in diespirituelle Erkenntnis, wenn uns diese ersten Worte des Evangeliumsim richtigen Lichte erscheinen sollen. Manches, was denjenigen vonIhnen recht wohl bekannt ist, die sich längere Zeit mit der anthropo-sophischen Weltanschauung befaßt haben, werden wir uns nur kurzdabei ins Gedächtnis zurückrufen müssen. Wir werden aber gewisseelementare Wahrheiten der anthroposophischen Weltanschauungheute durchdringen müssen mit weiteren Ausblicken in verschiedenebedeutsame kosmische Geheimnisse.

Nur ganz kurz brauchen wir uns einmal das Wesen des Menschenvor Augen zu führen, wie dieses Wesen sich uns darstellt in dergeisteswissenschaftlichen Betrachtung, zunächst für die Zeit vomMorgen, wenn der Mensch aufwacht, bis zum Abend, wenn derMensch wiederum in Schlaf versinkt. Wir wissen, daß der Menschbesteht aus dem physischen Leib, dem Äther- oder Lebensleib, demAstralleib und dem Ich. Diese vier Glieder der menschlichen Wesen-heit sind aber in derjenigen Verbindung, die wir ihnen normalerweisefür den Wachzustand zuschreiben, wirklich nur so da während diesesWachzustandes. Insbesondere ist notwendig, daß wir uns vor dieSeele rücken, daß während des Schlafzustandes in der Nacht derMensch im Grunde genommen eine ganz andere Wesenheit ist; dennseine vier Glieder sind dann in einer ganz anderen Art zusammen-gefügt als während des Tag Wachens. Wenn der Mensch schläft, liegender physische Leib und der Ätherleib im Bette; der Astralleib unddas Ich sind in einer gewissen Weise losgelöst aus dem Zusammen-hang mit dem physischen Leibe und dem Ätherleibe, sind also - wennwir das Wort nicht im rein räumlichen, sondern im geistigen Sinneverstehen - außerhalb des physischen Leibes und des Ätherleibes.

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So ist also der Mensch während der Nacht eine Wesenheit, die eigent-lich aus zwei Teilen besteht: aus dem, was im Bette liegen gebliebenist, und dem, was sich aus dem physischen Leibe und dem Äther-leibe herausgetrennt hat. Nun müssen wir uns vor allen Dingen klar-machen, daß während der Nacht - von dem Augenblicke, wo derMensch einschläft, bis zu dem Augenblicke, wo er am Morgen wiederaufwacht - dasjenige, was im Bette liegen bleibt, der physische undder Ätherleib, wenn sie verlassen würden von dem, was sie den Taghindurch erfüllt - von dem, was im Astralleib und im Ich lebt -, daßsie dann als solche gar nicht bestehen könnten. Und hier ist es, wo wiruns ein wenig tiefer in die Weltgeheimnisse einlassen müssen.

Wenn wir des Menschen physischen Leib vor uns haben, müssenwir uns klarmachen, daß dieser physische Menschenleib, den wir mitAugen sehen und mit Händen wahrnehmen, einen langen Entwicke-lungsprozeß hinter sich hat. Er hat diesen Entwickelungsprozeßdurchgemacht im Verlaufe der ganzen Entwickelung unseres Erd-planeten. Schon bekannt ist es denjenigen, die sich ein wenig mit dieserMaterie befaßt haben, daß unsere Erde frühere Zustände durch-gemacht hat. So wie der Mensch von Verkörperung zu Verkörperunghindurchgeht, wiederholte Erdenleben durchmacht, so hat auch unsereErde, bevor sie in denjenigen Zustand gekommen ist, in dem sieheute ist, andere Zustände durchgemacht. Es gibt ebenso frühereVerkörperungen eines Planeten, wie es frühere Verkörperungen einesMenschen gibt. Alles in der großen Welt und in der kleinen Weltunterliegt dem Gesetze der Wiederverkörperung. Und unsere Erdewar, bevor sie diese unsere Erde wurde, durch einen Zustand durch-gegangen, den wir den «alten Mond» nennen, weil der heutige Mondein abgesplittertes Stück dieses alten Planeten ist. Also nicht derheutige Mond ist gemeint, wenn wir von dem «alten Monde» spre-chen, sondern ein ähnlicher Planet, wie die heutige Erde einer ist. -Ebenso nun wie beim Menschen ein Zeitraum liegt zwischen einerVerkörperung und einer neuen Geburt, so liegt ein Zeitraum zwischender Verkörperung unseres Planeten, den wir als Erde bezeichnen, unddesjenigen, den wir als den alten Mond bezeichnen. Und ebenso istes mit dem Zustande unseres Planeten, den wir als «Sonne» be-

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zeichnen. Ein Zustand, den man als Sonne bezeichnet, ging demMondenzustande unseres Planeten voran, und dem Sonnenzustandeging wieder ein Saturnzustand voran. So können wir zurückblickenauf drei frühere Verkörperungen unseres Planeten.

Unser physischer Menschenleib hat seine allererste Anlage erhaltenauf dem alten Saturn. Damals auf diesem alten Saturn bildete sicheine - von dem heutigen menschlichen Leibe freilich ganz ver-schiedene - erste Anlage des physischen Menschenleibes. Alles, washeute vom Menschen vorhanden ist außer dem physischen Men-schenleibe, war auf diesem alten Saturn noch nicht vorhanden. Erstals der Saturn sich in die Sonne verwandelte, also während der zweitenVerkörperung unseres Erdplaneten, kam zu diesem physischen Leibder Ätherleib hinzu, durchtränkte, imprägnierte ihn. Und was wardie Folge? Die Folge war, daß der physische Menschenleib eine Ver-wandlung durchmachte: er wurde anders gestaltet, er erlangte eineandere Art und Weise seines Daseins. So steht während der Sonnen-verkörperung unserer Erde der physische Leib auf der zweiten Stufeseines Daseins. Wodurch hat er diese zweite Stufe erlangt? Dadurch,daß er - während er auf dem Saturn noch maschinenhaft, automatischwar - auf der Sonne ein innerlich lebendiger Leib wurde. Der Äther-leib, der hineingeschlüpft war, gestaltete den physischen Leib um.Auf dem Monde schlüpfte in diesen Zusammenhang von physischemLeib und Ätherleib der Astralleib hinein. Da wurde wiederum derphysische Leib umgestaltet, ein drittes Mal gestaltet, der Ätherleiberst ein zweites Mal. Auf der Erde endlich kam zum physischen Leib,Ätherleib und astralischen Leib das Ich hinzu, und das Ich, das jetzthineinschlüpfte in diesen dreifachen Zusammenhang, gestaltete diesenphysischen Leib wiederum um, so daß er endlich dieser komplizierteZusammenhang wurde, der er heute ist. Es ist also, was Sie heute alsden menschlichen physischen Leib vor sich haben, ein vielfach um-gestaltetes Wesen, und er ist so kompliziert, wie er heute erscheint,nur dadurch geworden, daß er vier Entwickelungszustände durch-gemacht hat.

Wenn wir von unserem heutigen physischen Leibe sprechen undsagen, er bestehe aus denselben physischen und chemischen Stoffen

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und Kräften wie draußen im Kosmos die Mineralien, dann müssenwir uns aber auch klarmachen, daß zwischen diesem physischenMenschenleibe und dem Mineral doch noch ein gewaltiger Unter-schied ist. Wir betonen, wenn wir in ganz elementarer Art sprechen,den Unterschied des physischen Menschenleibes von dem physischenLeibe eines Minerals, oder sagen wir eines Bergkristalls, dadurch,daß wir sagen: Der Bergkristall behält, wenn er nicht von außenzerstört wird, seine Form. Der physische Leib des Menschen kanndurch sich selbst nicht seine Form behalten; er hat sie nur dadurchund nur so lange, als ein ätherischer Leib, ein astralischer Leib undein Ich in ihm sind. In dem Augenblicke, wo sich Ätherleib, astra-lischer Leib und Ich von ihm trennen, beginnt der physische Leibetwas ganz anderes zu werden, als er zwischen Geburt und Tod ist:Er folgt den Gesetzen der physischen und chemischen Stoffe undKräfte und zerfällt, während der physische Leib des Minerals erhaltenbleibt.

Etwas Ähnliches ist mit dem Ätherleibe der Fall. Nachdem sichunmittelbar nach dem Tode Ätherleib, astralischer Leib und Ich vondem physischen Leibe getrennt haben, geht nach einiger Zeit auchder Ätherleib aus der Verbindung mit dem astralischen Leibe unddem Ich heraus und löst sich auf im Weltenäther, wie sich der phy-sische Leib im Erdreich auflöst. Es bleibt dann von dem Ätherleibenur jener Extrakt zurück, von dem wir öfter gesprochen haben; derbleibt mit dem Menschen vereint. So können wir sagen, daß derphysische Leib des Menschen in einer gewissen Beziehung allerdingsvon demselben Wert ist wie das um uns herumliegende Mineralreich.Aber wir müssen uns doch den großen Unterschied vor die Seelerücken, der zwischen dem Mineralreich und dem physischen Men-schenleibe besteht.

Es könnte jemand sagen: Ja, eben ist gesagt worden, auf demSaturn war unser physischer Leib noch nicht durchsetzt von einemÄtherleibe, nicht von einem astralischen Leib und nicht von einemIch, denn die kamen erst auf der Sonne, dem Monde und der Erdehinzu; da war also wirklich der physische Leib des Menschen -könnte man sagen - von dem Werte eines Minerals. - Nun aber

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haben wir angeführt, wie drei Verwandlungen dieses physischenLeibes einander folgten auf diesen alten Zustand, in dem er währenddes Saturndaseins war. Auch das heutige Mineral, das Sie als eintotes Mineral vor sich haben, kann unmöglich bestehen so, daß esbloß einen physischen Leib in sich hat. Machen Sie sich klar, daß zwarfür diese unsere physische Welt das richtig ist, was gesagt wird undgesagt werden muß: daß das Mineral nur einen physischen Leib habe.Hier in der physischen Welt hat das Mineral bloß einen physischenLeib, aber absolut richtig ist das nicht. Genau ebenso wie der phy-sische Leib, wenn er vor uns steht, in sich seinen Ätherleib, seinenastralischen Leib und sein Ich hat, die dazu gehören, so hat auch dasMineral nicht bloß physischen Leib, sondern auch Ätherleib, astra-lischen Leib und Ich; nur befinden sich diese höheren Glieder seinerWesenheit in höheren Welten. Das Mineral hat einen Ätherleib, derist nur in der sogenannten astralischen Welt; das Mineral hat einenastralischen Leib, der ist nur in der sogenannten devachanischenoder himmlischen Welt, und es hat ein Ich, nur ist das in einer nochhöheren oder geistigen Welt. Also unterscheidet sich der physischeMenschenleib von dem physischen Leibe eines Minerals dadurch,daß der physische Menschenleib hier in dieser physischen Welt imwachen Zustand seinen Ätherleib, seinen astralischen Leib und seinIch in sich hat; das Mineral aber hat hier seinen Ätherleib, seinenastralischen Leib und sein Ich nicht in sich, denn wir wissen ja, daßes außer unserer Welt noch andere Welten gibt. Die Welt, die wir mitunseren Sinnen gewöhnlich wahrnehmen, sie wird durchdrungen vonder astralischen Welt und diese wieder von der Devachanwelt, die ineine niedere und in eine höhere devachanische Welt zerfällt.

Der Mensch ist nun dem Mineral gegenüber dadurch ein bevor-zugtes Wesen, daß er beim Tagwachen seine anderen drei Glieder insich hat. Das Mineral hat in sich selbst diese Glieder nicht; sondernwir müssen uns das so vorstellen, daß das Mineral gar nicht voll-ständig ist auf dem physischen Plan. Denken Sie sich einen mensch-lichen Fingernagel. Sie werden mir zugeben, diesen menschlichenFingernagel können Sie nirgends in der Natur draußen als für sichbestehende Wesenheit finden; denn er setzt voraus, wenn er wachsen

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soll, den übrigen menschlichen Organismus; er kann nicht ohne die-sen sein. Denken Sie sich nun ein kleines Wesen, das nur Augen habe,um Ihre Fingernägel zu sehen, aber keine Fähigkeit, um Ihren übrigenOrganismus zu sehen. Da würde ein solches kleines Wesen durch denganzen übrigen Raum hindurchschauen, aber nur Ihre Fingernägelsehen. So sind die Mineralien hier gleichsam nur die Fingernägel, undSie betrachten die Mineralien nur vollständig, wenn Sie in höhereWelten aufsteigen. Da haben sie ihren Ätherleib, astralischen Leib undso weiter und hier nur ihre physischen Glieder. Das alles wollen wirrecht fest ins Auge fassen, um uns klarzumachen, daß es in höherergeistiger Wirklichkeit eben gar kein Wesen geben kann,- das nicht inirgendeiner Art Ätherleib, astralischen Leib und Ich hätte. Ein phy-sisches Wesen kann gar nicht bestehen, wenn es nicht zu einem Äther-leib, astralischen Leib und einem Ich hinzugehört.

Nun aber herrscht zwischen allem, was heute schon gesagt wordenist, eigentlich ein gewisser Widerspruch. - Es ist gesagt worden, derMensch sei in der Nacht, wenn er schläft, ein ganz anderes Wesen alsbei Tag, wenn er wacht. Bei Tag ist uns dieses Menschenwesen ganzerklärlich: da steht es als eine viergliedrige Wesenheit vor uns. Nunaber treten wir an den schlafenden Menschen heran und betrachtenihn seiner physischen Wesenheit nach. Da haben wir physischen Leibund Ätherleib im Bette liegen, und Astralleib und Ich sind draußen.Da ergibt sich der Widerspruch, daß wir ein Wesen vor uns hätten,das verlassen wäre von Astralleib und Ich. Der Stein schläft nicht;sein Ätherleib, Astralleib und Ich durchdringen ihn nicht, aber siebleiben stets in derselben Verbindung mit ihm. Beim Menschen gehtjede Nacht der Astralleib und das Ich heraus. Er kümmert sich in derNacht nicht um seinen physischen Leib und Ätherleib und überläßtdiese jede Nacht sich selber. Diese Tatsache wird nicht immer ganzgenau überdacht. Jede Nacht geht mit dem Menschen diese Ver-wandlung vor sich, daß er als eigentlicher geistiger Mensch Abschiednimmt von seinem physischen Leibe und Ätherleibe, die er sich selberüberläßt. Nun aber können diese nicht für sich bestehen; denn keinphysischer Leib und auch kein Ätherleib kann für sich bestehen, selbstder Stein muß durchdrungen sein von seinen höheren Gliedern. Und

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da werden Sie leicht begreifen, daß es ganz unmöglich ist, daß Ihrphysischer Leib und Ihr Ätherleib während der Nacht im Bette bleibenohne einen Astralleib und ein Ich. Was geschieht denn aber währendder Nacht? Ihr Astralleib und Ihr Ich sind nicht in dem physischenLeibe und dem Ätherleibe, aber dafür ist ein anderes Ich und einanderer astralischer Leib in ihnen! Hier ist es, wo Sie vom Okkultis-mus aus auf das göttlich-geistige Sein hingewiesen werden, auf höheregeistige Wesenheiten. Während in der Nacht Ihr Ich und Ihr astra-lischer Leib heraus sind aus Ihrem physischen Leibe und Ihrem Äther-leibe, sind im physischen und Ätherleibe der Astralleib und das Ichhöherer göttlich-geistiger Wesenheiten tatsächlich tätig. Und daskommt von folgendem:

Wenn Sie den ganzen Hergang der Menschheitsentwickelung be-trachten vom Saturnzustand durch den Sonnen- und Mondzustandhindurch bis zur Erde, so werden Sie sagen: Auf dem Saturn war jaauch bloß der physische Menschenleib vorhanden; da war keinmenschlicher Ätherleib, kein menschlicher Astralleib und kein mensch-liches Ich in dem physischen Leibe. Aber bestehen konnte dieserphysische Leib damals für sich allein ebensowenig, wie heute derStein allein bestehen kann. Der physische Leib konnte damals nurdadurch bestehen, daß er durchzogen wurde von dem Ätherleibe,Astralleibe und Ich göttlich-geistiger Wesenheiten. Göttlich-geistigeWesenheiten wohnten darinnen, und die blieben auch wohnen. Undals auf der Sonne ein eigener Ätherleib in diesen physischen Leibhineinkam, da vermischte sich sozusagen nur der menschliche kleinereÄtherleib mit dem früheren Ätherleib göttlich-geistiger Wesenheiten.Und so war es schon auf dem Saturn; auch auf dem Saturn war derphysische Leib durchdrungen von göttlich-geistigen Wesenheiten.Und jetzt kommen wir, wenn wir das richtig verstanden haben, zueinem tieferen Verständnis des heutigen Menschen, und wir sind inder Lage, jetzt das zu wiederholen und besser zu verstehen, was in derchristlichen Esoterik von Anfang an gelehrt worden, ist.

Diese christliche Esoterik wurde ja immer gepflegt neben deräußeren christlichen exoterischen Lehre. Es ist von mir schon öfterdarauf hingewiesen worden, daß der große Apostel des Christentums,

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Paulus^ seine gewaltige, flammende Rednergabe dazu benutzt hat, denVölkern das Christentum zu lehren, daß er aber auch gleichzeitig eineesoterische Schule begründet hat, deren Vorsteher Dionysius Areopa-gita war, der in der Apostelgeschichte (17, 34) erwähnt wird. In dieserchristlich-esoterischen Schule zu Athen, die unmittelbar von Paulusselbst begründet war, wurde die reinste Geisteswissenschaft gelehrt.Und was da gelehrt wurde, werden wir jetzt einmal vot unsere Seelehinführen können, nachdem wir die Bausteine dazu uns in den vorher-gehenden Betrachtungen zusammengetragen haben.

Auch in dieser christlich-esoterischen Schule wurde gesagt: Be-trachtest du den Menschen, wie er als wachender Tagesmensch vordir steht, so besteht er aus physischem Leib, Ätherleib, astralischemLeib und dem Ich, wenn auch die Worte nicht genau dieselben waren,wie sie heute gebraucht werden, aber darauf kommt es nicht an. Dannwurde aber auch darauf hingewiesen, wo der Mensch in seiner Ent-wickelung gegenwärtig steht. Dieser Mensch, wie er aus diesen vierGliedern besteht, bleibt gar nicht so, wie er uns erscheint. Wenn wirden Menschen rein aus den vier Gliedern aufgebaut betrachten wollen,müssen wir nicht den gegenwärtigen Menschen betrachten, sondernda müssen wir weit zurückgehen in der Entwickelung - bis in dielemurische Zeit. In der lemurischen Zeit gesellte sich zu dem Men-schen, der damals aus physischem Leib, Ätherleib und astralischemLeib bestand, auch noch das Ich hinzu. Da konnte man im reinenSinne sagen: Der Mensch bestand aus physischem Leib, Ätherleib,astralischem Leib und Ich. Nun ist seither jeder Mensch durch vieleVerkörperungen hindurchgegangen. Was ist nun der Sinn dieser Ent-wickelung durch die Inkarnationen hindurch? Der Sinn dieser Ent-wickelung durch die Inkarnationen hindurch ist der, daß von Ver-körperung zu Verkörperung das Ich arbeitet an sich, daß es um-gestaltet die drei Glieder seiner Wesenheit. Es beginnt zunächst mitder Umgestaltung seines Astralleibes. Bei keinem heutigen Durch-schnittsmenschen ist dieser astralische Leib so, wie er war, bevor dasIch in der ersten Erdenverkörperung an ihm gearbeitet hat. In derersten Erdenverkörperung wandelte das Ich von innen heraus gewisseVorstellungen, Empfindungen und Leidenschaften um, die dem Men-

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sehen ursprünglich gegeben waren; und von Inkarnation zu Inkarna-tion wird durch die Arbeit des Ich immer mehr umgewandelt. So daßwir sagen können: Der Mensch hat nicht nur heute die vier Glieder:physischen Leib, Ätherleib, astralischen Leib und Ich, sondern er hatdurch die Arbeit des Ich innerhalb des astralischen Leibes einen Teil,der das Geschöpf des Ich selber ist. Und bei jedem Menschen zerfälltheute der Astralleib in zwei Teile: einen vom Ich umgewandeltenTeil und einen vom Ich nicht umgewandelten Teil. Und immer weiterwird das gehen. Es wird für jeden Menschen eine Zeit kommen, wosein ganzer astralischer Leib ein Geschöpf seines Ich sein wird. Manhat sich gewöhnt, in der morgenländischen Weisheit den Teil desastralischen Leibes, der vom Ich schon umgestaltet ist, Manas zunennen, deutsch: Geistselbst. Dadurch besteht der Mensch immernoch aus seinen vier Gliedern; aber wir können da jetzt fünf Teileunterscheiden: physischen Leib, Ätherleib, astralischen Leib, Ich undals fünften Teil den umgewandelten Teil des astralischen Leibes,Manas oder Geistselbst. So daß wir sagen können: Bei jedem Men-schen ist der astralische Leib so, daß er Manas oder Geistselbst ent-hält; das ist ein Werk des Ich, ein Produkt der Arbeit des Ich. Weiterwird der Mensch arbeiten an sich. Die Erde wird weitere Verkörpe-rungen durchmachen. Der Mensch erlangt nach und nach die Fähig-keit, die heute schon von dem Eingeweihten erlangt werden kann:daß er auch an seinem Ätherleibe arbeitet. Ja, der Durchschnitts-mensch arbeitet heute auch schon daran; und soviel von seinem Äther-leibe umgestaltet ist zu einem Produkt des Ich, nennen wir dies dieBuddhi oder den Lebensgeist. Und zuletzt kommt der Mensch dazu,seinen physischen Leib umzugestalten vom Ich aus; und soviel er amphysischen Leib vom Ich aus umgestaltet, nennen wir dies Atman oderden Geistesmenschen.

Lassen wir den Blick schweifen auf eine ferne, ferne Zukunft, wenndie Erde andere Planetenformen, andere Verkörperungen durch-gemacht haben wird, wenn sie, wie wir im Okkultismus sagen, durchden Jupiterzustand, den Venuszustand und den Vulkanzustand ge-gangen sein wird. Dann wird der Mensch auf einer wesentlich höherenStufe stehen und wird umgewandelt haben seinen ganzen astralischen

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Leib in Manas oder Geistselbst, seinen ganzen Ätherleib in die Buddhioder den Lebensgeist, und seinen ganzen physischen Leib in Atmanoder den Geistesmenschen.

Vergleichen wir einmal diesen Menschen, wie er am Ende unsererErdenlaufbahn vor uns stehen wird, mit dem Menschen, wie er amAnfange der Erdenlaufbahn da war. Im Anfang war von diesemMenschen nur der physische Leib vorhanden. Durchdrungen wardieser physische Leib von dem Ätherleib, Astralleib und Ich, aber diegehörten göttlichen, höheren Wesenheiten an; die wohnten nur dar-innen. Am Ende der Erdenlaufbahn ist der Mensch durchdrungenvon seinem Ich; und dieses sein Ich wohnt selber in dem Astralleib,wenn es als Manas oder Geistselbst den astralischen Leib durchzogenhat. Dieses Ich hat dann den Ätherleib durchzogen, er ist ganz undgar durchsetzt von der Buddhi oder dem Lebensgeiste; und derphysische Leib ist ganz und gar durchzogen von Atman oder demGeistesmenschen, den Produkten des Ich. Ein ganz gewaltiger Unter-schied zwischen dem Menschen am Anfange seiner Entwickelungund dem Menschen am Ende seiner Entwickelung! Gerade aber,wenn wir uns diesen Unterschied recht vor die Seele führen, wird das,was von mir absichtlich als ein Widerspruch hingestellt worden ist,der Schlafzustand, erklärlich werden. Gerade aus der Form, wie diechristliche Esoterik dies erklärt hat, wird uns alles verständlich wer-den. Wir müssen uns klar werden: Was ist denn das, wenn die Erdeam Ziel ihrer Entwickelung angelangt sein wird, was uns dann alsphysischer Leib entgegentritt? Der physische Leib von heute? Derist es ganz und gar nicht! - sondern das, was das Ich aus diesemphysischen Leibe gemacht haben wird. Ganz durchgeistigt wird dieserphysische Leib sein, ebenso der Ätherleib und ebenso der astralischeLeib. Durchgeistigt war er aber auch schon, und auch der Ätherleibund der astralische Leib, bevor der Mensch von seinem Ich aus siedurchgeistigte. Selbst der Stein ist heute, wie wir gesagt haben, durch-geistigt vom Ätherleibe, Astralleibe und Ich, die in höheren geistigenWelten lebend zum Stein gehören. So werden wir verstehen, daß diechristliche Esoterik recht hat, wenn sie sagt: Ja, das, was wir heute voruns haben als physischen Menschenleib, das kann der Mensch noch

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nicht beherrschen; denn der Mensch ist noch nicht am Ende seinerEntwickelung angelangt, wo er von seinem Ich aus bis in den physi-schen Leib hinein arbeiten wird. Auch was er im Ätherleib hat, kanner noch nicht beherrschen; das wird er erst beherrschen können, wenndie Erde im Venuszustande sein wird. Der Mensch kann also vonseinem Ich aus noch nicht physischen Leib und Ätherleib beherrschen.Dann erst kann er sie beherrschen, wenn er Buddhi und Atma aus-gebildet haben wird. Aber es muß ein solcher physischer und Äther-leib auf geistige Art beherrscht werden. Es muß dasjenige, was derMensch selbst dem physischen Leibe und dem Ätherleibe einst gebenkann, auch jetzt schon in ihnen sein. Auch heute müssen die geistigenTeile schon im Ätherleibe und im physischen Leibe sein, die einst dasIch ihnen geben kann. Diese waren im Anfange schon darinnen imphysischen Leibe, als der Mensch auf dem Saturn war; sie waren inihm, als er auf der Sonne war, und sie sind in ihm geblieben. So sagtdie christliche Esoterik mit Recht: Im physischen Menschenleibe istheute schon das, was einst in ihm sein wird, wenn der Mensch amGipfel seiner Entwickelung sein wird, aber es ist göttlicher Atman,es ist göttlich-geistige Wesenheit; und es ist im Ätherleib schon dieBuddhi drinnen, aber sie ist göttlicher Lebensgeist. Und der Astral-leib des Menschen, haben wir gesagt, bestehe aus zwei Teilen, ausdem Teile, den der Mensch schon beherrscht, und dem, den er noch•nicht beherrscht. Was ist denn nun in dem drinnen, was er noch nichtbeherrscht? Auch ein Geistselbst, aber göttliches Geistselbst! Nur indem Teile des astralischen Leibes, in dem das Ich schon tätig war seitder ersten Inkarnation, ist das eigentliche Geistleben des Menschen.So haben wir den Menschen vor uns.

Sehen wir ihn jetzt an im Wachzustande. Was werden wir sagen?Der physische Leib, wie er uns erscheint, ist nur die Außenseite.Innen ist er das, was man atmische Wesenheit nennt. Innen ist ervon göttlich-geistiger, von höherer Wesenheit, er wird durchsetztvon göttlich-geistiger, höherer Wesenheit. Ebenso ist es beim Äther-leib. Außen ist er das, was den physischen Leib zusammenhält,innen ist er göttlicher Lebensgeist. Und selbst der Astralleib ist durch-zogen von göttlichem Geistselbst. Nur der umgewandelte Teil des

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Astralleibes ist etwas, was das Ich aus diesem ganzen Zusammen-hange sich schon erobert hat.

Betrachten wir jetzt einmal den schlafenden Menschen. Da ver-schwindet dieser Widerspruch auf der Stelle. Wir treten an denschlafenden Menschen heran, sehen hier, daß der Mensch als Astral-leib und Ich draußen ist. Der Mensch verläßt jede Nacht ruhig seinenphysischen Leib und seinen Ätherleib. Würde er den physischen Leibverlassen, ohne daß ein Göttlich-Geistiges dafür sorgen würde, dannwürde er am Morgen seinen physischen Leib zerstört wiederfinden.Das göttlich-geistige Physische und ein göttlich-geistiges Ätherischesist darinnen, und das bleibt darin, wenn der physische Leib und Äther-leib im Bette liegen und Astralleib und Ich heraus sind. PhysischerLeib und Ätherleib sind durchzogen von göttlich-atmischem undgöttlich-buddhischem Wesen.

Sehen wir jetzt einmal zurück an den Anfang unserer Erdenent-wickelung, als noch gar nichts vom Ich im Menschen erobert war.Als der Mensch vor seiner ersten Inkarnation war, da war das Ichnoch nicht verbunden mit den drei Gliedern, physischem Leib, Äther-leib und astralischem Leib. Vom Monde kamen herüber physischerLeib, Ätherleib und astralischer Leib, und erst auf der Erde kam dasIch hinein. Dagegen aber war in ihnen das göttliche Ich; sie hättennicht bestehen können, wenn nicht dieses göttliche Ich sie ganz durch-setzt hätte. Der Astralleib war von einem göttlichen Geistselbst durch-zogen, der Ätherleib von einem göttlichen Lebensgeist, und derphysische Leib war von einem Göttlich-Atmischen oder Geistesmen-schen durchzogen. - Und jetzt blicken wir noch weiter zurück aufMond-, Sonnen- und Saturnentwickelung. Auf dem Saturn warder göttliche Lebensgeist, der noch in der Nacht den im Bette lie-genden Menschen bewohnt, so, daß er den Menschenleib, undzwar den physischen Leib, geformt hat als etwas Mineralisches; indem Sonnenzustand formte er ihn als etwas Pflanzliches; auf demMonde konnte er ihn formen als etwas, was Lust und Schmerz emp-finden, aber noch nicht «Ich» zu sich sagen konnte. Diese unterstenStufen hat er durchgemacht. Und jetzt treten wir hinüber in dieeigentliche Erdenverkörperung.

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Da sollte der physische Menschenleib durch eine weitergehendeVerwandlung, die er durchzumachen hatte, noch vollkommener wer-den, als er vorher war. Was hat er vorher nicht gekonnt? Was warihm ganz fremd? Was hatte der göttliche Geist bei sich behalten? Washatte er noch gar nicht dem menschlichen Leibe anvertraut? Das wardie Fähigkeit, aus dem Innern heraus seine Seelenhaftigkeit ertönenzu lassen! Stumm war dieser auf der Tierstufe stehende Menschenleibauf dem Monde. Die Fähigkeit, das Innere nach außen ertönen zulassen, war noch bei Gott. Die war noch nicht seinem eigenen Wesenanvertraut. Wenn es auch Tierwesen gibt, welche heute schon tönenkönnen, so ist das doch etwas anderes; sie stehen noch in ganz anderenZuständen, zwar tönen sie, aber es tönt die Gottheit in ihnen. DasAussprechen des inneren Seelenhaften in Worten wurde dem Men-schen erst auf der Erde zuteil. Vorher waren die Menschen stumm.Diese Fähigkeit des Wortes kam an das Menschenwesen also mit demErdendasein heran.

Betrachten wir jetzt einmal das Ganze, was wir uns heute vor dieSeele gestellt haben, dann werden wir sagen: Die ganze Entwickelungist so gelenkt worden, daß die Fähigkeit zu sprechen, das Wort,ursprünglich bei Gott war und daß Gott zuerst die Vorbedingungengeschaffen hat, daß der physische Apparat die Fähigkeit bekam, voninnen heraus dieses Wort tönen zu lassen. Alles wurde so gelenkt undgeleitet. Wie die Blume in ihrem Samen, so war der tönende, dersprechende Mensch, der wort- und logosbegabte Mensch schon imSamen auf dem Saturn da. Doch war das Tönen im Samen verborgen;es entwickelte sich erst aus dem Samen, so wie die ganze Pflanze imSamen verborgen ist und sich aus ihr entwickelt.

Nun sehen wir einmal zurück auf den physischen Menschenleib,wie er schon auf dem Saturn war, und fragen uns: Woher kommtdieser physische Menschenleib? Was ist sein letzter Urgrund? Ohnewas könnte er niemals die ganze Entwickelung durchgemacht haben?Er kommt von dem Logos oder von dem Wort. Denn damals aufdem Saturn schon wurde er so gelenkt, dieser physische Menschen-leib, daß er später ein sprechender wurde, ein Zeuge für den Logos.Daß Sie heute so geformt sind, daß dieser Menschenleib die heutige

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Form hat, rührt davon her, daß dem ganzen Plan unserer Schöpfungdas «Wort» zugrunde lag. Auf das Wort hin ist der ganze Menschen-leib hingeordnet, und von Anfang an ist er so veranlagt, daß zuletztdas Wort aus ihm herausspringen konnte. Wenn deshalb der eso-terische Christ auf diesen physischen Menschenleib blickt und fragt:Was ist sein ursprüngliches Urbild, und was ist sein Abbild? dannsagt er sich: Dieser physische Menschenleib hat sein Urbild in demWorte oder dem Logos; der Logos oder das Wort wirkte von Anfangan im physischen Menschenleibe. Und der Logos wirkt noch, heute:Wenn der physische Menschenleib im Bette liegt und verlassen istvom Ich, dann wirkt der göttliche Logos in den vom Menschenverlassenen Wesensgliedern. Fragen wir nach dem ersten Ursprungdes physischen Leibes, so sagen wir: Das erste ist der Logos oderdas Wort.

Und jetzt gehen wir weiter in der Entwickelung. Der Saturn gingin den Sonnenzustand über; dem menschlichen physischen Leibewurde der Lebensleib eingegliedert. Aber was mußte eintreten, damitder Fortgang so geschehen konnte, wie er eben geschehen ist?

Während auf dem Saturn der physische Leib eine Art Maschine,eine Art Automat war, aber ganz und gar durchdrungen und gehaltenvon dem Logos, gliederte sich auf der Sonne der Lebensleib ein, unddarin wirkte der göttliche Lebensgeist. Auf dem Saturn, werden wirsagen, ist der Menschenleib ein Ausdruck des Logos. Der Saturnvergeht; dieser Menschenleib verkörpert sich neu in der Sonne; dagliedert sich dem physischen Leibe ein der Lebensleib, durchdrungenvon dem Lebensgeist. Der Logos ward Leben in der Sonne, indem erden Menschen auf eine höhere Stufe brachte. Der Logos ward Lebenauf der Sonne! Und jetzt gehen wir weiter. - Auf dem Monde glie-derte sich dem Menschen ein der astralische Leib. Was ist der astra-lische Leib? Er erscheint ja dem hellseherischen Bewußtsein auchheute als eine Aura, die den Menschen umgibt. Er ist ein Lichtleib, dernur in dem gegenwärtigen Bewußtsein nicht gesehen werden kann.Aber er ist, wenn er im hellseherischen Bewußtsein gesehen wird,Licht, geistiges Licht; und unser physisches Licht ist nur umgestal-tetes geistiges Licht. Auch das physische Sonnenlicht ist die Ver-

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körperung des geistig-göttlichen aurischen Weltenlichtes. Das Hegtihm zugrunde. Es gibt in der heutigen Welt ein Licht, das dem Men-schen von der Sonne zuströmt. Aber auch ein anderes Licht gibt es,das von seinem inneren Lichte ausströmt. Auf dem Monde leuchteteder astraHsche Leib des Menschen noch für die um ihn befindüchenWesen. So kam auf dem Monde der astralische Lichtleib des Menschenhinzu zum physischen Leibe und Ätherleibe.

Und jetzt betrachten wir den ganzen Fortgang der Entwickelung.Auf dem Saturn haben wir den physischen Leib als den Ausdruck desLogos. Auf der Sonne kommt hinzu der Ätherleib als der Ausdruckdes Lebensgeistes: Der Logos ward Leben. Auf dem Monde kommthinzu der Lichtleib: Das Leben ward Licht! Und so haben wir denHergang der Entwickelung des Menschenleibes. - Als der Menschdie Erde betrat, war er ein Geschöpf der göttlich-geistigen Wesen-heiten. Damals war er dadurch vorhanden, daß in seinem physischenLeibe, in seinem Ätherleibe, in seinem astraHschen Leibe lebte derLogos, der Leben war und der Licht ward. Und jetzt, was geschahauf der Erde? Für den Menschen und im Menschen trat das Ichhinzu. Dadurch aber, daß das Ich hinzutrat, wurde der Mensch fähig,nicht nur zu leben im Lichte, im Leben, sondern er wurde fähig, vonaußen das alles zu betrachten, sich gegenüberzustellen dem Logos,dem Leben, dem Lichte. Dadurch wurde das alles für ihn materiell, er-langte materielles Dasein. - Und wenn wir den Gedanken so weit ge-bracht haben, dann haben wir ungefähr genau den Punkt fixiert, beidem wir das nächste Mal beginnen wollen und zeigen, wie aus dem ausder GöttHchkeit herausgeborenen Menschen der heutige Ich-begabteMensch eigentHch geworden ist. Denn wir sehen, daß vor dem heutigenIch-begabten Menschen der göttHche Vormensch vorhanden war.Was der Mensch sich durch sein Ich erobert hat, entreißt er jede Nachtdem physischen Leibe und dem Ätherleibe; was immer in ihm war,bleibt darinnen und versorgt den physischen Leib und den Ätherleib,wenn der Mensch sie treulos verläßt und sich nicht um sie kümmert.Da steckt sie drinnen, jene ursprüngHche geistig-göttHche Wesenheit.

Alles, was wir jetzt versucht haben mit den Ausdrücken der christ-lichen Esoterik als tiefes Geheimnis des Daseins hinzustellen, und

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was geläufig war denen, die «Diener des Logos» waren in den erstenZeiten, das wird in großen, lapidaren Sätzen in dem Johannes-Evange-lium unzweideutig gesagt. Man muß diese ersten Worte nur in derrichtigen, sinngemäßen Weise übersetzen. Wirklich richtig übersetzt,geben diese Worte den Tatbestand, den wir jetzt eben hingestellthaben. Stellen wir diesen Tatbestand, damit wir den Wert ganz genauverstehen, noch einmal vor unsere Seele hin.

Im Anfange war der Logos als das Urbild des physischen Men-schenleibes, und er lag zu Grunde allen Dingen. Alle Tiere, Pflanzen,Mineralien sind später entstanden. Auf dem Saturn war von all demwirklich der Mensch nur vorhanden; auf der Sonne kam das Tier-reich hinzu, auf dem Monde das Pflanzenreich und auf der Erde dasMineralreich. Auf der Sonne ward der Logos Leben, und auf demMonde ward er Licht; und das trat, als der Mensch Ich-begabt war,hin vor den Menschen. Aber der Mensch mußte lernen zu erkennen,was der Logos war und als was er zuletzt zum Vorschein kommt. Zu-erst war der Logos, dann ward er Leben, dann Licht, und dieses Lichtlebt im Astralleibe. In das menschliche Innere, in die Finsternis, in dieNichterkenntnis schien das Licht hinein. Und das Erdendasein hat denSinn, daß der Mensch im Innern die Finsternis überwindet, damit erdas Licht des Logos erkennen kann.

Lapidare, vielleicht - wie mancher sagen wird - schwer verständ-liche Worte sind daher die ersten Worte des Johannes-Evangeliums.Aber sollte denn das, was das Tiefste in der Welt ist, durch trivialeWorte gesagt werden? Ist es nicht eine sonderbare Auffassung, gera-dezu ein Hohn auf die Heiligkeit, wenn gesagt wird, zum Begreifeneiner Taschenuhr ist es nötig, daß man mit seinem Verstand tief ein-dringt in das Wesen der Sache, aber zum Begreifen des Göttlichen inder Welt müsse der einfache, schlichte, naivste Menschenverstand aus-reichen!? Es ist schlimm, daß für die gegenwärtige Menschheit sichdas ereignet hat, daß, wenn auf die Tiefen der religiösen Urkundenhingewiesen wird, gesagt wird: Ach, wozu alle diese kompliziertenAuseinandersetzungen, das muß alles schlicht und einfach sein! - Aberkein anderer als derjenige, der die gute Absicht hat und den-gutenWillen, sich zu vertiefen in die großen Weltentatsachen, dringt ein in

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den tiefen Sinn solcher Worte, wie sie im Beginne des tiefsten derEvangelien, in dem Johannes-Evangelium, stehen. Diese sind eineUmschreibung dessen, was wir eben ausgeführt haben.

Und jetzt übersetzen wir uns die Anfangsworte:

«Im Urbeginne war das Wort, und das Wort war bei Gott, und einGott (oder göttlich) war das Wort.Dieses war im Urbeginne bei Gott.Alles ist durch dasselbe geworden, und außer durch dieses Wort istnichts von dem Entstandenen geworden.In ihm war das Leben, und das Leben ward das Licht der Menschen.Und das Licht schien in die Finsternis, aber die Finsternis hat esnicht begriffen.»

Wie die Finsternis nach und nach zum Begreifen kommt, das erzähltim weiteren das Johannes-Evangelium.

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D R I T T E R VORTRAG

Hamburg, 20. Mai 1908

Gestern haben wir gesehen, welch tiefer Inhalt in den ersten Wortendes Johannes-Evangeliums verborgen ist, und wir können unsere Be-trachtungen dahin zusammenfassen, daß wir sagen: Wir haben ge-sehen, daß der Schreiber des Johannes-Evangeliums hindeutet auf dasWerden des Vormenschen in urferner Vergangenheit, hindeutet dar-auf, wie im Sinne der christlichen Esoterik alles zurückgeführt wirdauf das Wort oder den Logos, der schöpferisch war schpn währendder alten Saturnzeit, der dann geworden ist zum Leben, und dann zumLicht, - zum Leben, während unsere Erde ihren Sonnenzustanddurchgemacht hat, - zum Licht, während sie den alten Mondzustanddurchgemacht hat. Das, was also unter dem Einfluß göttlich-geistigerKräfte und Wesenheiten der Mensch geworden ist im Laufe der dreiplanetarischen Zustände, wurde, als die Erde eben unser heutigerPlanet geworden war, durchdrungen von dem menschEchen Ich. Sodaß man sagen kann: Wie eine Art Same kam von dem alten Mondeherüber auf die Erde eine Wesenheit, bestehend

aus physischem Leib, hervorgegangen aus dem göttlichen Urworte,aus Äther- oder Lebensleib, hervorgegangen aus dem göttlichenLeben,aus astralischem Leib, hervorgegangen aus dem göttlichen Lichte.

Im Innern dieser Wesenheit wurde während des Erdendaseins dasLicht des Ich selbst entzündet. Diese dreifache Leiblichkeit: physi-scher Leib, Ätherleib und Astralleib, wurde fähig, in sich das «Ich-bin» zu sprechen, so daß wir in einer gewissen Weise die Entwicke-lung der Erde nennen können die Entwickelung des «Ich-bin», desSelbstbewußtseins des Menschen. Und dieses «Ich-bin», diese Fähig-keit des vollen Selbstbewußtseins kam im Laufe der Entwickelungder Erdenmenschheit langsam und allmählich erst heraus. Wir müssenuns klar machen, wie die Entwickelung der Erdenmenschheit war,insofern in ihr langsam und allmählich das Ich, das volle Selbst-bewußtsein ins Dasein trat.

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Es gab eine Zeit in unserer Erdenentwickelung, wir nennen sie diealte lemurische Zeit; es ist die älteste Zeit, in welcher innerhalb desErdendaseins der Mensch in der Form auftrat, in welcher er heuteüberhaupt vorhanden ist. Zum erstenmal trat das in der alten lemu-rischen Zeit ein, was wir nennen die Verkörperung des Ich, dereigentlichen innersten Wesenheit des Menschen, in den drei Leibern,im astralischen Leib, Ätherleib und physischen Leib. Dann kam dieatlantische Zeit, wo der Mensch gewohnt hat zum größten Teil aufdem alten atlantischen Kontinente, einem Ländergebiete, das heuteden Boden des atlantischen Ozeans bildet, das untergegangen ist durchdie große atlantische Flut, deren Andenken sich in den Sintflut-Sagenfast aller Völker erhalten hat. Der Mensch verkörperte sich dann,seiner innersten Wesenheit nach, in aufeinanderfolgenden Verkörpe-rungen bis in unsere Tage hinein während der nachatlantischen Zeit.Wirklich waren unsere Seelen in einer dreigliedrigen Wesenheit, be-stehend aus physischem Leibe, Ätherleibe und astralischem Leibe, wiewir sie kennengelernt haben, zum erstenmal in der lemurischen Zeitverkörpert. Was vorhergegangen ist, soll einer späteren Betrachtungüberlassen bleiben. - Weit zurückgehen müssen wir also, wenn wirden Gang der Entwickelung in Betracht ziehen, und es entwickeltsich der Mensch nur langsam und allmählich zu seinem heutigen Da-sein. Was nennen wir im Okkultismus in geisteswissenschaftlichemSinne «unser heutiges Dasein»?

Unser heutiges Dasein nennen wir einen Bewußtseinszustand, wieihn der Mensch heute hat vom Morgen, wo er aufwacht, bis zumAbend, wo er einschläft. Da sieht der Mensch durch seine äußerenphysischen Sinne die Dinge um sich herum. Vom Abend, wo er ein-schläft, bis zum Morgen, wo er aufwacht, sieht er die Dinge um sichherum nicht. Warum ist das so? Wir wissen, das ist aus dem Grundeso, weil für die heutigen Entwickelungsverhältnisse während derTageszeit der eigentliche innere Mensch, also Ich und astralischerLeib, im physischen Leibe und Ätherleibe auf dem physischen Plane,das heißt in der physischen Welt sind. Da kann sich der astralischeLeib und das Ich der physischen Sinnesorgane bedienen, in die Welthinaushören und hinaussehen und die physischen Dinge wahrnehmen.

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Vom Abend, wo der Mensch einschläft, bis zum Morgen, wo er auf-wacht, sind Ich und astralischer Leib außerhalb der physischen Welt,auf dem Astralplan. Da sind sie abgesondert von physischen Augenund physischen Ohren, da können sie nicht wahrnehmen, was umsie herum ist. Dieser Zustand, ein solcher Wechsel im Menschenzwischen Tagwachen und Nachtschlafen, hat sich erst langsam undallmählich entwickelt. Das war noch nicht so, als der Mensch in deralten lemurischen Zeit zum ersten Male eine physische Verkörperungdurchgemacht hat. Da war der Mensch nur eine sehr kurze Zeit desTages - keineswegs so lange wie heute - seinem Ich und Astralleibenach in seinem physischen Leibe drinnen. Dadurch aber, daß derMensch längere Zeit außerhalb seines physischen Leibes war, nurkürzere Zeit wachend hineinstieg in den physischen Leib, war dasLeben während der lemurischen Zeit überhaupt noch ein ganz anderes.Daß der Mensch während der Nacht ganz bewußtlos ist, wenn ernicht gerade träumt, trat sehr langsam und allmählich ein. Ganz anderswar das Bewußtsein bei Tag und Nacht während der lemurischen Zeitnoch verteilt. Da hatten die Menschen alle noch ein dumpfes hell-seherisches Bewußtsein. Wenn sie in der Nacht außerhalb des physi-schen Leibes waren in der geistigen Welt, da nahmen sie um sichherum - wenn auch nicht so klar, wie der Mensch heute am Tage diephysischen Dinge sieht - die geistige Welt wahr. Wir dürfen diesesWahrnehmen nicht einfach mit dem heutigen Träumen vergleichen.Der heutige Traum ist nur wie ein letzter ganz verkümmerter Restdieses alten Hellsehens. Allerdings, solche Bilder nahm der Menschdamals wahr, wie er sie auch heute im Traume wahrnimmt; aber dieseBilder hatten eine sehr wirkliche Bedeutung. Machen wir uns einmalklar, was diese Bilder für eine Bedeutung hatten.

In den alten Zeiten konnte der Mensch, wenn er während eineskurzen Teils der 24 Stunden, der viel geringer war als heute, imTagesbewußtsein lebte, die äußeren physischen Körper nur ganzdumpf, wie in einem Nebel eingehüllt, sehen. Daß man die physi-schen Dinge so sah wie heute, kam erst ganz langsam. Am Tagesah der Mensch damals die ersten Anklänge an die physischen Körper,eingehüllt in Nebel, so wie Sie heute, wenn Sie an einem Nebeltage

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des Abends durch die Straßen gehen, die Laternen vom Nebel um-geben sehen wie von einer Art von Lichtaura. Das ist ja nur schein-bar, aber so sah der Mensch die physischen Körper zuerst um sichherum auftauchen. Und wenn er in Schlaf kam, versank er nicht inBewußtlosigkeit, sondern dann tauchten während des Schlaf bewußt-seins Bilder auf, Bilder in Farben und in Formen. Um den Menschenherum war dann eine Welt, gegen welche die lebendigste Traumweltvon heute nur ein schwacher nebelhafter Nachklang ist. Diese Bilderbedeuteten Seelisches und Geistiges in der Umgebung.

Wenn also dazumal der Mensch am Beginne seiner Erdenlaufbahnsich einem ihm schädlichen Wesen während der Nachtwanderungnäherte, sah er dies nicht so, wie es heute gesehen wird - also nichteinen Löwen, der sich ihm näherte, als eine Löwengestalt -, sonderner sah aufsteigen ein Farben- und Formenbild, und das zeigte ihminstinktiv: Da ist für dich etwas Schädliches, das frißt dich und damußt du ausweichen. Das waren wirkliche Abbilder des Geistig-Seelischen, das um den Menschen herum vorging. Alles Geistig-Seelische wurde in der Nacht gesehen, und ganz langsam und all-mählich geschah die Entwickelung so, daß der Mensch immer längereZeit untertauchte in seinen physischen Leib, immer kürzer wurde dieNacht, immer längere Zeit dauerte der Tag. Und je mehr der Menschsich einwohnte in seinen physischen Leib, desto mehr verschwandendie nächtlichen hellseherischen Bilder, desto mehr tauchte das heutigeTagesbewußtsein auf. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß ein wirk-liches echtes Selbstbewußtsein, wie es sich der Mensch während desErdendaseins erringen soll, nur zu erringen ist durch ein Unter-tauchen in den physischen Leib. Nicht als ein selbständiges Wesen hatsich der Mensch früher gefühlt, sondern als ein Glied der göttlich-geistigen Wesenheiten, denen er entsprossen ist. Wie die Hand sichfühlt als ein Glied des Organismus, so fühlte sich der Mensch, als ernoch ein dumpfes Hellsehen hatte, als einen Teil des göttlich-geistigenBewußtseins, des göttlichen Ich. Nicht «Ich-bin» hätte der Menschvon sich gesagt, sondern «Gott ist - und ich in ihm».

Nun aber war, wie wir immer mehr begreifen werden, der Erde,welche in ihrer Entwickelung drei frühere Stufen durchgemacht hatte

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als Saturn, Sonne und Mond, eine ganz besondere Mission vor-behalten. Glauben Sie nicht, daß man die Planetenzustände so neben-einander betrachten kann, daß ein Planet dem anderen gleichwertig sei.Von einer bloßen Wiederholung des schon einmal Dagewesenen kannin der göttlichen Schöpfung nicht die Rede sein. Jedes Planetendaseinhat eine ganz bestimmte Aufgabe. Unsere Erde hat die Mission, daßdie Wesen, die sich auf ihr entwickeln sollen, das Element der Liebebis zur höchsten Entfaltung auszubilden haben. Liebe soll die Erdeganz und gar durchdringen, wenn die Erde am Ende ihrer Entwicke-lung angekommen ist. - Machen wir uns klar, was das heißt: Die Erdeist der planetarische Zustand für die Entwickelung der Liebe.

Wir sagen in der Geisteswissenschaft, der Erde ging der alte Mondvoran. Dieser alte Mond hatte als planetarische Stufe auch eine Mis-sion. Er hatte noch nicht die Aufgabe, die Liebe auszubilden, er sollteder Planet oder der Kosmos der Weisheit sein. Vor unserem Erden-zustand hat unser Planet durchgemacht die Stufe der Weisheit. Eineeinfache, man möchte sagen, logische Betrachtung kann Ihnen dasveranschaulichen. Sehen Sie sich um in der Natur unter allen ihrenWesenheiten. Nicht mit Ihrem bloßen Verstande sehen Sie sie an,sondern mit Ihren Herzens- und Gemütskräften, und Sie werdenüberall Weisheit finden, die in der Natur ausgeprägt ist. Diese Weis-heit, von der hier gesprochen wird, ist so gemeint, daß sie wie eineArt geistiger Substanz allem zugrunde liegt. Betrachten Sie alles, wasSie wollen, in der Natur. Nehmen Sie zum Beispiel ein Stück Ober-schenkelknochen, da werden Sie sehen: Das ist nicht eine massiveMasse, sondern eine feine, hin und her gehende Reihe von Balken, diezu einem wunderbaren Gerüst angeordnet sind. Und wer nachforscht,nach welchem Gesetze sie aufgebaut sind, der findet, daß das Gesetzbefolgt ist, nach welchem mit dem kleinsten Aufwand von Materialdie größte Kraft entfaltet wird, um Träger des Oberleibes des Men-schen zu sein. Unsere Ingenieurkunst ist noch nicht so weit, einsolches kunstvolles Gerüst auszubauen, wie es die alles durchwaltendeWeisheit da aufgebaut hat. Solche Weisheit wird der Mensch erstspäter haben. Göttliche Weisheit durchsetzt die ganze Natur; mensch-liche Weisheit kommt erst nach und nach dazu. Im Laufe der Zeit

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wird menschliche Weisheit innerlich das erreichen, was göttliche Weis-heit in die Erde hineingeheimnißt hat.

Aber in demselben Sinne, wie die Weisheit auf dem Monde vor-bereitet worden ist, so daß sie sich jetzt überall auf der Erde findet,wird auf der Erde die Liebe vorbereitet. Könnten Sie hellseherischzurückblicken auf den alten Mond, so könnten Sie sehen, daß nichtin allen Dingen damals eine solche Weisheit war; manche Dingewürden Sie noch unweise finden. Erst durch die ganze Monden-entwickelung hindurch prägte sich die Weisheit hinein in die Dinge,und als der Mond in seiner Entwickelung fertig war, da war alles sodavon durchzogen, daß überall Weisheit darinnen war.

Die innerliche Weisheit zog in den Menschen erst ein auf derErde mit dem Ich. Diese innerliche Weisheit muß aber der Menscherst nach und nach entwickeln. Ebenso wie sich auf dem Monde dieWeisheit entwickelt hat, so daß sie jetzt da ist in den Dingen, so ent-wickelt sich jetzt die Liebe. Zuerst trat sie in der niedrigsten Gestalt,in der sinnlichen, während der lemurischen Zeit ins Dasein. Im Laufedes Erdendaseins wird sie sich aber immer mehr und mehr vergeisti-gen, bis zuletzt, wenn die Erde am Ende ihrer Entwickelung an-gelangt sein wird, das ganze Dasein von Liebe durchzogen sein wird -wie es heute von Weisheit durchzogen ist - durch das Wirken derMenschen, wenn diese ihre Aufgabe erfüllen werden.

Und die Erde wird übergehen in einen künftigen planetarischenZustand. Diesen nennen wir Jupiter. Die Wesen aber, die auf demJupiter so herumwandeln werden wie die Menschen auf der Erde,die werden ebenso in allen Wesen die Liebe herausduftend finden,die sie als Mensch selbst hineingelegt haben während des Erden-daseins, wie die Menschen heute die Weisheit in allen Dingen finden.Dann werden die Menschen ebenso die Liebe aus ihrem Innern herausentwickeln, wie jetzt die Menschen nach und nach die Weisheit heraus-entwickeln werden. Die große kosmische Liebe wird dann die Dingedurchdringen, die jetzt auf der Erde ihr Dasein beginnt.

Der materialistische Sinn glaubt nicht an die kosmische Weisheit,sondern nur an die menschliche. Wenn die Menschen mit unbefan-genem Sinn hineinsehen würden in den Lauf der Entwickelung, so

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würden sie sehen, daß alle kosmische Weisheit am Anfange so weitwar, wie die menschliche Weisheit erst am Ende der Erde sein wird.In den Zeiten, in denen man mit Benennungen noch genauer war alsgegenwärtig, nannte man die im Menschen wirkende subjektive Weis-heit Intelligenz, im Gegensatze zur objektiven kosmischen Weis-heit. Gar nicht achtet der Mensch darauf, daß dasjenige, was er imLaufe des Erdendaseins erfindet, die göttlich-geistigen Wesenheitensich bereits während des Mondendaseins erobert und der Erde ein-gepflanzt haben. Nehmen wir ein Beispiel dafür.

Wie wird den Kindern in der Schule schon eingetrichtert der großeFortschritt, den die Menschen gemacht haben, durch die Erfindungdes Papiers zum Beispiel. Nun, die Wespen erzeugten das Papierschon viele tausend Jahre vorher; denn das, was die Wespen in ihrenNestern bauen, besteht aus genau derselben Substanz, aus der dasmenschliche Papier hergestellt wird, und das wird genau auf dieselbeWeise erzeugt, nur durch den Lebensprozeß. Der Wespengeist, dieGruppenseele der Wespen, die ein Teil ist der göttlich-geistigenSubstanz, ist die Erfinderin des Papiers schon viel früher gewesen. -So tappt der Mensch eigentlich immer hinter der Weltenweisheit nach.Im Prinzip ist alles, was der Mensch im Laufe der Erdenentwickelungerfinden wird, schon in der Natur enthalten. Was aber der Menschwirklich der Erde geben wird, das ist die Liebe, die sich von der

. sinnlichsten zur vergeistigtsten Art entfalten wird. Das ist die Aufgabeder Erdenentwickelung. Die Erde ist der Kosmos der Liebe.

Was ist denn aber, so fragen wir, notwendig zur Liebe? Was gehörtdenn dazu, daß ein Wesen ein anderes lieben kann? Dazu ist nötig, daßdieses Wesen sein volles Selbstbewußtsein habe, ganz selbständig sei.Kein Wesen kann ein anderes im vollen Sinne lieben, wenn diese Liebenicht eine freie Gabe ist gegenüber dem anderen Wesen. Meine HandHebt nicht meinen Organismus. Nur ein Wesen, das selbständig ist, daslosgeschnürt ist von dem anderen Wesen, kann dieses lieben. Dazumußte der Mensch zu einem Ich-Wesen werden. Das Ich mußte derdreifachen menschlichen Leiblichkeit eingepflanzt werden, damit dieErde ihre Mission der Liebe durch den Menschen ausführen kann.Deshalb werden Sie verstehen, daß in der christlichen Esoterik gesagt

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wird: Ebenso, wie andere Kräfte, zuletzt die Weisheit während desMondendaseins, von den Göttern heruntergeströmt sind, strömt dieLiebe während des Erdendaseins in dieses ein; und der Träger derLiebe kann nur das selbständige Ich sein, das sich nach und nach imLaufe der Erdenentwickelung herausbildet. Aber der Mensch muß zuallem ganz langsam vorbereitet werden, auch zu der gegenwärtigenArt seines Bewußtseins. Setzen wir den Fall, gleich in der alten lemuri-schen Zeit würde der Mensch untergetaucht sein in seinen physischenLeib, er hätte damals schon die volle äußere Wirklichkeit gesehen. Erhätte sich dann in diesem schnellen Tempo die Liebe nicht einpflanzenkönnen! Er mußte nach und nach erst zu seiner Erdenmission heran-geführt werden. Ohne daß er schon sein volles Selbstbewußtsein hatte,ohne daß er schon so weit war, im hellen Tagesbewußtsein die Gegen-stände um sich herum wahrzunehmen, wurde ihm in seinem dämmer-haften Bewußtsein unbewußt der erste Unterricht der Liebe gegeben.So sehen wir, daß während der ganzen Zeiten, während der Menschnoch ein altes, traumhaftes Hellseherbewußtsein hatte, während dieSeele also lange Zeit außerhalb des Leibes war, dem Menschen ineinem dämmerhaften, noch nicht selbstbewußten Zustande die Liebeeingepflanzt wird. Stellen wir ihn uns einmal so recht vor die Seele,diesen Menschen der alten Zelt, der noch nicht auf der Höhe desvollen Selbstbewußtseins angelangt ist.

Der Mensch schläft des Abends ein; aber kein schroffer Übergangvom Wachen zum Schlafen findet statt. Bilder tauchen auf, lebendigeTraumbilder, die aber einen lebendigen Bezug haben zu der geistigenWelt. Das heißt, der Mensch lebte sich während des Einschlafens indie geistige Welt ein. Da träufelte ihm in das dämmerhafte Bewußt-sein der göttliche Geist die ersten Keime alles Liebeswirkens ein. Wassich durch die Liebe im Laufe der Erdenentwickelung offenbaren soll,das strömt zuerst während der Nacht in den Menschen ein. Der Gott,der die eigentliche Erdenmission auf die Erde bringt, offenbart sichzuerst zu nächtlicher Zeit dem dumpfen, alten hellseherischen Be-wußtsein, bevor er sich dem hellen Tagesbewußtsein offenbaren kann.Dann, langsam und allmählich, werden die Zeiten, in denen derMensch in dem dumpfen hellseherischen Zustande ist, kürzer, das

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Tagesbewußtsein immer länger, die aurischen Säume um die Gegen-stände werden immer unbedeutender, die Gegenstände bekommenimmer festere Grenzen. Vorher hat der Mensch die Sonne, den Mondmit einem mächtigen Hof gesehen, alles wie in einer Nebelmasseliegend. Langsam erst reinigt sich der ganze Anblick, und es tretenfeste Grenzen an den Dingen auf. In diesen Zustand ist der Menschallmählich gekommen. Was da der Mensch äußerlich sieht, währenddie Sonne die Erde bescheint und ihm durch das sichtbare Licht dasganze Erdendasein, Mineralien, Pflanzen und Tiere offenbart, dasempfindet der Mensch als die Offenbarungen des Göttlichen in demÄußeren.

Was ist denn im Sinne der christlichen Esoterik das, was im hellenTagesbewußtsein sichtbar wird, woraus sich die Erde im weiten Um-fange zusammensetzt? Es ist eine Offenbarung der göttlichen Kräfte,eine äußere materielle Offenbarung des innerlich Geistigen! WennSie den Blick hinaus auf die Sonne richten oder auf das, was Sie aufder Erde finden: Es ist eine Offenbarung des Göttlich-Geistigen.Dieses Göttlich-Geistige in der heutigen Gestalt, wie es allem zu-grunde liegt, was dem hellen Tagesbewußtsein erscheint, die unsicht-bare Welt hinter dieser ganzen sichtbaren Tageswelt, das nennt diechristliche Esoterik den «Logos» oder das «Wort». Denn wie derMensch zuletzt das Wort in sich selber aussprechen kann, so ist zuerstalles, das Tierreich, Pflanzenreich, Mineralreich, aus dem Logos ent-standen. Alles ist eine Verkörperung dieses Logos. Und so, wie IhreSeele unsichtbar in Ihrem Innern waltet und sich äußerlich einen Leibschafft, so schafft sich in der Welt ein jedes Seelische den ihm passendenäußeren Leib und offenbart sich durch irgendein Physisches.

Wo ist denn nun der physische Leib des Logos, von dem dasJohannes-Evangelium spricht und den wir uns heute immer mehrzum Bewußtsein bringen wollen? Wo ist der physische Leib desLogos? Am reinsten erscheint dieser äußere physische Leib des Logoszunächst im äußeren Sonnenlicht. Das Sonnenlicht ist nicht bloßmaterielles Licht. Für die geistige Anschauung ist es ebenso das Kleiddes Logos, wie Ihr äußerer physischer Leib das Kleid für Ihre Seeleist. Wenn Sie ebenso zu einem Menschen stehen, wie heute die Mehr-

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zahl der Menschen zur Sonne steht, so können Sie nicht den anderenMenschen kennenlernen; da würden Sie sich zu jedem Menschen,der eine fühlende, denkende, wollende Seele hat, so stellen, daß Sienicht ein Seelisch-Geistiges bei ihm voraussetzen, sondern bloß einenphysischen Leib abtasten und glauben, daß der dann auch aus Papier-mache sein könnte. Wenn Sie aber durchdringen wollen zu demGeistigen im Sonnenlicht, dann müssen Sie es so betrachten, wie wennSie von der leiblichen Seite eines Menschen aus das Innere kennen-lernen. Wie Ihr Leib sich zu Ihrer Seele verhält, so verhält sich dasSonnenlicht zu dem Logos. In dem Sonnenlichte strömt ein Geistigesder Erde zu. Dieses Geistige ist, wenn wir nicht nur den Sonnenleib,sondern auch den Sonnengeist zu fassen vermögen, dieser Geist istdie Liebe, die herunterströmt auf die Erde. Nicht allein weckt dasphysische Sonnenlicht die Pflanzen, so daß diese verkümmern müßten,wenn das physische Sonnenlicht nicht auf sie wirkte, sondern mit demphysischen Sonnenlichte strömt die warme Liebe der Gottheit auf dieErde; und die Menschen sind dazu da, die warme Liebe der.Gottheitin sich aufzunehmen, zu entwickeln und zu erwidern. Das können sieaber nur dadurch, daß sie selbstbewußte Ich-Wesen werden. Nur dannkönnen sie die Liebe erwidern.

Als die Menschen anfingen in der ersten Zeit, zuerst nur kurzeZeit in ihrem Tagesleben zu verweilen, da konnten sie nichts ver-nehmen von dem Lichte, das zugleich die Liebe entzündete. DasLicht schien in die Finsternis, aber die Finsternis konnte noch nichtsbegreifen von dem Lichte. Und wäre dem Menschen dieses Licht,das zugleich die Liebe des Logos ist, nicht anders geoffenbart wordenals nur durch die kurzen Tagesstunden, der Mensch hätte dieses Lichtder Liebe nicht begriffen. Aber in dem dumpfen hellseherischenTraumbewußtsein jener alten Zeit strömte doch die Liebe in denMenschen ein. Und jetzt blicken wir hinter das Dasein auf ein großesMysterium der Welt, unserer Erde, auf ein wichtiges Mysterium.

Fassen wir es einmal, daß sozusagen die Lenkung der Welt fürunsere Erde so war, daß eine Zeit hindurch auf unbewußte Art demMenschen die Liebe einströmte durch ein dämmerhaftes Hellseher-bewußtsein und ihn innerlich vorbereitete zur Aufnahme der Liebe

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im vollen hellen Tagesbewußtsein. - Wir haben gesehen, daß unsereErde allmählich der Kosmos geworden ist, der die Mission der Liebedurchzuführen hat. Die Erde wird beschienen von der heutigenSonne. Wie der Mensch die Erde bewohnt und die Liebe nach undnach sich aneignet, so bewohnen die Sonne andere, höhere Wesen,weil die Sonne auf einer höheren Stufe des Daseins angekommen ist.Der Mensch ist Erdenbewohner, und Erdenbewohner sein, bedeutetein Wesen sein, das sich die Liebe aneignet während der Erdenzeit.Ein Sonnenbewohner in unserer Zeit bedeutet ein Wesen, welches dieLiebe entzünden kann, welches die Liebe einströmen lassen kann.Nicht würden die Erdenbewohner die Liebe entwickeln, sie nicht auf-nehmen können, wenn nicht die Sonnenbewohner ihnen die reifeWeisheit schicken würden mit den Lichtstrahlen. Indem das Licht derSonne auf die Erde herunterströmt, entwickelt sich auf der Erde dieLiebe. Das ist eine ganz reale Wahrheit. Die Wesenheiten, die so hochstehen, daß sie die Liebe ausströmen können, haben die Sonne zuihrem Schauplatze gemacht.

Es waren da, als der Mond fertig war mit seiner Entwickelung,sieben solcher Hauptwesenheiten, die so weit waren, daß sie Liebeausströmen konnten. Hier berühren wir ein tiefes Mysterium, das dieGeheimwissenschaft enthüllt. - Da ist im Beginne der Erdenentwicke-lung der kindliche Mensch, der die Liebe aufnehmen sollte und bereitwar zur Aufnahme des Ich, und auf der anderen Seite die Sonne, diesich abspaltete und zu einem höheren Dasein aufstieg. Auf dieserSonne konnten sich entwickeln sieben Hauptlichtgeister, die zu glei-cher Zeit die gebenden Geister der Liebe waren. Nur sechs von ihnennahmen auf der Sonne Wohnung; und das, was uns im Lichte derSonne physisch zuströmt, enthält in sich die geistigen Liebeskräftedieser sechs Lichtgeister oder der sechs Elohim, wie wir sie in derBibel finden. Einer spaltete sich ab und ging einen anderen Weg zumHeile des Menschen, er wählte sich nicht die Sonne, sondern denMond zu seinem Aufenthalte. Und dieser eine der Lichtgeister, derfreiwillig auf das Sonnendasein verzichtete und sich den Mondwählte, ist kein anderer als derjenige, den das Alte Testament «Jahve »oder «Jehova » nennt. Dieser eine, der sich den Mond zum Aufenthalt

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wählte, ist derjenige, der vom Monde aus die reife Weisheit auf dieErde strömte und dadurch die Liebe vorbereitete.

Jetzt schauen Sie einmal auf dieses Mysterium, das hinter denDingen ist. Die Nacht gehört dem Monde, und sie gehörte in einemviel größeren Maße dem Monde in jener alten Zeit, als der Menschnoch nicht von der Sonne die Kraft der Liebe empfangen konnte,als er noch nicht im direkten Lichte diese Kraft der Liebe empfangenkonnte. Da empfing er die reflektierte Kraft der reifen Weisheit vomMondenlichte. Sie strömte ihm zu von dem Mondenlicht währendder Zeit des Nachtbewußtseins. Jahve nennt man daher den Regiererder Nacht, der den Menschen vorbereitete auf die Liebe, die späterwährend des vollen Tagbewußtseins entstehen sollte. So schauen wirzurück auf die alte Menschheitszeit, wo geistig der Vorgang statt-fand, der durch die Himmelskörper nur symbolisiert wird, wo Sie dieSonne auf der einen Seite, den Mond auf der anderen Seite haben.

Während der Nacht, zu gewissen Zeiten, sendet uns der Mond diereflektierte Sonnenkraft zu. Es ist dasselbe Licht, das uns auch von derSonne zukommt. So strahlte zurück in den alten Zeiten Jahve oderJehova die Kraft der reifen Weisheit, die Kraft der sechs Elohim,und diese Kraft strömte er während der Zeit des Nachtschlafens in dieMenschen ein und bereitete sie vor, so daß sie fähig wurden, auchspäter die Kraft der Liebe nach und nach während des tagwachenBewußtseins zu bekommen.

Die Zeichnung soll in symbolischer Weise andeuten den tagwachenMenschen, wo physischer Leib und Ätherleib abhängig sind vomGöttlichen, und das Ich und der Astralleib auf dem physischen Planeim physischen Leibe und Ätherleibe sind; da wird von außen dasganze System des Menschen beschienen von der Sonne. Von derNacht wissen Sie jetzt, daß sie eine viel längere war und viel wir-kungsvoller für den Menschen uralter Vorzeit. Da sind Astralleibund Ich aus physischem Leib und Ätherleib heraus; da ist das Ichganz in der astralischen Welt, und der astralische Leib wird von außenhineingesenkt in den physischen Leib so, daß er aber seiner ganzenWesenheit nach doch in das Geistig-Göttliche eingebettet ist. Da kanndie Sonne nicht direkt auf den menschlichen Astralleib scheinen und

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in ihm die Kraft der Liebe entzünden. Da wirkt der Mond, der dasSonnenlicht reflektiert, durch Jahve oder Jehova. Der Mond ist dasSymbolum für Jahve oder Jehova, und die Sonne ist nichts anderesals das Symbolum für den Logos, der die Summe der anderen sechsElohim ist. Nur symbolisch soll diese Zeichnung, die Sie studierenmögen, über die Sie meditieren mögen, das andeuten. Und wenn Sie

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darüber nachdenken, werden Sie finden, welch tiefe Mysterienwahr-heiten darin dargestellt sind: daß lange Zeit hindurch dem nächtlichenBewußtsein durch Jahve die Kraft der Liebe dem Menschen ein-gepflanzt wurde auf unbewußte Art. So wurde der Mensch vor-bereitet, damit er nach und nach selbst den Logos, die Kraft seinerLiebe empfangen konnte. Wie war das möglich? Wie konntedenn das geschehen? - Jetzt kommen wir zu der anderen Seite desMysteriums.

Wir haben uns gesagt, daß der Mensch zur selbstbewußten Liebeauf der Erde berufen war. Er mußte also einen Führer, einen Lehrerwährend des hellen Tagesbewußtseins haben, der ihm so gegenüber-trat, daß er ihn wahrnehmen konnte. Nur während der Nacht, im

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dämmerhaften Bewußtsein konnte ihm die Liebe eingepflanzt werden.Nach und nach aber mußte etwas eintreten, etwas mit voller Tat-sächlichkeit eintreten, was dem Menschen möglich machte, außen,physisch das Wesen der Liebe selber zu sehen. Wodurch konnte daseintreten? Das konnte nur dadurch eintreten, daß das Wesen dergöttlichen Liebe, des Logos, ein Wesen auf der Erde wurde - einfleischliches Wesen auf der Erde, wie es der Mensch auf der Erdedurch seine Sinne wahrnehmen konnte. Weil der Mensch zur Wahr-nehmung durch seine äußeren Sinne sich entwickelte, mußte der Gott,der Logos, selbst ein Sinneswesen werden. Er mußte in einem fleisch-lichen Leibe auftreten. Das geschah durch den Christus Jesus, und diehistorische Erscheinung des Christus Jesus bedeutet nichts anderes,als daß die Kräfte der sechs Elohim oder des Logos sich verkörperthaben in dem Jesus von Nazareth im Anfange unserer Zeitrechnung, -in ihm real da waren in der Welt der Sichtbarkeit. Daraufkommt es an.Das, was in der Sonne an innerer Kraft liegt, die Kraft der Logosliebe,nahm physische Menschengestalt an in dem Leibe des Jesus vonNazareth. Denn so wie ein anderer äußerer Gegenstand, wie einanderes Wesen, so mußte dem Menschen auf der Erde für sein Sinnes-bewußtsein der Gott in leibhaftiger Gestalt entgegentreten. Was istdaher diese Wesenheit, die uns im Beginne unserer Zeitrechnung alsder Christus Jesus entgegentrat? Sie ist nichts anderes als die Ver-körperung des Logos, der sechs anderen Elohim, denen vorbereitendder eine, der Jahve-Gott vorangegangen ist. Und diese eine Gestaltdes Jesus von Nazareth, in welcher der Christus oder der Logos in-karniert war, bringt daher das, was früher immer nur von der Sonneauf die Erde herniederströmte, was nur im Sonnenlichte enthalten ist,sie bringt es in das Menschenleben, in die Menschheitsgeschichteselbst hinein: «Der Logos ward Fleisch». Das ist das, worauf dasJohannes-Evangelium den größten Wert legt.

Und es mußte der Schreiber des Johannes-Evangeliums gerade aufdiese Tatsache den größten Wert legen. Denn wahr ist es: Nachdemeinige der eingeweihten Christus-Schüler verstanden hatten, um wases sich handelt, da traten auch andere auf, die das nicht im vollenMaße verstehen konnten, - die zwar voll verstanden, daß allem

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Materiellen, allem, was uns stofflich entgegentritt, ein Seelisch-Geistiges zugrunde liegt; was sie aber nicht begreifen konnten, war,daß sich in einem einzelnen Menschen für die physisch-sinnliche Weltphysisch sichtbar der Logos selbst einmal verfleischlichte. Das konn-ten sie nicht verstehen. Dadurch unterscheidet sich das, was uns inden ersten christlichen Jahrhunderten als die « Gnosis » entgegentritt,von dem wahren esoterischen Christentum. Der Schreiber des Jo-hannes-Evangeliums hat mit kräftigen Worten darauf hingewiesen:Nein, nicht sollt ihr ansehen den Christus als übersinnliches, unsicht-bar bleibendes Wesen, das allem Stofflichen zugrunde liegt, sondernihr sollt Wert darauf legen, daß das Wort Fleisch geworden ist, daßes unter uns gewohnet hat! Das ist der feine Unterschied zwischendem esoterischen Christentum und der ursprünglichen Gnosis. DieGnosis kennt den Christus ebenso wie das esoterische Christentum,aber nur als eine geistige Wesenheit, und sieht höchstens in dem Jesusvon Nazareth einen mehr oder weniger an diese geistige Wesenheitgebundenen menschlichen Verkünder. Sie will festhalten an dem un-sichtbar bleibenden Christus. Dagegen ist das esoterische Christentumimmer im Sinne des Johannes-Evangeliums gewesen, das auf demfesten Boden des Wortes stand:

«Und der Logos ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnet.»

Und derjenige, der da in der sichtbaren Welt war, ist eine wirklicheVerkörperung der sechs anderen Elohim, des Logos!

Damit also ist die Erdenmission, das, was aus der Erde werdensollte durch das Ereignis von Palästina, erst richtig in die Erde ein-getreten. Vorher war alles Vorbereitung. Als was mußte sich alsoder Christus, der in dem Leibe des Jesus von Nazareth wohnte, vor-zugsweise bezeichnen?

Er mußte sich vorzugsweise bezeichnen als den großen Bringerund den Verlebendiger des selbstbewußten freien menschlichenWesens. Fassen wir diese lebendige Christus-Lehre einmal in kurze,paradigmatische Sätze. Dann müssen wir sagen: Die Erde ist dazuda, dem Menschen das volle Selbstbewußtsein, das «Ich-bin» zu

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geben. Vorher war alles nur Vorbereitung zu diesem Selbstbewußt-sein, zum «Ich-bin»; und der Christus ist derjenige, der den Impulsgibt, daß die Menschen alle - jeder als einzelnes Wesen - empfindenkönnen das «Ich-bin». Jetzt erst ist der mächtige Impuls gegeben,der die Menschen auf der Erde mit einem gewaltigen Ruck nach vor-wärts bringt. Wir können das verfolgen beim Vergleich des Christen-tums mit der alttestamentlichen Lehre. In der alttestamentlichen Lehrefühlte der Mensch noch nicht vollständig das «Ich-bin» in seinereigenen Persönlichkeit. Er hatte noch einen Rest dessen, was gebliebenwar von der alten Zeit des träumerischen Bewußtseins, wo derMensch sich nicht als ein Selbst fühlte, sondern als Glied der gött-lichen Wesenheit, wie das Tier heute noch ein Glied der Gruppenseeleist. Yon der Gruppenseele sind die Menschen ausgegangen, und zumindividuellen selbständigen Dasein, das in jedem Einzelmenschen das«Ich-bin» fühlt, sind sie fortgeschritten. Und der Christus ist dieKraft, die die Menschen zu diesem freien «Ich-bin»-Bewußtsein ge-bracht hat. Überschauen wir das einmal in seiner vollen innerlichenBedeutung.

Der Bekenner des Alten Testaments fühlte sich noch nicht so ab-geschlossen in seiner einzelnen Persönlichkeit wie der Bekenner desNeuen Testaments. Der Bekenner des Alten Testaments sagte nochnicht in seiner Persönlichkeit: Ich bin ein Ich. Er fühlte sich in demganzen alten jüdischen Volke und fühlte das «Gruppen-Volks-Ich».Versetzen wir uns einmal lebendig in das Bewußtsein eines solchenalttestamentlichen Bekenners. So, wie der wirkliche Christ das «Ich-bin » fühlt und allmählich immer mehr fühlen lernen wird, so fühlteder Bekenner des Alten Testaments nicht das «Ich-bin». Er fühltesich als ein Glied des ganzen Volkes und schaute hinauf zu derGruppenseele, und wenn er das aussprechen wollte, sagte er: MeinBewußtsein reicht hinauf bis zum Vater des ganzen Volkes, bis zuAbraham; wir - ich und Vater Abraham - sind eins. Ein gemeinsamesIch umfaßt uns alle; und da erst fühle ich mich geborgen in dergeistigen Substantialität der Welt, wenn ich in der ganzen Volks-substanz mich ruhen fühle. - So sah der Bekenner des Alten Testa-ments hinauf bis zum Vater Abraham und sagte: Ich und der Vater

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Abraham sind eins. In meinen Adern fließt dasselbe Blut wie inAbrahams Adern. - Und den Vater Abraham fühlte er wie dieWurzel, aus der jeder einzelne Abrahamite als ein Glied hervor-ging-

Da kam der Christus Jesus und sagte zu seinen nächsten intimstenEingeweihten: Bisher haben die Menschen bloß geurteilt nach demFleisch, nach der Blutsverwandtschaft; die war für sie das Bewußt-sein, daß sie in einem höheren, unsichtbaren Zusammenhange ruhten.Ihr aber sollt an einen viel geistigeren Zusammenhang glauben, anden, der weiter geht als die Blutsverwandtschaft. Ihr sollt an einengeistigen Vatergrund glauben, in dem das Ich wurzelt, der geistigerist als jener Grund, der das jüdische Volk als Gruppenseele verbindet.Ihr sollt glauben an dasjenige, was in mir und in jedem Menschenruht, und das ist nicht nur eins mit Abraham, das ist eins mit demgöttlichen Weltengrunde! Daher betonte der Christus Jesus im Sinnedes Johannes-Evangeliums:

«Bevor der Vater Abraham war, war das <Ich-bin>!» (8, 5 8)

Nicht nur bis zu dem Vater-Prinzip, das bis zu Abraham reicht, gehtmein Ur-Ich hinauf, sondern mit dem, was den ganzen Kosmos durch-pulst, ist das Ich eins; bis zu dem geht meine Geistigkeit hinauf.

«Ich und der Vater sind eins!» (10, 30)

Das ist das wichtige Wort, das man fühlen muß; dann wird manden Ruck fühlen, der die Menschen ergriff und die Menschheits-entwickelung weiter brachte durch jenen Impuls, den das Erscheinendes Christus Jesus gab. Der Christus Jesus war der große Beleberdes «Ich-bin».

Und nunmehr versuchen wir ein wenig darauf hinzuhorchen, wasseine intimsten Eingeweihten sagten, wie sie das ausdrückten, wassich ihnen da offenbarte. Sie sagten: Bisher hat keine einzelne fleisch-liche Menschlichkeit existiert, der man diesen Namen des «Ich-bin»so beilegen durfte, als der, der als der erste die ganze Bedeutung des«Ich-bin» in die Welt gebracht hat. Und daher nannten sie das«Ich-bin» den Namen des Christus Jesus. Das war der Name, in dem

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sich die intimsten Eingeweihten verbunden fühlten, in dem Namen,den sie also verstanden, den Namen «Ich-bin».

So müssen Sie sich in die wichtigsten Kapitel des Johannes-Evange-liums vertiefen. Wenn Sie also jenes Kapitel nehmen, wo das Wortsteht: «Ich bin das Licht der Welt!», da müssen Sie das wörtlichnehmen, ganz wörtlich. Das «Ich-bin», das da zum ersten Male imFleische auftrat, was ist es? Dasselbe, was im Sonnenlichte als Logos-kraft der Erde zuströmt. Überall haben Sie in dem ganzen 8.Kapitel,vom 12. Vers angefangen, das gewöhnlich überschrieben ist «Jesus,das Licht der Welt», die Umschreibung dieser tiefen Wahrheit vonder Bedeutung des «Ich-bin». Lesen Sie das Kapitel so, daß Sie überalldas «Ich» oder das «Ich-bin» betonen und wissen, daß das «Ich-bin»der Name war, auf den sich die Eingeweihten verbunden fühlten.Dann verstehen Sie es, dann erscheint Ihnen dies Kapitel so, daß Siees etwa in der Art lesen müßten:

«Da redete Jesus zu seinen Jüngern und sprach: Was <Ich-bin> zusich sagen kann, das ist die Kraft des Lichtes der Welt; und wer mirnachfolgt, der wird bei hellem lichtem Tagesbewußtsein dasjenigesehen, was diejenigen nicht sehen, die in der Finsternis wandeln.»

Diese aber, die dem alten Glauben anhingen, daß nur auf eine nächtli-che Art das Licht der Liebe dem Menschen eingepflanzt werden kann,die da die Pharisäer genannt wurden, die antworteten: «Du berufstdich auf dein < Ich-bin >, wir aber berufen uns auf den Vater Abraham.Da fühlen wir die Kraft, die uns berechtigt, als selbstbewußte Wesenaufzutreten; da fühlen wir uns stark, wenn wir einsinken in den ge-meinsamen Ichgrund, der bis zum Vater Abraham hinaufführt.»

«Jesus sprach: Wenn man in dem Sinne vom <Ich> redet, wie ichrede, da ist das Zeugnis wahr; denn ich weiß, daß dieses <Ich> vondem Vater, von dem gemeinsamen Urgrund der Welt kommt, undwohin es wieder geht.» (8, 14)

Und nun der wichtige Satz, Kap. 8, Vers 15, den Sie wörtlich in fol-gender Weise übersetzen müssen :

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«Ihr beurteilt alles nach dem Fleische. Ich aber beurteile nicht dasNichtige, das im Fleische ist.Und wenn ich urteile, so ist mein Urteil ein wahres. Denn dann istdas Ich nicht allein für sich, sondern das Ich ist vereint mit demVater, von dem das Ich herstammt.» (8, 15-16)

Das ist der Sinn dieser Stelle. So sehen Sie überall den Hinweisauf den gemeinsamen Vater. Und wir werden den Vaterbegriff nochgenauer uns vor die Seele führen können. - So sehen Sie, wie dasWort: «Ehe denn der Vater Abraham war, war das <Ich-bin>» dieQuintessenz der christlichen Lehrworte lebendig in sich enthält.

Wir haben uns heute vertieft in die Worte des Johannes-Evange-liums, mehr, als wir es hätten tun können, wenn ich sie in äußererWeise interpretiert hätte. Wir haben diese Worte aus der Geistes-weisheit hergeleitet, insofern wir auf einige wichtige Worte des Jo-hannes-Evangeliums angespielt haben, die gerade das Wesentlichedes Christentums bezeichnen. Wir werden sehen, wie uns geradedadurch, daß wir erst solche Kern- und Urworte des Evangeliumsverstehen, Licht und Klarheit in das ganze Johannes-Evangeliumhineinkommen wird.

Nehmen Sie das alles als etwas, was als Lehre in der christlichenesoterischen Schule gelehrt worden ist, die der Schreiber des Johannes-Evangeliums auf die Art, wie wir das besprechen werden, auf-geschrieben hat, um sie der Nachwelt zu überliefern für diejenigen,die da wirklich eindringen wollen in dessen Sinn.

Wie man das wirklich noch tiefer tun kann, davon in dem näch-sten Vortrag.

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VIERTER VORTRAG

Hamburg, 22. Mai 1908

Es dürfte aus den drei bisherigen Vorträgen einigermaßen hervor-gegangen sein, daß man im Johannes-Evangelium die geisteswissen-schaftlichen Wahrheiten wiederzufinden in der Lage ist. Aber ebensodürfte klar geworden sein, daß es notwendig ist, um diese Wahrheitenzu finden, jedes Wort dieses Johannes-Evangeliums wirklich auf dieGoldwaage zu legen. Es kommt bei dieser religiösen Urkunde in derTat darauf an, daß der wirkliche, echte Wortlaut absolut verstandenwird. Denn alles ist in dieser Urkunde, wie wir noch an verschiedenenFällen sehen werden, von der denkbar tiefsten Bedeutung. Aber nichtnur der Wortlaut dieses oder jenes Satzes kommt in Betracht, sondernes kommt auch noch etwas anderes in Betracht. Das ist die Gliederung,die Komposition, die Zusammensetzung der Urkunde. Für solcheDinge hat eigentlich der heutige Mensch nicht mehr ganz die rechteEmpfindung. Viel mehr von architektonischem Aufbau, von innererGliederung haben die alten - wenn wir sie so nennen dürfen - Schrift-steller in ihre Werke hineingelegt, als man gewöhnlich glaubt. Siebrauchen sich nur an einen verhältnismäßig späten Dichter zu er-innern, um das bekräftigt zu finden: an Dante. Wie ist in der «Gött-lichen Komödie» alles architektonisch aufgebaut in Gliedern, denendie Dreizahl zugrunde liegt. Und nicht umsonst schließt ein jeder Teilvon Dantes Komödie mit den Worten «Sterne». Das nur, um an-zuführen, wie architektonisch die alten Schriftsteller ihre Sache auf-gebaut haben. Und insbesondere dürfen wir bei den großen religiösenUrkunden diesen architektonischen Aufbau niemals aus den Augenverlieren, denn er bedeutet unter Umständen sehr viel. Man muß dieseBedeutung allerdings erst herausfinden.

Da ist zu erinnern, daß am Ende des 10. Kapitels des Johannes-Evangeliums ein Satz steht, den wir in der Erinnerung behalten wol-len. Da heißt es im 41,Vers:

« Und viele kamen zu ihm und sprachen: Johannes tat kein Zeichen,aber alles, was Johannes von diesem gesagt hat, das ist wahr.»

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Das heißt, wir finden in diesem Vers des 10. Kapitels einen Hinweisdarauf, daß das Zeugnis, das über den Christus Jesus abgegeben wirddurch Johannes, wahr ist; es wird durch ein besonderes Wort dasausgedrückt, daß dies Zeugnis wahr ist. - Und nun kommen wir anden Schluß des Johannes-Evangeliums und finden da einen ent-sprechenden Vers. Da heißt es im 24. Vers des 21.Kapitels:

«Dies ist der Jünger, der von diesen Dingen zeuget, und hat diesgeschrieben; und wir wissen, daß sein Zeugnis wahrhaftig ist.»

Da haben wir also am Schluß des Ganzen eine Angabe darüber,daß das Zeugnis dessen, der berichtet, ein wahrhaftiges ist. SolcheKongruenzen und Harmonien, daß da oder dort mit einem Wortetwas Besonderes gesagt wird, sind niemals ohne Bedeutung in denalten Schriften; und gerade hinter dieser Kongruenz verbirgt sichetwas Bedeutsames. Und wir werden unsere Betrachtungen in dasrechte Licht rücken, wenn wir auf dessen Grund hinweisen.

Es steht in der Mitte des Johannes-Evangeliums eine Tatsache,ohne deren Verständnis überhaupt das Johannes-Evangelium nichtbegriffen werden kann. Unmittelbar hinter der Stelle, wo dieses Wortzur Bekräftigung des Wahrheitszeugnisses angeführt wird, steht dasKapitel über die Aufer weckung des Lazarus. Durch dieses Kapitelüber die Auferweckung des Lazarus zerfällt das ganze Johannes-Evangelium in zwei Teile. Und es ist hingewiesen am Ende des erstenTeiles darauf, daß für alles dasjenige, was behauptet wird, was be-kräftigt werden soll über den Christus Jesus, das Zeugnis des TäufersJohannes gelten soll; und es ist ganz am Ende darauf hingewiesen,daß für alles das, was nach dem Kapitel über die Auferweckung desLazarus steht, das Zeugnis des Jüngers gelten soll, von dem wir öfterhören die Worte: «den der Herr lieb hatte» (13, 23). Was bedeutetdenn überhaupt die «Auferweckung des Lazarus » ?

Ich erinnere Sie daran, daß nach der Erzählung über die Auf-erweckung des Lazarus ein scheinbar rätselhafter Satz im Johannes-Evangelium steht. Stellen Sie sich einmal die ganze Situation vor:Der Christus Jesus vollbringt das, was man im gewöhnlichen Sinneein Wunder, im Evangelium selbst ein «Zeichen» nennt: die Auf-

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erweckung des Lazarus. Und nachher stehen mehrere Sätze, die dabesagen: «Dieser Mensch tut viele Zeichen» ( n , 47), und alles fol-gende weist darauf hin, daß die Ankläger keine Gemeinschaft mit ihmhaben wollen wegen dieser Zeichen. Wenn Sie diese Worte lesen, wiesie auch immer übersetzt sein mögen - es ist auch schon in meinem«Christentum als mystische Tatsache» von mir darauf hingewiesenworden -, so müssen Sie fragen: Was liegt denn da eigentlich zu-grunde? Die Auferweckung eines Menschen bestimmt gerade dieGegner, gegen den Christus Jesus aufzutreten. Warum regt die Geg-ner gerade die Auferweckung des Lazarus so auf? Warum beginntgerade da die Verfolgung? - Ein jeder, der zu lesen versteht, mußeinsehen, daß sich in diesem Kapitel ein Mysterium verbirgt. DiesesMysterium, das sich dahinter verbirgt, ist nichts anderes als die Mit-teilung darüber, wer eigentlich der wirkliche Autor des Johannes-Evangeliums ist, wer eigentlich das alles sagt, was im Johannes-Evangelium gesagt wird. Um das zu verstehen, müssen wir einmaleinen Blick werfen auf das, was wir die «Einweihung» in den altenMysterien nennen. Wie ging diese Einweihung in den alten Mysterienvor sich?

Ein Mensch, der eingeweiht worden war, konnte selbst Erlebnisse,Erfahrungen haben in den geistigen Welten, so daß er ein Zeugewerden konnte der geistigen Welten. Diejenigen, die reif befundenwurden, eingeweiht zu werden, wurden in diese Mysterien hinein-gezogen. Überall - in Griechenland, bei den Chaldäern, bei denÄgyptern, bei den Indern - gab es solche Mysterien. Da wurden dieEinzuweihenden lange unterrichtet ungefähr in den Dingen, die wirheute in der Geisteswissenschaft lernen; und wenn sie genügendunterrichtet waren, folgte das, was ihnen den Weg öffnete, um selbstzu schauen. Aber in den alten Zeiten konnte das auf keine andereWeise bewirkt werden als dadurch, daß der Mensch in bezug aufseine vier Glieder: physischen Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich,in einen ganz besonderen Zustand versetzt wurde. Was da geschahmit dem Einzuweihenden, war, daß er durch den Initiator, durch denEinweihenden, der die Sache verstand, dreieinhalb Tage in einentotenähnlichen Zustand versetzt wurde. Das geschah aus folgendem

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Grunde. Wenn der Mensch nämlich im heutigen Entwickelungs-zyklus im gewöhnlichen Sinne schläft, so liegen sein physischer Leibund Ätherleib im Bette, das Ich mit dem Astralleib ist herausgehoben.Der Mensch kann dann nicht irgendwelche geistigen Ereignisse umsich herum wahrnehmen, weil sein Astralleib noch nicht die geistigenSinnesorgane hat, um in der Welt, in der der Mensch dann ist, wahr-zunehmen. Erst wenn sein astralischer Leib und sein Ich wiederhineinschlüpfen in seinen physischen und Ätherleib, sich wieder derAugen und der Ohren bedienen, nimmt der Mensch wieder die phy-sische Welt, das heißt überhaupt eine Umwelt wahr. Durch das, wasdie Einzuweihenden gelernt hatten, wurden sie fähig, die geistigenSinnesorgane ihres astralischen Leibes herauszubilden. Wenn sie nunso weit waren, daß ihr astralischer Leib diese Sinnesorgane aus-gebildet hatte, mußte dafür gesorgt werden, daß alles, was der astra-lische Leib in sich aufgenommen hatte, sich in den Ätherleib ein-drückt, wie die Worte eines Petschafts sich in den Siegellack ein-drücken. Das ist das, worauf es ankommt. Alle Vorbereitungen fürdie Einweihung beruhten darauf, daß der Mensch sich solchen innerenVorgängen hingab, welche seinen astralischen Leib umorganisierten.Der Mensch war auch seinem physischen Leibe nach einmal so, daßer keine Augen und Ohren hatte wie heute, sondern gleichgültigeOrgane an dieser Stelle; wie Tiere, die nie dem Licht ausgesetzt waren,keine Augen haben. Das Licht formt heraus das Auge, der Ton bildetheraus das Ohr. Was der Mensch durch Meditation, Konzentrationübt, und was er dadurch innerlich erlebt, wirkt so wie Licht auf dasAuge, Ton auf das Ohr. Dadurch wird der astralische Leib um-geformt, und dadurch werden herausgeholt die Erkenntnisorgane, umzu schauen in der astralischen, der höheren Welt. Jetzt sind sie abernoch nicht fest genug in dem Ätherleibe; sie werden dadurch fest,daß das, was im astralischen Leibe zunächst sich bildet, eingeprägtwird in den Ätherleib. Solange aber der Ätherleib im physischenLeibe steckt, ist es nicht möglich, daß das, was durch die Übungenerreicht wird, sich auch wirklich abdrückt im Ätherleibe. Dazu mußteehedem der Ätherleib herausgehoben werden aus dem physischenLeibe. Wenn also in den dreieinhalb Tagen des totenähnlichen Schlafes

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der Ätherleib herausgehoben war aus dem physischen Leibe, drücktesich alles das, was im Astralleibe vorbereitet war, ab. Der Menscherlebte die geistige Welt. Wurde er dann wieder durch den Priester-Initiator zurückgerufen in den physischen Leib, so war er ein Zeugedessen, was in den geistigen Welten vorgeht, durch sein eigenesZeugnis.

Diese Prozedur ist eben durch die Erscheinung des Christus Jesusunnötig geworden. Dieser dreieinhalb Tage lange todähnliche Schlafkann nunmehr durch die von Christus ausgehende Kraft ersetzt wer-den. Denn wir werden gleich sehen, daß im Johannes-Evangeliumdie starken Kräfte liegen, daß heute der Astralleib, auch wenn derÄtherleib im physischen Leibe drinnen ist, die Stärke hat, trotzdemabzudrücken, was vorher in ihm vorbereitet war. Dazu mußte abererst der Christus Jesus da sein. Vorher waren die Menschen nicht soweit, daß ohne die charakterisierte Prozedur das, was im astralischenLeibe durch Meditation und Konzentration vorgebildet war, imÄtherleibe hätte abgedrückt werden können. - Das war ein Vorgang,der sich oft in den Mysterien abgespielt hat: Ein einzuweihenderMensch wird durch den Priester-Initiator in einen todähnlichen Schlafgebracht; darauf wird der Betreffende durch die höheren Welten ge-führt; dann wird er wieder zurückgerufen durch den Priester-Initiatorin seinen physischen Leib, und nunmehr ist er durch sein eigenesErlebnis ein Zeuge der geistigen Welten.

Das wurde immer im tiefsten Geheimnis vollbracht, und nichtswußte die äußere Welt von den Vorgängen in den alten Mysterien.Durch den Christus Jesus sollte an die Stelle der alten Einweihungeine neue treten, durch jene Kräfte hervorgebracht, von denen wirnoch zu sprechen haben. Es sollte gleichsam der Schlußpunkt gemachtwerden mit der alten Form der Einweihung. Aber es sollte ein Über-gang gemacht werden von der alten in die neue Zeit! Für den Über-gang sollte jemand noch einmal auf die alte Art eingeweiht werden,aber in die christliche Esoterik. Das konnte nur der Christus Jesusselbst tun - und es sollte der Einzuweihende jener sein, der daLazarus genannt wird. «Diese Krankheit ist nicht zum Tode» ( n , 4),heißt es da; sie ist der dreieinhalbtägige todähnliche Schlaf. Darauf

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wird deutlich hingewiesen. Sie werden sehen, daß es zwar in einer sehrverschleierten Darstellung geschieht, daß sie sich aber für den, wel-cher eine solche verschleierte Art überhaupt entziffern kann, als Ein-weihung darstellt.

Die Individualität des Lazarus sollte so eingeweiht werden, daßdieser Lazarus ein Zeuge von den geistigen Welten werden konnte.Und es wird uns ein Wort gesagt, das in der Mysteriensprache einsehr bedeutsames ist, es wird uns gesagt, «daß der Herr den Lazaruslieb hatte». Was bedeutet «lieb haben» in der Mysteriensprache? Esdrückt aus das Verhältnis des Schülers zum Lehrer. «Den der Herrlieb hatte» ist der intimste, der eingeweihteste Schüler. Den Lazarushat der Herr selbst eingeweiht, und als ein Eingeweihter erhob sichLazarus aus dem Grabe, das heißt aus seiner Einweihungsstätte. Unddasselbe Wort «den der Herr lieb hatte» wird uns immer später vonJohannes gesagt — oder sagen wir besser — von dem Verfasser desJohannes-Evangeliums; denn der Name «Johannes» wird nicht ge-nannt, es ist eben derjenige, der der Lieblings jünger ist, und auf dendas Johannes-Evangelium zurückzuführen ist. Das ist der auferweckteLazarus selbst. Und der Schreiber des Johannes-Evangeliums wolltedamit sagen: Was ich zu sagen habe, habe ich zu sagen kraft der Ein-weihung, die mir von dem Herrn selbst zuteil geworden ist. - Daherunterscheidet der Schreiber des Johannes-Evangeliums wohl, was vorder Auferweckung des Lazarus, und das, was nach der Auferweckungdes Lazarus geschieht. Vor der Auferweckung des Lazarus wird einalter Eingeweihter angeführt, ein solcher, der gekommen ist zu derErkenntnis des Geistes, und es wird betont, daß sein Zeugnis wahrist. - Was aber über die tiefsten Dinge zu sagen ist, über das Myste-rium von Palästina, darüber spreche ich selbst, ich, der Auferweckte;darüber kann ich aber erst nach der Auferweckung sprechen. - Daherhaben wir in dem ersten Teile des Johannes-Evangeliums das Zeugnisdes alten Johannes, in dem zweiten Teil das Zeugnis des neuen Jo-hannes, den der Herr selbst eingeweiht hat. Denn derselbe ist derauferweckte Lazarus. So erfassen wir dies Kapitel erst seinem wirk-lichen Sinne nach. Es steht da, weil Johannes sagen wollte: Ich be-rufe mich auf mein übersinnliches Sehen, nicht auf mein Wahr-

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nehmen in der physischen Welt; ich erzähle euch, was ich gesehenhabe in der geistigen Welt dadurch, daß mir der Herr die Einweihunghat zuteil werden lassen.

So müssen wir die Charakteristik des Christus Jesus, wie sie unsentgegentritt in den ersten Kapiteln des Johannes-Evangeliums biszum Schluß des 10. Kapitels, zurückführen auf die Erkenntnis, diesozusagen auch einer haben konnte, der nicht im tiefsten Sinne schoneingeweiht war durch den Christus Jesus selbst.

Nun werden Sie sagen: Ja, wir haben doch selbst in diesen Vor-trägen die tiefen Worte über den Christus Jesus gehört als den ver-körperten Logos, als das Licht der Welt und so weiter. - Das ist nichtweiter verwunderlich, daß diese tiefen Worte über den Christus Jesusschon in den ersten Kapiteln ausgesprochen werden. Denn in denalten Mysterien war der Christus Jesus, das heißt der Christus, der inZukunft erscheinen sollte in der Welt, nicht etwa eine unbekannteWesenheit. Und alle Mysterien wiesen hin auf Einen, der da kommensollte. Daher nennt man die alten Eingeweihten «Propheten», weil sieüber ein Künftiges zu prophezeien hatten. Darum hatten gerade die Ein-weihungen den Zweck, klar erkennen zu lassen, daß sich in der Zukunftder Menschheit der Christus enthüllen werde. So ging aus dem, was erdamals schon wissen konnte, für den Täufer die Wahrheit hervor, dieihn prophezeien lassen konnte, daß derjenige, von dem gesprochenworden ist in den Mysterien, vor ihm stehe in dem Christus Jesus.

Wie nun das Ganze zusammenhängt, wie der sogenannte Täuferselbst zu dem Christus Jesus steht, das wird sich uns am klarsten zeigen,wenn wir uns zweierlei Fragen beantworten.

Die eine ist die: Wie stellt sich der Täufer selbst in seine Zeithinein? Und die andere geht zurück auf die Erklärung verschiedenerDinge im Anfang des Johannes-Evangeliums.

Wie stellt sich der Täufer in seine Zeit hinein? Was ist der Täufereigentlich? Er ist einer, der - ebenso wie die anderen, die etwas inden Einweihungen gehört haben - den Hinweis erhalten hat auf denkommenden Christus, der aber als der Einzige hingestellt wird, demgegenüber dem Christus Jesus das rechte Geheimnis aufgeht: daß derErschienene eben der Christus ist. Nun sahen die, welche mit «Pha-

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risäer» oder mit anderen Namen .bezeichnet wurden, in dem ChristusJesus einen solchen, der eigentlich ihrem alten Einweihungsprinzipwiderstrebte, der in ihren Augen etwas tat, was sie in ihrem konserva-tiven Sinne nicht zugeben konnten. Sie sagten, weil sie eben kon-servativ waren: Es muß bei dem alten Einweihungsprinzip bleiben! -Und dieser Widerspruch: immer von dem zukünftigen Christus zusprechen, aber niemals den Zeitpunkt eintreten zu lassen, wo er wirk-lich da sei, das ist es eben, was ihrem Konservatismus zu Grundeliegt. Daher mußten sie, als der Christus Jesus den Lazarus einweihte,es als einen Bruch mit der alten Mysterien-Tradition ansehen. «DerMensch tut viele Zeichen!» Mit dem können wir keine Gemeinschafthaben! - Er hat nach ihrer Auffassung die Mysterien verraten, das-jenige zu einem Öffentlichen gemacht, was in den Tiefen der Mysterien-Geheimnisse eingeschlossen sein sollte. Und jetzt begreifen wir, daßdies ihnen wie ein Verrat war und als der Grund erschien, daß siegegen ihn auftreten müßten. Daher beginnt damit der Umschlag, dieVerfolgung des Christus Jesus.

Als was erweist sich nun der Täufer in den ersten Kapiteln desJohannes-Evangeliums ?

Erstens als ein solcher, welcher die Mysterienwahrheit von demChristus, der da kommen sollte, gar wohl weiß, so gut weiß, daß diesalles der Schreiber des Johannes-Evangeliums selber wiederholenkann, was auch schon der Täufer hat wissen können, wovon er sichüberzeugt hat durch das, was wir kennenlernen werden.

Wir haben gesehen, was die allerersten Worte des Johannes-Evange-liums bedeuten. Wir wollen jetzt auf das ein wenig Rücksicht nehmen,was über den Täufer selbst gesagt wird. Legen wir es uns aber inmöglichst richtiger Übersetzung noch einmal vor. Nur die erstenWorte haben wir bis jetzt gehört.

«Im Urbeginne war das Wort, und das Wort war bei Gott, und einGott war das Wort.Dieses war im Urbeginne bei Gott.Alles ist durch dasselbe geworden, und außer durch dieses ist nichtsvon dem Entstandenen geworden.

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In diesem war das Leben, und das Leben war das Licht der Men-schen.Und das Licht schien in die Finsternis, aber die Finsternis hat esnicht begriffen.Es ward ein Mensch; gesandt war er von Gott, mit seinem NamenJohannes.Dieser kam zum Zeugnis, auf daß er Zeugnis ablege von demLichte, und daß durch ihn alle glauben sollten.Er war nicht das Licht, sondern ein Zeuge des Lichtes.Denn das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, sollte in dieWelt kommen.Es war in der Welt, und die Welt ist durch es geworden, aber dieWelt hat es nicht erkannt.In die einzelnen Menschen kam es (bis zu den Ich-Menschen kames); aber die einzelnen Menschen (die Ich-Menschen) nahmen esnicht auf.Die es aber aufnahmen, die konnten sich durch es als Gottes Kinderoffenbaren.Die seinem Namen vertrauten, sind nicht aus Blut, nicht aus demWillen des Fleisches, und nicht aus menschlichem Willen, sondernaus Gott geworden.Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt,und wir haben seine Lehre gehöret, die Lehre von dem einzigenSohn des Vaters, erfüllt von Hingabe und Wahrheit.Johannes leget Zeugnis für ihn ab und verkündet deutlich: Dieserwar es, von dem ich sagte: Nach mir wird derjenige kommen, dervor mir gewesen ist. Denn er ist mein Vorgänger.Denn aus dessen Fülle haben wir alle genommen Gnade überGnade.Denn das Gesetz ist durch Moses gegeben, die Gnade und dieWahrheit aber ist durch Jesus Christus entstanden.Gott hat niemand bisher mit Augen geschaut. Der eingeboreneSohn, welcher im Innern des Weltenvaters war, er ist der Führer indiesem Schauen geworden.» (i, 1-18)

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Das sind diejenigen Worte, die ungefähr den Sinn dieser erstenSätze des Johannes-Evangeliums wiedergeben. Dazu müssen wir, ehewir an ihre Erklärung gehen, noch eines fügen. Als was erklärt sichdenn Johannes selber? - Sie erinnern sich, daß geschickt wird, umauszukundschaften, wer Johannes der Täufer sei. Priester und Levitenkommen, die ihn fragen sollen, wer er sei. Warum nun die vorher-gehende Antwort gegeben wird, werden wir noch sehen. Jetzt wollenwir nur berücksichtigen, was er selber sagt. Er sprach:

«Ich bin die Stimme eines Rufers in der Einsamkeit.» (i, 23)

Das sind die Worte, die da stehen. «Ich bin die Stimme eines Rufersin der Einsamkeit 1» In der Einsamkeit steht da - ganz wörtlich - ivZV £p7jfi(j). Im Griechischen bedeutet das Wort «Eremit» «der Ein-same». Nun werden Sie es begreifen, daß es richtiger ist, zu sagen:«Ich bin die Stimme eines Rufers in der Einsamkeit» - als: «Ich bindie Stimme eines Predigers in der Wüste.» Und wir werden alles, wasin den Anfangsworten des Johannes-Evangeliums angeführt ist, besserverstehen, wenn wir diese Selbstcharakteristik des Johannes uns vorAugen führen. Warum nennt er sich «die Stimme eines Rufers in derEinsamkeit»?

In dem Entwickelungsgange der Menschheit haben wir gesehen,daß die eigentliche Erdenmission die Entwickelung der Liebe ist, daßsie aber nur denkbar ist, wenn sie als freiwillige Gabe von selbst-bewußten Menschen gegeben wird, und daß sich der Mensch nachund nach sein Ich erobert und daß das Ich langsam und allmählichsich hineinsenkt in die Menschennatur. Wir wissen, daß die Tiere alssolche kein einzelnes Ich haben. Wenn der einzelne Löwe «Ich» sagenkönnte, wäre damit nicht das einzelne Tier gemeint, sondern dasGruppen-Ich in der astralischen Welt; alle Löwen würden dazu «Ich»sagen. So sagen ganze Gruppen von gleichgeformten Tieren zu demim Astralischen übersinnlich-wahrnehmbaren Gruppen-Ich «Ich ». Dasist der große Vorzug des Menschen vor den Tieren, daß der Menschein individuelles Ich hat. Aber das individuelle Ich entwickelt sich erstnach und nach. Der Mensch fing auch an mit einem Gruppen-Ich, miteinem Ich, welches einer ganzen Gruppe von Menschen angehörte.

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Wenn Sie zurückgehen würden zu alten Völkern, zu alten Rassen,überall würden Sie finden, daß die Menschen ursprünglich kleineGruppen bildeten. Bei den germanischen Völkern brauchten Sie garnicht einmal weit zurückzugehen. In den Schriften des Tacitus könnenSie mit Händen greifen, daß der einzelne Germane mehr hält von sei-nem ganzen Stamm als von seiner Individualität. Der einzelne fühltsich mehr als Glied des Cheruskerstammes oder des Sigambrerstam-mes denn als eine einzelne Persönlichkeit, und daher tritt auch dereinzelne ein für das Schicksal des ganzen Stammes; es ist auch gleich-gültig, wer aus dem Stamme eine Beleidigung rächt, wenn einem ein-zelnen Gliede oder dem Stamme eine Beleidigung widerfahren ist.Dann tritt im Laufe der Zeit das ein, daß einzelne Leute heraustretenaus der Stammeszusammengehörigkeit, so daß die Stämme durch-brochen werden und nicht mehr kompakt bleiben. Aus dem Gruppen-seelencharakter hat sich auch der Mensch entwickelt und nach undnach sich hinaufgeschwungen dazu, in der Einzelpersönlichkeit dasIch zu empfinden.

Wir können gewisse Dinge, besonders die religiösen Urkunden,nur verstehen, wenn wir dies Geheimnis von den Gruppenseelen, vonden Gruppen-Ichen wissen. Bei den Völkern, bei denen es schon zueiner gewissen Wahrnehmung des eigenen Ich gekommen war, gabes noch immer ein Ich, das sich nicht nur über räumliche, gleich-zeitig lebende Gruppen, sondern auch über zeitliche Gruppen aus-dehnte. Heute ist das Gedächtnis der Menschen so, daß sich der ein-zelne nur noch an seine Jugendzeit erinnert. Aber es gab eine Zeit, inder noch ein anderes Gedächtnis vorhanden war, wo sich der Menschnicht nur an seine Taten erinnerte, sondern wo er sich auch an dieTaten seines Vaters, seines Großvaters erinnerte wie an seine eigenen.Das Gedächtnis reichte hinüber, weit in die Blutsverwandtschaft derAhnen bis zum Stammvater, dessen Blut herunterfloß durch die Ge-nerationen. Jahrhundertelang erhielt sich mit dem Blute das Gedächt-nis, und ein Enkel oder ein Sproß eines Stammes sagte zu den Taten,zu den Gedanken seiner Vorfahren «Ich» wie zu sich selber. Manempfand sich da nicht eingeschlossen zwischen Geburt und Tod, son-dern man empfand sich als Glied der Generationenreihe, deren Mittel-

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punkt der Ahne war. Denn das ist der Zusammenhalt des Ich, daß mansich eben der Taten des Vaters, des Großvaters und so weiter erinnerte.In alten Zeiten wurde das schon äußerlich durch die Namengebungausgedrückt. Der Sohn erinnerte sich nicht nur an seine eigenen Taten,sondern auch an die des Vaters, Großvaters und so weiter. Das Ge-dächtnis ging durch die Generationen weit hinauf. Alles, was so dasGedächtnis umfaßte, hieß in alten Zeiten zum Beispiel «Noah», hieß«Adam». Damit sind nicht die einzelnen Menschen, sondern die Ichegemeint, die jahrhundertelang das Gedächtnis bewahrten. Dies Ge-heimnis verbirgt sich auch hinter den Patriarchennamen. Warum leb-ten die Patriarchen so lange? Es wäre einem in alten Zeiten gar nichteingefallen, den einzelnen Menschen, der zwischen Geburt und Todsteht, mit einem Namen zu benennen. Adam erhielt sich jahrhunderte-lang im Gedächtnis, weil gerade die räumliche und zeitliche Begren-zung für die alte Namengebung gar nicht in Betracht kam.

So löste sich nach und nach langsam das menschliche Einzel-Ich ausder Gruppenseele, aus dem Gruppen-Ich heraus; der Mensch kamnach und nach zum Bewußtsein seines Einzel-Ichs. Vorher fühlte ersein Ich in der Stammeszugehörigkeit, in der Gruppe von Menschen,mit denen er blutsverwandt war, entweder im Räume oder in der Zeit;daher der Ausspruch: «Ich und der Vater Abraham sind eins!», dasheißt, sind ein Ich. Und da fühlte sich der einzelne geborgen in einemGanzen, weil das gemeinsame Blut durch alle Adern hinunterrollte,durch alle Mitglieder des betreffenden Volkes. Aber die Entwickelungging vorwärts: Die Zeit wurde reif, wo gerade innerhalb dieser Völkerdie Menschen ihr Einzel-Ich empfinden sollten.

Den Menschen das zu geben, was sie brauchten, um sich sicher undfest zu fühlen in diesem einzelnen individuellen Ich, das war die Mis-sion des Christus. So müssen wir auch das Wort auffassen, das soleicht mißverstanden werden kann: « Wer nicht verleugnet Weib undKind, Vater und Mutter, Bruder und Schwester, der kann nicht meinJünger sein!» (Mark. 10, 29). Das müssen wir nicht in dem trivialenSinn auffassen, daß jemand eine Anweisung erhält, der Familie davon-zulaufen; sondern es ist gemeint: Ihr sollt fühlen, daß ein jeder voneuch ein Einzel-Ich ist und daß dieses Einzel-Ich unmittelbar mit dem

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geistigen Vater, der durch die Welt flutet, eins ist. Früher sagte derBekenner des Alten Testaments: «Ich und der Vater Abraham sindeins », weil das Ich sich in der Blutsverwandtschaft ruhen fühlte. Jetztsollte frei werden das Sich-eins-Fühlen mit dem geistigen Vater-grunde. Nicht mehr sollte die Blutsverwandtschaft die Gewähr bilden,daß der Mensch zu einem Ganzen gehört, sondern das Wissen vondem rein geistigen Vaterprinzip, mit dem alle eins sind.

So soll uns durch das Johannes-Evangelium gesagt werden, daßder Christus der große Impulsgeber ist für das, was der Menschbraucht, um sich ewig in seinem einzelnen, individuellen Ich zu fühlen.Das ist der Umschwung von dem alten Bunde zu dem neuen Bunde,daß der alte Bund immer etwas von Gruppenseelenhaftigkeit hat, wodas eine Ich sich zugesellt fühlt zu den anderen Ichen und weder sichnoch die andern Iche recht fühlt, dafür aber das, worin sie gemeinsamgeborgen sind, das Volks-Ich oder Stammes-Ich mitempfindet.

Wie mußte sich denn nun ein Ich fühlen, das so weit reif ge-worden war, um nicht mehr den Zusammenhang mit den anderenindividuellen Persönlichkeiten der Gruppenseele zu fühlen? Wiemußte das vereinzelte Ich empfinden in einer Zeit, in der man sagenkonnte: Nicht mehr ist die Zeit, in der man als eine wirkliche mensch-liche Lebenswahrheit empfinden kann die Zusammengehörigkeitmit anderen Personen, mit allen Ichen, die zu einer Gruppenseelegehören; aber der muß erst kommen, der der Seele das geistigeLebensbrot gibt, wodurch das einzelne Ich seine Nahrung erhält. -Das Einzel-Ich mußte sich einsam fühlen, und der Vorgänger desChristus mußte sagen: Ich bin ein Ich, das sich herausgeschält hat,sich einsam fühlt. Und gerade weil ich gelernt habe, mich einsamzu fühlen, fühle ich mich als ein Prophet, dem das Ich in der Ein-samkeit die richtige Geistes-Nahrung gibt. - Deshalb mußte sichder Verkünder als ein Rufer in der Einsamkeit bezeichnen, das heißtals das schon vereinsamte, von der Gruppenseele vereinsamte Ich,das da schreit nach dem, wodurch das EinzeUch Nahrung be-kommen kann. «Ich bin die Stimme eines Rufers in der Einsam-keit.» Da hören wir wieder die tiefe Wahrheit: Jedes menschlicheindividuelle Ich ist ein ganz auf sich gestelltes; ich bin die Stimme

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des Ich, das losgelöst ist und das seinen Grund sucht, auf dem esals losgelöstes Ich stehen kann. Jetzt verstehen wir die Stelle: «Ichbin die Stimme eines Rufers in der Einsamkeit.»

Um genau die Worte des Johannes-Evangeliums zu verstehen,müssen wir uns ein wenig hineinfinden in die Art und Weise, wieüberhaupt damals Namen und Bezeichnungen gegeben worden sind.So abstrakt und nichtssagend wie heute war die Namengebung da-mals nicht. Und wenn die Ausleger der biblischen Urkunden nur einklein wenig bedenken wollten, wieviel damit gesagt wird, dann würdemanche triviale Auslegung nicht ans Tageslicht treten. Ich habeschon darauf hingewiesen, daß, wenn der Christus sagt: «Ich bindas Licht der Welt» (8, 12), damit wirklich gemeint ist, daß er der erstewar, der für das «Ich-bin» den Ausdruck und Impuls gegeben hat.Daher muß immer da, wo das «Ich-bin» steht in den ersten Kapiteln,dieses «Ich-bin» ganz besonders betont werden. Alle Namen und Be-zeichnungen in den alten Zeiten sind in einer gewissen Weise durchausreal und zu gleicher Zeit tief symbolisch gebraucht.

Nach zwei Richtungen hin werden hier oft gewaltige Irrtümer be-gangen. Nach oberflächlicher Betrachtung könnte mancher sagen: Ja,nach einer solchen Auffassung ist ja vieles symbolisch gemeint, und aufeine solche Auslegung, wo alles nur symbolisch gemeint sein soll,lassen wir uns nicht ein, da verflüchtigt ihr ja die historischen bibli-schen Ereignisse! Und diejenigen, die ganz und gar nichts verstehenvon den geschichtlichen Ereignissen, mögen sagen: Das ist alles nursymbolisch gemeint. - Aber diejenigen, die so sprechen, versteheneben nichts von dem Evangelium. Nicht die historische Realität wirddurch eine symbolische Erläuterung geleugnet, sondern es muß betontwerden, daß die esoterische Erklärung beides umfaßt: die Auffassungder Tatsachen als historische, und indem sie historisch sind, bedeutensie selbst zugleich das, was wir ihnen beilegen. Freilich, wer nur diebrutalen äußeren Tatsachen sieht, nämlich einen Menschen, der ir-gendwo zu einer Zeit geboren ist, der wird nicht begreifen, daß dieserMensch noch etwas anderes ist als bloß ein Mensch mit dem betreffen-den Namen, dessen Biographie man schreiben kann. Wer aber dengeistigen Zusammenhang kennt, der wird verstehen lernen, daß der

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Mensch, der geboren ist an einem bestimmten Orte, daß dieser leben-dige Mensch außerdem noch ein Symboium für seine Zeit ist, und daßman durch seinen Namen ausdrückt seine ganze Bedeutung für dieEntwickelung der Menschheit.

Symbolisch und historisch zugleich, nicht nur das eine und nichtnur das andere, das ist es, um was es sich handelt bei der wirklichenEvangelien-Erklärung. Und so werden wir bei fast allen Ereignissenund Hinweisungen sehen, daß der Johannes oder der Schreiber desJohannes-Evangeliums, der eigentlich in übersinnlichen Wahrneh-mungen sieht, zugleich die Ereignisse und die Offenbarung tiefergeistiger Wahrheiten sieht: Er hat im Auge die historische Gestaltdes Täufers, er sieht auf die historische Gestalt hin; zugleich ist ihmaber auch die wirkliche historische Gestalt das Symboium für alleMenschen, die in den alten Zeiten schon berufen waren, das Ich sicheinzuprägen, die aber erst auf dem Wege dazu waren, denen hinein-scheinen konnte das Licht der Welt ins einzelne Ich, nicht aber fürdiejenigen, die noch nicht in der Lage waren, das Licht der Welt inihrer Finsternis zu begreifen. Das, was als Leben, als Licht und Logosin dem Christus Jesus erschienen ist, es hat schon immer in der Weltgeleuchtet; nicht aber haben die es erkannt, die erst im Reifwerdenbegriffen waren. Immer war das Licht da. Denn wäre das Licht nichtdagewesen, so hätte überhaupt nicht die Anlage zu dem Ich ent-stehen können. Noch auf dem Monde war von dem heutigen Men-schen nur vorhanden physischer Leib, Ätherleib und astralischer Leib;kein Ich war darinnen. Nur weil sich das Licht so umgewandelt hat,wie es auf der Erde scheint, hatte es die Kraft, die einzelnen Iche zuentzünden und langsam zum Heranreifen zu bringen: «Das Lichtschien in die Finsternis; aber die Finsternis konnte es noch nichtbegreifen» (i, 5). «In die einzelnen Menschen kam es », bis zu den Ich-Menschen kam es; denn die Ich-Menschen hätten gar nicht entstehenkönnen, wenn es nicht in sie durch den Logos gegossen worden wäre.«Aber die Ich-Menschen nahmen es nicht auf.» Nur einzelne nahmenes auf, die Eingeweihten; die erhoben sich zu den geistigen Welten;die trugen immer den Namen « Kinder Gottes », weil sie eine Erkennt-nis hatten von dem Logos, von dem Licht und Leben, und immer

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davon Zeugnis ablegen konnten. Einzelne waren es, die immer schondurch die alten Mysterien wußten von den geistigen Welten. Was lebtedenn in ihnen ? Es lebte in ihnen dasjenige, was im Menschen ewig ist.Ganz bewußt lebte das in ihnen. Sie fühlten schon vor das große Wort:«Ich und der Vater sind Eins» (10, 30), nämlich Ich und der großeUrgrund sind Eins! Und das Tiefste, was sie im Bewußtsein trugen,ihr eigenes Ich, das hatten sie nicht von Vater und Mutter, sondern siehatten es durch die Initiation in die geistige Welt. Nicht aus dem Bluteund nicht aus dem Fleische und nicht aus eines Vaters oder einerMutter Willen, sondern «aus Gott», das heißt aus der geistigen Welt'hatten sie es. - Da haben Sie die Erklärung der Worte, daß die großeAnzahl der Menschen, trotzdem sie schon die Anlage zum Ich-Men-schen hatten, das Licht nicht aufnahmen, daß es wohl herab kam bis zudem Gruppen-Ich, daß aber die einzelnen es nicht aufnahmen. Diejeni-gen, die es aber aufnahmen - das waren nur wenige -, die konnten sichdurch es zu Gottes Kindern machen; die ihm aber vertrauten, sind esaus Gott geworden durch die Einweihung. Das gibt uns ein klaresBild. Damit aber alle Menschen mit Erdensinnen den daseienden Gotterkennen konnten, mußte er in der Art auf der Erde erscheinen, daßman ihn mit leiblichen Augen sieht, das heißt er mußte eine fleischlicheGestalt annehmen, weil eine solche Gestalt nur mit den leiblichenAugen gesehen werden kann. Früher konnten ihn nur die Eingeweih-ten in den Mysterien sehen; jetzt aber hatte er zum Heile aller Fleisch-gestalt angenommen: «Das Wort oder der Logos war Fleisch gewor-den» (1, 14). So knüpft der Schreiber des Johannes-Evangeliums diehistorische Erscheinung des Christus Jesus an die ganze Evolution an.«Wir haben seine Lehre gehört, die Lehre von dem eingeborenenSohne des Vaters» (1, 14). Was ist das für eine Lehre? Was sind denndie andern Menschen für geborene?

Man nannte in den alten Zeiten, in denen die Evangelien geschrie-ben wurden, «zweigeboren» diejenigen, die vom Fleische geborensind. Sie nannte man zweigeboren, sagen wir durch die Vermischungdes Blutes von Vater und Mutter. Was nicht aus dem Fleische geborenist und nicht durch die Menschenwirkung und nicht durch die Ver-mischung des Blutes entstanden ist, das ist «aus Gott geboren»; das

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ist «eingeboren». Diejenigen, die früher «Gotteskinder» genanntwurden, waren immer schon in gewisser Weise die «Eingeborenen»;und die Lehre von dem Gottessohn ist die Lehre von dem «Ein-geborenen». Der physische Mensch ist der «Zweigeborene», derGeistesmensch ist der «Eingeborene». Das dürfen Sie nicht so auf-fassen, als ob es hieße «hineingeboren», nein, eingeboren ist derGegensatz zu zweigeboren. Und das Wort deutet darauf hin, daß derMensch außer der physischen Geburt auch eine geistige Geburtdurchmachen kann, nämlich die Vereinigung mit dem Geiste, dieGeburt, durch die er eingeboren, ein Kind oder Sohn der Gottheitwird. Und eine solche Lehre - gehört werden konnte sie erst durchden, der das Fleisch gewordene Wort darstellte. Durch ihn wurde dieLehre allgemein, «die Lehre von dem eingeborenen Sohne des Vaters,erfüllt von Hingabe und Wahrheit» (i, 14). «Hingabe» muß hier bes-ser übersetzt werden, weil man es zu tun hat zwar mit einem Herausge-borenwerden aus der Gottheit, aber mit einem Zusammenbleiben undzu gleicher Zeit mit der Hinwegnahme aller Illusion. Diese letzterekommt nur aus dem Zweigeboren-sein und umschließt den Menschenmit Sinnestäuschungen, im Gegensatz zu dieser einen Lehre, die dieWahrheit bringt in dem Christus Jesus, wie er stand und wohnte unterden Menschen als der verkörperte Logos. Johannes aber nannte sich -das bedeutet es wörtlich -: der Vorläufer, Vorgänger, der, der voran-geht zur Verkündigung des Ich. Johannes bezeichnet sich selbst alsden, der zwar wußte, daß dies Ich in dem einzelnen selbständig werdenmuß, der aber Zeugnis abzulegen hatte von dem, der da kommenwird, um dies zu bewirken. Er sagte deutlich: Der, der da kommenwird, ist das «Ich-bin », das ewig ist, das wirklich von sich sagen kann:Bevor Abraham war, war «Ich-bin ». Johannes konnte sagen: Das Ich,von dem hier die Rede ist, es ist vor mir gewesen; es ist zu gleicherZeit, trotzdem ich sein Vorgänger bin, mein Vorgänger; ich legeZeugnis ab von dem, was vorher in jedem Menschen war; «nach mirwird der kommen, der vor mir gewesen ist» (1, 15).

Und nun werden bedeutsame Worte gesagt: «Denn aus dessen Füllehaben wir alle entnommen Gnade über Gnade» (1, 16). Viele Men-schen gibt es, die sich Christen nennen und die über das Wort «Fülle»

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hinweglesen, die sich bei diesem Wort nichts besonders Genauesdenken. «Pleroma» heißt nach dem Griechischen «die Fülle». Dassteht auch im Johannes-Evangelium: «Denn aus dem Pleroma habenwir alle entnommen Gnade über Gnade!» Ich sagte, jedes Wort desJohannes-Evangeliums muß man, wenn man es überhaupt verstehenwill, auf die Goldwaage legen. Was ist denn nun Pleroma, die Fülle?Nur der kann es verstehen, der da weiß, daß man in den alten Myste-rien von dem Pleroma oder der Fülle als von etwas ganz Bestimmtemgesprochen hat. Denn man hat damals schon die Lehre vertreten, daß,als sich zuerst offenbarten diejenigen geistigen Wesenheiten, die biszur Göttlichkeit aufgestiegen waren während des alten Mondes, dieElohim, einer sich von ihnen trennte: Einer blieb auf dem Mond undstrahlte von dort zurück die Kraft der Liebe, bis die Menschen ge-nügend reif waren für das Licht der übrigen sechs Elohim. So unter-schied man Jahve, den Einzelgott, den Rückstrahler und die aus sechsbestehende Fülle der Gottheit, «Pleroma». Da aber mit dem Gesamt-bewußtsein des Sonnenlogos der Christus gemeint ist, mußte man,wenn man auf ihn hindeutete, sprechen von der Fülle der Götter.Diese tiefe Wahrheit verbirgt sich dahinter: «Denn aus dem Pleromahaben wir alle entnommen Gnade über Gnade.»

Nun gehen wir weiter, indem wir uns zurückversetzen in dieGruppenseelenzeit, wo der einzelne sein Ich fühlte als Gruppen-Ich.Betrachten wir nun, was als soziale Ordnung in der Gruppe lebte.Die Menschen leben ja doch, insofern sie sichtbare Menschen waren,als einzelne. Sie fühlen zwar das Gruppen-Ich, aber für die Sinnewaren sie einzelne. Da sie sich noch nicht als einzelne fühlten, konn-ten sie auch noch nicht die Liebe in vollem Maße innerlich haben.Der eine liebt den anderen, weil er blutsverwandt mit ihm ist. DieBlutsverwandtschaft ist die Grundlage aller Liebe. Die Blutsver-wandten liebten sich zuerst, und aus der Blutsverwandtschaft gehtauch die Liebe hervor, sofern sie nicht Geschlechtsliebe ist. Vondieser Gruppenseelenliebe sollen sich die Menschen immer mehr undmehr befreien und die Liebe als freie Gabe des Ich darbringen. AmEnde der Erdenentwickelung werden die Menschen es erreichen, daßeine Zeit kommt, in welcher das selbständig gewordene Ich in seinem

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Innersten aus voller Hingabe den Impuls hat, das Rechte und das Gutezu tun. Weil das Ich diesen Impuls hat, tut es das Rechte, tut es dasGute. Wenn die Liebe so vergeistigt ist, daß niemand anderes wollenwird, als zu tun, was das Richtige ist, dann ist das erfüllt, was derChristus Jesus in die Welt bringen wollte. Denn das ist eines der Ge-heimnisse des Christentums, daß es lehrt: Schaut hin auf Christus, er-füllt euch mit der Kraft seiner Gestalt, versucht zu werden wie er,ihm nachzufolgen; dann wird euer befreites Ich so, daß es kein Gesetzbraucht, daß es als ein in seinem Innersten freies Wesen das Gute, dasRechte tut. So ist Christus der Impulsbringer der Freiheit vom Ge-setz, so daß das Gute nicht wegen des Gesetzes, sondern als Impulsder im Innern lebenden Liebe getan wird.

Dieser Impuls wird aber noch den ganzen Rest der Erdenzeit zuseiner Entwickelung brauchen. Der Anfang dazu ist durch den Chri-stus Jesus gemacht worden, und immer wird die Christusgestalt dieKraft sein, welche die Menschen dazu erziehen wird. Solange dieMenschen nicht reif waren, ein selbständiges Ich zu empfangen, so-lange sie als Glieder einer Gruppe existierten, mußten sie durch einäußerlich geoffenbartes Gesetz sozial geregelt werden. Und auchheute sind die Menschen noch nicht in allen Dingen über die Grup-pen-Iche hinaus. In wie vielen Dingen ist der Mensch heute durchausnicht individueller Mensch, sondern ein Gruppenwesen! Der Mensch,der heute schon ein freies Wesen wäre - man nennt ihn den «Heimat-losen » auf einer gewissen Stufe der esoterischen Schülerschaft -, derist doch noch ein Ideall Wer sich freiwillig hineinstellt in das Welten-wirken, der ist individuell, der wird nicht durch das Gesetz geregelt.Im Christus-Prinzip liegt die Überwindung des Gesetzes: «Denn dasGesetz ist durch Moses gegeben; die Gnade aber durch Christus» (i,17). Als Gnade bezeichnete man im christlichen Sinne die Fähigkeitder Seele, aus dem Innern heraus das Gute zu tun. Die Gnade und dieim Innern erkannte Wahrheit ist durch Christus entstanden. Sie sehen,wie tief eingreifend dieser Gedanke für die ganze Menschheitsevolu-tion ist.

Früher wurden diejenigen, die eingeweiht wurden, zu höherengeistigen Wahrnehmungsorganen gebracht. Mit äußeren Augen hat

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vorher niemals einer einen Gott gesehen. Der eingeborene Sohn, derim Innern des Vaters ruht, der ist der erste, der uns dahin geführt hat,auf die Weise einen Gott zu schauen, wie Menschen auf der Erdemit Erdensinnen ihre Umgebung sehen. Vorher war der Gott unsicht-bar geblieben. Er offenbarte sich im Übersinnlichen durch den Traumoder durch etwas anderes in den Einweihuhgsstätten. Jetzt war derGott historisch-sinnliche Tatsache, eine fleischliche Gestalt geworden.Das liegt in den Worten: «Gott hat bisher noch niemand gesehen.Der eingeborene Sohn, welcher im Innern des Weltenvaters war, er istder Führer in diesem Schauen geworden» (i, 18). Er hat die Menschendazu gebracht, mit den Erdensinnen einen Gott zu sehen.

So sehen wir allerdings, wie scharf und bedeutsam im Johannes-Evangelium auf das historische Ereignis in Palästina hingewiesenwird und mit welch paradigmatischen, fest umrissenen Worten, dieaber durchaus auf die Goldwaage gelegt werden müssen, wenn wirsie zum Verständnisse des esoterischen Christentums benutzen wollen.Und nun werden wir in den nächsten Vorträgen sehen, wie diesesThema weiter ausgeführt und zugleich gezeigt wird, daß der Christusnicht nur der Führer derjenigen ist, die mit der Gruppenseele zu-sammenhängen, sondern wie er in jeden einzelnen Menschen kommtund gerade das individuelle Ich mit seinem Impuls ausstatten will.Die Blutsverwandtschaft bleibt ja bestehen, aber die Geistigkeit derLiebe tritt hinzu. Und dieser Liebe, die vom freien Ich zum freien Ichgeht, gibt er den Impuls. Für den in der Einweihung Begriffenen ent-hüllt sich Tag für Tag eine Wahrheit nach der anderen. Eine wichtigeWahrheit enthüllt sich immer am dritten Tage. Das ist die, wo manvöllig verstehen lernt, daß in der Entwickelung der Erde ein Punktist, wodurch sich die an das Blut geknüpfte materielle Liebe immermehr vergeistigt. Das ist das Ereignis, das veranschaulichen soll denÜbergang von der reinen Blutsliebe zu der geistigen Liebe. Daraufwird hingewiesen mit bedeutungsvollen Worten von dem ChristusJesus, wenn er sagt: Es wird eine Zeit kommen, die meine Zeit ist,wo die wichtigsten Dinge geschaffen werden durch Menschen, dienicht mehr durch Blutsverwandtschaft zusammenhängen, sonderndurch solche, die als einzelne für sich stehen. Diese Zeit muß aber erst

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kommen. - Der Christus selber, der den ersten Impuls gibt, sagt beieiner wichtigen Gelegenheit, daß sich dieses Ideal einmal erfüllenwird, daß aber seine Zeit noch nicht gekommen ist. Er deutet pro-phetisch darauf hin, als die Mutter dasteht und ihn auffordert, etwaszu tun für die Menschheit, als sie gleichsam darauf anspielt, sie habeein Recht, ihn zu veranlassen zu einer wichtigen Tat für die Menschen.Da erwidert er: Ja, was wir heute tun können, das hat noch etwas zutun mit den Blutsbanden, mit dem Verhältnis von «mir und dir»;«denn meine Zeit ist noch nicht gekommen» (2, 4). Daß eine solcheZeit kommt, wo der Einzelne für sich stehen muß, ist mit der Erzäh-lung der Hochzeit zu Kana ausgedrückt; und die Aufforderung « Siehaben nicht Wein!» (2, 3) wird von Jesus so beantwortet, daß er sagt:«Das ist etwas, was noch mit <mir und dir > zu tun hat; meine Zeit, dieist noch nicht gekommen.» Daher stehen da die Worte «von mir zudir» und «meine Zeit ist noch nicht gekommen». Was da steht imText, deutet auf dieses Geheimnis hin. Wie vieles andere ist auch dieseStelle immer recht grob übersetzt worden. Nicht «Weib, was habe ichmit dir zu schaffen?» sollte dastehen, sondern «Was geht da von mirzu dir?». So fein und subtil ist der Text, aber bloß verständlich für die,die ihn verstehen wollen. Wenn aber immer wieder diese religiösenUrkunden heute von allerlei Leuten erklärt werden, möchte man dochfragen: Haben denn die, welche sich Christen nenen, gar keine Emp-findung dabei, wenn sie Christus - nach unrichtiger Übersetzung -den Ausspruch tun lassen: «Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?»

Bei vielem, was sich heute Christentum nennt und sich beruft aufdas Evangelium, muß man fragen: Haben sie denn das Evangelium?Es handelt sich darum, daß man das Evangelium erst habe. Und beieiner solch tiefen Urkunde, wie es das Johannes-Evangelium ist,handelt es sich wirklich darum, daß man erst jedes Wort auf die Gold-waage legt, um es in seinem rechten Werte zu erkennen.

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F Ü N F T E R VORTRAG

Hamburg, 23. Mai 1908

Bei den Betrachtungen über das Johannes-Evangelium dürfen wirnirgends die ganz prinzipielle Auseinandersetzung außer acht lassen,die wir gestern gepflogen haben, nämlich, daß wir es in dem ur-sprünglichen Verfasser des Johannes-Evangeliums zu tun haben mitdem von dem Christus Jesus selbst eingeweihten Lieblingsschüler.Es könnte jemand nun natürlich fragen: Ja, ist denn, ganz abgesehenvon dem okkulten Wissen, auch vielleicht ein äußeres Zeugnis dafürvorhanden, durch welches der Verfasser des Johannes-Evangeliumserraten läßt, daß er zu der höheren Art des Wissens über den Christusdurch die Auferweckung, durch die Einweihung, die im sogenanntenLazarus wunder dargestellt ist, gekommen sei? - Wenn Sie das Jo-hannes-Evangelium sorgfältig lesen, werden Sie eines bemerken. Siewerden bemerken, daß nirgends im Johannes-Evangelium, aberauch gar nirgends vor jenem Kapitel, das die Auferweckung desLazarus behandelt, von dem Jünger, «den der Herr lieb hatte» (13,23), die Rede ist; das heißt, der eigentliche Verfasser des Johannes-Evangeliums will sagen: Dasjenige, was vorher ist, das stammt nochnicht aus dem Wissen, das mir durch die Einweihung geworden ist, damüßt ihr noch zunächst von mir absehen. Nachher erwähnt er erstden Jünger, «den der Herr lieb hatte». Dadurch also zerfällt dasJohannes-Evangelium in zwei wichtige Teile: in einen ersten Teil,wo der Jünger, den der Herr lieb hatte, noch nicht erwähnt wird,weil er noch nicht eingeweiht war; und erst nach der Auferweckungdes Lazarus, da wird dieser Jünger erwähnt. Nirgends in der Urkundeselbst werden Sie einen Widerspruch finden mit dem, was in denletzten Vorträgen angeführt worden ist. Natürlich liest ein das Evan-gelium nur äußerlich betrachtender Mensch leicht darüber hinweg,beachtet es nicht; und man muß heute, wo alles popularisiert wird,wo allerlei Weisheit zu den Menschen dringt, das eigentümlicheSchauspiel erleben, daß wirklich oft recht Zweifelhaftes unter dieserWeisheit ist.

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Wer würde es nicht als einen Segen betrachten, daß durch solchebillige Literatur, wie es die «Reclamsche Universal-Bibliothek» ist,allerlei Wissen unter das Volk getragen wird. Nun ist unter den letz-ten Heften auch eines erschienen über «Die Entstehung der Bibel».Der Verfasser nennt sich auf dem Titel einen Doktor der Theologie, erist also Theologe. Er meint, daß auf den Verfasser des Johannes-Evangeliums eigentlich durch alle Kapitel des Johannes-Evangeliumshindurch, von dem 35.Vers an im ersten Kapitel auf den Johanneshingewiesen würde. Als mir dieses Büchlein zur Hand kam, traute ichwirklich meinen Augen nicht und sagte mir: Da muß doch eigentlichetwas ganz Sonderbares vorliegen, was gegen alle bisherigen okkultenAnsichten - daß der Lieblingsschüler nicht vor der Auferweckung desLazarus erwähnt werde - verstößt. Aber ein Theologe sollte es dochwissen! Nun, um nicht gar zu schnell abzuurteilen, nehmen Sie dasJohannes-Evangelium in die Hand und sehen Sie, was da steht: «Desandern Tages stund abermal Johannes und zween seiner Jünger» (1,35). Johannes wird erwähnt, der Täufer, und von zweien seiner Jüngerwird gesprochen. Das Günstigste, das für diesen Theologen angenom-men werden kann, ist, daß sein Bewußtsein erfüllt ist von einer altenexoterischen Tradition, die da besagt: unter den zweien Jüngern seider eine der Johannes. Diese Tradition stützt sich auf Matthäus 4, 21.Aber man darf das Johannes-Evangelium nicht durch die anderenEvangelien erklären. Ein Theologe hat es also zustande gebracht, eindirekt schädliches Buch hineinzubringen in die populäre Literatur;und wenn man weiß, wie das weiter frißt, was gerade auf diese Weisedurch eine solche billige Literatur unter das Volk kommt, dann kannman den Schaden abmessen, der daraus entspringt. Das sollte nur eineZwischenbemerkung sein, damit eine gewisse Schutzwand aufgerich-tet wird gegen allerlei Einwände, die etwas anführen könnten gegendas, was hier gesagt wird.

Nun wollen wir einmal ins Auge fassen, daß das, was der Auf-erweckung des Lazarus vorangeht, zwar die Mitteilung ganz gewal-tiger Dinge ist, daß sich aber der Verfasser erst für die Kapitel nachder Auferweckung des Lazarus die allertiefsten Dinge aufbewahrthat. Dennoch wollte er überall darauf hinweisen, daß der Inhalt seines

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Evangeliums etwas ist, worüber nur derjenige Bescheid weiß, der biszu einem gewissen Grade eingeweiht ist. Daher deutet er an ver-schiedenen Stellen darauf hin, daß man in den Dingen, die in denersten Kapiteln mitgeteilt sind, es zu tun habe mit einer Art vonEinweihung bis zu einem gewissen Grade. Es gibt eben Einweihungenverschiedener Grade. Man unterschied zum Beispiel in einer ge-wissen Form morgenländischer Einweihung sieben Grade der Ein-weihung, und diese sieben Grade der Einweihung benannte man mitallerlei symbolischen Namen. Der erste Grad war der Grad des«Raben», der zweite der des «Okkulten», der dritte der des «Strei-ters», der vierte der des «Löwen». Der fünfte Grad wird nun bei denverschiedenen Völkern, die noch eine Art von Blutzusammengehörig-keit fühlten als den Ausdruck ihrer Gruppenseele, bezeichnet mitdem Namen des Volkes; also bei den Persern zum Beispiel wird einim fünften Grade Eingeweihter erst im okkulten Sinne ein «Perser»genannt. Wenn wir uns klarmachen, was diese Namen bedeuten,wird uns die Berechtigung dieser Benennungen bald erscheinen.

Ein im ersten Grade Eingeweihter ist derjenige, der die Vermitte-lung zwischen dem okkulten und dem äußeren Leben bildet, der hinund her gesandt wird. Auf der ersten Stufe hat sich der Mensch nochmit voller Hingebung dem äußeren Leben zu widmen, aber das, waser erkundet, hat er hineinzutragen in die Einweihungsstätten. Von«Raben» spricht man also da, wo Worte von außen nach innenirgend etwas zu vermitteln haben. Erinnern Sie sich an die Rabendes Elias oder an die Raben des Wotan, selbst noch an die Rabenin der Barbarossa-Sage, wo sie erkunden sollen, ob es schon Zeitist, herauszukommen. Der im zweiten Grade Eingeweihte standschon voll im okkulten Leben. Einer, der im dritten Grade war, durftefür das Okkulte eintreten; der Grad des «Streiters» bedeutet nichteinen Menschen, der da streitet, sondern einen, der für die okkultenLehren eintreten darf, für das, was das okkulte Leben zu geben ver-mag. Derjenige, der ein «Löwe» ist, ist ein solcher, der das okkulteLeben in sich verwirklicht; so daß er nicht bloß mit Worten für dasOkkulte eintreten darf, sondern auch mit Taten, das heißt mit einerArt magischer Taten. Der sechste Grad ist der Grad des «Sonnen-

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helden», und der siebente Grad ist der Grad des «Vaters». Für unskommt der fünfte Grad in Betracht.

Der Mensch stand ja besonders in alten Zeiten innerhalb seinerGemeinschaft und fühlte sich deshalb auch, wenn er sein Ich fühlte,mehr als Mitglied einer Gruppenseele. Wer aber Eingeweihter desfünften Grades war, hatte ein gewisses Opfer dargebracht, seine Per-sönlichkeit so weit abgestreift, daß er in seine Persönlichkeit dasWesen des Volkes aufnahm. Wie der andere Mensch seine Seele inder Volksseele fühlte, so hatte er die Volksseele in sich aufgenommen,weil alles, was Persönlichkeit war, für ihn nicht in Betracht kam,sondern nur der allgemeine Volksgeist. Deshalb bezeichnete maneinen solchen Eingeweihten mit dem Namen des betreffenden Vol-kes. - Nun wissen wir, daß uns im Johannes-Evangelium gesagt wird,daß unter den ersten Jüngern des Christus Jesus auch Nathanael ist.Er wird dem Christus vorgeführt. Er ist nicht so hoch eingeweiht,daß er den Christus zu durchschauen vermöchte. Der Christus istnatürlich der Geist des umfassenden Wissens, der von einem Natha-nael, einem im fünften Grade Eingeweihten, nicht durchschaut wer-den kann. Aber der Christus durchschaut den Nathanael. Das zeigtsich durch zwei Tatsachen. Wie bezeichnet er selbst ihn?

«Das ist ein rechter Israeliter!» (i, 47)

Da haben Sie die Bezeichnung nach dem Namen des Volkes. Wie manbei den Persern einen im fünften Grade Eingeweihten einen «Perser»nannte, so nannte man einen solchen bei den Israeliten einen «Israeli-ter». Daher nennt Christus den Nathanael einen «Israeliter». Unddann sagt er ihm:

«Ehe denn dich Philippus rief, da du unter dem Feigenbaum wärest,sah ich dich!» (1, 48)

Das ist eine symbolische Bezeichnung für einen Eingeweihten, ge-radeso wie das Sitzen Buddhas unter dem Bodhi-Baum. Der Feigen-baum ist ein Symbol der ägyptisch-chaldäischen Einweihung. Er willihm damit sagen: Oh, ich weiß wohl, daß du ein in gewissem SinneEingeweihter bist und gewisse Dinge durchschauen kannst, denn ichsah dich. Und nun erkennt ihn Nathanael :

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«Nathanael antwortet und spricht zu ihm: < Meister, du bist GottesSohn und ein König in Israel. >» (i, 49)

Das Wort «König» bedeutet in dieser Zusammensetzung: Du bistein Höherer als ich, denn sonst könntest du nicht sagen: «Da duunter dem Feigenbaum saßest, sah ich dich.» Und der Christus antwor-tet darauf:

«Du glaubest mir, weil ich dir gesagt habe, daß ich dich gesehenhabe unter dem Feigenbaum; du wirst noch Größeres denn dassehen.» (1, 50)

Die Worte «wahrlich, wahrlich» werden wir noch zu besprechenhaben. Dann sagt er:

«Ich sage euch, ihr werdet die Engel des Himmels auf den Men-schensohn auf- und niedersteigen sehen!» (1, 51)

Größeres, als sie schon gesehen haben, werden die noch sehen, dieChristus zu erkennen vermögen. Was ist das wieder für ein bedeut-sames Wort?

Um es zu erklären, erinnern wir uns daran, was der Mensch zu-nächst eigentlich ist. Wir haben gesagt, daß der Mensch ein verschie-dener ist bei Tag und bei Nacht. Bei Tag sind die vier Glieder desMenschen: physischer Leib, Ätherleib, astralischer Leib und Ich, ineiner festen Verbindung miteinander. Sie wirken aufeinander. Wirdürfen sagen, wenn der Mensch wacht bei Tage, dann wird in einergewissen Weise seine physische Körperlichkeit und seine ätherischeLeiblichkeit von seinem Astralisch-Geistigen und von seinem Ich-Geistigen durchdrungen und versorgt. Aber wir haben auch gezeigt,wie in dem Ätherisch-Leiblichen und in dem Physisch-Körperlichennoch etwas anderes wirksam sein muß, damit der Mensch überhauptbestehen kann in seiner heutigen Entwickelungsphase. Denn wirhaben uns darauf besonnen, daß der Mensch jede Nacht dasjenige,was selbst seinen physischen Leib und seinen Ätherleib versorgt,nämlich Astralleib und Ich, herauszieht und so seinen physischenLeib und Ätherleib die ganze Nacht über ihrem eigenen Schicksaleüberläßt. Treulos verlassen Sie alle jede Nacht Ihren physischen Leib

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und Ihren Ätherleib. Daraus werden Sie erkennen, daß die Geistes-wissenschaft mit einem gewissen Recht darauf hinweist, daß göttlich-geistige Mächte und Kräfte in der Nacht diesen physischen Leib,diesen Ätherleib durchströmen, so daß also Ihr physischer Leib undÄtherleib sozusagen in die göttlich-geistigen Kräfte und Wesenheiteneingeschaltet sind. Wir haben auch darauf hingewiesen, daß gerade,wenn der astralische Leib und das Ich in alten Zeiten - in den Zeiten,die wir die Jahve- oder Jehovazeit nannten - außerhalb des physi-schen Leibes und Ätherleibes waren, daß da Jehova inspirierendwirkte. Das wahre Licht aber, die Fülle der Gottheit oder der Elohim,das Pleroma, ist es, was auch den physischen Leib und den Ätherleibimmer durchstrahlt; nur kann es der Mensch nicht erkennen, weil erja von dem Christus-Prinzip noch nicht den dazu notwendigen Impulserhalten hat vor dem Erscheinen dieses Prinzipes auf der Erde. Die-jenigen Prinzipien, die im physischen Leibe zum Ausdruck kommensollen, sie wohnen im höheren Geistigen, im Devachan. Die geistigenWesenheiten und Mächte, die auf den physischen Leib wirken, sindzu Hause in den höheren himmlischen Sphären, in dem höheren De-vachan; und diejenigen Mächte, die auf den Ätherleib wirken, sindin den niederen himmlischen Sphären zu Hause. So können wir sagen:In diesen physischen Leib hinein wirken fortwährend Wesenheitenaus den höchsten Regionen des Devachan, und auf den Ätherleibwirken fortwährend Wesenheiten aus den niederen Regionen desDevachan. Sie kann der Mensch erst erkennen, wenn er die Impulsedes Christus in sich aufnimmt: Lernt ihr den Menschensohn wirklicherkennen, dann werdet ihr erkennen, wie die geistigen Kräfte amMenschen auf- und niedersteigen aus den himmlischen Sphären. Daswird euch kund werden durch den Impuls, den der Christus der Erdegibt!

Auf das, was nun folgt, ist schon gestern hingewiesen worden. Esist die Hochzeit zu Kana in Galiläa, was man oft auch nennt« das ersteder Wunder», besser würde man sagen «das erste der Zeichen», dieder Christus Jesus tut (2, 1-11). Um nun zu verstehen das Gewaltige,das darin liegt, müssen wir vieles zusammenfassen von dem, was wir inden letzten Vorträgen gehört haben.

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Zunächst ist hier die Rede von einer Hochzeit. Warum aber eineHochzeit in Galiläa? Wir werden verstehen, warum es eine Hochzeitin Galiläa ist, wenn wir uns die ganze Mission des Christus noch ein-mal vor die Seele rufen. Seine Mission besteht darin, dem Menschendie volle Kraft des Ich, die innere Selbständigkeit in die Seele zubringen. Das einzelne Ich sollte sich in völliger Selbständigkeit undAbgeschlossenheit, in völligem Stehen-in-sich-selber fühlen, unddurch die Liebe, die als eine freie Gabe gegeben wird, soll Menschmit Mensch zusammengeführt werden. Eine Liebe also soll durchdas Christus-Prinzip in die Erdenmission hineinkommen, die immermehr und mehr über das Materielle erhaben ist und immer mehr undmehr in Geistiges aufsteigt. Ausgegangen ist die Liebe von ihrerniedersten Form, die an die Sinnlichkeit gebunden ist. Dasjenige liebtesich in den ursprünglichen Menschheitszeiten, was durch Blutsbandemiteinander verbunden war, und man hielt ungemein viel darauf,daß die Liebe diese materielle Basis der Blutsverwandtschaft habe.Der Christus war gekommen, um diese Liebe zu vergeistigen, umauf der einen Seite die Liebe loszureissen von den Banden, in die siedurch die Blutsverwandtschaft hineinverschlungen wird, und auf deranderen Seite die Kraft, den Impuls zu der geistigen Liebe zu geben.Innerhalb der Bekenner des Alten Testamentes sehen wir im vollstenSinne noch das ausgedrückt, was wir die Zugehörigkeit zur Gruppen-seele als die Grundlage des einzelnen Ichs im Gesamt-Ich nennenkönnen. Wir haben gesehen, der Ausspruch: «Ich und der VaterAbraham sind Eins » bedeutet etwas für den Bekenner des Alten Te-staments; es bedeutet, sich geborgen zu fühlen in dem Bewußtsein,daß jenes Blut, welches schon geronnen hat in den Adern des VatersAbraham, herunterrollte bis zu ihm, dem Bekenner. Da fühlte er sichin einem Ganzen geborgen; und nur diejenigen betrachtete man alszusammengehörig, welche aus einer solchen Art menschlicher Fort-pflanzung hervorgegangen waren, die durch diese Blutsverwandt-schaft aufrechterhalten blieb. Ganz im Anfange der Menschheits-entwickelung auf der Erde wurde überhaupt nur geheiratet in ganzengen Kreisen, in ganz blutsverwandten Familien. Die «Nah-Ehe»war das, woran man im Anfange der Menschheitsentwickelung fest-

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gehalten hat. Immer mehr erweiterten sich die engen Blutkreise. Manheiratete hinaus aus dem Stamm, aber noch nicht in ein anderes Volkhinüber. Das Volk des Alten Testamentes hielt ganz fest daran, daßdie Volksblutsverwandtschaft aufrechterhalten wurde. Der ist ein«Jude», der dem Blute nach ein Jude ist.

An dieses Prinzip wendet sich der Christus Jesus nicht; er wendetsich an diejenigen, die dieses Prinzip der bloßen Blutsverwandtschaftdurchbrechen, und er zeigt das Wichtige, was er zu zeigen hat, dahernicht zuerst innerhalb Judäas, sondern draußen in Galiläa. Galiläa wardas Gebiet, wo Völker aus allen möglichen Stämmen und Völkerngemischt waren. Der «Gaüläer» bedeutet der «Mischling». Zu denGaliläern geht der Christus Jesus, zu denen, die am meisten gemischtsind. Und aus dem, was solcher durch Mischung bewirkten Fort-pflanzung der Menschheit zugrunde liegt, soll das hervorgehen, waseben nicht mehr an die materielle Grundlage der Liebe gebunden ist.Daher wird das, was er zu sagen hat, auf einer Hochzeit gesagt. Warumgerade auf einer Hochzeit? Weil durch die Hochzeit hingedeutet wer-den kann auf die Fortpflanzung der Menschheit. Und das, was erzeigen will, zeigt er nicht da, wo man nur heiratet in engeren Grenzen,wo man nur heiratet innerhalb der Blutsbande, sondern da, wo manunabhängig von den Blutsbanden heiratet. Deshalb wird das bei einerHochzeit gesagt, und zwar bei einer Hochzeit in Galiläa. Und wennwir verstehen wollen, was hier gezeigt wird, dann müssen wir wieder-um einen Blick werfen auf die ganze Entwickelung der Menschheit.

Oft ist betont worden, daß es für den Okkultisten etwas Äußeres,bloß Materielles nicht gibt. Alles Materielle ist für ihn der Ausdruckeines Seelisch-Geistigen. Und wie Ihr Antlitz der Ausdruck für einSeelisch-Geistiges ist, so ist das Licht der Sonne der Ausdruck fürein seelisch-geistiges Licht. Alles, was scheinbar bloß materiell ge-schieht, ist zu gleicher Zeit der Ausdruck tieferer geistiger Vorgänge.Der Okkultismus leugnet nicht das Materielle, ihm ist nur selbst dasgröbste Materielle der Ausdruck eines Seelisch-Geistigen. So ent-sprechen den geistigen Entwickelungsvorgängen in der Welt immerparallel gehende materielle Tatsachen.

Wenn wir im Geiste zurückblicken auf die Entwickelung der

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Menschheit, als die Menschheit noch auf dem alten Kontinente zwi-schen Europa und Amerika war, auf der alten Atlantis, von da aushinüberlebte in die spätere nachatlantische Zeit, und wie verschiedeneGenerationen endlich bis zu uns herauf geführt habens dann könnenwir den ganzen Sinn dieser Entwickelung der Menschheit von dervierten Rasse zur fünften Rasse - wenn wir ihn vom Rassenstandpunktaus betrachten - so ins Auge fassen, daß sozusagen aus der noch ganzund gar in die Gruppenseele getauchten Menschheit der Atlantis all-mählich sich entwickeln, langsam heranreifen sollte das Einzel-Ichder menschlichen Persönlichkeit in der nachatlantischen Zeit. Was derChristus geistig brachte durch seinen mächtigen geistigen Impuls,das mußte langsam auch durch andere Impulse vorbereitet werden.Was Jahve getan hat, war, daß er in den astralischen Leib das Gruppen-seelen-Ich hineingelegt und ihn so vorbereitet hat zur langsamenReifung, um aufzunehmen das völlig selbständige «Ich-bin». Nichtanders aber konnte dieses Ich-bin von dem Menschen erfaßt werden,als wenn auch sein physischer Leib ein geeignetes Werkzeug wurde,um dieses Ich-bin zu beherbergen. Sie können sich leicht vorstellen,daß der astralische Leib noch so fähig sein könnte, ein Ich aufzu-nehmen - wenn der physische Leib so ist, daß er kein geeignetesWerkzeug ist, um das «Ich-bin» auch wirklich im Wachbewußtseinzu fassen, dann ist es eben nicht möglich, ein «Ich-bin» aufzunehmen.Es muß auch der physische Leib immer das geeignete Werkzeug seinfür das, was sich auf Erden hier ausprägt. Also mußte der physischeLeib, als der astralische Leib herangereift war, vorbereitet sein, umein Werkzeug für das «Ich-bin» zu werden. Und das geschah auchin der menschlichen Entwickelung.

Wir können die Prozesse verfolgen, durch welche der physischeLeib vorbereitet wurde, ein Träger des selbstbewußten, des «Ich-bin »-begabten Menschen zu werden. Sogar in der Bibel wird uns das an-gedeutet: daß derjenige, der Stammvater wird in einer gewissen Be-ziehung in der nachatlantischen Zeit, daß Noah der erste Weintrinkerist, als erster die Wirkung des Alkohols erlebt. Da kommen wir aufein Kapitel, das wirklich für manchen schockierend sein kann. Wasin der nachatlantischen Zeit als ein besonderer Kultus hervortritt, ist

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der Dionysosdienst. Sie wissen alle, wie der Dionysoskult in Zu-sammenhang gebracht wird mit dem Wein. Dieser merkwürdigeStoff wird der Menschheit allerdings erst in der nachatlantischenZeit zugeführt, und dieser Stoff wirkt auf die Menschheit. Sie wissen,jeder Stoff wirkt irgendwie auf die Menschen, und der Alkohol hateine ganz bestimmte Wirkung auf den menschlichen Organismus.Er hatte nämlich eine Mission im Laufe der Menschheitsentwicke-lung; er hatte - so sonderbar das erscheint - die Aufgabe, sozu-sagen den menschlichen Leib so zu präparieren, daß dieser abge-schnitten wurde von dem Zusammenhang mit dem Göttlichen, da-mit das persönliche «Ich-bin» herauskommen konnte. Der Alkoholhat nämlich die Wirkung, daß er den Menschen abschneidet vondem Zusammenhang mit der geistigen Welt, in der der Menschfrüher war. Diese Wirkung hat der Alkohol auch noch heute. DerAlkohol ist nicht umsonst in der Menschheit gewesen. Man wirdin einer zukünftigen Menschheit im vollsten Sinne des Wortes sagenkönnen, daß der Alkohol die Aufgabe hatte, den Menschen soweit in die Materie herunterzuziehen, damit der Mensch egoistischwurde, und daß der Alkohol ihn dahin brachte, das Ich für sich zubeanspruchen und es nicht mehr in den Dienst des ganzen Volkeszu stellen. Also den entgegengesetzten Dienst, den die Gruppen-seele der Menschheit geleistet hat, hat der Alkohol geleistet. Er hatden Menschen die Fähigkeit genommen, in höheren Welten sichmit einem Ganzen eins zu fühlen. Daher der Dionysoskult, der dasZusammenleben in einer Art äußeren Rausches pflegt. Ein Auf-gehen in einem Ganzen, ohne zu schauen dieses Ganze. Die Ent-wickelung in der nachatlantischen Zeit ist deshalb mit dem Dio-nysoskult verbunden worden, weil dieser Kult ein Symbolum warfür die Funktion und Mission des Alkohols. Jetzt, wo die Mensch-heit wiederum strebt, den Weg zurückzufinden, wo das Ich soweit entwickelt ist, daß der Mensch wieder den Anschluß findenkann an die göttlich-geistigen Mächte, jetzt ist die Zeit gekommen,wo, anfangs sogar aus dem Unbewußten heraus, eine gewisse Re-aktion gegen den Alkohol eintritt. Diese Reaktion tritt aus demGrunde ein, weil viele Menschen heute schon fühlen, daß so etwas,

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was einmal eine besondere Bedeutung hatte, nicht ewig berechtigtist.

Es braucht niemand das, was jetzt gesagt worden ist über die Auf-gabe des Alkohols in einer bestimmten Zeit, etwa als für den Alkoholgesprochen aufzufassen; sondern es geschah, um klarzumachen, daßdiese Mission des Alkohols erfüllt ist und daß für die verschiedenenZeiten sich eben Verschiedenes schickt. Aber es tauchte auch in der-selben Epoche, wo die Menschheit durch den Alkohol am tiefsten inden Egoismus heruntergezogen worden ist, die stärkste Kraft auf, diedem Menschen den größten Impuls geben kann, um wieder den Zu-sammenschluß mit dem geistigen Ganzen zu finden. Auf der einenSeite mußte der Mensch bis zur tiefsten Stufe hinuntersteigen, umselbständig zu werden, auf der anderen Seite mußte dagegen diestarke Kraft kommen, die wieder den Impuls geben konnte, um denWeg zum Ganzen zurückzufinden.

Dies mußte der Christus andeuten in dem ersten Zeichen für seineMission. Er mußte erstens andeuten, daß das Ich selbständig werdensollte, und sodann, daß er sich an diejenigen wendet, die sich schonlosgelöst haben von den Blutszusammenhängen. Er mußte sich wen-den an eine solche Hochzeit, wo die Körper unter dem Einfluß desAlkohols standen; denn bei dieser Hochzeit wird Wein getrunken.Und der Christus Jesus zeigt, wie er es hält mit seiner Mission inbezug auf die verschiedenen Erdperioden. Wie oft wird es ganz son-derbar ausgedrückt, was die Verwandlung des Wassers in Wein hierfür eine Bedeutung habe. Auch sogar von Kanzeln kann man eshören, daß damit nichts anderes gemeint sei, als daß das schale Wasserdes Alten Testamentes abgelöst werden solle von dem kräftigenWein des Neuen Testamentes. Es waren vermutlich Weinliebhaber,die diese Art der Auslegung immer wieder geliebt haben. Denn soeinfach sind diese Symbole nicht. Es muß festgehalten werden, daßder Christus sagt: Meine Mission ist eine solche, daß sie in einefernste Zukunft hinweist; und es soll den Menschen als selbständigenMenschen gebracht werden der Zusammenhang mit der Gottheit,die Liebe zur Gottheit als eine freie Gabe des selbständigen Ich. -Diese Liebe soll den Menschen in Freiheit an die Gottheit binden,

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wie ihn früher ein innerlicher Zwangsimpuls der Gruppenseele dieserGottheit eingegliedert hatte.

Fassen wir jetzt im Sinne einer Stimmung auf, was so die Mensch-heit erlebte. Fassen wir vor allem die Gedanken, die man damalshatte. Man sagte: Der Mensch war einst mit der Gruppenseele ver-bunden und fühlte seinen Zusammenhang mit der Gottheit. Dannhat er sich herunterentwickelt. Das betrachtete man wie ein Ver-stricktwerden mit dem Materiellen, wie eine Degeneration, wie eineArt Abfall von dem Göttlichen, und man fragte: Woher ist denn das,was der Mensch jetzt hat, ursprünglich gekommen? Wovon ist erabgefallen? Je weiter wir in der Erdenentwickelung zurückgehen,desto mehr finden wir, daß die festen Stoffe immer mehr unter demEinfluß von wärmeren Zuständen in Flüssiges übergehen. Wir wis-sen aber, daß damals, als die Erde noch ein flüssiger Planet war, derMensch auch schon vorhanden war. Aber damals war der Menschauch noch weniger von der Gottheit losgelöst als später. In dem-selben Maße, als sich die Erde verfestigte, vermaterialisierte sich auchder Mensch. Der Mensch war, als die Erde flüssig war, schon imWasser enthalten; aber er konnte nur herumgehen auf einer Erde,die auch schon Festes abgesetzt hatte. Daher fühlte man das Sich-verfestigen des Menschen so, daß man sagte: Aus der Erde, die nochWasser war, wird der Mensch herausgeboren, aber da ist er nochganz mit der Gottheit verbunden. Alles, was ihn in die Materie hin-eingebracht hat, hat ihn verunreinigt. Diejenigen, die sich dieses altenZusammenhanges mit dem Göttlichen erinnern sollten, wurden mitder Wassertaufe getauft. Diese sollte das Symbolum dafür sein: Wer-det euch bewußt eures alten Zusammenhanges mit der Gottheit, unddaß ihr verunreinigt seid, heruntergekommen seid zu dem heutigenZustand! - So taufte auch der Täufer, um auf diese Weise den Men-schen den Zusammenhang mit der Gottheit nahezubringen. Und sowar alle Taufe in den alten Zeiten gemeint. Es ist ein radikaler Aus-druck, aber ein Ausdruck, der uns das, was gemeint ist, zum Bewußt-sein bringt.

Der Christus Jesus sollte mit etwas anderem taufen. Er sollte dieMenschen nicht auf die Vergangenheit weisen, sondern durch die

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Entwickelung der Geistigkeit in ihrem Innern auf die Zukunft.Durch den «heiligen», durch den ungetrübten Geist sollte des Men-schen Geistiges zusammenhängend werden mit der Gottheit. DieWassertaufe war eine Erinnerungstaufe. Die Taufe aber mit dem «hei-ligen Geist» ist eine prophetische Taufe, die hinweist in die Zukunft.Jener Zusammenhang, der ganz verlorengegangen ist, an den er-innern sollte die Wassertaufe, ist mit verlorengegangen auch in dem,was ausgedrückt wurde im Symbolum des Weines, des Opferweines.Dionysos ist der zerstückelte Gott, der in die einzelnen Seelen ein-gezogen ist, so daß die einzelnen Teile nichts mehr voneinanderwußten. In viele Stücke zersplittert, in die Materie geworfen ist derMensch durch das, was durch den Alkohol - das Symbol für Diony-sos - der Menschheit gebracht worden ist. Aber in der Hochzeit vonKana ist ein großes Prinzip festgehalten. Das ist das pädagogischeEvolutionsprinzip. Es gibt zwar absolute Wahrheiten, aber sie kön-nen der Menschheit nicht ohne weiteres zu jeder Zeit überliefertwerden. Jede Zeit muß ihre besonderen Verrichtungen, ihre beson-deren Wahrheiten haben.

Warum dürfen wir heute über Reinkarnation und so weiter spre-chen? Warum dürfen wir in einer solchen Versammlung zusammen-sitzen und Geisteswissenschaft pflegen? Wir dürfen das, weil alle dieSeelen, die heute in Ihnen sind, in so und so vielen Körpern so und so oftauf der Erde inkarniert waren. Gar manche von den Seelen, die heute inIhnen sind, haben einstmals gelebt innerhalb der germanischen Länder,wo die Druidenpriester unter sie getreten sind und das, was geistigeWeisheit ist, in Form von Mythen und Sagen an die Seele heran-gebracht haben. Und weil die Seele das dazumal in jener Form auf-genommen hat, ist sie heute in der Lage, das in einer anderen Form,in anthroposophischer Form aufzunehmen. Damals im Bilde, heutein der Form der Anthroposophie. Aber nicht hätte damals die Wahr-heit in der heutigen Form vorgetragen werden können. Sie dürfennicht glauben, daß der alte Druidenpriester die Wahrheit hätte indieser Form verkünden können, wie es heute geschieht. Aber An-throposophie ist diejenige Form, die für die heutigen oder unmittel-bar kommenden Menschen taugt. In späteren Inkarnationen wird in

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ganz anderen Formen die Wahrheit verkündet und für sie gewirktwerden, und das, was man heute Anthroposophie nennt, wird alseine Erinnerung erzählt werden, wie man heute die Sagen undMärchen erzählt. So unsinnig darf der Anthroposoph nicht sein,zu sagen: Es hat in alten Zeiten nur Dummheiten und kindlicheAnschauungen gegeben, und «nur wir haben es heute so herrlichweit gebracht». - Das tun zum Beispiel diejenigen, die vorgeben,Monisten zu sein. Wir aber arbeiten in der Geisteswissenschaft, umdie nächste Epoche vorzubereiten. Denn würde unsere Epoche nichtda sein, so würde die nächste eben auch nicht kommen. Aber auchkeiner darf die Gegenwart mit der Zukunft entschuldigen. Auch mitder Reinkarnationslehre wird da viel Unfug getrieben. Es sind mirMenschen vorgekommen, die gesagt haben, sie brauchten in ihrerheutigen Inkarnation noch keine anständigen Menschen zu sein,dafür hätten sie noch später Zeit. Wenn man aber heute damit nichtbeginnt, dann wird die Folge davon gerade in der nächsten Inkar-nation eintreten.

So müssen wir uns klar sein, daß es etwas Absolutes in den Formender Wahrheit nicht gibt, sondern daß jedesmal das erkannt wird, waseiner gewissen Epoche der Menschheit entspricht. Es mußte sozu-sagen der höchste Impuls heruntersteigen bis zu den Lebensgewohn-heiten der damaligen Zeit. Denn er mußte das, was höchste Wahrheitist, in die Worte und die Verrichtungen kleiden, welche dem Ver-ständnis der betreffenden Epoche angemessen waren. So mußte derChristus durch eine Art Dionysos- oder Weinopfer sagen, wie dieMenschheit sich zur Gottheit erheben solle. Man darf nicht zelotischsagen: Warum verwandelt Christus das Wasser in Wein? Es muß dieZeit berücksichtigt werden. Durch eine Art Dionysosopfer mußteChristus vorbereiten das, was kommen sollte. Christus geht zu denGaliläern, die zusammengewürfelt sind aus allerlei Nationen, die nichtdurch Blutsbande verknüpft sind, und tut da das erste Zeichen seinerMission; und er schickt sich so weit in ihre Lebensgewohnheiten,daß er ihnen das Wasser in Wein verwandelt.

Halten wir fest, was der Christus da eigentlich sagen will: Ich willauch diejenigen Menschen zu einem geistigen Zusammenhange füh-

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ren, die herabgestiegen sind bis zu der Stufe von Materialität, welchedurch das Weintrinken symbolisiert wird. Und er will nicht nur fürsolche da sein, die durch das Symbol der Wassertaufe sich erhebenkönnen. Es ist sehr bedeutsam, daß wir geradezu darauf hingewiesenwerden, daß hier sechs Reinigungskrüge stehen (2, 6). Auf die Zahlkommen wir noch einmal zurück. «Reinigung» ist das, was durch dieTaufe bewirkt wird. Man sprach in den Zeiten, aus denen das Evan-gelium herstammt, wenn man die Tatsache des Taufens ausdrückte,vom «Taufen» als von einer Reinigung. Man sprach aber niemalseigentlich das Wort «Taufe» aus, sondern sagte «taufen»; und das,was bewirkt wurde durch die Taufe, nannte man die «Reinigung».Niemals werden Sie in dem Johannes-Evangelium das entsprechendeWort, also ßaTzruscv, anders als in Form des Zeitwortes finden. Wennes aber als Hauptwort gebraucht wird, wird immer die Reinigung, dieWirkung ausgedrückt, damit sich der Mensch an seinen Reinigungs-zustand erinnern soll, an seinen Zusammenhang mit der Gottheit.Also selbst in den symbolischen Krügen für das Reinigungsopfernimmt der Christus Jesus das Zeichen vor, durch das er - der Zeit-epoche entsprechend - auf seine Mission hinweist.

So wird uns gerade etwas von der tiefsten Mission des Christusin der Hochzeit zu Kana in Galiläa ausgedrückt. Und da mußte ersagen: Es wird meine Zeit kommen in der Zukunft; jetzt aber ist sienoch nicht da. Was ich hier zu wirken habe, hängt zum Teil noch mitdem zusammen, was überwunden werden muß durch meine Mission. -Er steht in der Gegenwart und weist zugleich in die Zukunft hineinund zeigt dadurch, wie er nicht im absoluten, sondern im kulturpäda-gogischen Sinne für die Zeit wirkt. Die Mutter ist es daher, die ihnauffordert und sagt: « Sie haben nicht Wein.» Er aber sagt: Das, wasich jetzt zu vollbringen habe, hängt noch mit den alten Zeiten zu-sammen, mit «mir und dir»; denn meine eigentliche Zeit,wo der Weinzurückverwandelt wird in Wasser, ist noch nicht gekommen. Wiehätte es auch überhaupt einen Sinn, zu sagen: «Weib, was habe ichmit dir zu schaffen?», wenn er dann doch das befolgt, was die Muttergesagt hat?! Es hat nur dann einen Sinn, wenn wir daraufhingewiesenwerden sollen, daß durch die Blutsverwandtschaft der gegenwärtige

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Zustand der Menschheit herbeigeführt worden ist, und daß ein Zei-chen gegeben wird im Sinne der alten Gebräuche, die noch desEinschlages des Alkohols bedürfen, um hinzudeuten auf die Zeit, daaus den Blutsbanden das selbständige Ich sich heraus gestaltet, daßman also vorläufig mit dem Alten, das im Wein symbolisiert wird,noch rechnen muß, daß aber eine spätere Zeit kommen wird, die«seine Zeit» sein wird.

Und Kapitel für Kapitel wird uns jetzt im Johannes-Evangeliumein Zweifaches gezeigt: erstens, daß das, was mitgeteilt wird, für die-jenigen mitgeteilt wird, die in einer gewissen Weise okkulte Wahr-heiten zu begreifen vermögen. Heute wird ja exoterisch Geistes-wissenschaft vorgetragen, damals aber konnten geisteswissenschaft-liche Wahrheiten nur diejenigen verstehen, die in einer gewissenWeise bis zu diesem oder jenem Grade wirklich eingeweiht waren.Wer konnte etwas von dem verstehen, was an tieferen Tatsachen derChristus Jesus zu sagen hatte? Derjenige nur konnte es verstehen,welcher vermochte, außerhalb des Leibes wahrzunehmen, wer her-austreten aus dem Leibe und in der geistigen Welt bewußt werdenkonnte. Wollte der Christus Jesus zu Menschen reden, die ihn ver-stehen konnten, so mußten es solche sein, die eingeweiht waren ineiner gewissen Weise, die schon in einer gewissen Weise geistig sehenkonnten. Wenn er zum Beispiel spricht von der Wiedergeburt derSeele in dem Kapitel über das Gespräch mit Nikodemus; da wird unsgezeigt, daß er diese Wahrheit einem solchen verkündet, der mitgeistigen Sinnen sieht. Sie brauchen nur zu lesen:

« Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern, mit Namen Nikode-mus, ein Oberster unter den Juden;der kam zu Jesu bei der Nacht...» (3, 1-2)

Gewöhnen wir uns nur daran, die Worte auf die Goldwaage zulegen! Es wird uns angedeutet, daß Nikodemus zu Jesu «bei derNacht» kommt, das heißt, daß er außerhalb des physischen Leibesdasjenige aufnimmt, was ihm da der Christus Jesus mitzuteilen hat.«Bei der Nacht», das heißt, indem er sich seiner geistigen Sinne be-dient, kommt er zu dem Christus Jesus. So wie Nathanael und der

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Christus Jesus sich als Eingeweihte verständigen durch die Rede vomFeigenbaum, so wird auch hier eine Verständigungsfähigkeit ange-deutet.

Und das andere, was uns gezeigt wird, ist, daß der Christus immereine Mission erfüllen will, die absieht von den bloßen Blutsbanden.Es wird uns das ganz deutlich gezeigt dadurch, daß er hingeht zu derSamariterin am Brunnen. Er gibt ihr die Unterweisung, die er denengeben will, deren Ich herausgehoben ist aus der Blutsgemeinschaft.

«Da kam er in eine Stadt Samarias, die heißet Sichar, nahe bei demFeld, das Jakob seinem Sohne Joseph gab.Es war aber daselbst Jakobs Brunnen. Da nun Jesus müde war vonder Reise, setzte er sich also auf den Brunnen; und es war um diesechste Stunde.Da kommt ein Weib aus Samaria, Wasser zu schöpfen. Jesus sprichtzu ihr: Gib mir zu trinken.Denn seine Jünger waren in die Stadt gegangen, daß sie Speisekauften.Spricht nun das samaritische Weib zu ihm: Wie bittest du von mirzu trinken, so du ein Jude bist und ich ein samaritisch Weib ? (Denndie Juden hatten keine Gemeinschaft mit den Samaritern).» (4, 5-9)

Darauf wird hingewiesen, daß es etwas Besonderes ist, daß derChristus zu einem Volke geht, dessen Iche aus der Gruppenseele her-ausgehoben, entwurzelt sind. Das ist das Wichtige, worauf es ankommt.

Aus der Erzählung von dem Königischen ergibt sich weiter: Nichtnur das, was sich durch die Blutsbande zusammenschließt in Volks-heiraten, sondern auch das, was nach Blutsbanden sich in Ständesondert, durchbricht der Christus. Zu denen kommt er, deren Ichsozusagen entwurzelt ist: Er heilt den Sohn des Königischen, der ihmeigentlich nach Auffassung der Juden fremd ist. Überall werden Siedarauf hingewiesen, daß Christus der Missionar ist von dem selb-ständigen Ich, das sich in jeder Menschenindividualität findet. Daherdarf er auch sagen: Ich spreche, wenn ich von mir spreche, in höheremSinne gar nicht von meinem in mir darin sitzenden Ich, sondern wennich von dem «Ich-bin » spreche, so spreche ich von einer Wesenheit,

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von etwas, was jeder in sich findet. Mein Ich ist eins mit dem Vater;aber das Ich überhaupt, das in jeder Persönlichkeit ist, ist eins mitdem Vater. - Das ist auch der tiefere Sinn der Unterweisung, die derChristus der Samariterin am Brunnen gibt.

Ich möchte Sie vor allem an ein Wort erinnern, das Ihnen ein tiefesVerständnis eröffnen kann, wenn Sie es richtig verstehen: die Stelledes 31.bis 34.Verses im 3.Kapitel, die natürlich so gelesen werdenmuß, daß man sich bewußt ist, Johannes der Täufer sagt diese Worte:

«Der von oben herkommt, ist über alle. Wer von der Erde ist, derist von der Erde und redet von der Erde. Der vom Himmel kommt,der ist über alle und zeuget, was er gesehen und gehöret hat; undsein Zeugnis nimmt niemand an.Wer es aber annimmt, der besiegelt es, daß Gott wahrhaftig sei.Denn welchen Gott gesandt hat, der redet Gottesworte; denn Gottgibt den Geist nicht nach dem Maß.»

Ich möchte einmal den Menschen kennenlernen, der diese Wortenach dieser Übersetzung wirklich versteht. Was ist das für ein Gegen-satz: «Der von Gott kommt, redet Gottes worte, denn Gott gibt denGeist nicht nach dem Maß!» Was ist der Sinn dieser Sätze?

Durch unzählige Reden will Christus sagen: Wenn ich von demIch spreche, so spreche ich von dem ewigen Ich im Menschen, daseins ist mit dem geistigen Urgrund der Welt. Wenn ich von diesemIch spreche, spreche ich von etwas, was im Allerinnersten der Men-schenseele wohnt. Hört mich jemand an - und jetzt redet er nur vomniederen Ich, das von dem Ewigen nichts fühlt -, der nimmt meinZeugnis nicht an, der versteht mich gar nicht. Denn ich kann nichtvon etwas sprechen, das von mir zu ihm hinüberfließt. Dann wäre ernicht selbständig. Jeder muß den Gott, den ich verkünde, in sichselbst als seinen ewigen Grund finden. - Nur ein paar Verse zurückfinden Sie die Stelle:

«Johannes aber taufte auch noch zu Enon, nahe bei Salim, denn eswar viel Wassers daselbst; und sie kamen dahin und ließen sichtaufen.

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Denn Johannes war noch nicht ins Gefängnis gelegt.Da erhub sich eine Frage unter den Jüngern des Johannes mit denJuden über die Reinigung» (3, 23-25),

das heißt über die Form der Taufe. Wenn man eine solche Frage indiesem Kreise erhob, sprach man immer vom Zusammenhange mitdem Göttlichen und von dem Untertauchen des Menschen in die Ma-terie, und wie man nach der alten Gottesidee mit dem Göttlichendurch die Gruppenseele verbunden war. Da kamen die anderen undsagten zu Johannes: Der Jesus tauft aber auch! Und da muß ihnenJohannes erst klarmachen, daß das, was durch den Jesus in die Weltkommt, etwas ganz Besonderes ist. Und er macht es ihnen klar da-durch, daß er sagt: Der Jesus lehrt nicht jenen Zusammenhang, derdurch die alte Taufe symbolisiert wird, sondern er lehrt, wie derMensch durch die freie Gabe des selbständig gewordenen Ichs selbstgeführt wird; und jeder muß in sich selbst das «Ich-bin», den Gott,entdecken, nur dadurch kommt er in die Lage, das Göttliche in sich zufinden. - Wenn diese Worte so gelesen werden, dann wird der Zuhörergewahr, daß Er selbst, daß das «Ich-bin» von Gott gesandt ist. Einsolcher, der von Gott gesandt ist, der entsendet wird zum Entzündendes «Gottes» in dieser Art, der verkündet auch den Gott in demwahren Sinne, nicht mehr nach der Blutsverwandtschaft.

Und jetzt übersetzen wir uns diese Stelle, wie sie wirklich heißt.Wir bekommen die Materialien dazu, wenn wir uns klar sind, wiedie Lehren der Alten waren. Die waren in vielen Büchern kunstvollaufgeschrieben. Wir brauchen uns nur an die Psalmen zu erinnern,wo in schön gefügten Reden im Alten Testamente das Göttliche ver-kündet worden ist. Da redet man nur von den alten Blutzusammen-hängen als dem Zusammenhange mit einem Gotte. Man konnte allesdas lernen, aber man lernte durch alles das nie mehr, als daß man mitdieser alten Gottheit zusammenhängt. Wollte man aber den Christusverstehen, so brauchte man all die alten Gesetze, alle die alten Künst-lichkeiten nicht. Was der Christus lehrte, konnte man in dem Maßeergreifen, als man in sich das geistige Ich erfaßte. Dann konnte manzwar noch kein volles Wissen von der Gottheit haben, aber man

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konnte das verstehen, was man von den Lippen des Christus Jesushörte. Dann hatte man die Vorbedingung zum Verständnis. Manbrauchte dann alle Psalmen nicht, alle kunstvoll gefügten Lehrennicht, sondern man brauchte nur das Einfachste, und das waren lal-lende Ausdrücke. Man braucht nur zu lallen in seinen Worten, undman wird von dem Gotte zeugen. Das konnte man selbst in den ein-fachsten lallenden Worten, es brauchten nur einzelne Worte zu sein,die gar kein « Maß » haben. Wer nur lallte, wer fühlte in seinem Ich,daß er von Gott gesandt ist, der konnte das verstehen, was der Chri-stus sprach. Wer nur den irdischen Zusammenhang mit Gott weiß,der redet im Versmaß der Psalmen, aber all sein Metrum führt ihnzu nichts anderem als zu den alten Göttern. Derjenige aber, der sichin den geistigen Welten gegründet fühlt, der ist über alle, und er kannZeugnis geben von dem, was er gesehen und gehört hat in den geisti-gen Welten. Aber sein Zeugnis nehmen diejenigen, die nur in der ge-wohnten Weise ein Zeugnis annehmen, nicht an. Wenn es solche gibt,die es annehmen, dann zeigen sie eben durch ihre Annahme, daß sieals gottgesandt sich fühlen. Sie glauben nicht nur, sie verstehen, wasihnen der andere sagt, und sie besiegeln durch ihr Verstehen selbstihre Worte. «Wer das Ich fühlt, offenbart selbst im Lallen GottesWorte.» Das bedeutet es. Denn der Geist, der hier gemeint ist, brauchtsich durch kein Metrum, durch kein Silbenmaß auszusprechen; son-dern in der einfachsten lallenden Weise kann er sich ausdrücken. Eswerden leicht solche Worte als Freibrief genommen für ein Rechtauf Unweisheit. Wer aber die Weisheit ablehnt, weil sich nach sei-ner Meinung die höchsten Geheimnisse in der schlichtesten Formaussprechen lassen müssen, der tut dies - allerdings oft unbewußt -nur aus einem gewissen Hang zur seelischen Bequemlichkeit. Wenngesagt wird: «Gott gibt den Geist nicht nach dem Maß», so ist ebennur gemeint, daß das Maß nicht zum Geist verhilft; wo aber derGeist wirklich ist, da entsteht auch das Maß. Nicht ein jeder, derdas Maß hat, hat den Geist; wer aber den Geist hat, kommt ge-wiß zum Maß. Man darf natürlich gewisse Dinge nicht umkehren:Es ist nicht schon ein Zeichen für das Geisthaben, wenn man keinMaß hat, obschon auch umgekehrt das Maßhaben nicht ein Zeichen

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für den Geist ist. Wissenschaft ist sicherlich kein Zeichen für Weis-heit, aber Unwissenheit sicherlich auch nicht.

So wird uns also gezeigt, daß der Christus an das selbständig ge-wordene Ich in jeder Menschenseele appelliert. «Maß» müssen Siehier ähnlich nehmen wie «Silbenmaß», wie kunstvoll aufgebauteSprache. - Und der vorhergehende Satz heißt wörtlich: «Der, derGott im <Ich-bin> erfaßt, bezeugt selbst im Lallen göttliche oderGottes Sprache und findet den Weg zum Gotte.»

Trt?

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SECHSTER VORTRAG

Hamburg, 25. Mai 1908

Es ist in diesen Vorträgen bereits darauf hingewiesen worden, daßwir in dem Gespräch des Christus Jesus mit Nikodemus die Unter-redung zu sehen haben des Christus mit einer Persönlichkeit, die im-stande ist, dasjenige wahrzunehmen, was man außerhalb des physi-schen Leibes durch bis zu einem gewissen Grade entwickelte höhereErkenntnisorgane wahrnimmt. Klar und deutlich für den, der solcheDinge versteht, ist dies angedeutet im Evangelium dadurch, daß unsgesagt wird: Nikodemus kam zu dem Christus Jesus «bei der Nacht»,das heißt in einem Bewußtseinszustand, innerhalb welchem sich derMensch nicht seiner äußeren Sinnesorgane bedient. Wir wollen unsnicht auf triviale Erklärungen einlassen, die über dieses «bei derNacht» von diesen oder jenen Leuten abgegeben worden sind. Nunwissen Sie, daß in diesem Gespräch die Rede davon ist, daß es eineWiedergeburt des Menschen gibt - «aus Wasser und Geist». Es sindsehr wichtige Worte, die der Christus zu Nikodemus von der Wieder-geburt spricht im 3. Kapitel, Vers 4 und 5:

«Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch wiedergeborenwerden, wenn er alt ist? Kann er auch wiederum in seiner MutterLeib gehen und geboren werden?Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daßjemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in dasReich Gottes kommen!»

Daß diese Worte mit der Goldwaage zu wiegen sind, haben wirbereits gesagt, und es muß durchaus festgehalten werden, daß auf dereinen Seite gilt: Die Worte einer solchen religiösen Urkunde müssenim buchstäblichen Sinne genommen werden; aber auf der anderenSeite gilt auch das: Wir müssen diesen buchstäblichen Sinn erst finden,erst kennen. Es wird oftmals der Satz zitiert: «Der Buchstabe tötet,der Geist aber macht lebendig» (2.Kor. 3, 6). Diejenigen Menschen,die diesen Satz zitieren, wenden ihn oftmals in einer sonderbaren

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Weise an. Sie betrachten diesen Satz als einen Freibrief, ihre eigenePhantasie, die sie den «Geist der Sache» nennen, aus diesen Wortenherauszulesen, und sagen dann zu jemandem, der sich Mühe gibt, erstden Buchstaben zu kennen, ehe man zum Geist kommt: Ach, was gehtuns der Buchstabe an; der Buchstabe tötet, der Geist aber macht leben-dig! - Wer so redet, steht ungefähr auf der selben Höhe wie einMensch, der da sagen würde: Der Geist ist das eigentlich Lebendige,der Körper ist ein Totes; also zerschlagen wir den Körper, dann wirdder Geist lebendig werden! - Wer so redet, weiß nicht, daß der Geistsich stufenweise bildet, daß der Mensch die Organe seines physischenLeibes benutzen muß, um das, was er in der physischen Welt erfährt,aufzunehmen und es dann in den Geist hinaufzutragen. Erst müssenwir also den Buchstaben kennen; dann können wir auch den Buchsta-ben töten, wie der Menschenleib vom Menschengeiste abfällt, wennder menschliche Geist alles aus dem Leibe herausgeholt hat.

Es liegt gerade in diesem Kapitel des Johannes-Evangeliums etwasaußerordentlich Tiefes. Wir können in den Sinn dieses Kapitels nureindringen, wenn wir die Evolution des Menschen noch weiter zu-rückverfolgen, als wir das schon zu denjenigen Zwecken getan haben,die bisher bei der Betrachtung des Johannes-Evangeliums die uns-rigen waren. Wir müssen heute den Menschen in noch viel frühereZeiträume der Erdenentwickelung zurückverfolgen.

Damit Sie aber von Anfang an nicht gar zu sehr schockiert werdenüber das, was in bezug auf diese frühen Menschheitszustände zu sagenist, möchte ich Sie noch einmal erst in die alte atlantische Zeit zu-rückführen.

Wir haben ja schon darauf aufmerksam gemacht, daß unsere Men-schenvorfahren vor jener großen Umwälzung auf unserer Erde, diein den Sintflutsagen erhalten ist, drüben im Westen lebten auf einemLändergebiete, das heute nicht mehr existiert, sondern den Bodendes Atlantischen Ozeans bildet. Dieser Kontinent, den wir diealte Atlantis nennen, beherbergte unsere Vorfahren. Wenn wir dieletzten Zeiten dieser atlantischen Menschheitsperiode durchforschen,finden wir allerdings in diesen sehr weit zurückliegenden Zeiten,daß der Mensch wenigstens nicht gar zu unähnlich war seiner

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heutigen Gestalt. Aber wenn wir in die ersten Zeiten dieser Atlantiszurückgehen, würden wir schon eine ganz und gar von der heutigenverschiedene Menschengestalt finden. Nun können wir noch weiterzurückgehen.

Vor der atlantischen Zeit hat der Mensch in einem Lande gelebt,das man nach heutigem Sprachgebrauche Lemurien nennt. Es ist eben-falls durch mächtige Umwälzungen unserer Erde zugrunde gegangen.Es lag ungefähr an derjenigen Stelle, die heute zwischen dem süd-lichen Asien, Afrika und Australien liegt. Wenn wir die Menschen-gestalten prüfen, die in Lemurien gelebt haben, soweit sie sich demhellseherischen Blicke darbieten, so sind sie sehr verschieden von denheutigen Menschen, und es ist nicht notwendig, daß ich Ihnen dieselemurischen Menschengestalten und diejenigen der ersten atlantischenZeit genau beschreibe. Selbst wenn Sie sich manches schon gefallenlassen an Schilderungen in der Geisteswissenschaft, so würde Ihnendoch die grundverschiedene Gestalt dieser alten lemurischen Men-schen von den heutigen wirklich recht unwahrscheinlich vorkommen.Aber in einer gewissen Beziehung müssen wir sie doch, wenn wir ver-stehen wollen, was mit dem Menschen im Laufe der Erdenentwicke-lung sich zugetragen hat, wenn auch recht äußerlich, beschreiben.

Nehmen Sie einmal an - was ja in Wirklichkeit nicht möglich ist,aber wir wollen es einmal zum Verständnis annehmen -, Sie könntenmit Ihren heutigen Sinnen, die Sie damals natürlich nicht gehabthaben, in die letzte lemurische und in die erste atlantische Zeit derMenschheit hineinsehen und die Erdoberfläche an ihren verschiedenenTeilen betrachten. Wenn Sie erwarten würden, daß für solche sinn-liche Wahrnehmung der Mensch auf der Erde zu finden wäre, dannwürden Sie sich täuschen. Der Mensch war damals noch nicht in einersolchen Form vorhanden, daß Sie ihn mit heutigen Sinnen hättensehen können. Es würde sich Ihnen zwar der Anblick darbieten, daßgewisse Gebiete unserer Erdoberfläche schon annähernd so wie Inselnherausragen aus der im übrigen noch flüssigen, entweder vom Meer-wasser umgebenen oder in Dampf gehüllten Erde. Aber diejenigenGebiete, die als Inselgebiete herausragen, waren doch noch nichtsolche feste Länder wie unsere heutigen Festländer, sondern weiche

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Erdmassen, zwischen denen Feuergewalten spielten, so daß solcheInselgebiete fortdauernd durch die damaligen vulkanischen Gewaltenheraufgetrieben werden und wiederum untergehen. Kurz, es ist nochein im Feuer tätiges Element in der Erde, lebendig flutet noch alles,wandelt sich. Sie würden finden, daß auf gewissen Gebieten, die schonda sind, die bis zu einem solchen Grade schon abgekühlt sind, Vor-läufer unserer heutigen Tierwelt leben. Von denen könnten Sie daoder dort schon etwas wahrnehmen: groteske Gestalten würden Siefinden, Vorläufer unserer Reptilien und Amphibien. Aber vom Men-schen würden Sie nichts sehen können, weil der Mensch in der da-maligen Zeit einen so dichten, festen physischen Leib gar nicht hatte.Sie müßten den Menschen ganz woanders suchen, sozusagen in denWassermassen und Dampfmassen, wie wenn Sie heute etwa ins Meerhinausschwimmen und von gewissen niederen Tieren kaum etwassehen als eine weiche, schleimige Masse. So würden Sie eingebettetfinden in den Wasserdampfgebieten den damaligen menschlichen phy-sischen Leib. Je weiter Sie zurückkommen, desto dünner, ähnlicherseiner dampfförmigen, wässerigen Umgebung ist der Mensch dieserEpoche. Erst während der atlantischen Zeit verdichtet er sich immermehr; und wenn man den ganzen Werdegang mit Augen verfolgenkönnte, so könnte man sehen, wie dieser Mensch sich aus dem Was-ser heraus verdichtet und immer mehr auf den Erdboden herunter-kommt. So daß es in der Tat richtig ist, daß der physische Menschverhältnismäßig spät den Boden unserer Erdoberfläche betrat. Erstieg aus dem Wasser-Luftraum herab, kristallisierte sich aus demWasser-Luftraum nach und nach heraus. So haben wir uns ein skiz-zenhaftes Bild dafür verschafft, daß es einen Menschen geben kann,der sich sozusagen noch gar nicht von seiner Umgebung unterschei-det, der aus demselben Elemente besteht, in dem er lebt. Wenn wirganz weit zurückgehen in der Erdenentwickelung, finden wir, daßdieser Menschenleib immer dünner und dünner wird.

Gehen wir nun zurück bis an den Anfang unseres heutigen Erden-planeten. Wir wissen, daß unser Erdenplanet hervorgegangen ist ausdem alten Monde. Wir haben den alten Mond den «Kosmos derWeisheit» genannt. Dieser alte Mond hatte auf einer gewissen Stufe

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seiner Entwickelung das nicht, was wir heute Erde, feste Erde nen-nen; denn wir müssen uns durchaus klar sein, daß auf der der Erdevorangehenden Verkörperung des Planeten auch die physischen Ver-hältnisse ganz andere waren. Wenn wir zurückgehen bis zum altenSaturnzustande, dürfen wir nicht die Vorstellung haben, daß es da soausgesehen hätte wie heute auf unserer Erde, daß da Felsen gewesenwären, auf die Sie hätten treten können, Bäume, auf die Sie hättenklettern können. Das alles war gar nicht vorhanden. Wenn Sie ausdem Weltenraum von weit her sich dem alten Saturn genähert hättenim mittleren Zustande seiner Entwickelung, dann hätten Sie nichtetwa irgendeinen besonderen Weltenkörper schweben sehen, sondernSie hätten etwas Sonderbares gespürt, nämlich, daß Sie in eine Re-gion hineingekommen wären, wo Sie so etwas gefühlt hätten, wiewenn Sie in einen Backofen hineingekrochen wären. Die einzige Wirk-lichkeit des Saturn war die, daß er einen anderen Wärmezustand hatteals seine Umgebung. Durch etwas anderes hätte man ihn nicht wahr-nehmen können.

Der Okkultismus unterscheidet nicht so, wie die gegenwärtigetriviale Physik, drei Zustände der Materie, sondern er unterscheidetnoch mehr solcher Zustände. Der Physiker sagt: Gegenwärtig gibtes feste, flüssige und gasförmige Körper. Aber der Saturn war nochnicht einmal gasförmig. Der gasförmige Zustand ist viel dichter alsder festeste Zustand des Saturn. Wir unterscheiden im Okkultismusnoch den Wärmezustand, der nicht ein bloßer Bewegungszustand derMaterie ist, sondern ein vierter substantieller Zustand. Nur aus Wärmebestand dieser Saturn; und wenn wir vom Saturn zur Sonne auf-rücken, erleben wir zugleich eine Verdichtung dieses alten feurigenPlaneten. Die Sonne ist die erste Verkörperung unseres Planeten, diegasig ist. Die Sonne erst ist ein gasförmiger oder luftförmiger Körper.Der Mond verdichtet sich dann weiter. Er ist ein flüssiger Körper, derspäter, als ihn die Sonne verläßt, erst einen dichteren Zustand an-nimmt; aber der eigentliche mittlere Zustand, wo er noch mit derSonne vereinigt ist, ist der flüssige Zustand. Das aber, was wir dieheutige mineralische Erde nennen, was Mineralien, Felsmassen sind,was Ackerkrume ist, das ist auf dem alten Mond noch nicht vorhanden

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gewesen. Das kommt erst auf unserer Erde, kristallisiert sich da her-aus.

Als die Erde mit ihrer Entwickelung anfängt, muß sie noch ein-mal all die früheren verschiedenen Zustände wiederholen. Stets wie-derholt jeder Körper und ein jedes Wesen im Kosmos auf einer neuenEntwickelungsstufe die früheren Zustände, so daß unsere Erde raschdurchläuft den Saturnzustand, den Sonnenzustand und den Monden-zustand. Als sie den Mondenzustand durchläuft, besteht sie aus Was-ser mit Wasserdampf gemischt, nicht heutiges Wasser, aber wasser-förmige, das heißt flüssige Substantialität; zum flüssigen Zustand

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bringt sie es als zum dichtesten. Diese wässerige Kugel, die im Wel-tenraume schwebte, ist nicht Wasser wie heute, aber Wasser mitWasserdampf gemischt, also Gasiges und Flüssiges durcheinander,und da ist der Mensch schon darinnen. Weil noch keine festen Sub-stanzen sich abgesetzt haben, kann der Mensch in dieser wässerigenKugel darinnen sein. Vom heutigen Menschen ist darin sein Ich undsein astralischer Leib. Aber dieses Ich und dieser astralische Leib

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fühlen sich noch nicht als abgesonderte Wesenheit, sondern wie ein-gebettet im Schoß göttlich-geistiger Wesenheiten; sie fühlen sichnoch nicht herausgelöst aus einer Wesenheit, deren Leib die wässerige,dampfförmige Erde ist. Nun bilden sich in diesen astralischen Lei-bern, die mit dem Ich ausgestattet sind, Einschlüsse, ganz dünne,feine Menschenanlagen. Das ist auf der ersten Figur gezeichnet.

Was da oben ist, soll darstellen die für die äußere Betrachtung un-sichtbaren astralischen Leiber und Iche, die so eingebettet sind in diewässerige Erdenkugel; und diese holen aus sich heraus die erste An-lage zum physischen Menschenleib, der mit dem Ätherleib in ganz,ganz dünnem Zustand da ist. Das gliedert sich da heraus. Wenn Siedas hellseherisch verfolgen würden, so würden Sie die erste Anlagedes physischen und Ätherleibes sehen wie umgeben von astralischemLeib und Ich, wie das an der ersten Figur gezeichnet ist. Dasjenige,was heute, wenn Sie schlafen, von Ihnen im Bette liegen bleibt, Ihr phy-sischer Leib und Ätherleib, das bildet sich in seinen ersten Anlagenin diesem Erdenzustand als erster Menschenkeim, der noch ganz um-hüllt ist von Astralleib und Ich. Die wässerige Dampfmasse ver-dichtet sich da. Der Astralleib mit dem Ich geben Veranlassung, daßsich da überall die erste Menschenanlage eingliedert in dieser ur-sprünglichen Wassererde. Den Gang der Tiere und Pflanzen könnenwir dabei nicht weiter verfolgen.

Das nächste, was sich nun bildet, ist, daß sich das Wasser verdichtetund daß in einer gewissen Beziehung sich zeigen Luft und Wasser, sodaß also nicht mehr Dampf und Wasser durcheinandergemischt sind,sondern Wasser und Luft sich voneinander scheiden. Die Folge davonist, daß der Menschenleib - physischer und ätherischer Leib - wieder-um etwas dichter wird, daß er, weil ja jetzt die Luft sich abgeschiedenhat vom Wasser, selbst luftartig ist und in sich aufnimmt das Feuerele-ment, so daß dasjenige, was früher wasserartig war, jetzt luftförmigwird. Die physisch-ätherische Menschenanlage besteht jetzt aus Luft,die von Feuer durchströmt wird; astralischer Leib und Ich umgebensie, und das alles bewegt sich in dem, was noch vom Wasser übriggeblieben ist, abwechselnd in Wasser und Luft hin und her (sieheZeichnung II).

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Also wir haben den Menschen so vor uns, daß das, was heute beimschlafenden Menschen im Bette liegt, in einer solchen Anlage vor-handen ist, die selbst bis zur Luftdichte geraten und von Feuer durch-glüht ist. Zu jedem solchen Feuermenschen gehört ein Astralleib undIch. Die sind aber durchaus eingebettet in den Schoß der Gottheit,das heißt, sie fühlen sich auch noch nicht als ein besonderes Ich.

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Sie müssen über solche Sachen tief nachdenken. Denn es unter-scheiden sich diese Zustände so sehr von dem heutigen Erdenzustand,daß sie den Menschen schockieren und wie unbegreiflich erscheinen.- Nun werden Sie fragen: Was ist denn das Feuer, das da hineinge-zeichnet ist in die Luft? Dieses Feuer, das der Mensch damals schonhatte, lebt heute noch in Ihnen. Das ist das Feuer, das Ihr Blut durch-

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pulst, ist die Blutwärtne. Und auch die Reste der alten Luft leben nochin Ihrem Organismus. Wenn Sie einatmen und ausatmen, dann habenSie in Ihrem sonst festen Leibe Luft, die aus- und einströmt. DenkenSie sich, Sie atmen ganz tief ein; dann wird diese Luft aufgenommenin Ihr Blut; dadurch ist das warme Luft. Jetzt denken Sie sich dieseLuft durch den ganzen Körper dringend, überall dringt sie hinein.Denken Sie sich jetzt aber alles Feste und Flüssige fort, und denkenSie sich nur die Gestalt, die da bleibt: ein Mensch, der eben eingeatmethat, das heißt den Sauerstoff bis in die äußersten Körperteile getriebenhat. Es bleibt Ihnen dann übrig eine Gestalt, die dem Menschen sehrähnlich ist, die aber aus Luft besteht. Die Luft, die den Menschendurchströmt, nimmt ganz die Formen des Leibes an. Eine Art Schat-tenleib bleibt Ihnen übrig, bestehend aus Luft, mit Wärme durch-zogen. Damals hatten Sie nicht diese Gestalt, aber ein solcher Menschwaren Sie: physischer und Ätherleib waren eingehüllt von dem mitdem Ich ausgestatteten Astralleibe. Dieser Zustand dauerte bis hineinin die atlantische Zeit. Derjenige, der sich der Illusion hingibt, daßin den ersten Zeiten der Atlantis die Menschen schon so wie heuteumhergewandelt seien, der irrt sich. Die Menschen sind erst herunter-gestiegen aus den Luftregionen in die dichtere materielle Region.Dazumal waren höchstens Tiere auf der Erde, die nicht wartenkonnten mit der Verkörperung im Physischen und die daher stehengeblieben sind, da die Erde noch nicht reif war, das Material für dieMenschen herzugeben. Daher sind die Tiere auf niederen Formenstehen geblieben, weil sie nicht warten konnten mit dem Herunter-steigen.

Das nächste war, daß der Mensch seinem physischen Leibe nachsich gliederte in Luft und Wärme und flüssige Bestandteile, das heißtaber im okkulten Sinne: er wurde ein Wassermensch. Sie könntennun sagen: Der Mensch war doch früher auch schon ein Wasser-mensch. Da würden Sie aber nicht ganz richtig sprechen. Früher wardie Erde eine Wasserkugel, und darin waren - nur geistig - Astralleibund Ich; die schwammen im Wasser als geistige Wesenheiten; siewaren nicht abgesonderte Wesenheiten. Jetzt sind wir erst auf demPunkt, wo Sie den physischen Menschenleib finden würden in dem

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Wasser enthalten, sozusagen quallenförmig darin. Sie könnten in die-sem Utmeer schwimmen und würden darin finden aus dem Wasserheraus verdichtete Gestalten, durch die Sie hindurchschauen könnten.So waren sie zuerst, diese Menschen: sie haben erst einen Wasserleib,und indem sie den Wasserleib haben, ist noch immer ihr astralischerLeib und ihr Ich sehr eingebettet in die göttlich-geistigen Wesen-heiten.

Dazumal, als der Mensch diesen Wasserleib hatte, war die Ver-teilung seiner Bewußtseinszustände eine ganz andere, als sie spätergeworden ist. So wie heute war die Verteilung von bewußtloser Nachtund bewußtem Tage nicht, sondern dazumal, als der Mensch nocheingebettet war in die göttlich-geistigen Wesenheiten, hatte er in derNacht ein dämmerhaftes, astralisches Bewußtsein. Wenn er bei Taguntertauchte in seinen flüssigen physischen Leib, da wurde es für ihnNacht; und wenn er wieder heraus war aus seinem physischen Leibe,da ging ihm das blendende astralische Licht auf. Wenn er unter-tauchte des Morgens in den physischen Leib, da wurde es dämmerigund trübe, da fing eine Art von Bewußtlosigkeit an. Immer mehr aberbildeten sich in seinem physischen Leibe die heutigen physischenOrgane aus. Damit lernte der Mensch nach und nach sehen. DasTagesbewußtsein wurde immer heller, und dadurch schnürte er sichab von dem göttlichen Schöße. Und erst gegen die Mitte der atlan-tischen Zeit ist der Mensch so weit verdichtet, daß er Fleisch undBein wird, nachdem sich zuerst die Knorpel verdichtet haben, dieKnochen nach und nach herauskommen. Und damit wird außen dieErde auch immer fester, und der Mensch steigt herunter auf den Erd-boden. Damit verschwindet immer mehr das Bewußtsein, das er ge-habt hatte in den göttlich-geistigen Welten; er wird immer mehr einBeobachter der äußeren Welt und bereitet sich vor, ein eigentlicherErdenbürger zu werden. Im letzten Drittel der atlantischen Zeit wirddann die Menschengestalt immer ähnlicher der heutigen.

So steigt der Mensch buchstäblich, wörtlich aus Sphären herunter,die wir bezeichnen müssen als Wasser- und Wasserdampfsphären,Wasser- und Luftsphären usw. Solange er in den Wasser-Luft-Sphärenwar, war sein Bewußtsein eine astralisch-helle Wahrnehmungsfähig-

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keit, weil er, so oft er heraus war aus dem physischen Leibe, oben beiden Göttern war, aber durch das Dichtwerden des physischen Körpersschnürte er sich sozusagen von der göttlichen Substanz ab. Wie etwas,was eine Schale bekommt, so schnürte sich der Mensch langsam her-aus aus dem früheren Zusammenhange, als er aufhörte, wasser- undluftförmig zu sein. Solange er wässerig und luftförmig war, war eroben bei den Göttern. Er hat zwar nicht sein Ich entwickeln können,aber hatte sich noch nicht losgelöst von dem göttlichen Bewußtsein.Indem er herunterstieg in das Physische, verdunkelte sich sein astra-lisches Bewußtsein immer mehr.

Wenn wir den Sinn dieser Entwickelung charakterisieren wollen,können wir sagen: Ehemals, als der Mensch noch bei den Göttern war,war der physische Leib und Ätherleib wässerig und luftförmig, undnach und nach hat er sich erst mit der Verdichtung der Erde verdichtetzu seiner heutigen Materialität. Das ist der Abstieg. Ebenso wie derMensch heruntergestiegen ist, wird er auch wieder hinaufsteigen.Nachdem er das hier erfahren hat, was er in der festen Materie erfahrenkann, wird er wieder hinaufsteigen in die Regionen, wo sein phy-sischer Leib wässerig und luftförmig ist. Dieses Bewußtsein muß derMensch in sich tragen, daß, wenn er sich wiederum verbinden willin seinem Bewußtsein mit den Göttern, sein wahres Sein in den Re-gionen sein wird, aus denen er entstammt. Herausverdichtet ist derMensch aus Wasser und Luft; hineinverdünnen wird er sich wieder-um. Geistig nur kann er sich diesen Zustand heute vorausnehmen,indem er sich innerlich das Bewußtsein von dem verschafft, was erspäter körperlich sein wird. Aber nur dadurch empfangen die Men-schen die Kraft dazu, daß sie das bewußt heute aufnehmen. Wennder Mensch sich dieses Bewußtsein erwirbt, wird er sein Erdenziel,seine Erdenmission erreichen. Was heißt denn das? Das heißt, derMensch ist einstmals nicht geboren worden aus Fleisch und Erde,sondern aus Luft und Wasser. Und er muß später im Geiste wirklichwiedergeboren werden aus Luft und Wasser. - Der Sprachgebrauchder Zeiten, als die Evangelien entstanden sind, den wir auch studie-ren müssen, ist so, daß man «Wasser» auch Wasser genannt hat;aber «Pneuma », was heute als «Geist» gebraucht wird, war « Luft»;

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das Wort hatte dazumal durchaus eine solche Bedeutung. Man mußdas Wort «Pneuma» übersetzen mit «Luft» oder mit «Dampf»; sonstruft man ein Mißverständnis hervor. Man muß daher diesen Satz desNikodemusgespräches so sagen:

«Amen, Amen, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand geboren werdeaus Wasser und Luft, sonst kann er nicht in die Reiche der Himmelkommen.» (3, 5)

So weist der Christus auf den Zukunftszustand hin, in den derMensch sich hineinentwickeln soll, und so haben wir in dieser Unter-redung ein tiefes Geheimnis unserer Entwickelung vor uns. Wirmüssen nur die Worte richtig verstehen und sie anwenden durch das,was uns die Anthroposophie geben kann. In der trivialen Spracheist noch etwas davon übriggeblieben, indem man leichtflüchtigeSubstanzen «Geister» nennt. Aber ursprünglich heißt das Wort«Pneuma»: Luft. - Sie sehen also, daß es sich recht sehr darum han-delt, daß man die Worte in ganz genauem, exaktem Sinne auffaßtund auf die Goldwaage legt. Dann aber geht gerade aus dem buch-stäblichen Sinne die wunderbarste geistige Bedeutung hervor.

Nun versuchen wir noch eine kleine Weile unseren geistigen Blickauf eine andere Tatsache der Evolution zu richten.

Blicken wir noch einmal weit zurück bis dahin, wo der mensch-liche Astralleib mit dem Ich eingesenkt waren in den Schoß des all-gemein Göttlich-Astralischen. Die Herausentwickelung geschah jaso - wenn Sie diesen Gang der Entwickelung verfolgen -, daß wirsie uns schematisch beschreiben können. Da war ursprünglich Ihrganzes Astralisches eingebettet in das allgemeine Astralische, unddurch die Vorgänge, die wir eben geschildert haben, bildeten sich dasPhysische und Ätherische wie Schalen herum. Dadurch wurden dieeinzelnen Menschen als abgesonderte Partien aus dem allgemeinAstralischen herausgeschnürt, wie wenn Sie eine flüssige Substanzvor sich haben, und Sie schöpfen Teile heraus. Parallel ging mit die-ser Bildung des physischen Leibes die Abschnürung des einzelnenmenschlichen Bewußtseins vom göttlichen Bewußtsein. So daß wir,je weiter wir vorwärtsschreiten, sagen können: Wir sehen, wie - in

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die Schale des physischen Leibes eingeschlossen - die einzelnen indi-viduellen Menschen sich herausbilden als Partien, die sich absondernaus der allgemeinen Astralität. Freilich muß der Mensch dieses Selb-ständigwerden dadurch bezahlen, daß sein astralisches Bewußtseinverdunkelt wird; dafür schaut er aus der Schale seines physischenLeibes hinaus und sieht den physischen Plan. Aber das alte hellsehe-rische Bewußtsein geht ihm nach und nach verloren.

So sehen wir das entstehen, was des Menschen Inneres ist, selb-ständiges individuelles Menscheninneres, was Ich-Träger ist. WennSie heute den schlafenden Menschen betrachten, haben Sie in demphysischen Leibe und Ätherleibe, die im Bette zurückbleiben, das-jenige, was aus diesen Schalen, die sich da gebildet hatten im Laufeder Zeit, durch die Verdichtung entstanden ist. Was sich früher ab«gesondert hat aus dem allgemein Astralischen, kehrt jede Nachtzurück, um sich zu stärken in der allgemeinen göttlichen Substanz.Es geht natürlich nicht so weit darin auf, als es dazumal darin auf-gegangen war, sonst wäre es ja hellseherisch. Es bewahrt sich seineSelbständigkeit. Diese selbständige Individualität ist also etwas, wasim Laufe der Erdentwickelung entstanden ist.

Wem verdankt denn dieses selbständige, individuelle Menschen-innere, welches außerhalb des physischen Leibes und ÄtherleibesStärkung sucht, sein Dasein? Es verdankt sein Dasein dem physi-schen Leibe und dem Ätherleibe des Menschen, der sich nach undnach im Laufe der Erdenentwickelung gebildet hat. Er hat das heraus-geboren, was bei Tag untertaucht in die physischen Sinne und hin-aussieht in die physische Welt, was aber bei Nacht in einen bewußt-seinslosen Zustand untersinkt, weil es sich herausgelöst hat aus demZustande, in dem es früher war. Der okkulte Sprachgebrauch nenntdas, was heute im Bette liegt, den eigentlichen Erdenmenschen. Daswar der « Mensch ». Und das, in dem das Ich drinnen steckt Tag undNacht, was aber herausgeboren ist aus dem physischen und Ätherleib,nannte man das « Menschenkind » oder den « Menschensohn ». Men-schensohn ist Ich und astralischer Leib, wie sie herausgeboren sind imLaufe der Erdenevolution aus dem physischen und Ätherleibe. Dafürist der technische Ausdruck « Menschensohn ».

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Wozu ist der Christus Jesus auf die Erde gekommen? Was solltedurch seinen Impuls der Erde mitgeteilt werden?

Dieser « Menschensohn», der sich losgeschnürt hat aus dem Schößeder Gottheit, der sich losgelöst hat aus dem Zusammenhange, woriner früher war, aber dafür sich das physische Bewußtsein erobert hat,er soll durch die Kraft des Christus, der auf der Erde erschienen ist,wiederum zum Bewußtsein der Geistigkeit kommen. Er soll nichtnur sehen mit physischen Sinnen in der physischen Umgebung,sondern es soll ihm aufleuchten durch die Kraft seiner eigeneninneren Wesenheit, die ihm jetzt unbewußt ist, das Bewußtsein desgöttlichen Daseins. Durch die Kraft des Christus, der auf die Erdegekommen ist, soll der Menschensohn wiederum zum Göttlichenerhöht werden. Vorher konnten nur einzelne Auserlesene auf die Artder alten Mysterien-Einweihung hineinschauen in die göttlich-geistigeWelt. Für solche hatte man in alten Zeiten einen technischen Aus-druck. Die hineinschauen durften in die göttlich-geistige Weltund Zeugen werden konnten für sie, nannte man die «Schlangen».« Schlangen» sind diejenigen Menschen in alten Zeiten, die auf dieseWeise in den Mysterien eingeweiht wurden. Diese «Schlangen»waren die Vorläufer der Tat des Christus Jesus. Moses zeigte seineSendung dadurch, daß er vor seinem Volke das Symbolum auf-richtete der Erhöhung derjenigen, die hineinschauen konnten in diegeistigen Welten: die Schlange erhöhte er (4. Mose 21, 8-9). Was dieseEinzelnen waren, das sollte durch die Kraft des Christus auf der Erdeein jeglicher Menschensohn werden. Das drückt der Christus aus imweiteren Verfolg des Nikodemusgespräches, indem er sagt:

«Wie einstmals durch Moses die Schlange ist erhöht worden, sosoll der Menschensohn erhöht werden!» (3, 14)

Durchaus bedient sich der Christus Jesus der technischen Ausdrückeder damaligen Zeit. Man muß nur den Buchstabensinn seiner Worteerst erforschen; dann versteht man den wirklichen Sinn, der sich auchdeckt mit der anthroposophischen Lehre. Daher konnte in alten Zei-ten auch nur eine Vorherverkündigung jener «Ich-bin »-Lehre Platzgreifen. Nur auf die äußere Autorität der Eingeweihten hin konnten

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die Völker etwas hören von der Kraft des Ich-bin, die in jedem Men-schensohn angefacht werden sollte- Aber auch darüber werden wirgenügend unterrichtet.

Wir haben gesehen, was das «Ich-bin» in dem Johannes-Evange-lium bedeutet. Ist auch dieses «Ich-bin» dem Menschen nach undnach beigebracht worden? Ist es nach und nach angekündigt worden?Wird wirklich im Alten Testamente prophetisch hingewiesen undvorbereitet auf das, was durch das Herabkommen des verkörpertenIch-bin dem Menschen als Impuls gebracht wird?

Erinnern wir uns, daß alles, was im Laufe der Zeit geschieht, lang-sam und allmählich vorbereitet wird. Was durch den Christus Jesusgebracht wird, mußte - wie im Mutterschoße das Kind - langsamheranreifen in den alten Mysterien, in den Bekennern des AltenTestamentes. Und das, was da vorbereitet wurde in den Bekennerndes Alten Testamentes, im alten jüdischen Volk, das reifte wiederumheran bei den alten Ägyptern. Und die Ägypter hatten tiefe Ein-geweihte, die da wußten, was da kommen sollte auf Erden. Wir wer-den hören, wie bei den Ägyptern, die die dritte Unterrasse der nach-atlantischen Rasse waren, sich nach und nach der volle Impuls desIch-bin ausbildete, wie sie gleichsam den Mutterschoß, das äußereGefüge zu dem Ich-bin hergaben, aber nicht so weit kamen, daß ausihnen heraus das Christus-Prinzip geboren werden konnte; wie dannendlich aus ihnen sich loslöste das alte hebräische Volk. Es wird unsdargestellt, wie Moses innerhalb der Ägypter ausersehen wird, derVorherverkünder des Gottes zu sein, der das verkörperte «Ich-bin»ist. Er sollte es denen, die etwas davon verstehen konnten, vorherverkünden. Er sollte verkünden, daß der Spruch «Ich und der VaterAbraham sind eins» ersetzt wird durch den anderen: «Ich und derVater sind eins!», das heißt: Ich und der geistige Urgrund der Welt

sind unmittelbar eins. In ihrer Mehrzahl sah die Bekennerschaft desAlten Testamentes auf die Gruppenseele des Volkes hin, und dereinzelne fühlte sich wie in einem Göttlichen geborgen in dieser Grup-penseele. Aber vorherverkündet wurde durch Moses, als einen imalten Sinne Eingeweihten, daß der Christus kommen werde, mit an-deren Worten, daß es ein Gottesprinzip gibt, das höher ist als das

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durch die Generationen hinunterrinnende Blutsprinzip. Zwar wirktder Gott im Blute seit Abraham, aber das ist nur die äußere Offen-barung des geistigen Vaters, dieser Blutsvater.

«Moses sprach zu Gott: Wer bin ich, daß ich zu Pharao gehe, undführe die Kinder Israels aus Ägypten?Er sprach: Ich will mit dir sein. Und das soll das Zeichen sein, daßich dich gesandt habe: Wenn du mein Volk aus Ägypten geführthast, werdet ihr Gott opfern auf diesem Berge.Moses sprach zu Gott: Siehe, wenn ich zu den Kindern Israelskomme und spreche zu ihnen: Der Gott eurer Väter hat mich zueuch gesandt! und sie mir sagen: Wie heißt sein Name? Was soll ichihnen sagen?» (2.Mose 3, n-13)

Er soll prophetisch einen höheren Gott verkünden, der in dem Gottdes Vaters Abraham drinnen steckt, aber gleichsam wie ein höheresPrinzip. Wie heißt sein Name?

«Gott sprach zu Moses: Ich bin der <Ich-bin>!» (2. Mose 3, 14)

Da ist vorausverkündet die tiefe Wahrheit des Wortes, die später ver-körpert in dem Christus Jesus erscheint.

«Und sprach: Also sollst du zu den Kindern Israels sagen: Der <Ich-bin) hat es mich gelehrt.» (2. Mose 3, 14)

So steht es wörtlich da. Das heißt mit anderen Worten: Der «Name»,derjenige Name, der zugrunde liegt dem Blutsnamen, ist das «Ich-bin»; und der erscheint verkörpert in dem Christus des Johannes-Evangeliums.

«Und Gott sprach weiter zu Moses: Also sollst du zu den KindernIsraels sagen: Der Herr, eurer Väter Gott, der Gott Abrahams, derGott Isaaks, der Gott Jakobs hat mich zu euch gesandt.» (2. Mose 3,

Also, was ihr bisher nur äußerlich gesehen habt, was durch das Blutrann, das ist in seinem tieferen Sinne der «Ich-bin».

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So kündigt sich an, was durch den Christus Jesus eintritt in dieWelt. Wir hören den Namen des Logos, wir hören ihn rufen damalszu Moses: «Ich bin der <Ich-bin>!» Da ruft der Logos seinen Na-men, da ruft er dasjenige, was man durch den Verstand, durch denIntellekt zunächst von ihm begreifen kann. Was da gerufen wird,das erscheint im Fleische als der verkörperte Logos in dem ChristusJesus.

Nun schauen wir uns das äußere Zeichen an, durch das auf dieIsraeliten herunterrinnt der Logos, soweit sie ihn rein begrifflich, inGedanken erfassen können. Dieses äußere Zeichen ist das « Manna»der Wüste. Manna ist in Wahrheit - diejenigen, welche die Geheim-wissenschaft kennen, wissen das - dasselbe Wort wie Manas, dasGeistselbst. So strömt in diejenige Menschheit, die nach und nach sicherrungen hat das Ich-Bewußtsein, der erste Anflug von dem Geist-selbst ein. Das aber, was im Manas selbst lebt und kommt, darf sichnoch anders benennen. Es ist nicht bloß das, was man wissen kann,sondern eine Kraft, die man selbst aufnehmen kann. Als der Logosbloß seinen Namen ruft, da muß man ihn verstehen, ihn fassen mit derVernunft. Als der Logos Fleisch wird und innerhalb der Menschheiterscheint, da ist er ein Kräftimpuls, der unter die Menschen gebrachtwird, der nicht nur als Lehre und Begriff lebt, sondern der in der Weltals ein Kraftimpuls enthalten ist, an dem der Mensch teilnehmen kann.Da nennt er sich aber nicht mehr «Manna», sondern das «Brot desLebens» (6, 48), das ist der technische Ausdruck für Buddhi oderLebensgeist.

Das durch den Geist verwandelte Wasser, das der Samariterin imSymbolum gereicht wird, und das Brot des Lebens sind die erste Ver-kündigung des Einfließens der Buddhi oder des Lebensgeistes in denMenschen. An diese Auseinandersetzung werden wir morgen an-knüpfen.

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SIEBENTER VORTRAG

Hamburg, 26. Mai 1908

Es spitzt sich in dem Johannes-Evangelium alles zuletzt darauf zu,daß innerhalb der Menschheitsgeschichte dasjenige geschieht, waswir nennen das «Mysterium von Golgatha». Dieses Mysterium vonGolgatha in esoterischer Weise verstehen, heißt zu gleicher Zeit dentiefen Sinn des Johannes-Evangeliums enträtseln. Wenn man insAuge faßt, was eigentlich im Mittelpunkte des ganzen Mysteriumsvon Golgatha steht, und dies im Sinne des Okkultismus erläuternwill, so muß man denken an den Augenblick der Kreuzigung, als dasBlut des Erlösers aus den Wunden rann. Und wir erinnern uns dabeian etwas, was wir schon öfter im Verlaufe dieser Vorträge gesagthaben: daß für den Kenner der geistigen Welten alles, was materiell,stofflich, physisch ist, nur der äußere Ausdruck, die äußere Offen-barung ist für ein Geistiges.

Und nun lassen wir vor unsere Seele treten das physische Ereig-nis, den Christus Jesus am Kreuz, das Blut aus den Wunden fließend.Dieses Bild, dessen Inhalt physisches Ereignis ist, was drückt es gei-stig für denjenigen aus, der das Johannes-Evangelium richtig ver-stehen kann?

Dieser physische Vorgang, das Ereignis von Golgatha, ist der Aus-druck, die Offenbarung für einen geistigen Vorgang, der im Mittel-punkte alles Erdengeschehens steht. Wer im Sinne der heutigenmaterialistischen Weltanschauung dieses Wort auffaßt, wird sichnicht viel dabei vorstellen können. Denn er wird sich nicht denkenkönnen, daß dazumal bei diesem einzigartigen Ereignis auf Golgathaetwas geschehen ist, was sich unterscheidet von einem etwa physischähnlichen oder gleichen Ereignisse. Es ist ein gewaltiger, großerUnterschied zwischen allen Erdenvorgängen, die vor diesem Ereig-nisse auf Golgatha liegen, und denen, die nachher kommen.

Wenn wir uns das einmal in den Einzelheiten in die Seele malenwollen, so müssen wir sagen: Nicht nur der einzelne Mensch oderirgendein anderes Einzelwesen hat physischen Leib, Ätherleib und

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Astralleib, so wie wir das in den vorhergehenden Vorträgen in man-cherlei Beziehung geschildert haben, sondern auch ein Weltenkörperist nicht nur diese physische Materie, als die er dem Astronomen undanderen physischen Forschern erscheint; auch ein Weltenkörper hateinen Ätherleib und einen astralischen Leib. Unsere Erde hat ihrenÄtherleib, ihren astralischen Leib. Würde unsere Erde nicht ihren zusich gehörigen Ätherleib haben, so würde sie nicht Pflanzen beher-bergen können; würde unsere Erde nicht ihren zu sich gehörigenastralischen Leib haben, würde sie nicht Tiere beherbergen können.Wenn man sich den Ätherieib der Erde vorstellen will, so muß mansich dessen Mittelpunkt ebenso im Mittelpunkt der Erde denken,wie der physische Erdenleib seinen Mittelpunkt dort hat. Dieser ganzephysische Erdenleib ist eingebettet in den Ätherleib der Erde unddiese beiden zusammen wieder in einen astralischen Leib.

Wenn nun jemand hellseherisch den astralischen Leib der Erdebeobachtet hätte im Laufe der Erdentwickelung, im Laufe langerZeiträume, so würde er gesehen haben, wie tatsächlich dieser astra-lische Leib und dieser Ätherleib der Erde nicht immer dieselben ge-blieben sind, daß sie sich veränderten.

Um uns die Sache recht bildlich vorzustellen, wollen wir uns ein-mal im Geiste versetzen außerhalb der Erde auf irgendeinen anderenStern, wollen denken, ein hellseherischer Mensch sehe von einemanderen Stern auf unsere Erde hinab. Ein solcher Mensch würdenicht nur die Erde schweben sehen als einen physischen Planeten,sondern er würde eine Aura sehen, er würde die Erde von einer Licht-aura umgeben sehen, weil er wahrnehmen würde Ätherleib undastralischen Leib der Erde. Würde nun ein solcher hellseherischerMensch auf diesem fernen Stern lange weilen, so lange, daß er dievorchristlichen Zeiten für die Erde vorübergehen und das Ereignisvon Golgatha hätte eintreten sehen, so würde sich ihm folgenderAnblick darbieten: Die Aura der Erde, Astralleib und Ätherleib bieteneinen gewissen Anblick von Farben und Formen vor dem Ereignisvon Golgatha; dann aber würde er sehen, wie die ganze Aura ihreFarben ändert von einem bestimmten Zeitpunkte an. Welcher Zeit-punkt ist das ? Das ist derselbe Zeitpunkt, wo auf Golgatha das Blut

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aus den Wunden des Christus Jesus floß. Alle geistigen Verhältnisseder Erde als solche veränderten sich in diesem Augenblicke.

Wir haben gesagt: Dasjenige, was wir den Logos nennen, das istdie Summe der sechs Elohim, die mit der Sonne vereinigt sind, diealso die Erde mit ihren Gaben geistig beschenken, während äußerlichdas Sonnenlicht auf die Erde niederfällt. So erschien uns das Lichtder Sonne als der äußere physische Leib für Geist und Seele derElohim oder des Logos. In dem Moment, da das Ereignis von Gol-gatha geschah, hat die Kraft, der Impuls, der früher nur von derSonne der Erde zuströmen konnte im Lichte, angefangen, sich mitder Erde selbst zu vereinigen; und dadurch, daß der Logos angefangenhat, mit der Erde sich zu vereinigen, dadurch ist die Aura der Erdeeine andere geworden.

Wir wollen das Ereignis von Golgatha noch von einem anderenGesichtspunkte aus betrachten. Wir haben ja jetzt schon von denverschiedensten Standpunkten aus zurückgeblickt auf das Menschen-werden und auf das Erdenwerden. Wir wissen, daß unsere Erde durch-gemacht hat, bevor sie Erde wurde, die drei Verkörperungen desSaturn, der Sonne und des Mondes, so daß also die vorhergehendeVerkörperung unserer Erde der alte Mond war. Wenn solch einPlanet das Ziel seiner Entwickelung erreicht hat, geht es ihm ähnlichwie einem Menschen, der in einer Inkarnation sein Lebensziel er-reicht hat: der Planet geht über in ein anderes, unsichtbares Dasein,das man das Pralaya-Dasein nennt, und dann verkörpert er sich vonneuem. So lag auch ein Zwischenzustand zwischen der ehemaligenVerkörperung unserer Erde, wie es der alte Mond war, und derheutigen Verkörperung. Sozusagen aus einem geistigen, in sich be-lebten Dasein, das aber äußerlich unsichtbar war, glänzte die Erdein dem ersten Zustand auf, aus dem dann diejenigen Zustände wur-den, die wir gestern beschrieben haben. Damals, als unsere Erde alsoaufglänzte in jener alten Zeit, war sie noch verbunden mit allem,was zu unserem Sonnensystem gehört. Da war sie noch so groß, daßsie hinüberreichte bis zu den fernsten Planeten unseres Sonnen-systems. Alles war noch eins, und die einzelnen Planeten zweigtensich erst später ab. Die Erde war verbunden bis zu einem gewissen

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Zeitpunkte mit unserer heutigen Sonne und mit unserem heutigenMonde. Es gab also eine Zeit, da waren Sonne, Mond und Erde einKörper, so, wie wenn Sie den heutigen Mond und die heutige Sonnenehmen und mit der Erde zusammenrühren und einen großen Welt-körper daraus machen würden. So war einst unsere Erde; so war siedamals, als Ihr Astralleib und Ich noch in einem wasserdunstartigenGebilde schwebten, und noch früher. Sonne, Mond und Erde warenvereinigt. Damals waren also die Kräfte, die heute in der Sonne sind,die geistigen und die physischen Kräfte, mit der Erde verbunden.

Dann kam eine Zeit, da trennte sich die Sonne heraus von derErde. Aber nicht nur die physische Sonne mit ihrem physischen Lichte,sondern diese physische Sonne, die das physische Menschenaugesieht, trennte sich heraus mit ihren geistig-seelischen Wesenheiten,an deren Spitze die Elohim, die eigentlichen Lichtgeister, die Be-wohner der Sonne, stehen; und da blieb zurück dasjenige, was manerhalten würde, wenn man den heutigen Mond mit der Erde zu-sammenmischte. Denn eine Zeitlang war die Erde von der Sonnegetrennt, aber mit dem Mond noch vereinigt. Erst in der lemurischenZeit trennte sich der Mond von der Erde, und da entstanden dieBeziehungen zwischen den drei Körpern Sonne, Mond und Erde, wiesie heute sind. Diese Beziehungen mußten so entstehen. Es mußtendie Elohim zunächst von außen wirken. Einer von ihnen mußte sichdann zum Herrn des Mondes machen und von da zurückstrahlen diegewaltige Kraft der anderen Elohim.

Wir leben heute auf unserer Erde wie auf einer Insel im Welten-raume, die sich herausgegliedert hat aus Sonne und Mond. Aber eswird eine Zeit kommen, da wird unsere Erde sich wieder vereinigenmit der Sonne und einen Körper mit ihr bilden. Da werden die Men-schen dann so weit vergeistigt sein, daß sie die stärkeren Kräfte derSonne wieder ertragen, in sich aufnehmen und mit sich vereinigenkönnen. Dann werden die Menschen und die Elohim auf einem Schau-platz wohnen.

Welche Kraft wird dies bewirken?Wäre das Ereignis von Golgatha nicht vor sich gegangen, so würde

niemals eintreten können, daß Erde und Sonne sich vereinigen. Denn

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durch das Ereignis von Golgatha, durch das die Kraft der Elohimin der Sonne oder die Kraft des Logos sich mit der Erde verband,wurde der Impuls gegeben, der Logoskraft zu Logoskraft wiederumhintreibt und die beiden - Sonne und Erde - zuletzt wieder zusam-menbringen wird. Seit dem Ereignis von Golgatha hat die Erde,geistig betrachtet, die Kraft wieder in sich, die sie mit der Sonnewieder zusammenführen wird. Deshalb sagen wir: In das geistigeDasein der Erde wurde aufgenommen, was ihr vorher von außenzuströmte, die Kraft des Logos, durch das Ereignis von Golgatha.Was lebte vorher in der Erde? Die Kraft, die von der Sonne auf dieErde niederstrahlt. Was lebt seither in der Erde? Der Logos selber,der durch Golgatha der Geist der Erde wurde.

So wahr in Ihrem Leibe wohnt Ihr Seelisch-Geistiges, so wahrwohnt in dem Erdenleib, in jenem Erdenleib, der aus Steinen, Pflan-zen und Tieren besteht und auf dem Sie herumwandeln, das Seelisch-Geistige der Erde; und dieses Seelisch-Geistige, dieser Erdengeist,das ist der Christus. Der Christus ist der Geist der Erde. Wenn also derChristus spricht zu denen, die seine intimsten Schüler sind, und beieiner Gelegenheit spricht, die zu den intimsten Gelegenheiten zwi-schen ihm und seinen Schülern zählt, was darf er ihnen da sagen?Welches Geheimnis darf er ihnen da anvertrauen?

Er darf sagen: Es ist, wie wenn ihr von eurem Leibe in eure Seeleblickt. Drinnen ist eure Seele. Und so ist es auch, wenn ihr blickt aufdas ganze Erdenrund. Was jetzt zeitweilig im Fleische hier vor euchsteht, das ist derselbe Geist, der nicht nur in diesem Fleische zeit-weilig ist, sondern der der Geist der ganzen Erde ist, und es immermehr werden wird. - Er durfte hinweisen auf die Erde als auf seinenwahren Leib: Wenn ihr die Halme seht und das Brot esset, das euchnährt, was eßt ihr in Wahrheit in den Ähren des Feldes? MeinenLeib eßt ihr! Und wenn ihr die Säfte der Pflanzen trinkt, was ist das?Das Blut der Erde ist es, mein Blut! - Das sagte der Christus Jesuszu seinen intimsten Jüngern wörtlich, und wir müssen die Worte nurwirklich buchstäblich nehmen. Da, wo er sie zusammenruft und woer ihnen die christliche Einweihung, wie wir sie nennen werden, sym-bolisch darlegt, da spricht er zu ihnen ein merkwürdiges Wort, als er

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ankündigt, daß einer ihn verraten wird. Er sagt im 18. Vers des 13. Ka-pitels des Johannes-Evangeliums:

«Der mein Brot isset, der tritt mich mit Füßen.»

Dieses Wort muß wörtlich genommen werden. Der Mensch ißt dasBrot der Erde und wandelt mit seinen Füßen hier auf dieser Erdeherum. Ist die Erde der Leib des Erdengeistes, das heißt des Christus,dann ist der Mensch derjenige, der mit den Füßen herumwandelt aufdem Erdenleib, der also den Leib dessen, dessen Brot er ißt, mit Füßentritt.

Eine unendliche Vertiefung der Abendmahlsidee wird uns im Sinnedes Johannes-Evangeliums zuteil, wenn wir also wissen vom Christus,dem Erdengeist, und von dem Brot, das dem Leib der Erde ent-nommen ist. Christus weist darauf hin und sagt: «Dies ist meinLeib.» (Markus 14, 22) Wie das Muskelfleisch des Menschen zumLeib der menschlichen Seele gehört, so gehört das Brot zum Leibe derErde, das heißt zum Leibe des Christus. Und die Säfte, die durch diePflanzen ziehen, durch die Weinrebe pulsieren, sie sind dem Blutegleich, das durch den Menschenleib pulst. Und der Christus darf hin-weisen darauf und sagen: «Dies ist mein Blut!» (Markus 14, 24). Nurwer nicht verstehen oder keine Anlage haben will zum Verstehen, derkann glauben, daß durch diese wahrhaftige Erklärung das Abendmahletwas verlöre von der Heiligkeit, die mit dem Abendmahl verbundenist. Wer aber verstehen will, wird sich sagen: Nichts verliert es hier-durch an Heiligkeit, aber der ganze Erdenplanet wird durch dieseAuslegung geheiligt! Und welche gewaltigen Gefühle sind es, diedurch unsere Seele ziehen können, wenn wir so in dem Abendmahl dasgrößte Mysterium der Erde erblicken können: die Verbindung desEreignisses von Golgatha mit der ganzen Evolution der Erde; wennwir so lernen im Abendmahl zu fühlen, daß das Herausfließen desBlutes aus den Wunden des Erlösers nicht bloß eine menschliche,sondern eine kosmische Bedeutung hat, daß es nämlich der Erde dieKraft gibt, ihre Evolution weiterzubringen.

So soll derjenige, der diesen tieferen Sinn des Johannes-Evange-liums versteht, fühlen, wie er nicht nur durch seinen physischen Leib

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mit dem physischen Leibe der Erde verbunden ist, sondern wie erals geistig-seelisches Wesen verbunden ist mit dem geistig-seelischenWesen der Erde, das der Christus selber ist; wie der Christus als derGeist der Erde diese als seinen Leib durchflutet.

Wenn wir dies empfinden, dann können wir sagen: Was leuchtetedenn dem Schreiber des Johannes-Evangeliums auf in dem Moment,wo er die tiefen Geheimnisse schauen konnte, die mit dem ChristusJesus verbunden waren? Da sah er, welche Kraft, welche Impulsealle in dem Christus Jesus waren, und wie diese Impulse alle inner-halb der Menschheit wirken müssen, wenn die Menschheit sie nuraufnimmt.

Wir müssen uns, um das klar zu durchschauen, noch einmal vordie Seele stellen, wie eigentlich die Entwickelung der Menschheitgeschieht. Dieser Mensch besteht ja aus physischem Leibe, Äther-leibe, astralischem Leibe und Ich. Wie geschieht seine Entwickelung?Dadurch, daß der Mensch von seinem Ich aus nach und nach die dreianderen Glieder durcharbeitet, durchläutert, durchkraftet. Das Ichist berufen dazu, den astralischen Leib nach und nach zu läutern, zureinigen, auf eine höhere Stufe zu heben. Wenn der ganze astralischeLeib durchläutert, durchkraftet sein wird mit der eigenen Kraft desIch, wird er sein das Geistselbst oder Manas. Wenn der Äther- oderLebensleib ganz und gar durchgearbeitet, durchkraftet sein wird mitder Kraft des Ich, wird er sein die Buddhi oder der Lebensgeist.Wenn der physische Leib ganz und gar überwunden, besiegt seinwird vom Ich, wird er sein Atma oder der Geistesmensch. Unddann wird der Mensch das Ziel erreicht haben, das ihm zunächstbevorsteht. Aber das wird erst in einer fernen Zukunft erreicht. Außer-dem ist das, was so geschildert wird, daß der Mensch, der aus denvier Gliedern: physischer Leib, Ätherleib, astralischer Leib und Ich,besteht und von seinem Ich aus die drei andern Glieder umarbeitetzum Geistselbst, Lebensgeist und Geistesmenschen, so gemeint, daßdabei das Ich vollbewußt arbeitet. Das ist aber bei dem heutigenMenschen zum großen Teil noch gar nicht der Fall. Vollbewußt fängtder heutige Mensch im Grunde genommen erst ein wenig an, seinManas hineinzuarbeiten in seinen astralischen Leib. Dabei ist der

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Mensch jetzt. Aber unbewußt, durch die Hilfe höherer Wesenheiten,hat der Mensch schon während der Erdentwickelung seine drei nie-deren Glieder bearbeitet. Er hat in alten Zeiten unbewußt bearbeitetseinen astralischen Leib, und es ist der astralische Leib dadurchdurchsetzt mit der Empfindungsseele. Unbewußt hat das Ich hin-eingearbeitet in den Ätherleib, und dieser unbewußt umgeformteÄtherleib ist dasjenige, was Sie in einem systematischen Zusammen-hange in der «Theosophie» geschildert finden als Verstandesseele;und was unbewußt das Ich am physischen Leib gearbeitet hat, ist das,was Sie dort genannt finden Bewußtseinsseele. Die Bewußtseinsseelealso ist entstanden damals gegen das Ende der atlantischen Zeit, alsder Ätherleib, der früher in bezug auf seinen Kopfteil noch außerhalbdes physischen Leibes war, sich allmählich ganz hineinzog in denphysischen Leib. Dadurch lernte der Mensch «Ich» auszusprechen.So lebte sich der Mensch allmählich hinüber mit seinen Gliedern indie nachatlantische Zeit.

Unsere Zeit ist dazu berufen, daß das Manas oder Geistselbstnach und nach eingearbeitet wird in das, was früher unbewußt schonaufgenommen ist. Der Mensch muß sozusagen in sich mit all denKräften, die er dadurch erlangt hat, daß er heute physischen Leib,Ätherleib, astralischen Leib, Empfindungsseele, Verstandesseele, Be-wußtseinsseele hat, mit all den Kräften, die ihm diese Glieder gebenkönnen, Manas ausbilden, aber dazu, wenn auch ganz spärlich,noch die Anlage zum Lebensgeist oder Buddhi. Damit ist unserernachatlantischen Zeit die bedeutungsvolle Aufgabe gestellt, daranzu arbeiten, daß der Mensch bewußt diese höheren Glieder seinesWesens in sich entwickelt: Manas oder Geistselbst, Buddhi oderden Lebensgeist und Atma oder den Geistesmenschen, wenn dasletzte Ziel auch erst in ferner Zukunft erreicht wird. Der Menschmuß heute schon nach und nach in sich die Kräfte entwickeln,seinen höheren Menschen aus dem niederen Menschen zu ent-wickeln.

Nun wollen wir uns einmal fragen: Was ist denn dadurch imMenschen vorhanden, daß der Mensch heute noch nicht diese höherenGlieder entwickelt hat, und was wird zum Unterschiede davon in

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Zukunft vorhanden sein? Wie wird sich der Zukunftsmensch vondem heutigen Menschen unterscheiden?

Wenn einstmals der volle höhere Mensch entwickelt sein wird,dann wird der ganze astralische Leib so durchläutert sein, daß er zugleicher Zeit Manas oder Geistselbst geworden sein wird; der Äther-leib wird so gereinigt sein, daß er zugleich Lebensgeist oder Buddhisein wird; und der physische Leib wird so weit umgewandelt sein,daß er, ebenso wahr wie er physischer Leib ist, zugleich Geistes-mensch oder Atma sein wird. Die größte Kraft wird dazu gehören,den niedersten Leib zu überwinden, und daher wird die Überwindungund Umwandlung des physischen Leibes den höchsten Sieg für denMenschen bedeuten. Wenn die Menschen das ganz vollbringen, wirddieser physische Mensch der Geistesmensch oder Atma sein. Heutelebt alles das im Menschen nur der Anlage nach; einstmals wird esaber im Menschen voll leben. Und das Hinblicken auf die Christus-Persönlichkeit, auf die Christus-Impulse, das Sichdurchkraften, Sich-stärkenlassen durch den Christus-Impuls, das zieht im Menschen dasheran, wodurch er diese Umwandlung vollziehen kann.

Wenn der Mensch heute diese Umwandlung noch nicht vollzogenhat, was folgt für ihn daraus? Die Geisteswissenschaft spricht dassehr einfach aus: Dadurch, daß der astralische Leib noch nicht durch-läutert, noch nicht zum Geistselbst umgestaltet ist, dadurch ist mög-lich Selbstsucht oder Egoismus; dadurch, daß der Ätherleib nochnicht vom Ich durchkraftet ist, ist möglich Lüge und Irrtum; unddadurch, daß der physische Leib noch nicht vom Ich durchkraftetist, dadurch ist möglich Krankheit und Tod. Nicht mehr wird esgeben Selbstsucht im einst vollentwickelten Geistselbst; nicht wirdes geben Krankheit und Tod, sondern lediglich Heil und Gesundheitim vollentwickelten Geistesmenschen, das heißt im vollentwickeltenphysischen Leibe. Was heißt denn also: Der Mensch nimmt dieChristus-Impulse auf? Er lernt verstehen, welche Kraft in dem Christusist, er nimmt die Kräfte in sich auf, die ihn dazu bringen, Herr zu seinselbst seinem physischen Leibe gegenüber.

Stellen Sie sich einmal vor, ein Mensch könnte vollständig denChristus-Impuls in sich aufnehmen, auf einen Menschen könnte voll-

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ständig der Christus-Impuls übergehen, der Christus selbst stündeeinem Menschen unmittelbar gegenüber, und der Christus-Impulsginge unmittelbar auf diesen Menschen über. Was heißt das? - Wennder Mensch blind wäre, würde er durch den unmittelbaren Einflußdieses Christus-Impulses sehend werden können, weil das letzte Zielder Entwickelung die Besiegung der Kräfte von Krankheit und Todist. Wenn der Autor des Johannes-Evangeliums spricht von derHeilung des Blindgeborenen, dann redet er aus solchen Mysterien-tiefen heraus, dann zeigt er an einem Beispiel, daß die Christus-Krafteine gesundende Kraft ist, wenn sie in ihrer vollen Stärke auftritt.Wo ist sie denn, diese Kraft? Im Christus-Leibe, in der Erde. DieseErde muß nur in Wahrheit durchsetzt sein mit dem Wesen des Chri-stus-Geistes oder des Logos.

Sehen wir einmal, ob der Schreiber des Johannes-Evangeliums dieSache so verstanden erzählt. Wie erzählt er es? Der Blinde ist da,Christus nimmt Erde, speichelt sie ein und legt sie ihm auf - den mitseinem Geist durchsetzten Leib legt er dem Blinden auf. Mit dieserSchilderung (9, 6) zeigt der Schreiber des Johannes-Evangeliums einMysterium, das er genau kennt. Und nun müssen wir - mit Außeracht-lassung aller Vorurteile - einmal genauer von diesem einen der großenZeichen des Christus Jesus sprechen, damit wir die Natur einer sol-chen Sache genau kennenlernen und uns nicht darum kümmern, daßunsere ganz gescheiten Zeitgenossen das, was jetzt gesagt wird, fürWahnsinn, für Torheit halten. Sondern wir dürfen das einmal sagen,daß es große, gewaltige Geheimnisse in der Welt gibt, die heute demMenschen noch nicht anstehen. Die heutigen Menschen, wären sieauch noch so entwickelt, sie sind nicht stark genug, die großen Myste-rien auch zu tun. Wissen kann man von ihnen, einsehen kann man sie,wenn man sie geistig erleben kann; aber sie umsetzen ins Physische,dazu ist unser so tief in die Materie heruntergestiegener Mensch nichtfähig.

Alles Leben ist eigentlich aus Entgegengesetztem, aus Extremenbestehend. Leben und Tod sind solche Extreme. Für die Empfindungund für die Gesinnung des Okkultisten ergibt sich etwas sehr Eigen-artiges, wenn er zum Beispiel nebeneinander sieht einen Leichnam

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und einen lebendigen Menschen. Wenn man einen lebendigen, wa-chenden Menschen vor sich hat, da weiß man: da wohnt Seele undGeist darinnen. Aber bei diesem wachenden Menschen sind sie demBewußtsein nach sozusagen ausgeschaltet aus der ganzen Verbindungmit der geistigen Welt, sie schauen nicht hinein in die geistige Welt.Haben wir den Leichnam vor uns, dann empfinden wir, daß der Geistund die Seele, die zu diesem Leichnam gehört haben, jetzt auf demWege dazu sind, überzugehen in die geistigen Welten, daß ihnen dortaufleuchtet das Bewußtsein, das Licht der geistigen Welt. Und sowird der Leichnam zum Symbolum dessen, was in den geistigenWelten geschieht. Aber auch im Physischen sind die Abbilder dessen,was im Geistigen geschieht, da, nur in einer merkwürdigen Weise.Wenn ein Mensch wieder zur Geburt heruntersteigt, dann muß ihmein leiblicher Teil auferbaut werden. Da muß sozusagen Materie zu-sammenschießen, daß ein Leib ihm gebaut werde. Und für einen Hell-seher stellt sich dieses Zusammenschießen von Materie so dar, daß inder geistigen Welt gleichsam das dortige Bewußtsein stirbt. Dortstirbt es - hier lebt es auf. Im Zusammenschießen der Materie zueinem physischen Menschenleibe sieht man in einer gewissen Weiseersterben ein geistiges Bewußtsein. Und wahrhaftig, im Verwesenoder Verbrennen des physischen Leibes, wenn sich die Teile auseinan-derbewegen, sich auflösen, da zeigt sich zu gleicher Zeit im Geisti-gen das Entgegengesetzte, da zeigt sich das Entstehen eines gei-stigen Bewußtseins. Physische Auflösung ist geistige Geburt. Des-halb sind auch alle Zersetzungsprozesse, alle Auflösungsprozesse fürden Okkultisten noch etwas ganz anderes. Ein Kirchhof, wo sichphysische Leiber auflösen, der ist geistig gesehen - abgesehen vonden Menschen, es ist jetzt gemeint, was geistig vorgeht im Kirchhofselber - ein merkwürdiger Prozeß: ein fortwährendes Aufleuchtenund Aufglänzen von geistigen Geburten. - Nehmen wir nun einmalan, ein Mensch gäbe sich physisch - niemandem wird das natürlichangeraten, denn die heutigen Körper vertragen das auf keinen Fall -,nehmen wir an, ein Mensch gäbe sich in eine gewisse Schulung, er würdeseinen physischen Leib dadurch trainieren, daß er während einer ge-wissen vorgeschriebenen Zeit Verwesungsluft atmet mit dem Bewußt-

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sein, den geistigen Vorgang in sich aufzunehmen, der eben geschildertworden ist. Wenn er dies tut in der entsprechenden Weise, dann kanner allerdings in nächsten Inkarnationen - es ist nicht in einer Inkarna-tion zu machen - mit jener Kraft verkörpert werden, die belebendeund gesundende Impulse gibt. Totenluft einatmen, das gehört zurSchulung, um seinen Speichel nach und nach zu der Kraft zu bringen,daß er mit der gewöhnlichen Erde zusammen das gibt, was der Chri-stus dem Blinden in die Augen gerieben hat.

Dieses Mysterium, durch das man den Tod konsumiert, den Todißt oder atmet, wodurch man die Kraft erhält, gesund zu machen, dasist das Geheimnis, auf das der Schreiber des Johannes-Evangeliumsdeutet, indem er uns solche Zeichen zeigt wie die Heilung des Blind-geborenen. Und man möchte viel lieber, statt daß die Leute fort undfort deklamieren, ob man eine solche Sache so oder so nehmen müsse,daß sie lernen könnten, daß es so etwas wörtlich gibt, wie es geschil-dert ist in der Heilung des Blinden, und daß sie die Achtung ge-winnen könnten vor einer solchen Persönlichkeit, wie es der Schrei-ber des Johannes-Evangeliums ist, so daß sie sich sagen: Es war einesolche Persönlichkeit, die in diese Mysterien wohl eingeweiht war,und wir müssen versuchen, uns das Verständnis dieser Mysterien an-zueignen.

Es war allerdings notwendig, daß ich vorher darauf aufmerksammachte, daß man sich dabei in einem anthroposophischen Zweigebefindet, in dem über manche Vorurteile hinweggesehen wird, wennein solches wirkliches Mysterium erzählt wird, wie das Einspeichelnder Erde zum Heilmittel, und dabei gesagt wird, daß auch ein solchesEreignis eine buchstäbliche Bedeutung hat.

Nun aber versuchen wir zu begreifen, wie eng wir zusammen-wachsen dadurch, daß wir so etwas wissen, mit der Idee, die uns heutebeschäftigt: daß der Christus der Geist der Erde ist und die Erde seinLeib. Wir sahen den Christus die Erde durch geistigen an einem Bei-spiel und sahen ihn ein Stück von sich selbst hingeben, um das aus-zuführen, um was es sich da handelt.

Und jetzt nehmen wir einmal etwas anderes. Nehmen wir zu alle-dem, was wir heute gesagt haben, das hinzu, daß der Christus sagt:

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Das tiefste Geheimnis meines Wesens ist das «Ich-bin»; und die wahreund ewige Gewalt des «Ich-bin» oder des Ich, die die Kraft hat, dieanderen Leiber zu durchdringen, muß einfließen in den Menschen.Sie ist im Erdengeist darinnen. - Halten wir uns das einmal vor, undnehmen wir es ganz ernst, vollständig ernst, daß dadurch, daß derChristus den wahren Besitz des Ich für jeden Menschen vermittelnwill, er den Gott in jedem Menschen wecken, den Herrn und Königin jedem Menschen nach und nach entzünden will. Was zeigt sich unsdann? Dann stellt sich uns nichts Geringeres dar, als daß der Christusim eminentesten Sinne die Karma-Idee, das Karmagesetz zum Aus-druck bringt. Denn wird man einmal die Karma-Idee vollständig ver-stehen, dann wird man sie in diesem christlichen Sinne verstehen. Siebedeutet nichts Geringeres, als daß kein Mensch sich auf werfe zumRichter über das Innerste eines anderen Menschen. Wer die Karma-Idee noch nicht in diesem Sinne erfaßt hat, hat sie nicht in ihrer Tiefeerfaßt. Solange ein Mensch über den anderen richtet, so lange stelltein Mensch den anderen unter den Zwang des eigenen Ich. Wennaber einer wirklich an das «Ich-bin» im christlichen Sinne glaubt,richtet er nicht; dann sagt er: Ich weiß, daß das Karma der großeAusgleicher ist. Was du auch getan hast, ich richte nicht! - Nehmenwir einmal an, man brächte einen Sünder vor einen, der das Christus-Wort in Wahrheit versteht. Was wird der diesem Sünder gegenüberfür ein Benehmen haben? Nehmen wir an, alle, die da Christen seinwollen, würden diesen Menschen einer schweren Sünde anklagen.Der wirkliche Christ würde sagen: Was ihr auch vorbringt, ob er esgetan hat oder nicht, respektiert muß werden das «Ich-bin», demKarma muß es überlassen werden, dem großen Gesetz, das das Ge-setz des Christus-Geistes selber ist. Dem Christus selber muß es über-lassen bleiben. - Karma vollzieht sich im Laufe der Erdentwickelung;wir können es dieser Entwickelung selber überlassen, welche StrafeKarma über den Menschen verhängt. Man würde sich vielleicht zurErde wenden und zu den Anklägern sagen: Kümmert euch um euchselbst! Der Erde obliegt es, die Strafe zum Ausdruck zu bringen.Schreiben wir es also in die Erde ein, wo es ja ohnehin als Karmaeingeschrieben ist!

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«Jesus aber ging auf den Ölberg.Und frühmorgens kam er wieder in den Tempel, und alles Volk kamzu ihm; und er setzte sich und lehrte sie.Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten ein Weib zu ihm,im Ehebruch ergriffen, und stellten sie ins Mittel dar,Und sprachen zu ihm: Meister, dieses Weib ist ergriffen auffrischerTat im Ehebruch.Moses aber hat uns im Gesetz geboten, solche zu steinigen; wassagest du ?Das sprachen sie aber, ihn zu versuchen, auf daß sie eine Sache widerihn hätten. Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit demFinger auf die Erde.Und als sie anhielten, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprachzu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Steinauf sie.Und bückte sich wieder nieder und schrieb auf die Erde.Da sie aber das hörten, gingen sie hinaus, von ihrem Gewissenüberführt, einer nach dem andern, von den Ältesten an bis zu denGeringsten; und Jesus ward gelassen allein, und das Weib im Mittelstehend.Jesus aber richtete sich auf; und da er niemand sah denn das Weib,sprach er zu ihr: Weib, wo sind sie, deine Verkläger? Hat dichniemand verdammt?» (8, I - I O )

Er spricht das, um alles Von-außen-Richten abzulenken und hinzuwei-sen auf das innere Karma.

«Sie aber sprach: Herr, niemand.» (8, n)

Sie ist ihrem Karma überlassen. Da ist es das einzige, nicht weiter andie Strafe zu denken, die im Karma sich erfüllt, sondern sich zu bes-sern:

«Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; gehe hin undsündige hinfort nicht mehr!» (8, 11)

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So sehen wir, wie mit der tiefsten Idee des Christus, mit der Be-deutung seiner Wesenheit für die Erde, die Karma-Idee zusammen-hängt: Habt ihr meine Wesenheit begriffen, dann habt ihr auch denbegriffen, dessen Wesen ich ausdrücke, und daß das «Ich-bin» denAusgleich herbeiführt. - Selbständigkeit und innere Geschlossenheit,das ist es, was der Christus als Impuls den Menschen gegeben hat.

Die Menschen sind heute noch nicht sehr weit gelangt, das wahre,innere Christentum zu begreifen. Aber wenn die Menschen verstehenlernen, was in einer solchen Schrift liegt, wie es das Johannes-Evange-lium ist, werden sie die in ihr liegenden Impulse nach und nach auf-nehmen. Dann wird sich in einer fernen Zukunft das christliche Idealerfüllen.

So sehen wir, wie in der nachatlantischen Zeit in die Erde hinein-fließt der erste Impuls, um den höheren Menschen zu entwickeln.

Morgen werden wir die Entwickelung des Menschen im Zusam-menhange mit dem Christus-Prinzip gerade in dieser nachatlantischenZeit kennenlernen, um davon ausgehend zu zeigen, was Christus inder Zukunft sein wird.

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ACHTER VORTRAG

Hamburg, 27. Mai 1908

Wir haben gesehen, daß man sich dem tiefen Sinne des Johannes-Evangeliums am besten dadurch nähert, daß man den Zugang dazuvon verschiedenen Seiten her zu gewinnen sucht; und wir haben jagestern von einer gewissen Seite her auf eines der bedeutsamsten Ge-heimnisse des Johannes-Evangeliums hindeuten dürfen. Nun wird esnötig sein, damit wir nach und nach zu einem vollen Verständnissegerade des gestern angeführten Mysteriums kommen können, daßwir die Erscheinung des Christus Jesus in unserer nachatlantischenZeit als solcher betrachten. Wir haben das Mannigfaltigste zusam-mengetragen, um die Entwickelung des Menschen und innerhalbdieser das Christus-Prinzip zu verfolgen. Wir werden heute versuchenzu begreifen, warum Christus gerade in dem Zeitpunkt unserer Ent-wickelung als Mensch aufgetreten ist, in dem er auf der Erde gewan-delt ist. Da werden wir an dasjenige anzuknüpfen haben, was wirteilweise in den letzten Vorträgen schon gehört haben, und werdennamentlich die Entwickelung unserer Menschheit in der nachatlan-tischen Zeit ins Auge fassen müssen.

Wir haben wiederholt erwähnt, daß unsere Vorfahren in einer weitzurückliegenden Zeit drüben im Westen auf einem Erdgebiete ge-wohnt haben, das heute eingenommen wird vom Atlantischen Ozeane.Auf der alten Atlantis haben unsere Vorfahren gelebt. Wir habenvorgestern namentlich auf die Art und Weise hindeuten können, wiedie äußere Körperlichkeit dieser unserer atlantischen Vorfahren aus-gesehen hat. Wir haben gesehen, daß dasjenige, was heute vom Men-schen mit äußeren Sinnen wahrgenommen wird, der physische Leib,eigentlich erst langsam und nach und nach zu der fleischlichen Dichtegekommen ist, die er heute hat. Wir konnten sagen, daß erst im letztenTeile der atlantischen Zeit der Mensch einigermaßen der heutigenGestalt ähnelte. Aber auch gegen das letzte Drittel der atlantischenZeit war der Mensch noch wesentlich anders, wenn er auch für dieäußeren Sinne sich nicht viel unterschied.

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Wir können uns am besten begreiflich machen, welchen Fort-schritt der Mensch gemacht hat, wenn wir den heutigen Menschenvergleichen mit irgendeinem der lebenden höheren Tiere. Uns mußja schon aus verschiedenen Gründen klar geworden sein, wodurchder Mensch sich im wesentlichen unterscheidet von einem heute selbstnoch so hochstehenden Tiere. Bei jedem Tiere finden wir, daß aufdem physischen Plane oder in der physischen Welt die Wesenheitdieses Tieres besteht aus dem physischen Leibe, dem Äther- oderLebensleibe und dem astralischen Leibe, daß diese drei Bestandteileaber das Wesen des Tieres in der physischen Welt ausmachen. Siedürfen nun nicht glauben, daß in der physischen Welt etwa nur Phy-sisches vorkommt. Es wäre ein großer Irrtum, wenn Sie etwa allesÄtherische oder namentlich alles Astralische in der übersinnlichenWelt suchen würden. Freilich können Sie mit physischen Sinnenin der physischen Welt nur Physisches sehen. Aber das ist nicht des-halb etwa, weil in der physischen Welt nur Physisches vorhandenwäre. Nein, beim Tier ist in der physischen Welt ein Ätherleib undein astralischer Leib vorhanden, und der hellseherisch begabte Menschsieht diesen Ätherleib und diesen astralischen Leib des Tieres. Erstwenn er zu dem eigentlichen Ich des Tieres kommen will, kann ernicht in der physischen Welt bleiben, da muß er hinaufsteigen in dieastralische Welt. Da ist die Gruppenseele oder das Gruppen-Ich derTiere. Und der Unterschied des Menschen vom Tiere besteht darin,daß beim Menschen das Ich auch hier unten in der physischen Weltist. Das heißt, der Mensch besteht in der physischen Welt aus phy-sischem Leib, Ätherleib, astralischem Leib und Ich, obwohl die dreihöheren Glieder, vom Ätherleib an, nur für das hellseherische Be-wußtsein erkennbar sind.

Nun drückt sich dieser Unterschied des Menschen vom Tiereauch in einer gewissen Weise hellseherisch aus. Nehmen Sie an, einHellseher beobachtet ein Pferd und einen Menschen. Da findet er,daß außerhalb des bis zur Schnauze verlängerten Pferdekopfes einätherischer Ansatz ist, und er sagt sich: Da ragt über dem physischenKopfe des Pferdes der Ätherkopf heraus und ist mächtig organisiert.Diese beiden decken sich aber nicht beim Pferde. Beim heutigen

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Menschen findet man hellseherisch das, was Ätherkopf ist, ungefährin Form und Größe mit dem physischen Kopfe übereinstimmend.Besonders grotesk sieht hellseherisch betrachtet der Elefant aus, dereinen merkwürdig großen Ätherkopf hat; so daß dieser Elefant, hell-seherisch gesehen, ein ganz, ganz groteskes Tier wird. Aber beimheutigen Menschen deckt sich physischer Kopf und Ätherkopf, siesind nach Form und Größe ziemlich gleich. Das war nicht immer sobeim Menschen. Im letzten Drittel der atlantischen Zeit finden wires erst so. Der alte Atlantier hatte den Ätherkopf mächtig hervor-ragend über dem physischen Kopfe. Dann wuchsen diese beidenimmer mehr zusammen, und es war im letzten Drittel der atlantischenZeit, als physischer und Ätherkopf zur Deckung kamen. Im Gehirngibt es einen Punkt - in der Nähe der Augen -, der deckt sich heutemit einem ganz bestimmten Punkte des Ätherkopfes. Diese Punktewaren in alter Zeit getrennt. Der Ätherpunkt war außerhalb des Ge-hirns. Diese beiden wichtigen Punkte haben sich zusammengescho-ben. Als diese beiden Punkte zusammengefallen sind, da war es erst,daß der Mensch lernte, zu sich «Ich» zu sagen, da ist das hervor-getreten, was wir gestern die Bewußtseinsseele genannt haben. Durchdiese Deckung von Ätherkopf und physischem Kopf des Menschenänderte sich sein Kopf in ganz beträchtlicher Weise. Denn diesesmenschliche Haupt hat beim alten Atlantier doch noch wesentlichanders ausgesehen als beim heutigen Menschen. Wenn wir verstehenwollen, wie die heutige Entwickelung möglich geworden ist, somüssen wir auch ein wenig die physischen Verhältnisse in der altenAtlantis ins Auge fassen.

Wenn Sie durch die alte Atlantis drüben im Westen gegangenwären, hätten Sie eine solche Verteilung von Regen, Nebel, Luft undSonnenschein, wie Sie es jetzt auf unseren heutigen Ländergebietenhaben, nicht erlebt. Namentlich die nördlichen Gegenden westlichvon Skandinavien waren damals durchzogen von Nebel. Die Men-schen, die dort lebten, wo heute Irland ist - und weiter westlich da-von -, haben niemals in der Weise Regen und Sonnenschein verteiltgesehen in der alten Atlantis, wie es heute der Fall ist. Sie warenimmer eingebettet in Nebel, und erst mit der atlantischen Flut kam

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die Zeit heran, wo die Nebelmassen sich auch aus der Luft ablöstenund sich niederschlugen. Sie hätten die ganze alte Atlantis durch-forschen können, und Sie würden eine Erscheinung da nicht gefundenhaben, die Ihnen allen heute als eine wunderbare Naturerscheinungbekannt ist - unmöglich würden Sie den Regenbogen rinden! Derist nur möglich bei einer solchen Verteilung von Regen und Sonnen-schein, wie sie heute in der Atmosphäre sein kann. In der Atlantis,vor der atlantischen Flut, finden Sie keinen Regenbogen. Erst all-mählich, nach der atlantischen Flut, trat die Erscheinung des Regen-bogens ein, das heißt, sie wurde physikalisch möglich. Wenn Sie diesnun aus der Geheimwissenschaft mitgeteilt erhalten und sich er-innern, daß die atlantische Flut in den verschiedenen Sagen undMythen als Sintflut erhalten ist, daß Noah hervortritt und nach derSintflut zuerst den Regenbogen sieht, dann werden Sie einen Begriffbekommen, wie tief wahr, buchstäblich wahr die religiösen Urkundensind. Wahr ist es, daß erst nach der atlantischen Flut die Menschenzum ersten Male ansichtig wurden des Regenbogens. - Das sind sodie Erlebnisse, die der haben kann, der den Okkultismus durcherlebtund dann Stück für Stück erst begreifen lernt, wie buchstäblich mandie religiösen Urkunden nehmen darf, freilich: wie man zuvor diesenBuchstaben verstehen lernen muß.

Gegen das Ende der atlantischen Zeit hin stellt es sich heraus, daßdie äußeren und inneren Verhältnisse für den Menschen am günstig-sten waren auf einem bestimmten Gebietsteile unserer Erdoberfläche,der sich in der Nähe des heutigen Irlands befand. Heute ist das be-treffende Landgebiet mit Wasser bedeckt. Damals waren dort ganzbesonders günstige Verhältnisse; und dort bildete sich innerhalb deratlantischen Völker das begabteste Volk aus, das am meisten Ver-anlagung dazu hatte, zum freien menschlichen Selbstbewußtsein auf-zusteigen. Und der Führer dieses Volkes, das man gewohnt wordenist in der theosophischen Literatur die «Ursemiten» zu nennen, warein großer Eingeweihter, der, wenn man trivial sprechen darf, sichdie fortgeschrittensten Individuen dieses Volksteiles aussuchte undmit ihnen nach dem Osten zog, durch Europa bis nach Asien hinüberin die Gegend des heutigen Tibet. Dahin zog ein verhältnismäßig

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kleiner, aber namentlich geistig, spirituell sehr weit fortgeschrittenerBruchteil der atlantischen Bevölkerung.

Innerhalb der letzten atlantischen Zeit war es ja so gekommen, daßnach und nach die westlichen Gegenden der Atlantis verschwanden,sich mit Meer bedeckten. Europa trat in seiner heutigen Gestaltimmer mehr hervor. Asien war noch so, daß die große sibirischeLändermasse noch bedeckt war mit weiten Wassermassen; aber na-mentlich die südlichen Gegenden Asiens waren, anders gestaltet,schon vorhanden. Die weniger fortgeschrittenen Volksmassen glie-derten sich zum Teil an diesen Kern des Volkes an, der von Westennach Osten zog; manche zogen weiter, manche weniger weit mit.Aber auch die alte europäische Bevölkerung kam zum großen Teiledadurch zustande, daß aus der Atlantis herüber Völkermassen zogen,sich dort niederließen und das alte Europa bevölkerten. Früher schonhinausgeschobene Völkermassen, zum Teil auch solche, die von an-deren Gebieten der Atlantis, auch vom alten Lemurien, nach Asiengekommen waren, trafen bei diesem Völkerzuge zusammen. So daßVolksmassen verschiedenster Begabung und verschiedenster geistigerFähigkeiten in Europa und Asien sich niederließen. Der kleine Bruch-teil, der geführt wurde von jener großen spirituellen Individualität,ließ sich drüben in Asien nieder, um dort die damals mögliche höchsteGeistigkeit zu pflegen. Von diesem Kulturgebiete aus gingen dieKulturströmungen nach den verschiedensten Gebieten der Erde undzu den verschiedenen Völkern.

Die erste Kulturströmung ging herunter nach Indien, und dortbildete sich durch den Einschlag, den die geistige Gesandtschaft dergroßen Individualität ihm gab, das heraus, was wir nennen die uralt-indische Kultur. Wir sprechen da nicht von jener indischen Kultur,von der uns Reste in den wunderbaren Büchern der Veden gebliebensind, auch nicht von dem, was später durch Tradition auf die Nach-welt gekommen ist. Allem, was man von dieser äußeren Kultur wissenkann, ging eine viel herrlichere ältere Kultur voran, die Kultur deralten heiligen Rishis, jener großen Lehrer, die in weit zurück-liegenden Zeiten der Menschheit die erste nachatlantische Kulturgegeben haben.

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Versetzen wir uns einmal in die Seele dieser ersten Kulturströmungder nachatlantischen Zeit. Diese erste Kultur der nachatlantischenMenschheit war die erste eigentlich religiöse Kultur der Menschheit.Die vorhergehenden atlantischen Kulturen waren im eigentlichenSinne des Wortes keine religiösen Kulturen. «Religion» ist imGrunde eine Eigentümlichkeit der nachatlantischen Zeit. Warum?Nun, wie lebten die Atiantier? Dadurch, daß der Ätherkopf nochaußerhalb des physischen Kopfes war, hatte sich noch nicht voll-ständig verloren das alte dämmerhafte Hellsehen. Im weitesten Um-fange sah der Mensch, wenn er des Nachts aus dem physischen Leibeheraus war, hinein in die geistige Welt. Während er bei Tage, wenner untertauchte in seinen physischen Leib, hier in der physischen Weltphysische Dinge sah, sah er noch bis zu einem gewissen Grade nachtsdie Gefilde der geistigen Welt. - Versetzen Sie sich einmal in die Mitteoder in das erste Drittel der atlantischen Zeit. Wie war es da mit demMenschen? Er wachte des Morgens auf. Sein astralischer Leib zogsich hinein in seinen physischen Leib und Ätherleib. So deutlich undscharf umrissen wie heute waren noch nicht die Gegenstände derphysischen Welt. Wenn eine Stadt in Nebel eingehüllt ist und Siedes Abends die Laternen wie mit Farbenauren umgeben sehen, so un-deutlich mit Säumen und Farbenstrahlen - das gibt Ihnen ein Bild,wie es in dieser Zeit in der Atlantis ausgesehen hat -, nicht mit deut-lichen Umrissen, sondern so, wie wenn Sie heute die Laternen draußenim Nebel sehen würden. Dafür gab es aber auch nicht eine so scharfeTrennung zwischen hellem Tagesbewußtsein und nächtlicher Be-wußtlosigkeit, wie es erst nach der atlantischen Zeit aufgetreten ist.Es schlüpfte zwar während der Nacht der astralische Leib heraus ausÄtherleib und physischem Leib; aber während der Ätherleib zumTeil noch verbunden blieb mit dem astralischen Leibe, gab es immerReflexe der geistigen Welt. Der Mensch konnte immer ein dämmer-haftes Hellsehen haben, lebte sich in die geistige Welt hinein, sah umsich geistige Wesenheiten, geistige Vorgänge.

Dasjenige, was Sie zum Beispiel lesen als germanische Mythenund Göttersagen, davon sagen Ihnen die Gelehrten vom grünenTische: Das haben einmal die Leute aus dem Volke aus der Volks-

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phantasie heraus gedichtet! Wotan und Thor und alle die Götter, dasseien Personifizierungen von Naturkräften usw. Es gibt ganze mytho-logische Theorien, wo so von der schaffenden Volksphantasie dieRede ist. Wenn man das hört, dann kann man leicht die Meinungbekommen, ein solcher Gelehrter wäre wie der Homunculus desGoetheschen Faust aus der Retorte herausgeboren und hätte nieeinen wirklichen Menschen gesehen. Denn wer das Volk wirklichgesehen hat, dem vergeht wahrhaftig die Möglichkeit, so von derschaffenden Volksphantasie zu reden. Diese Göttersagen sind nichtsanderes als die Überbleibsel von wirklichen Vorgängen, welche dieMenschen in früheren Zeiten hellseherisch wirklich gesehen haben.Diesen Wotan hat es gegeben! Des Nachts wandelte der Menschunter Göttern in der geistigen Welt und kannte dort den Wotan undThor ebensogut, wie er heute seinesgleichen aus Fleisch und Blutkennt. Was damals primitive Naturen noch lange dämmerhaft hell-seherisch gesehen haben, ist der Inhalt der Mythen und Sagen, na-mentlich der germanischen.

Diejenigen Menschen, welche damals herübergezogen sind vomWesten nach dem Osten in die Gegenden, die man später Germaniennannte, das waren Menschen, die sich bis zu einem gewissen Grade- der eine mehr, der andere weniger - noch ein gewisses Hellsehenbewahrt hatten, so daß sie wenigstens zu gewissen Zeiten noch hin-einsehen konnten in die geistige Welt. Und während der höchsteEingeweihte mit seinen Schülern hinüberzog nach Tibet und vondort die erste Kultur kolonie hinunter schickte nach Indien, warenüberall bei den Völkern in Europa Eingeweihte zurückgeblieben, diein den Mysterien das Geistige pflegten. Mysterien waren bei diesenVölkern zum Beispiel die Druidenmysterien, die Drottenmysterien,von denen die Menschheit heute nichts mehr zu melden weiß - dennwas sie zu melden weiß, ist phantastisches Zeug. Wichtig aber ist es,daß, wenn man von höheren Welten damals sprach unter den Druidenoder unter den Menschen des westrussischen Gebietes und Skandina-viens, wo die Drottenmysterien waren, es immer eine Anzahl vonMenschen gab, die von geistigen Welten wußten. Wenn man vonWotan sprach oder von dem Ereignis, das sich zwischen Baidur und

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Hödur abspielte, dann sprach man nicht von etwas, was ihnen ganzunbekannt war. Viele hatten selbst noch solche Ereignisse erlebt inbesonderen Bewußtseinszuständen, und die es nicht erlebt hatten, hör-ten es von ihrem Nachbar, der ihnen glaubwürdig genug war.

Und wo Sie auch hingehen mögen in Europa, gab es noch einelebendige Erinnerung an das, was in der Atlantis vorhanden war.Was war da vorhanden? Etwas, was man nennen kann ein Zusam-menleben des Menschen, ein naturgemäßes Zusammenleben des Men-schen mit der geistigen Welt, mit dem, was man heute den Himmelnennt. Der Mensch trat ja fortwährend ein in die geistige Welt undlebte darinnen. Mit anderen Worten, er brauchte durch keine be-sondere Religion hingewiesen zu werden auf das Dasein einer gei-stigen Welt. Was heißt denn Religion? Religion heißt «Verbindung»,Verbindung der physischen mit der geistigen Welt. Damals brauchteer keine besondere Verbindung mit der geistigen Welt, denn sie wareine Erfahrungswelt. Wie Ihnen kein Mensch den Glauben beizu-bringen braucht an die Blumen der Wiese, an die Tiere des Waldes,weil Sie sie sehen, so glaubte der Atlantier an die Götter und Geister- nicht aus Religion, sondern weil er sie erlebte.

Mit der fortschreitenden Menschheit gestaltete sich nun die Sacheso, daß der Mensch das helle Tagesbewußtsein erlangt hatte. Dienachatlantische Zeit ist also die, während der der Mensch das helleTagesbewußtsein erlangt. Und er erlangte es dadurch, daß er dasalte hellseherische Bewußtsein hingeben mußte. Das wird ihm in derZukunft wiederum werden, zu seinem heutigen hellen Tagesbewußt-sein hinzu. - Bei unseren Vorfahren hier in Europa war es vielfachso, daß in den Sagen und Mythen Erinnerungsbilder an die alte Zeitgegeben wurden. Aber was war denn gerade das Wesen der Fort-geschrittensten? So sonderbar es klingen mag: die Allerfortgeschrit-tensten, die der Führer nach dem Osten hinüberführte bis nach Tibet,sie waren darin am meisten fortgeschritten, daß sie das alte träume-rische, hellseherische Bewußtsein verloren hatten. Was heißt denn fort-schreiten von der vierten Rasse in die fünfte hinein? Tagsichtig werden,das alte Hellsehen verlieren, heißt es. Weggeführt hat der große Ein-geweihte und Führer die Angehörigen seines Häufleins, damit sie

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nicht unter denen leben mußten, die noch auf den Stufen des altenatlantischen Volkes standen; und unter den ersteren konnten nurdiejenigen in die höheren Welten hinaufgeführt werden, die künstlichsich trainierten, die künstlich eine okkulte Schulung durchmachten.

Was war dem Menschen der ersten nachatlantischen Zeit denn ge-blieben von dem alten Zusammenleben mit der geistig-göttlichenWelt? Die Sehnsucht danach! Denn wie zugeschlossen hatte sichihm das Tor zur geistigen Welt, die Sehnsucht aber war geblieben.Jener Mensch empfand das ungefähr so - er hörte aus den Sagen undTraditionen heraus -: Da gab es eine Zeit, wo unsere Vorfahren hin-einschauten in die geistige Welt, wo sie lebten mit Geistern undGöttern, wo sie in der tieferen geistigen Wirklichkeit drinnen steck-ten. Oh, könnten wir auch da hinein! - So sagten sie sich. Und ausdieser Sehnsucht heraus wurde die altindische Methode der Ein-weihung geschaffen, die aus der Sehnsucht nach dem Verlorenen her-vorgegangen ist und darauf beruht, daß der Mensch das errungene

< helle Tagesbewußtsein für eine Zeit verläßt, um sich zurückzuschrau-ben in seinem Bewußtsein zu dem früheren Zustand. Yoga ist dieMethode der altindischen Einweihung, die durch ihre Technik, ihrePraxis erlangte, daß künstlich hergestellt wurde, was dem Menschenauf natürlichem Wege abhanden gekommen war. - Denken Sie sicheinmal einen solchen alten Atlantier, der noch seinen Ätherkopf weitherausstehen hatte über dem physischen Kopfe. Wenn dann derastralische Leib herausging, war ein großer Teil des Ätherkopfes mitdem astralischen Leibe noch verbunden, und da konnte sich das, wasder astralische Leib erlebte, hineindrücken in den Ätherleib; dadurchkonnte man sich seine Erlebnisse zum Bewußtsein bringen. Als nunin der letzten atlantischen Zeit der Ätherteil des Kopfes sich ganzzurückzog in den physischen Kopf, da kam der astralische Leib jedeNacht ganz aus dem Ätherleib heraus. Man mußte also in der altenEinweihung versuchen, den Ätherleib künstlich herauszuholen, dasheißt, man mußte den Menschen in eine Art lethargischen Zustand,in eine Art Todes schlaf bringen, der ja dreieinhalb Tage dauerte,währenddem der Ätherleib herausragte aus dem physischen Leibe,gelockert war, so daß das, was der Astralleib erlebte, sich einprägte

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in den Ätherleib. Und wenn dann der Ätherleib wieder zurückgeführtwurde in den physischen Leib, wußte der Mensch, was er in der gei-stigen Welt erlebt hatte.

Das war die alte Einweihungsmethode, die Yoga-Einweihung, wo-durch sich der Mensch sozusagen heraushob aus der Welt, in die erjetzt versetzt war, um sich in die geistige Welt wieder zurückzu-versetzen. Und die Kulturstimmung, die aus dieser Einweihung her-vorging, ist diejenige, die ihre Nachklänge in der späteren indischenKultur gefunden hat. Es war die Stimmung, wo der Mensch sichsagte: Wahrheit, Realität, Wirklichkeit, Wesenheit ist allein in dergeistigen Welt, in jener geistigen Welt, in die der Mensch hinein-kommt, wenn er sich der physisch-sinnlichen Welt entzieht. Jetzt istder Mensch in den Reichen der physischen Welt, umgeben vom Mine-ralreich, Pflanzenreich und Tierreich. Das aber ist nicht die Wahrheit,was den Menschen so umgibt, das ist nur äußerer Schein; er hat dieWahrheit seit uralten Zeiten verloren und lebt jetzt in einer Welt desScheins, der Illusion, der Maja. - Und so wurde die Welt des Phy-sischen die Welt der Maja für die altindische Kultur. Das muß mangemäß jener Kulturstimmung erfassen, wie man damals gefühlt hat,und nicht als graue Theorie. Dem uralten Inder, wenn er ganz be-sonders heilig sein will, ist die Welt der Maja wertlos. Diese phy-sische Welt ist ihm eine Illusion; die wahre Welt ist für ihn dann vor-handen, wenn er sich aus dieser physischen Welt zurückzieht, wenner - durch Yoga - wiederum in der Welt leben darf, in der die Vor-fahren noch in der atlantischen Zeit gelebt haben.

Der Sinn der Weiterentwickelung besteht aber darin, daß derMensch sich allmählich gewöhnt, die physische Welt, die ihm in dernachatlantischen Kultur angewiesen wird, nach ihrem Werte, nachihrer Bedeutung zu schätzen. Einen Schritt weiter als das alte Inder-tum ist schon die zweite Kulturepoche, ebenfalls eine vorhistorischeKultur, die wir aber nach den Völkern benennen, die später in diesenGebieten gelebt haben; wir nennen sie die uralt-persische Kultur.Wieder haben wir dabei nicht die spätere persische Kultur im Auge,sondern eine vorhistorische Kultur.

Die zweite Periode unterscheidet sich schon ganz wesentlich in der

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Stimmung, in ihrem Gefühlsinhalt von der uralt-indischen Zeit.Immer schwerer wurde es, den Ätherleib herauszulösen, aber mög-lich war es doch noch, und in einer gewissen Weise wurde es immernoch vollzogen bis zu dem Christus Jesus hin. Eines aber hatten dieseMenschen der uralt-persischen Kultur erreicht: sie hatten angefangen,Maja oder die Illusion zu schätzen, als etwas Wertvolles zu betrachten.Der Inder fühlte sich wohl, wenn er der Illusion entfliehen konnte;dem Perser war sie ein Arbeitsfeld geworden. Zwar war sie ihm immernoch als etwas Gegnerisches erschienen, aber als etwas, was be-zwungen werden mußte, woraus später hervorging der Kampf zwi-schen Ormuzd und Ahriman, wo sich der Mensch verbindet mit denguten Göttern gegen die in der Materie steckenden Mächte der bösenGötter. Hieraus bildete sich die Stimmung, die man damals hatte. Liebwar dem Perser diese Wirklichkeit immer noch nicht; aber er flohsie nicht mehr, wie der alte Inder es tat, er bearbeitete sie, betrachtetesie als einen Schauplatz, auf dem man arbeiten konnte, wo etwas war,was man zu überwinden hatte. Einen Schritt in der Eroberung derphysischen Welt hatte man in dieser zweiten Kulturstufe gemacht.

Dann kam die dritte Kulturstufe, und wir kommen immer mehrdem Geschichtlichen näher. Wir bezeichnen sie in der Geheimwissen-schaft als die chaldäisch-babylonisch-assyrisch-ägyptische Kultur. Allediese Kulturen wurden begründet durch Kolonien, die ausgesandtwurden unter der Leitung von großen Führern. Die erste Koloniebegründete die Kultur des alten Indiens, die zweite begründete das,was wir eben als das alt-persische Kulturzentrum geschildert haben,und eine dritte Kulturströmung ging noch weiter nach Westen undbegründete dort das, was der babylonisch-chaldäisch-assyrisch-ägyp-tischen Kultur zugrunde lag. Dadurch war ein wichtiger Schritt ge-macht worden in der Eroberung der physischen Welt. Dem Persererschien sie noch wie eine ungefüge Masse, die man bearbeiten mußte,wenn man in ihr wirken wollte, mit dem, was man sich als die gutenGeister der wahren geistigen Wirklichkeit dachte. Jetzt war manfamiliärer, intimer geworden mit der physischen Wirklichkeit. - SehenSie sich die alte chaldäische Astronomie an, die zu den merkwürdig-sten und großartigsten Erzeugnissen des nachatlantischen Menschen-

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geistes gehört! Da sehen Sie, wie die Bahnen der Sterne erforschtwerden, wie die Gesetze des Himmels durchforscht werden. Der alteInder hatte noch hinaufgesehen zu diesem Himmel und gesagt: Wieauch die Sterne gehen und was sich auch für Gesetze darin aus-drücken mögen, es ist nicht der Mühe wert, diese Gesetze zu er-forschen! - Einem Angehörigen der dritten Kulturepoche war esschon sehr wichtig, diese Gesetze zu durchdringen. Dem Angehörigender ägyptischen Kultur war es sogar sehr wichtig, daß er die Ver-hältnisse der Erde besonders durchforschte und die Geometrie aus-bildete. Maja wurde erforscht, die äußere Wissenschaft entstand. DerMensch studiert die Gedanken der Götter, und er fühlt, daß er einenZusammenhang schaffen muß zwischen seinem eigenen Schaffen unddem, was er als die Schrift der Götter innerhalb der Materie einge-schrieben findet. Einen anderen Begriff von einem Staatswesen wür-den Sie bekommen, wenn Sie die früheren Zustände des ägyptisch-chaldäischen Staatslebens durchforschten, als ihn die Menschen heutehaben können. Denn die Individualitäten, die solche Staatswesenlenkten und leiteten, waren solche Weisen, die zu gleicher Zeit dieGesetze der Sternenbahnen, nach denen sich die Weltkörper bewegen,kannten und sich klar waren, daß sich im Weltenall alles gegenseitigentsprechen muß. Sie hatten die Bahnen der Sterne studiert und wuß-ten, daß ein Einklang da sein muß zwischen dem, was am Himmel,und dem, was auf der Erde geschah. Nach Ereignissen am Himmelschrieben sie vor, was sich im Laufe der Zeit auf der Erde abzuspielenhabe. Selbst in der ältesten römischen Zeit, der vierten Kulturepoche,hatte man noch ein Bewußtsein dafür, daß das, was auf der Erde vor-geht, dem entsprechen muß, was am Himmel sich darstellt.

In den alten Mysterien hat man am Ausgangspunkte einer neuenEpoche für lange Zeiten gewußt, welche Ereignisse in der kommen-den Zeit geschehen werden. Man wußte aus der Mysterienweisheitheraus - zum Beispiel am Ausgangspunkt der römischen Geschichte -:Es wird eine Zeit auf uns folgen, da werden sich die mannigfachstenGeschicke ergeben, die man wird eintreten lassen in der Gegend vonAlbalonga. - Für den, der da lesen kann, ist es klar, daß hier auf einentief symbolischen Ausdruck hingedeutet wird, daß Priesterweisheit

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sozusagen die Kultur des alten Roms absteckte. «Alba longa» ist daslange Priesterkleid. In diesen alten Gebieten wurden also in dieserWeise die künftigen Dinge der Geschichte - wenn man so sagen darf,um einen technischen Ausdruck zu gebrauchen - abgesteckt. Mansagte sich: Sieben Epochen müssen aufeinander folgen; man teiltedie Zukunft nach der Siebenzahl ein, und man gab den Grundriß derGeschichte vorher. Und ich könnte Ihnen leicht zeigen, wie in densieben römischen Königen, die schon bei dem Ausgangspunkt derrömischen Zeit in den « Sibyllinischen Büchern» eingeschrieben wa-ren, prophetische Geschichtstabellen hineingeheimnißt sind. Damalshatten aber die Menschen auch gewußt: Das haben wir auszuleben,was da hineingeschrieben ist. - Und bei gewichtigen Ereignissen hatman in den heiligen Büchern nachgeschaut; daher die Heilighaltungund auch Geheimhaltung der Sibyllinischen Bücher.

So hat der Mensch der dritten Kulturepoche hineingearbeitet indie Materie den Geist, durchdrungen die äußere Welt mit dem Geist.Unzählige geschichtliche Zeugnisse dafür verbergen sich in demWerdegang der Epoche dieser dritten Kulturströmung, der assyrisch-babylonisch-chaldäisch-ägyptischen Kultur.

Man versteht unsere Zeit nur, wenn man weiß, welche wichtigenBeziehungen herrschen zwischen unserer und jener Zeit. Auf eineBeziehung zwischen diesen beiden Epochen möchte ich jetzt hin-weisen, damit Sie sehen, wie wunderbar die Dinge zusammenhängenfür den, der tiefer hineinsehen kann, der weiß, daß das, was manEgoismus und das Nützlichkeitsprinzip nennt, heute seinen Höhe-punkt erreicht hat. So bloß egoistisch, so unidealistisch wie heute wardie Kultur noch nie, und sie wird es noch immer mehr werden in dernächsten Zeit. Denn heute ist der Geist ganz heruntergestiegen in diematerielle Kultur. Ungeheure Geisteskraft hat die Menschheit auf-wenden müssen in den großen Erfindungen und Entdeckungen derneueren Zeit, namentlich des neunzehnten Jahrhunderts. Wie vielegeistige Kraft liegt in Telephonen, Telegraphen, Eisenbahnen und soweiter! Wieviel Geisteskraft ist materialisiert, kristallisiert in den Han-delsbeziehungen der Erde! Wieviel Geisteskraft gehörte dazu, sicheine Summe Geldes, meinetwegen in Tokio, auszahlen zu lassen auf

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Grund eines hier geschriebenen Stück Papiers, eines Schecks. Und sofragt man sich: Ist diese Geisteskraft im Sinne des geistigen Fortschrit-tes angewendet? - Wer die Sache recht ins Auge faßt, sagt sich: Ihrbaut wohl Eisenbahnen^ aber ihr fahrt nur das, was ihr für den Magenbraucht; und wenn ihr selbst fahrt, so fahrt ihr doch nur zu dem, wasim Zusammenhang steht mit euren Bedürfnissen. - Macht es einenUnterschied für die Geisteswissenschaft, ob der Mensch durch einpaar Steine sein Getreide sich mahlt oder ob er sich durch Telegra-phen, Dampfschiffe usw. sein Getreide von weit her verschafft? Un-geheure Geisteskraft ist aufgewendet, aber in einem durchaus persön-lichen Sinne verwendet worden. Was wird der ganze Sinn dessen sein,was sich die Menschen dabei vermitteln? Wahrscheinlich nicht An-throposophie, das heißt geistige Wahrheiten! Wenn sie Telegraphenund Dampfschiffe anwenden, wird es sich in erster Linie darum han-deln, wieviel Baumwolle man von Amerika nach Europa befördernwill usw., das heißt, was zum persönlichen Bedürfnis gehört. DieMenschen sind sogar bis in die tiefsten Tiefen des persönlichen Be-dürfnisses, der materiellsten Persönlichkeit heruntergestiegen. Aberein solches egoistisches Nützlichkeitsprinzip mußte einmal kommen,weil dadurch um so besser im Gange der ganzen Menschheitsentwik-kelung der Aufstieg sein wird.

Was war denn aber geschehen, daß der Mensch so viel auf seinePersönlichkeit gibt, wodurch fühlt er sich gar so sehr als Einzel-persönlichkeit, und wodurch ist denn das vorbereitet worden, daßder Mensch sich heute gegenüber der geistigen Welt so stark fühltin seinem Dasein, das eingeschlossen ist zwischen Geburt und Tod?

Präpariert worden ist das Wichtigste dazu in der dritten Kultur-epoche, wo man über den Tod hinaus in der Mumie die Form deseinen physischen Körpers erhalten wollte, in einem einbalsamiertenKörper die Form durchaus nicht zerrinnen lassen wollte. Da prägtsich das Festhalten an der Einzeipersönlichkeit so ein, daß es heutebei der Wiederverkörperung wieder herauskommt als das Persön-lichkeitsgefühl. Daß dieses Persönlichkeitsgefühl heute so stark ist,ist eine Folge davon, daß man die Körper in der ägyptischen Zeitmumifiziert hat. So hängt alles in der menschlichen Entwickelung

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zusammen. Die Ägypter balsamierten die Körper der Verstorbenenein, damit die Menschen in der fünften Epoche ein möglichst großesPersönlichkeitsbewußtsein haben sollten. Es gibt tiefe Mysterieninnerhalb der Menschheitsentwickelung!

So sehen Sie, wie die Menschen immer mehr in die Maja herunter-steigen und die Materie durchdringen mit dem, was der Mensch er-ringen kann. In der vierten Kulturepoche, der griechisch-lateinischen,setzt der Mensch zunächst sein inneres Wesen in die Außenwelt hin-aus. Da sehen Sie zunächst, wie in Griechenland der Mensch sichselbst in der Materie, in den Formen objektiviert. Der Mensch ge-heimnißt seine eigene Form in die griechischen Göttergestalten hin-ein. Bei Aschylos klingt es in der Dramatik noch nach, wie der Menschseine eigene Individualität künstlerisch verwerten will. Er tritt selbstin den physischen Plan hinaus und schafft ein Abbild seiner selbst.Und in der römischen Kultur schafft der Mensch in den staatlichenInstitutionen ein Abbild seiner selbst. Es ist der ärgste Dilettantismus,wenn das, was man heute Jurisprudenz nennt, weiter zurückgeführtwird als bis in die römische Zeit. Was vorher ist, ist dem Begriffenach etwas ganz anderes als «Jus », als Recht. Denn der Begriff desMenschen als einer äußeren Persönlichkeit, der Rechtsbegriff vomMenschen bestand früher noch nicht. Im alten Griechenland ist es die« Polis », der kleine Stadtstaat, und der Mensch fühlt sich als ein Glieddes kleinen Stadtstaates. In dieses Bewußtsein der griechischen Epochewird sich heute ein Mensch schwer hineinfinden können. In derrömischen Kultur wird die physische Welt so weit betreten, daß dieeinzelne menschliche Persönlichkeit - als römischer Bürger - auchrechtlich erscheint. So geht alles stufenweise vorwärts, und wir wer-den des weiteren zu verfolgen haben, wie die Persönlichkeit immermehr heraustritt und damit die physische Welt immer mehr und mehrerobert wird. Der Mensch taucht immer tiefer unter in die Materie.

Unsere Kultur ist die erste Kultur nach der griechisch-lateinischenEpoche, also die fünfte der nachatlantischen Zeit; dann folgt einesechste und sodann eine siebente Kulturepoche. Die vierte Kultur,die griechisch-lateinische, ist die mittlere - und innerhalb der Zeitdieser mittleren der nachatlantischen Kulturen tritt der Christus Jesus

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auf der Erde auf. Vorbereitet wird dies Ereignis innerhalb der drittenKulturepoche der nachatlantischen Zeit, weil alles in der Welt sichvorzubereiten hat. Es wurde innerhalb der dritten Epoche dasjenigevorbereitet, was als das größte Ereignis der Erde während der viertennachatlantischen Epoche auftreten sollte, wo die Menschen so weitin der Persönlichkeit vorgerückt waren, daß sie sich selbst hinaus-stellten, daß sie ihre Götter den Menschen ähnlich machten. In dergriechischen Zeit schafft sich der Mensch eine Götterwelt in seinerKunst nach seinem eignen Spiegelbilde. Im Staate schafft er danneine Wiederholung. Der Mensch ist heruntergelangt bis zum Be-greifen der Materie, bis zu der Ehe zwischen der Maja und demGeiste. Es ist der Zeitpunkt, wo der Mensch auch bis zum Begreifender Persönlichkeit gekommen war. Sie werden verstehen, daß diesauch die Zeit war, wo er den Gott als persönliche Erscheinung be-greifen konnte, wo auch der zur Erde gehörige Geist bis zur Per-sönlichkeit fortschritt. So sehen wir, wie in der Mitte der nachatlan-tischen Kultur der Gott selbst als Mensch, als Einzelpersönlichkeitauftritt. Man möchte sagen, wie im Bilde erscheint es einem, wasdamals geschah, wenn wir sehen, wie der Mensch in den griechischenKunstwerken ein Abbild seiner selbst schafft. Ist es denn nichteigentlich so, wenn wir von der griechischen Kultur herüberkommenzur römischen und sehen die Typen des großen Römertums, als obdie griechischen Götterbilder heruntergestiegen wären von ihrenPostamenten und herumwandelten in ihrer Togal Man sieht sieförmlich!

So war der Mensch vorgeschritten von der Zeit an, wo er sich alsGlied der Gottheit fühlte, bis zum Fühlen seiner selbst als Persönlich-keit. Da konnte er selbst die Gottheit als Persönlichkeit begreifen,die heruntergestiegen war und unter den Menschen im Fleisch ver-körpert wohnte.

Das wollen wir uns vor die Seele malen, warum der Christus Jesusgerade in dieser Zeit der Menschheitsentwickelung aufgetreten ist.Wie sich dieses Mysterium weiter entwickelte, wie es in den Zeitender früheren Entwickelung prophetisch vorleuchtete und wie es pro-phetisch vorwirkt auf ferne, kommende Zeiten, davon das nächste Mal.

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N E U N T E R VORTRAG

Hamburg, 29. Mai 1908

Sie haben während der ganzen Zeit unserer Vorträge gesehen, inwelcher Weise wir uns zu der Urkunde, die man das Johannes-Evan-gelium nennt, stellen, wenn wir auf dem Boden der Geisteswissenschaftstehen. Sie haben gesehen, daß es sich nicht darum handelt, irgend-welche Wahrheiten über die geistigen Welten aus jener Urkunde her-aus zu gewinnen, sondern zu zeigen, wie, unabhängig von allenmenschlichen und anderen Urkunden, die Möglichkeit vorhanden ist,in die geistige Welt einzudringen, genau ebenso, wie wenn man heuteMathematik lernen würde, man es unabhängig von jedem Urkunden-buch täte, durch das uns zuerst im Laufe der Menschheitsentwicke-lung dieser oder jener Teil der Mathematik mitgeteilt worden ist. Waswissen diejenigen, die anfangen, zum Beispiel in der Schule die ein-fache elementare Geometrie zu lernen, die jeder heute aus sich selbst,aus der Geometrie selbst heraus lernt, von der Geometrie des Euklid,von jenem Urkundenbuch, in dem sozusagen zum ersten Male dieseelementare Geometrie der Menschheit mitgeteilt worden ist! Habenaber dann die Menschen die Geometrie durch sich selbst gelernt, dannkönnen sie um so besser dieses Urkundenbuch in seinem Wesen undseiner Bedeutung würdigen. Dies soll uns immer mehr zeigen, daßman aus dem Geistesleben selbst heraus jene Wahrheiten gewinnenkann, welche von diesem Geistesleben handeln. Und wenn man siegefunden hat und dann wiederum hingewiesen wird zu den geschicht-lichen Urkunden, dann findet man in ihnen wieder, was man sozusa-gen schon weiß. Dadurch kommt man zu einer richtigen Würdigung,zu einer wahren menschlichen Würdigung dieser Urkunden.

Wir haben im Laufe der Vorträge gesehen, daß das Johannes-Evan-gelium dadurch wahrhaftig nicht an Wert verliert; wir haben gesehen,daß dadurch die Achtung und die Schätzung der Urkunden für den,der auf dem Boden der Geisteswissenschaft steht, durchaus nicht ge-ringer wird als bei denen, die sich von vornherein auf den Boden einersolchen Urkunde stellen. Ja, wir haben gesehen, daß die tiefsten Leh-

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ren über das Christentum, die wir ebensogut die allgemeinen Weis-heit slehren nennen könnten, uns wiederum entgegentreten im Johan-nes-Evangelium. Und wir haben gesehen, wenn wir so diesen tiefenSinn der christlichen Lehre erfassen, daß wir dann erst begreifen kön-nen, warum Christus gerade in einer ganz bestimmten Zeit, im Be-ginne unserer Zeitrechnung, in die Menschheitsentwickelung eintre-ten mußte.

Wir haben gesehen, wie in der nachatlantischen Zeit sich nach undnach diese Menschheit heraufentwickelt hat. Wir haben darauf hin-gewiesen, wie nach der atlantischen Flut eine erste große nach-atlantische Kulturepoche da war in der uralt-indischen Kultur. Wirhaben darauf hingewiesen, wie diese uralt-indische Kultur dadurchzu charakterisieren ist, daß die Gemüter der Menschen beherrschtwaren von Sehnsucht und Erinnerung. Wir haben charakterisiert,worin die Erinnerung, die Sehnsucht bestand. Die Erinnerung be-stand darin, daß lebendige Überlieferungen geblieben waren voneiner der atlantischen Flut vorangehenden Zeitepoche der Mensch-heit, in der der Mensch vermöge seiner Natur und Wesenheit nocheine Art dämmerhaften hellseherischen Zustandes hatte, durch dener hineinblicken konnte in die geistige Welt, so daß ihm die geistigeWelt durch das Erlebnis, durch die Erfahrung bekannt war, wie derheutigen Menschheit die vier Reiche der Natur, das Mineralreich,das Pflanzenreich, das Tierreich und das Menschenreich, bekanntsind. Wir haben gesehen, wie in dieser Zeit vor der atlantischen Fluteine so scharfe Trennung noch nicht war zwischen dem Bewußtseins-zustand während des Tageslebens und dem Bewußtseinszustandwährend des Nachtlebens. Wenn der Mensch damals abends inSchlaf versunken war, waren seine inneren Erlebnisse nicht so un-bewußt und dunkel wie heute; sondern wenn ihm untertauchten dieBilder des Tageslebens, gingen ihm auf die Bilder des geistigenLebens, und er war jetzt innerhalb der Dinge der geistigen Welt.Und wenn er des Morgens wiederum untertauchte in seinem physi-schen Leib, sanken herunter ins Dunkel die Erlebnisse und Wahr-heiten der göttlich-geistigen Welt, und um ihn herum stiegen auf dieBilder der heutigen Wirklichkeit, der heutigen Reiche der Mineralien,

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Pflanzen, Tiere und so weiter. Jene scharfe Grenze zwischen nächt-licher Bewußtlosigkeit und täglichem Wachen entstand erst nach deratlantischen Flut, in unserer nachatlantischen Zeit. Da war der Menschin einer gewissen Weise - was die unmittelbare Wahrnehmung be-traf - abgeschnitten von der geistigen Wirklichkeit und immer mehrherausgesetzt in die rein physische Wirklichkeit. Die Erinnerungallein war geblieben, daß es ein anderes Reich, ein Reich geistigerWesenheiten und geistiger Vorgänge gibt, und an diese Erinnerunghatte sich geknüpft die Sehnsucht der Gemüter, durch irgendwelcheAusnahmezustände wieder hineinzusteigen in diese Reiche, aus denender Mensch heruntergestiegen war. Diese Ausnahmezustände wur-den nur wenigen Auserwählten zuteil, den Eingeweihten, denen inden Mysterienstätten die inneren Sinne geöffnet wurden, so daß siehineinblicken konnten in die geistige Welt. Sie konnten Kunde undZeugnis ablegen vor den anderen, die nicht imstande waren, hinaus-zuschauen, daß die geistigen Welten Wirklichkeit waren. Yoga warin der uralt-indischen Kultur der Prozeß, durch den der Mensch sichzurückversetzte in den alten dämmerhaften hellseherischen Zustand.Waren dann einzelne Ausnahmenaturen initiiert oder eingeweihtworden, dann wurden sie dadurch die Führer der Menschheit, dieZeugen der geistigen Welt.

Unter dem Eindruck dieser Sehnsucht und Erinnerung bildete sicheben innerhalb der uralt-indischen, vorvedischen Kultur vorzüglichjene Stimmung aus, welche in der äußeren Wirklichkeit Maja oderIllusion sah. Man sagte sich: Die wahre Wirklichkeit ist doch nur inder geistigen Welt, in die wir uns nur durch einen Ausnahmezustand,durch Yoga, zurückversetzen können. Diese Welt der geistigenWesen und Vorgänge ist wirklich, was der Mensch mit seinen Augensieht, ist unwirklich, ist Illusion, ist Maja!

Das war die erste religiöse Grundempfindung in der nachatlan-tischen Zeit, und Yoga war die erste Form der Einweihung in dernachatlantischen Zeit. Da war zunächst noch nichts vom Begreifender eigentlichen Mission der nachatlantischen Zeit. Denn es warnicht die Mission der Menschheit, die Wirklichkeit, die wir dieSinnlichkeit nennen, als Maja, als Illusion, anzusehen, sie zu fliehen

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und ihr fremd zu werden; sondern eine andere Mission hatte dienachatlantische Menschheit: immer mehr und mehr die physischeWirklichkeit zu erobern, Herr zu werden über die Welt der physi-schen Erscheinungen. Aber es ist auch durchaus begreiflich, daß dieMenschheit, die zuerst hineinversetzt wurde in diesen physischenPlan, im Anfange das, was früher kaum innerhalb der geistigenWirklichkeit auftauchte und das sie jetzt allein wahrnehmen konnte,für Maja oder Illusion hielt. Niemals aber durfte diese Stimmunggegenüber der Wirklichkeit bleiben. Nicht durfte diese Auffassungder physischen Wirklichkeit als einer Illusion der Lebensnerv dernachatlantischen Zeit bleiben. Und wir sahen, wie Stück für Stückdie nachatlantische Menschheit sich in den verschiedenen Kultur-epochen erobert hat den Zusammenhang mit der physischen Wirk-lichkeit.

In jener Kultur, die wir die urpersische nennen - denn das, wasdie Geschichte kennt unter der persischen und der Zarathustra-Kultur,sind die letzten Nachklänge dessen, was hier gemeint ist -, in dieserzweiten Kulturepoche sahen wir die Menschen den ersten Schritt tun,um hinauszuwachsen aus dem alten indischen Prinzip und sich diephysische Wirklichkeit zu erobern. Noch ist nirgends eine liebevolleVersenkung in die physische Wirklichkeit da, auch nirgends etwaswie ein Studium der physischen Welt. Aber es ist doch schon mehrda als in der alten indischen Kultur. Sogar das, was bis in die spätereZeit geblieben ist von dieser altindischen Kultur, zeigt uns noch dieNachklänge jener Stimmung, die die physische Wirklichkeit als Illu-sion ansieht. Daher hätte niemals unsere gegenwärtige Kultur her-vorgehen können aus dieser indischen Kultur. Alle Weisheit richteteinnerhalb der indischen Kultur den Blick hinweg von der physischenWelt und blickte hinauf in die geistigen Welten, die als Erinnerungvorhanden waren, und unwert erschien ihr das Studium und die Be-arbeitung der physischen Wirklichkeit. Daher konnte niemals daseigentliche indische Prinzip eine für unsere irdische Welt brauchbareWissenschaft hervorbringen; niemals hätte es jene Beherrschung derNaturgesetze hervorbringen können, die heute die Grundlage unsererKultur bildet. Alles das hätte niemals aus dem alten Indertum her-

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vorgehen können. Denn wozu die Kräfte einer Welt kennenlernen,die doch nur auf Täuschung beruht! Wenn das später anders ge-worden ist auch in der indischen Kultur, so ist das nicht aus ihrhervorgeflossen, sondern ist späteren fremden Einflüssen entsprungen.

Der altpersischen Kultur steht die äußere physische Wirklichkeitzunächst als ein Arbeitsfeld gegenüber. Noch wie der Ausdruckeiner feindlichen Gottheit wird sie angesehen, aber schon ist dieHoffnung ersprossen, daß man dieses materielle Feld der Wirklich-keit mit Hilfe der Lichtgottheit durchdringen kann, ganz in ein vongeistigen Mächten und guten Göttern durchdrungenes verwandelnkann. So spürt der Anhänger der persischen Kultur schon ein wenigdie Realität der physischen Welt. Zwar betrachtet er sie noch alsGebiet des Gottes der Finsternis, aber er hat doch die Hoffnung, daßer in sie einverleiben kann die Kräfte der guten Götter.

Und weiter geht die Menschheit dann hinüber in die Kulturepoche,die ihren geschichtlichen Ausdruck fand in der babylonisch-assyrisch-chaldäisch-ägyptischen Kultur. Und wir haben gesehen, wie es kam,daß der Sternenhimmel dem Menschen nicht mehr Maja war, sondernetwas, in dessen Schriftzügen man lesen konnte. In dem, was für dieInder noch Maja war, in den Bahnen und dem Glanz der Sterne, siehtder Angehörige der dritten Kulturepoche den Ausdruck der Rat-schlüsse und Absichten göttlich-geistiger Wesenheiten. Man lebt sichallmählich hinein in die Gesinnung, daß die äußere Wirklichkeit nichtTäuschung ist, sondern eine Offenbarung, eine Manifestation der gött-lich-geistigen Wesenheiten. Und in der ägyptischen Kultur fängt manan, das, was man aus der Sternenschrift herausliest, auf die Einteilungder Erde selbst anzuwenden. Warum wurden die Ägypter die Lehr-meister der Geometrie? Weil sie glaubten, daß man durch den Ge-danken, der die Erde abteilt, die Materie auch bezwingen kann unddaß sich umformen läßt die Materie, die der Geist des Menschen er-fassen kann. - So allmählich durchdrang eine spätere Menschheit diesematerielle Welt, die zuerst als Maja angesehen war, mit dem Geist,der immer mehr und mehr auch in des Menschen Innerem auftauchte.

Wir haben gesehen, daß eigentlich erst in der späteren atlan-tischen Zeit die Menschen in die Lage gekommen sind, das Ich oder

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«Ich-bin» zu empfinden. Denn solange die Menschen die geistigenBilder sahen, waren sie sich auch klar, daß sie selbst der geistigenWelt angehörten, selbst ein Bild unter Bildern waren. Jetzt kam dieErfassung des Geistes im Innern. Betrachten wir jetzt zu dem, waswir heute ein wenig wiederholt haben, die Entwickelung des eigenenInneren des Menschen.

Solange in der atlantischen Zeit der Mensch hinausgesehen hatin einer Art träumerischen, hellseherischen Bewußtseins, hat ereigentlich nicht recht achtgegeben auf sein Inneres. Da war dieInnenwelt, die mit dem Ich oder «Ich-bin» umfaßt wird, für ihn nochnicht etwas in scharfen Konturen Gezeichnetes. In demselben Maße,als die geistige Welt entschwand, wurde der Mensch sich seinereigenen Geistigkeit bewußt. In der altindischen Kultur war gegen-über der eigenen Geistigkeit noch eine sonderbare Stimmung. Mansagte: Wollen wir in die geistige Welt eindringen, uns über die Illu-sion erheben, dann müssen wir uns selbst verlieren in der geistigenWelt, müssen möglichst auslöschen das «Ich-bin» und aufgehen indem All-Geist, in dem Brahman. - So war es insbesondere bei deralten Einweihung ein Verlieren des Persönlichen. Ein unpersönlichesAufgehen in der geistigen Welt ist vor allem das, was die älteste Formder Einweihung auszeichnet.

Das war zum Beispiel nicht mehr so in der dritten Kulturepoche.Denn bis zur dritten Kulturepoche entwickelte sich das Selbstbewußt-sein des Menschen immer stärker. Immer mehr wurde sich derMensch im Innern seines Ichwesens bewußt. Indem man die Materieringsherum liebgewann, sich in sie vertiefte mit den Gesetzen, dieder menschliche Geist selbst ausdachte, die nicht in irgendeinemdämmerhaften Traumzustand gewonnen waren, wurde man seinesIch immer mehr gewahr, bis dieses Persönlichkeitsbewußtsein imalten Ägyptertum auf einem gewissen Höhepunkte angelangt war.In diesem Persönlichkeitsbewußtsein war aber noch etwas vorhanden,was es zugleich als etwas Niederes erscheinen ließ, als etwas, wasnun wiederum gebunden war und aufging in der äußeren Welt, waskeine Möglichkeit hatte, den Zusammenhang mit dem zu gewinnen,aus dem man herausgeboren war. Zwei Grundstimmungen der

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Menschheitsentwickelung müssen wir vor unsere Seele hinmalen,wenn wir den ganzen Hergang der Sache begreifen wollen.

Wir müssen uns einmal erinnern, wie die Menschen der atlan-tischen Zeit und der altindischen Zeit danach gelechzt haben, diePersönlichkeit abzustreifen. Die Atlantier konnten das, weil es fürsie selbstverständlich war, daß sie eben jede Nacht die Persönlichkeitabstreiften und in einem Geisterlande lebten. Die Inder konnten es,weil ihre Einweihungs-Prinzipien sie hinaufführten durch Yoga insUnpersönliche. Ruhen in dem allgemein Göttlichen war das, was manwollte. Das Ruhen in einem Allgemeinen war in einem letzten Aus-läufer der Menschheit geblieben: in dem Bewußtsein der Zusammen-gehörigkeit mit den Generationen, in dem Bewußtsein, daß manherausgeboren war aus einer Geschlechtsfolge, daß man als einzelnerMensch zusammenhing mit seinem Blute durch die Generationen biszum Urahn hinauf. Das war die Stimmung, die sich herausgebildethatte aus jener alten Stimmung, die sich geistig geborgen fühlte ineinem Geistig-Göttlichen. So war es gekommen, daß diejenigenMenschen, die eine normale Entwickelung durchgemacht hatten,in der dritten Kulturepoche anfingen, sich zu empfinden als einzelneMenschen, aber zu gleicher Zeit sich geborgen wußten in einemGanzen, in einem Göttlich-Geistigen, daß sie sich angliederten durchdie Blutsverwandtschaft an die ganze Vorfahren-Linie und daß derGott für sie lebte in dem durch die Generationen hinfließenden Blute.

Wir haben dann gesehen, wie innerhalb desjenigen Volkes, das dieBekennerschaft des Alten Testamentes bildet, sich ein gewisser Voll-kommenheitsgrad dieser Stimmung ausbildete. «Ich und der VaterAbraham sind eins », das heißt, der einzelne fühlte sich geborgen indem ganzen Zusammenhange bis hinauf zum Vater Abraham. Daswar ungefähr auch, was die Grundstimmung aller damals normal ent-wickelten Volksstämme ausmachte, aller Volksstämme der drittenKulturepoche. Aber nur der Bekennerschaft des Alten Testamenteswar prophetisch vorherverkündet worden, daß es noch etwas geistigTieferes gäbe als die göttliche Vaterschaft, die durch das Blut derGenerationen rinnt. Und auf den großen Moment in der Evolutionder Menschheit, wo das prophetisch vorherverkündet worden ist,

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haben wir hingewiesen. Als Moses den Ruf hört: «Sage, wenn dumeinen Namen verkünden wirst, der <Ich-bin > habe dir das gesagt I»,da ertönt zum erstenmal die Kunde und Offenbarung des Logos, desChristus. Da wurde prophetisch zum ersten Male verkündet für die,die es begreifen konnten, daß in dem Gotte nicht nur das lebt, wasim Blutzusammenhange steht, sondern daß in ihm lebt ein rein Gei-stiges. Wie Prophetie war es, was durch das Alte Testament ging.

Wer war es denn eigentlich - diese Frage ist es, an die wir unsnunmehr etwas halten wollen -, wer war es denn, der damals demMoses zum ersten Male seinen Namen durch die Prophetie verkün-dete? Da haben wir wiederum eine Stelle, wo die Ausleger des Johan-nes-Evangeliums ganz oberflächlich zu Werke gehen und nicht an-erkennen wollen, daß man diese Urkunden so gründlich wie möglichdurchgehen muß. - Wer war der, der prophetisch seinen Namen ver-kündigte, dem man den Namen «Ich-bin» geben muß? Wer war es?

Wir kommen darauf, wenn wir ordentlich und mit Ernst undWürde eine Stelle des Johannes-Evangeliums erfassen. Es ist dieStelle, die wir finden im 12. Kapitel von Vers 37 an. Da weist derChristus Jesus hin auf die Erfüllung eines Spruches des ProphetenJesaias, auf die Vorhersagung, mit dem Hinweise, daß die Judennicht glauben wollen an den Christus Jesus. Jesus selber weist dabeihin auf Jesaias:

«Er hat ihre Augen verblendet und ihr Herz verstocket, daß sie mitden Augen nicht sehen, noch mit dem Herzen vernehmen, und sichbekehren, und ich ihnen hülfe.Solches sagte Jesaias, da er seine Herrlichkeit sah, und redete mitihm.» (12, 40-41)

Jesaias «redete mit ihm» ! Mit wem redete Jesaias? Es wird hingewie-sen auf die Stelle, die da heißt:

«Des Jahres, da der König Usia starb, sähe ich den Herrn sitzen aufeinem hohen und erhabenen Stuhl, und sein Saum füllete den Tem-pel.» (Jesaias 6, 1)

Wen sah Jesaias? Das wird uns hier im Johannes-Evangelium klar

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gesagt: Christus sah er! Im Geistigen war er immer zu sehen, undSie werden es nicht mehr unbegreiflich finden, wenn die Geheim-wissenschaft darauf hinweist, daß derjenige, den Moses sah, als er ihmdas Wort des «Ich-bin » als seinen Namen ankündigte, dieselbe Wesen-heit war, die dann als Christus auf der Erde erschien. Der eigentliche«Geist Gottes» des Altertums ist kein anderer als der Christus, sodaß wir hier an einer der Stellen der religiösen Urkunden stehen,wo es dem, der nicht ordentlich zu Werke geht, besonders schwerwird, klar zu sehen. Denn klar muß man hier besonders deshalbsehen, weil mit den Worten «Vater», «Sohn» und «Heiliger Geist»die sonderbarsten Verwechselungen vorgekommen sind. Es ist jaimmer so gewesen, daß äußerlich im Exoterischen diese Worte in dermannigfaltigsten Weise gerade deshalb gebraucht worden sind, umden eigentlichen esoterischen Sinn nicht gleich hervorleuchten zulassen. Hat man im Sinne des alten Judentums von dem «Vater» ge-sprochen, so sprach man zunächst von jenem Vater, der durch dasBlut der Generationen hinunterrann, materiell. Sprach man so, wiehier Jesaias von dem «Herrn» gesprochen hat, von dem, der sichgeistig offenbarte, so sprach man ebenso von dem Logos wie imJohannes-Evangelium. Und nichts anderes will der Schreiber desJohannes-Evangeliums sagen als: Der, der immer im Geistigen ge-sehen werden konnte, der ist Fleisch geworden und hat unter unsgewohnet! - Wenn wir uns nun klargeworden sind, daß auch imAlten Testamente in einer gewissen Beziehung vom Christus ge-sprochen wird, so werden wir auch begreifen, in welcher Weise dasalte hebräische Volk in unsere Entwickelung hineingestellt wird. Ausdem Ägyptertum wächst das althebräische Prinzip heraus. Da hebtes sich ab von dem Hintergrund des ägyptischen Prinzips.

So also sehen wir, wie der normale Gang der Menschheitsentwicke-lung so fortschreitet, wie wir das gestern beschrieben haben. Die ersteKultur in der nachatlantischen Zeit ist die uralt-indische, die zweitedie urpersische, die dritte die babylonisch-assyrisch-chaldäisch-ägyp-tische Kultur, dann folgt die vierte, die griechisch-lateinische Epoche,und die fünfte ist unsere jetzige Kulturepoche. Bevor die vierteEpoche beginnt, geht wie ein geheimnisvoller Zweig aus der dritten

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Epoche dasjenige Volk mit seinen Traditionen hervor, das den Bodenabgibt für das Christentum. Wenn wir das alles zusammenfassen, waswir in unseren Vorträgen gewonnen haben, werden wir es noch be-greiflicher finden, daß in die vierte Kulturepoche hineinfallen mußtedie Erscheinung des Christus.

Wir haben schon hervorgehoben, daß in der vierten Epoche derMensch so weit gekommen war, daß er seine eigene Geistigkeit, seinIch verobjektiviert hinaus gestellt hat in die Welt. Wir sehen, wie derMensch allmählich die Materie durchdringt mit seinem eigenenGeiste, mit seinem Ich-Geist. Wir sehen die Werke der griechischenPlastiker, der griechischen Dramatiker, wo der Mensch das, was ersein seelisches Eigentum nennt, sich verkörpert vor die Seele hin-stellt. Wir sehen weiter in der römischen Welt, wie das, was derMensch ist, auch in sein Bewußtsein kommt und wie er das fixiertfür die äußere Welt im «Jus», wenn auch eine vertrackte Rechts-wissenschaft das verhüllt. Für den tieferen Kenner der Jurisprudenzist es klar, daß das eigentliche Recht, das den Menschen als Rechts-subjekt betrachtet, erst in dieser vierten Kulturepoche entstanden ist.Da war sich der Mensch so weit seiner eigenen Persönlichkeit be-wußt, daß er sich erst als ein eigentlicher Staatsbürger fühlte. Nochim Griechentum fühlte sich der einzelne Mensch als ein Glied desganzen Stadt-Staates. Wichtiger war es, Athener zu sein als ein ein-zelner Mensch. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn man sagt: Ichbin ein Römer - als: Ich bin ein Athener. Wenn man sagt: Ich bin einRömer - weist man darauf hin, daß man als einzelner Mensch, alsBürger des Staates einen Wert hat, einen Willen hat. Da würde manauch nachweisen können, daß zum Beispiel die Entstehung des Be-griffes «Testament» erst in dieser Zeitepoche möglich geworden ist;denn das ist ein römischer Begriff. Erst da hatte der Mensch seinenWillen so persönlich gemacht, so individualisiert, daß er auch nochüber den Tod hinaus mit seinem Willen wirken wollte. Die Dinge,die man in der Geisteswissenschaft zu sagen hat, stimmen bis aufseinzelne mit den wirklichen Tatsachen überein.

So war der Mensch immer mehr zur Durchdringung der Materiemit seinem Geiste gekommen. Aber auch später zeigt sich das immer

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mehr. Die vierte Zeitepoche ist die, wo der Mensch das, was er inseinem Geiste erfaßt, restlos der Materie einverleibt. In der ägypti-schen Pyramide sehen Sie noch, wie Geist und Materie miteinanderringen, wie sich das im Geiste Erfaßte noch nicht voll in der Materieausdrückt. Im griechischen Tempel drückt sich aus der ganze Wende-punkt in der nachatlantischen Zeit. Für den, der etwas davon ver-steht, gibt es sogar keine bedeutendere, keine vollendetere Archi-tektur als die griechische, die der reinste Ausdruck ist der innerenRaumgesetzlichkeit. Die Säule ist ganz als Träger gedacht, und wasauf der Säule liegt, ist ganz und gar so empfunden worden, daß esgetragen werden muß und daß es drückt. Der souveräne, emanzi-pierte Raumgedanke ist hier beim griechischen Tempel bis in dieletzten Konsequenzen durchgeführt. Wenige Menschen haben späternoch den Raumgedanken so empfunden wie damals. Es hat aller-dings noch Menschen gegeben, die den Raumgedanken haben fühlenkönnen, aber sie haben ihn malerisch gefühlt. Prüfen Sie einmal inder Sixtinischen Kapelle den Raum; stellen Sie sich an die Hinter-wand, wo das große Bild des Gerichtes ist, und sehen Sie hinauf:Da werden Sie sehen, wie die Hinterwand schief in die Hohe geht.Sie geht deshalb schief in die Höhe, weil der Ausführer den Raum-gedanken gefühlt und nicht so abstrakt gedacht hat wie andere Men-schen. Deshalb steht diese Wand so wunderbar im Winkel da. Dasheißt, nicht mehr griechisch den Raumgedanken empfinden. Es gibteinen Kunstsinn, der die im Raum verborgenen geheimen Maßeempfindet. Architektonisch empfinden heißt nicht, für das Auge,sondern etwas anderes empfinden. Leicht glaubt der Mensch heute:rechts sei ebenso wie links, oben ebenso wie unten und vorn so wiehinten. Wenn der Mensch nur einmal folgendes bedenken wollte:Es gibt Bilder, auf denen sieht man drei, vier oder fünf Engel schwe-ben. Diese können so gemalt sein, daß man im Recht ist zu denken,sie müßten jeden Augenblick herunterfallen. Sie können aber auchso gemalt sein von jemandem, der den wirklichen Raumsinn ent-wickelt hat, daß er nicht die Möglichkeit gibt, dies zu denken; siekönnen gar nicht herunterfallen, denn sie tragen sich gegenseitig.Dann hat man die dynamischen Verhältnisse des Raumes dabei

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malerisch vor sich. Der Grieche hatte sie architektonisch vor sich;er empfand die Horizontale nicht bloß als Linie, sondern er empfandsie als Druckkraft, und er empfand die Säule nicht bloß als Stock,sondern empfand sie als Tragkraft. Dieses Mitfühlen mit den Liniendes Raumes, das heißt «den lebendigen Geist geometrisierend fühlen».Das ist, was Plato gemeint hat, als er den ungeheuren Ausdruck ge-brauchte: «Gott geometrisiert fortwährend.» - Diese Linien im Raumsind vorhanden, und danach baute der Grieche seinen Tempel.

Was ist denn der griechische Tempel? Er ist mit Notwendigkeitein Wohnhaus des Gottes. Er ist etwas ganz anderes als die heutigeKirche. Die heutige Kirche ist eine Predigtstätte. In dem griechischenTempel wohnte der Gott selbst darinnen. Die Menschen sind nurzufällig darin, wenn sie bei Gott sein wollen. Wer die Formen desgriechischen Tempels versteht, der empfindet einen geheimnisvollenZusammenhang mit dem im Tempel wohnenden Gott. Da sieht manin den Säulen und dem, was darüber ist, nicht etwas, was der Menschphantasiert hat, sondern etwas, was der Gott selbst so gemacht hätte,wenn er sich ein Wohnhaus hätte schaffen wollen. Das war dasHöchste an Durchdringung von Materie mit Geist.

Vergleichen Sie einmal den griechischen Tempel mit einer gotischenKirche. Es soll nichts gegen die Gotik gesagt sein, denn sie steht voneinem anderen Gesichtspunkt aus auf einer höheren Stufe. Bei dergotischen Kirche sehen Sie, wie dasjenige, was in ihren Formen zumAusdruck kommt, eigentlich gar nicht gedacht und gar nicht emp-funden werden kann ohne die andächtige Menge. In den Bogenformender Gotik liegt für den, der das empfinden kann, etwas, was er über-haupt gar nicht anders empfinden kann, als indem er sich sagt: Wennda nicht die andächtige Menge darinnen ist und die Hände so inBogenform zusammenschließt, ist das Ganze nicht vollständig. Diegotische Kirche ist nicht bloß das Wohnhaus Gottes, sondern zugleicher Zeit der Versammlungsort der zum Gotte betenden Menge.So überschreitet die Menschheit wiederum den Höhepunkt ihrereigenen Entwickelung in einer gewissen Weise. Wir sehen, wie das,was innerhalb des griechischen Raumsinnes wunderbar empfundenist in den Linien des Raumes, in den Säulen und Balken, später in

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Dekadenz gekommen ist. Eine Säule, die nicht trägt, die nur als deko-ratives Motiv da ist, ist für das griechische Empfinden keine Säule.Es steht alles in der menschlichen Evolution im absoluten Einklang.Die griechische Kulturepoche war die schönste Durchdringung desin sich entdeckten Bewußtseins der Menschheit und dessen, wasdraußen im Räume als das Göttliche empfunden wurde. Der Menschwar ganz und gar zusammengewachsen mit der physisch-sinnlichenWelt in dieser Kulturepoche.

Es ist einfach Unsinn, wenn heutige Gelehrte das, was frühereZeiten empfunden haben, verdunkeln wollen. Im geisteswissen-schaftlichen Sinne sehen wir die vierte Epoche der nachatlantischenZeit an als diejenige, in welcher der Mensch ganz und gar im Ein-klänge steht mit der ihn umgebenden Welt. Diese Zeit, wo derMensch wie zusammengewachsen war mit der äußeren Wirklichkeit,war allein geeignet, zu begreifen, daß das Göttliche in einem einzelnenMenschen erscheinen kann. Jede frühere Zeit hätte alles andere eherbegriffen als das; jede frühere Zeit hätte so empfunden, daß das Gött-liche viel zu hoch und erhaben sei, als daß es in einer physischenMenschengestalt erscheinen könne. Bewahren wollte man das Gött-liche gerade vor der physischen Gestalt. «Du sollst dir kein Bildnismachen!» (2.Mose 20, 4), mußte deshalb gerade dem Volke gesagtwerden, das die Idee des Gottes in seiner geistigen Gestalt erfassensollte. Aus solchen Anschauungen heraus entwickelte sich dieses Volk,und aus seinem Schöße erwuchs die Christus-Idee, die Idee, daß dasGeistige im Fleische erscheinen sollte. Dazu wurde dieses Volk auser-sehen; und da hinein, in die vierte der nachatlantischen Epochen,mußte das Christus-Ereignis fallen.

Deshalb zerfällt für das christliche Bewußtsein das ganze Menschen-werden in eine vorchristliche und in eine nachchristliche Zeit. DerGott-Mensch konnte nur in einer bestimmten Zeit von dem Menschenbegriffen werden. Und so sehen wir, wie das Johannes-Evangeliumanknüpft im vollen Bewußtsein und in der Gesinnung an das, was,wenn ich ein triviales Wort gebrauchen darf, unmittelbar zeitgemäßwar, unmittelbar aus dem Zeitbewußtsein heraus stammte. Ganz vonselbst machte es sich daher - sozusagen wie etwas innerlich Ver-

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wandtes -, daß die Gedankenbilder, durch die der Schreiber desJohannes-Evangeliums das größte Ereignis der Weltgeschichte zubegreifen versuchte, ihm am besten ausgedrückt erschienen in grie-chischen Gedankenformen. Und nach und nach wuchs das ganzechristliche Empfinden in diese Gedankenformen hinein. Wir werdensehen, wie mit dem Fortschreiten dann so etwas wie die Gotik ent-stehen mußte, weil das Christentum allerdings dazu berufen war,wiederum über die Materie hinauszuführen. Aber entstehen konntees nur da, wo man so weit hineingeraten war in die Materie, daß mansie noch nicht überschätzte, noch nicht darin untergesunken war wiein unserem Zeitalter, aber sie doch zu durchgeistigen und zu durch-dringen vermochte.

So denke ich, zeigt sich uns aus dem ganzen geistigen Hergangder Menschheit heraus die Entstehung des Christentums als etwasdurchaus Notwendiges. Wenn wir nunmehr begreifen wollen, welcheGestalt das Christentum nach und nach annehmen mußte, welcheGestalt ihm prophetisch von einer solchen Individualität wie demSchreiber des Johannes-Evangeliums vorhergesagt wird, müssen wirim nächsten Vortrag auf einige wesentliche und wichtige BegriffeRücksicht nehmen.

Gezeigt ist worden, daß man alles buchstäblich nehmen, aber erstden Buchstaben wirklich verstehen muß. Es ist nicht einerlei, daßnirgends der Name «Johannes» vorkommt, sondern immer geredetwird von dem Jünger, « den der Herr lieb hatte ». Wir haben gesehen,welches Geheimnis sich dahinter verbirgt, und daß dies von tieferBedeutung ist. - Nun wollen wir noch einen anderen Ausdruck be-trachten, einen Ausdruck, der es uns unmittelbar möglich machenwird, anzuknüpfen an die nachfolgenden Entwickelungsperioden desChristentums.

Im Johannes-Evangelium wird gewöhnlich übersehen, wie von der«Mutter Jesu» gesprochen wird. Wenn man den gewöhnlichenDurchschnittschristen fragen wird: Wer ist die Mutter Jesu? wird erantworten: Die Mutter Jesu ist Maria! Und mancher wird sogarglauben, daß im Johannes-Evangelium so etwas steht, wie daß dieMutter des Jesus Maria heißt. Nirgends steht im Johannes-Evange-

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lium etwas davon, daß die Mutter Jesu « Maria» heißt. Es steht über-all, wo davon die Rede ist, mit einer vollen Absichtlichkeit, derenBedeutung wir kennenlernen werden, nur die «Mutter Jesu». Im Ka-pitel der Hochzeit zu Kana heißt es: «Und die Mutter Jesu war da » (2,1); und später wird gesagt: « Seine Mutter spricht zu den Dienern» (2,5). Niemals der Name «Maria». Und wo sie uns wieder entgegentritt,wo wir den Erlöser am Kreuze sehen, wird gesagt im Johannes-Evan-gelium :

«Es stand aber bei dem Kreuze Jesu seine Mutter und seiner MutterSchwester, Maria, des Kleophas Weib, und Maria von Magdala.»

Klar und deutlich ist da gesagt, wer am Kreuze steht: Die Mutterwar da, dann deren Schwester, die des Kleophas Weib war und Mariahieß, und die Maria von Magdala. Wenn jemand etwas nachdenkt,wird er sich sagen: Es ist doch sonderbar, daß die beiden SchwesternMaria heißen! Das ist heute nicht gebräuchlich. - Und damals wares das auch nicht. Und da der Schreiber des Johannes-Evangeliumsdie Schwester Maria nennt, so ist es klar, daß die Mutter Jesu nichtMaria hieß. Im griechischen Worttext steht klar und deutlich: Untenstand «seine Mutter und seiner Mutter Schwester, die des KleophasWeib war, Maria, und die Maria von Magdala.» - Da entsteht für einewürdige Auffassung die Frage: Wer ist die Mutter des Jesus? Und dastreifen wir an eine der größten Fragen des Johannes-Evangeliums:Wer ist der eigentliche Vater des Jesus? Wer ist die Mutter?

Wer ist der Vater? - Kann man denn überhaupt fragen? Nicht nurim Sinne des Johannes-Evangeliums, sondern im Sinne des Lukas-Evangeliums können Sie fragen. Denn es gehört eine besondere Ge-dankenlosigkeit dazu, nicht zu sehen, wie bei der Verkündigung ge-sagt wird:

«Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft desHöchsten wird dich überschatten, und das, was von dir geborenwird, wird Gottes Sohn heißen.» (Lukas 1, 35)

Selbst im Lukas-Evangelium wird darauf hingewiesen, daß der

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Vater des Jesus der Heilige Geist ist. Das ist buchstäblich aufzufassen,und diejenigen Theologen, die das nicht anerkennen, können dasEvangelium eben nicht lesen. Und so müssen wir die große Fragehinstellen: Wie stehen mit alledem, was wir gehört haben, die Worte«Ich und der Vater sind eins», «Ich und der Vater Abraham sindeins», «Bevor Abraham war, war <Ich-bin>» in Einklang? Wie bringtman mit alledem die unleugbare Tatsache in Harmonie, daß dieEvangelien in dem «Heiligen Geist» das Vater-Prinzip sehen? Undwie haben wir im Sinne des Johannes-Evangeliums über das Mutter-Prinzip zu denken?

Damit Sie morgen recht vorbereitet kommen im Geiste mit derFormulierung dieser Fragen, soll außerdem noch hingewiesen wer-den darauf, daß im Lukas-Evangelium eine Art Generationenfolgegegeben wird, daß uns da gesagt wird, daß Jesus getauft wurde vonJohannes, daß er anfing zu lehren im dreißigsten Jahre und daß gesagtwird, er sei der Sohn der Maria und «des Josef, der war ein Sohn Eli»und so weiter, und nun folgt die ganze Generationenreihe. VerfolgenSie sie; Sie werden sehen, daß sie hinaufgeht bis zu Adam. Und dannfolgt etwas ganz Eigentümliches, es stehen die Worte da: «der warGottes.» (Lukas 3, 23-38)

Genau ebenso wie hinaufgewiesen wird vom Sohn zum Vater, sowird von Adam zu Gott verwiesen im Lukas-Evangelium. Eine solcheStelle müssen wir ganz ernst nehmen! Dann haben wir ungefähr dieFragen zusammen, die uns morgen in das Zentrum des Johannes-Evangeliums führen sollen.

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Z E H N T E R VORTRAG

Hamburg, 30. Mai 1908

Uns beschäftigte das ganze Gesetz der nachatlantischen Entwicke-lung unserer Menschheit, und wir suchten zu verstehen, warum ge-rade in einem ganz bestimmten Zeitpunkte dieser nachatlantischenEntwickelung die Stiftung des Christentums stattfinden mußte. Wirhaben gestern am Schluß des Vortrages erwähnt, daß das Verständ-nis wichtiger Fragen des Johannes-Evangeliums und des ganzenChristentums davon abhängt, daß wir gerade dieses Entwickelungs-gesetz im esoterisch-christlichen Sinne gut ins Auge fassen. Nur da-durch werden wir ein volles Verständnis gewinnen können für dieBedeutung der Worte «Heiliger Geist», «Vater und Mutter Jesu».Vor allen Dingen erinnern wir uns, daß uns klar geworden ist imLaufe der letzten Vorträge, daß die nachatlantische Menschheit, alsodiejenige Menschheit, zu der wir im engeren Sinne selbst gehören,die sich entwickelt hat nach der atlantischen Flut, in sieben Unter-abteilungen zerfällt. Es wird von mir absichtlich der Begriff «Unter-rassen» vermieden, weil eigentlich der Begriff «Rasse» sich nichtvöllig deckt mit dem, um was es sich dabei handelt. Es handelt sichum Kulturentwickelungsperioden, und das, was wir als Rassengesetzin unserer heutigen Menschheit noch erleben, ist eigentlich ein Nach-klang der atlantischen Entwickelung. Diejenige Menschheitsentwik-kelung, die der atlantischen Flut vorangegangen ist, also die sich zumgroßen Teil abgespielt hat auf jenem Kontinente, der da war zwischendem heutigen Europa und dem heutigen Amerika, der alten Atlantis,diese Menschheitsentwickelung teilen wir auch in sieben aufeinander-folgende Abschnitte. Für diese sieben Abschnitte gilt noch der Aus-druck «Rassen-Entwickelung». Denn diese sieben aufeinanderfolgen-den Stufen der Menschheit auf der alten Atlantis waren auch nochkörperlich, inner- und außer-körperlich - zum äußeren Körper rechnetman auch die innere Konfiguration des Gehirns, des Blutes und deranderen Säfte - sehr voneinander verschieden, während gar keineRede davon sein kann, daß etwa die erste Menschheit der nachatlan-

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tischen Zeit, die alten Inder, von uns so weit verschieden waren, daßwir noch den Ausdruck «Rasse» darauf anwenden dürften. Man mußja immer die Kontinuität der Theosophie festhalten, und daher ist es jaoft notwendig, an diesen alten Begriff der Rassen anzuknüpfen. Aberman erweckt doch zu leicht falsche Vorstellungen durch das WortRasse, weil man übersieht, daß das Einteilungsmotiv für die Mensch-heit, das wir heute haben, ein viel innerlicheres ist als das, welches mitdem Ausdruck der Rasse zusammenhängt. Und gar auf das, was unsereKultur ablösen wird, die Kultur nach der siebenten Unterabteilung,wird überhaupt der Ausdruck Rasse nicht mehr angewendet werdendürfen, weil die Menschheit sich dann gliedern wird nach ganz ande-ren Grundgesetzen.

Von diesem Gesichtspunkte aus müssen Sie es nehmen, wenn wirdie nachatlantische Zeit einteilen erstens in die alte indische Epoche,zweitens in die altpersische, drittens in die babylonisch-assyrisch-chal-däisch-ägyptische, viertens in die griechisch-lateinische und fünftens indie Epoche, in der wir jetzt leben; die unsrige wird abgelöst werdenvon einer sechsten und einer siebenten Entwickelungsepoche.

Wir also stehen jetzt in der fünften nachatlantischen Kulturepocheund sagen uns: Das Christentum ist eingetreten in die Menschheits-entwickelung in seiner vollen Tiefe und Bedeutung in der viertenEpoche. Es hat, soweit die Menschheit der fünften Epoche ergriffenwerden konnte, gewirkt, und wir werden prophetisch voraussagen,wie es weiter wirken wird, soweit es aus der spirituellen Wissenschaftmöglich ist, vorherzusagen. Wir haben aber schon gestern erwähnt,daß die Mission des Christentums vorbereitet worden ist in der drittenKulturepoche. Die ägyptische Kultur gehört zu der dritten Kultur-epoche, und aus ihrem Schöße heraus leitete das Bekennertum desAlten Testamentes die hebräische Kulturentwickelung so, daß sozu-sagen herausgeboren wurde aus dem Schöße der dritten Kulturepochedas Christentum, das dann voll zur Welt kam für die vierte Epochemit dem Christus Jesus. Wir können also sagen: T>ie Menschheit dernachatlantischen Zeit hat erlebt einen gewissen geistigen Einfluß inder dritten Kulturepoche. Dieser Einfluß hat fortgewirkt in die vierteEpoche hinein; da konzentrierte er sich in dem Christus Jesus, wirkte

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weiter hinein in die fünfte Kulturepoche, in die unsrige, und wird vonder unsrigen hinüberwirken in die sechste Epoche, die der unsrigennachfolgen wird. Und nun müssen wir genau verstehen, wie dieseWirkungen geschehen sind.

Erinnern wir uns einmal genau, daß im Laufe der Menschheitsentwik-kelung die verschiedenen Grundteile des Menschen ihre Entwickelungerleben. Erinnern wir uns daran, wie es in der letzten atlantischenZeit war. Wir haben ausgeführt, daß in den physischen Leib hineinsich gesenkt hat der Ätherkopf, daß da der Mensch die erste Anlageempfangen hat, zu sich «Ich-bin» zu sagen. Als die atlantische Fluteintrat, war der physische Leib des Menschen von der Gewalt dieses«Ich-bin» durchdrungen; das heißt, der Mensch war damals so weit,das physische Werkzeug vorbereitet zu haben für das Ich-Bewußtseinoder das Selbstbewußtsein. Damit wir uns ganz genau verstehen:Wenn wir in die Mitte der atlantischen Zeit zurückgingen, würdekein Mensch in der Lage gewesen sein, ein solches Selbstbewußtseinzu entwickeln, um aus sich selbst heraus «Ich bin ein Ich!» oder «Ichbin » auszusprechen. Das konnte nur dadurch eintreten, daß jener Teildes Ätherkopfes, von dem wir gesprochen haben, sich verband mitdem physischen Teile des Kopfes. Damals, bis zum Untergang derAtlantis durch die atlantische Flut, bildete der Mensch das erste aus,was ausgebildet werden mußte, um ein Träger dieses Selbstbewußt-seins werden zu können: er bildete die physische Gehirnanlage unddie andere Gestaltung des Körpers aus. Also der physische Leibwurde bis zur atlantischen Flut hin reif, ein Ichträger zu sein.

Wir können also fragen: Welches war denn die Mission des Atlan-tiertums? Die Mission des Atlantiertums war, dem Menschen das Icheinzuimpfen, einzuprägen; und diese Mission geht dann über dieatlantische Flut, die man als Sintflut beschreibt, hinüber in unsereZeit. Aber in unserer nachatlantischen Kulturepoche muß schonwieder etwas anderes kommen: da muß langsam hineingehen in denMenschen Manas oder das Geistselbst. Mit unserer nachatlantischenZeit beginnt der Einfluß von Manas oder Geistselbst. Wir wissenalso, daß dann, wenn wir in unserer sechsten und siebenten Epocheverschiedene Verkörperungen werden durchgemacht haben, wir von

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Manas oder Geistselbst bereits werden überschattet sein bis zu einemgewissen Grade. Aber es bedarf einer längeren Vorbereitung für denMenschen, um überhaupt ein geeignetes Werkzeug für dieses Manasoder Geistselbst zu werden. Er hatte dazu - wenn es sich auch umTausende von Jahren dabei handelt - vorher erst ein Ich-Träger imeigentlichen Sinne zu werden. Er mußte nicht nur seinen physischenLeib zu einem Werkzeug des Ich machen, sondern auch die anderenGlieder seiner Wesenheit.

In der ersten Kulturepoche der nachatlantischen Zeit macht derMensch zuerst seinen Ätherleib zum Ich-Träger, wie er vorher seinenphysischen Leib dazu gemacht hatte. Das war die alte indische Kultur.Sie besteht im wesentlichen darin, daß der Mensch die Fähigkeit er-langt, nicht nur ein physisches Werkzeug zu haben für das Ich, son-dern auch einen dazu geeigneten Ätherleib. Daher ist in dieser Tabelledie erste Epoche, die alte indische Kultur, mit «Ätherleib » beschrieben(siehe Seite 181).

Wollen wir jetzt die weitere Entwickelung dieser Kulturepochenins Auge fassen in bezug auf den Menschen, so müssen wir nicht nuroberflächlich das Seelische als astralischen Leib annehmen, sonderngenauer zu Werke gehen und diejenige Gliederung des Menschen zu-grunde legen, die Sie in meiner «Theosophie» finden. Da wissen Sie,daß wir nicht bloß unterscheiden im allgemeinen die sieben Gliederdes Menschen, sondern daß der mittlere Teil des Menschen wiederzerfällt in den Empfindungsleib, in die Empfindungsseele, die Ver-standesseele und die Bewußtseinsseele; und dann haben wir das Geist-selbst, den Lebensgeist und den Geistesmenschen. Man unterscheidetja gewöhnlich nur sieben Glieder; das vierte, das wir unter demWorte «Ich» zusammenfassen, müssen wir weiter gliedern, weil esin der menschlichen Entwickelung so gegliedert ist.

Das, was nun während der altpersischen Kulturepoche ausgebildetwird, ist der eigentliche Astralleib oder der Empfindungsleib; er istder Träger der eigentlichen Betätigungskräfte des Menschen, daherbesteht der Übergang vom Indertum zum Persertum darin, daß zumBearbeiten der Materie übergegangen wird. Das Regen der Händeund was damit verbunden ist, das Übergehen zur Arbeit, das ist es,

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was diese Kulturepoche charakterisiert. Das alte Indertum war ineinem viel höheren Grade, als man sich denkt, dazu geneigt, nichtdie Hände zu regen, sondern in Kontemplation sich zu erheben überdas Materielle zu den höheren Welten. Man mußte sich tief in sichhineinversenken, wenn man sich zurückerinnern wollte an den frü-heren Zustand. Daher besteht zum Beispiel die indische Yoga-Einwei-hung im allgemeinen darin, daß der Ätherleib eine besondere Pflegeund Ausbildung erfährt.

Nun schreiten wir weiter. Die Kultur des alten Persertums bestehtdarin, daß das Ich in den Empfindungsleib gesenkt wird. Die Kulturder Assyrer, Babylonier, Chaldäer, Ägypter besteht darin, daß das Ichhinaufsteigt bis in die Empfindungsseele. Was ist Empfindungsseele?Was vorzüglich bei dem empfindenden Menschen sich nach außenrichtet, wodurch der wahrnehmende Mensch sich betätigt mit denAugen und den anderen Sinnen und wahrnimmt draußen in der Naturden waltenden Geist. Daher wird in dieser Zeit das Auge gerichtetauf die im Räume ausgebreiteten materiellen Dinge, auf die Sterneund ihren Gang. Da wirkt auf die Empfindungsseele das, was äußer-lich im Räume ausgebreitet ist. Wenig ist in der ägyptisch-chaldäisch-assyrisch-babylonischen Zeit von dem im Menschen schon vorhanden,was man innerliche Persönlichkeits- und Verstandeskultur nennenkönnte. Das stellt sich auch der heutige Mensch nicht mehr richtigvor, wie eigentlich die ägyptische Weisheit dieser Epoche beschaffenwar. Diese Weisheit war eigentlich gar nicht ein Denken, ein Speku-lieren, wie das später gekommen ist; sondern wenn der Mensch denBlick hinausrichtete, empfing er das Gesetz, das er draußen mit denSinnen ablas. Ein Ablesen der Gesetze war es, keine Begriffswissen-schaft, eine Anschauungswissenschaft, eine Empfindungswissenschaft.

Wenn unsere Gelehrten nachdenken würden - es ist ja ein harterSatz -, so würden sie mit Fingern sozusagen auf das, was jetzt ebenausgesprochen worden ist, hingewiesen werden, allerdings mit gei-stigen Fingern. Denn wenn nicht nachgedacht worden ist mit deneigentlichen inneren Verstandeskräften, so heißt das nicht mehr undnicht weniger, als daß es damals eine eigentliche Begriffswissenschaft,eine logische Wissenschaft nicht gegeben haben kann. Die hat es auch

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nicht gegeben! Die Geschichte weist Ihnen nach, daß der eigentlicheBegründer der Logik Aristoteles ist. Hätte es früher eine Logik, eineBegriffswissenschaft gegeben - diese in ein Buch zu bringen, das wür-den diese Menschen schon imstande gewesen sein.

Eine Logik, das, was Nachdenken im Ich selber ist, wo man imIch Begriffe verbindet und trennt, wo man also logisch urteilt, nichtabliest von den Dingen, das tritt erst in der vierten Kulturepoche ein.Daher nennen wir diese vierte Epoche die Epoche der Verstandes-seele.

Und wir selbst sind in einer Epoche - ungefähr trat die Mensch-heit ein in diese Epoche um die Mitte des Mittelalters, vom 10., n . ,12. Jahrhundert angefangen -, wir selbst sind in der Epoche des Ein-tretens des Ich in die Bewußtseinsseele. So spät ist das erst ge-kommen. In die Bewußtseinsseele trat das Ich ein erst ungefähr umdie Mitte des Mittelalters. Auch das ließe sich sehr leicht historischbelegen, und man könnte in alle Winkel hineinleuchten, wenn manZeit hätte, auf manches hinzudeuten, was dabei in Frage kommt.Damals impfte sich dem Menschen ein ganz bestimmter Begriff einvon individueller Freiheit, von individueller Ich-Tüchtigkeit. WennSie noch die erste Zeit des Mittelalters betrachten, würden Sie durch-aus noch überall finden, daß der Mensch in einer gewissen Weise giltdurch das, wie er in die Gesellschaft hineingestellt ist. Man erbt vomVater und den Angehörigen Stand und Rang und Würde, und ver-möge dieser unpersönlichen Dinge, die nicht mit dem Ich bewußtverknüpft sind, handelt und arbeitet man in der Welt. Erst später,als der Handel sich ausdehnte und die Erfindungen, die neuzeitlichenEntdeckungen kamen, beginnt das Ich-Bewußtsein sich auszudehnen,und wir können sehen, daß überall in der europäischen Welt dieäußeren Abbilder dieser Bewußtseinsseele in einer ganz bestimmtenArt von Städteverfassungen, Städtekonstitutionen und dergleichenauftreten. Aus der Geschichte Hamburgs zum Beispiel könnte manleicht nachweisen, wie sich historisch diese Dinge entwickelt haben.Das, was man «freie Stadt» im Mittelalter nannte, das ist der äußereAbdruck dieses Hinhauchens der ichbewußten Seele durch dieMenschheit. Und wenn wir jetzt einmal den Blick in die Zukunft

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schweifen lassen, so sagen wir: Jetzt sind wir eben daran, dieses Per-sönlichkeitsbewußtsein in der Bewußtseinsseele auszubilden. AlleForderungen der neueren Zeit sind nichts anderes, als daß unbewußtdie Menschen die Forderungen der Bewußtseinsseele herausbringen.

Wenn wir aber den Blick weiter schweifen lassen, erblicken wirim Geiste noch etwas anderes. Da steigt dann der Mensch auf in dernächsten Kulturepoche zu Manas oder dem Geistselbst. Das wirdeine Zeit sein, in welcher die Menschen in weit höherem Grade alsheute eine gemeinsame Weisheit haben werden, sozusagen in gemein-same Weisheit eingetaucht sein werden. Es wird beginnen etwas da-von, daß man empfinden wird, daß das Ureigenste des Menschen zugleicher Zeit das Allgemeingültigste ist. Das, was man im heutigenSinne als individuelles Gut des Menschen auffaßt, ist noch nicht einindividuelles Gut auf einer hohen Stufe. Heute ist mit der Individua-lität, mit der Persönlichkeit des Menschen noch im hohen Grade ver-knüpft, daß die Menschen sich streiten, daß die Menschen verschie-dene Meinungen haben und behaupten: Wenn man nicht verschie-dener Meinung sein dürfte, würde man ja kein selbständiger Menschsein. Gerade weil sie selbständige Menschen sein wollen, müssen siezu verschiedenen Meinungen kommen. Aber das ist ein untergeord-neter Standpunkt der Anschauung. Am friedlichsten und harmonisch-sten werden die Menschen sein, wenn der einzelne Mensch am indivi-duellsten sein wird. Solange die Menschen noch nicht vom Geistselbstvollständig überschattet sind, gibt es Meinungen, die voneinanderverschieden sind. Diese Meinungen sind noch nicht im wahrenInnersten des Menschen empfunden.

Heute gibt es nur einige Vorläufer für die im wahren Innernempfundenen Dinge. Das sind die mathematischen und geometri-schen Wahrheiten. Über die kann man nicht abstimmen. Wenn eineMillion Menschen Ihnen sagen würde, daß 2 x 2 = 5 ist, und Sie sehenes selbst im eigenen Innern ein, daß es 4 ist, so wissen Sie es, undSie wissen auch, daß die anderen im Irrtum sein müssen - geradeso,wie wenn jemand behauptete, daß die drei Winkel eines Dreiecksnicht zusammen 180 Grad betragen.

Das ist Manas-Kultur, wenn immer mehr empfunden werden die

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Quellen der Wahrheit in dem stark gewordenen Individuellen, Per-sönlichen des Menschen und wenn zu gleicher Zeit das, was emp-funden wird als höhere Wahrheit, auch von Mensch zu Mensch über-einstimmt wie die mathematischen Wahrheiten. In diesen stimmendie Menschen heute schon überein, weil das die trivialsten Wahr-heiten sind. In bezug auf die anderen Wahrheiten streiten sich dieMenschen, nicht weil es über dieselbe Sache zwei verschiedene rich-tige Meinungen geben kann, sondern weil die Menschen noch nichtso weit gekommen sind, das alles zu erkennen und niederzukämpfen,was an persönlicher Sympathie oder Antipathie sie trennt. Würde beiden einfachen mathematischen Wahrheiten noch die eigene Meinungin Betracht kommen, so würden viele Hausfrauen vielleicht dafürstimmen, daß 2 x 2 = 5 ist und nicht 4. Für den, der tiefer in die Naturder Dinge hineinsieht, ist es eben unmöglich, über die höhere Naturder Dinge zu streiten, es gibt nur die Möglichkeit, sich dazu hinauf-zuentwickeln. Dann trifft die Wahrheit, die in der einen Seele ge-funden ist, genau zusammen mit der Wahrheit in der anderen Seele;dann streitet man nicht mehr. Und das ist die Gewähr des wahrenFriedens und der wahren Brüderlichkeit, weil es nur eine Wahrheitgibt, und diese Wahrheit hat wirklich etwas zu tun mit der geistigenSonne. Denken Sie einmal, wie die einzelnen Pflanzen ordentlichwachsen; jede Pflanze wächst der Sonne zu, und es ist nur eine einzigeSonne. So wird, wenn im Verlauf der sechsten Kulturepoche dasGeistselbst in die Menschen einziehen wird, tatsächlich eine geistigeSonne da sein, der sich alle Menschen zuneigen und in der sie über-einstimmen werden. Das ist die große Perspektive, die uns in Aus-sicht steht für die sechste Epoche. Und in der siebenten Epoche wirdder Lebensgeist oder die Buddhi in einer gewissen Weise einziehenin unsere Entwickelung.

Das sind ferne Zukünfte, in die wir nur erahnend einen Blick hin-einwerfen können. Jetzt aber sind wir uns darüber klar: Es wird einesehr wichtige Kulturepoche sein, diese sechste; denn sie wird durchgemeinsame Weisheit Frieden und Brüderlichkeit bringen. Friede undBrüderlichkeit dadurch, daß sich dann nicht bloß für einzelne aus-erlesene Menschen, sondern für den in normaler Entwickelung ste-

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henden Teil der Menschen hineinsenkt das höhere Selbst, zunächstin seiner niederen Form, als Geistselbst oder Manas. Eine Verbindungdes menschlichen Ich, wie es sich so allmählich herangebildet hat,mit dem höheren Ich, mit dem einenden Ich wird dann stattfinden.Wir können das eine geistige Ehe nennen - und so nannte man auchimmer in der christlichen Esoterik die Verbindung des menschlichenIch mit dem Manas oder dem Geistselbst. Aber die Dinge hängen inder Welt tief zusammen, und der Mensch kann nicht von sich aussozusagen die Hand ausstrecken und dieses Manas oder Geistselbstherbeiziehen; sondern noch eine viel höhere Entwickelungsstufe wirder erreichen müssen, damit er sich in bezug auf diese Dinge selberhelfen könne.

Damit überhaupt das geschehen könne, daß der Mensch sich in dernachatlantischen Zeit vereinige mit dem höheren Ich, mußte derMenschheitsentwickelung Hilfe kommen. Wenn irgend etwas erreichtwerden soll, muß es vorbereitet werden. Wenn ein Kind mit demfünfzehnten Jahre etwas werden soll, muß man ja auch schon vomsechsten,, siebenten Jahre darauf hinarbeiten. Überall muß eine Ent-wickelung ihre Impulse vorbereiten. Was mit der Menschheit im sech-sten Zeitraum geschehen soll, mußte langsam vorbereitet werden. Esmußte von außen die Gewalt und die Kraft kommen zu dem, was dannim sechsten Zeitraum mit der Menschheit geschehen soll.

Die erste Vorbereitung war eine noch ganz von außen aus demGeistigen heraus wirkende, eine solche, die noch nicht herunter-gestiegen war in die physische Welt. Das wird uns angedeutet durchdie große Mission des hebräischen Volkes. Als Moses, der in dieägyptischen Mysterien Eingeweihte, von der geistigen Weltenleitungjenen Auftrag bekam, den wir charakterisieren konnten mit denWorten: «Sage ihnen als meinen Namen, wenn du ihnen meineGesetze sagst, ich bin der <Ich-bin>» (2. Mose 3, 14), da war ihm mitdiesen Worten aufgetragen: Bereite sie vor, indem du auf den gestalt-losen, unsichtbaren Gott hindeutest. Weise darauf hin, daß - währendder Vater-Gott noch in dem Blute wirkt - für diejenigen, die es verste-hen können, vorbereitet wird das «Ich-bin», das dann bis in den physi-schen Plan hinuntersteigen soll! - Das wurde sozusagen innerhalb der

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dritten Kulturepoche veranlagt. Und aus dem hebräischen Volkesehen wir die Mission entströmen, den Gott der Menschheit zu über-mitteln, der dann tiefer heruntersteigt, der im Fleische erscheint. Vor-her ist er verkündigt worden, nachher ist er für das äußere Auge imFleische erschienen. Damit ist im rechten Sinne zum Ausdruck ge-kommen, was durch Moses vorbereitet worden war.

Fassen wir diesen Zeitpunkt einmal recht ins Auge: die geistigeVerkündigung durch Moses und den Abschluß dieser Verkündigung,das Erscheinen des verkündeten Messias in dem Christus. Von dieserZeitepoche an, die wir als einen ersten Abschnitt in der Geschichtedes Christentums bezeichnen könnten, wird in die Menschheits-entwickelung hinein der reale Impuls gelegt zur Einheit und Brüder-lichkeit, die da kommen soll im sechsten Zeitraum. Es ist, wie wenneine Kraft in etwas hinabversenkt wird, die dann weiter wirkt, damitdie Frucht nach und nach herauskommt. So wirkte diese Kraft weiterbis in unsere Zeit hinein, bis in die Zeit, die wir schildern mußtenals eine solche, in welcher die Menschheit mit ihren intellektuellenund geistigen Kräften ganz hinuntergestiegen ist in die Materie. Mankönnte nun fragen: Warum mußte denn das Christentum gerade zurWelt kommen als unmittelbarer Vorläufer der tiefsten materiellenEpoche?

Denken Sie einmal, die Menschheit wäre ohne das Christentumeingetreten in diese tiefste materielle Epoche. Es wäre dann für sieunmöglich gewesen, den Impuls nach aufwärts wiederzufinden. Den-ken Sie sich den Impuls, der der Menschheit durch den Christus ein-gepflanzt worden ist, fort, und die ganze Menschheit müßte in dieDekadenz fallen, müßte mit der Materie sich auf ewig verbinden; siewürde, wie es im Okkultismus heißt, «von der Schwere der Materieerfaßt» und aus ihrer Entwickelung hinausgeworfen werden. Somüssen wir uns vorstellen, daß die Menschheit in der nachatlanti-schen Kulturepoche einen Ruck hinuntergeht in die Materie. Und eskam in die Menschheit, bevor die niederste Stufe erreicht wurde, derandere Impuls, der wieder hinauf in die entgegengesetzte Richtungstößt. Das war der Christus-Impuls. Hätte der Christus-Impuls frühergewirkt, so wäre die Menschheit überhaupt nicht zur materiellen Ent-

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Wickelung gekommen. Wäre er hineingefallen in die alte indischeKulturepoche, würde die Menschheit gewiß durchdrungen wordensein von dem spirituellen Element des Christentums, aber die Mensch-heit würde nie so tief hinuntergestiegen sein, daß sie alles das, was wirheute äußere physische Kultur nennen, hätte hervorbringen können.

Es mag sonderbar erscheinen, wenn man sagt, ohne das Christen-tum gäbe es keine Eisenbahnen, Dampfschiffe usw., aber für den, derdie Dinge im Zusammenhang erkennt, ist es so. Niemals würden ausder alten indischen Kulturepoche diese Kulturmittel hervorgegangensein. Es gibt einen geheimen Zusammenhang zwischen dem Christen-tum und alle dem, was heute der sogenannte Stolz der Menschheit ist.Dadurch, daß das Christentum bis zum rechten Zeitpunkt wartete,hat es möglich gemacht die äußere Kultur; und dadurch, daß es zurrechten Zeit eingetreten ist, hat es möglich gemacht, daß diejenigen,die sich mit dem Christus-Prinzip verbinden, wieder sich erhebenkönnen aus der Materie.

Da aber das Christentum als etwas Unverstandenes aufgenommenworden ist, ist es arg vermaterialisiert worden. Es ist so weit miß-verstanden worden, daß es selbst materialistisch aufgefaßt worden ist.Und so ist es in gewisser Weise sogar eine arg verzerrte, materiali-stische Gestalt, die das Christentum angenommen hat im Verlaufeder Zeit, die wir eben ins Auge faßten bis zu uns hinauf und die wirals einen zweiten Abschnitt bezeichnen können. Statt zum Beispieldie höhere spirituelle Idee des Abendmahls zu begreifen, wurde dasAbendmahl vermaterialisiert, wurde als grobe Substanzverwandlungvorgestellt. Und so könnten wir Hunderte und aber Hunderte vonBeispielen dafür anführen, daß das Christentum als spirituelle Er-scheinung nicht verstanden worden ist. Jetzt sind wir ungefähr andem Zeitpunkte angekommen, wo diese zweite Epoche abläuft, wonotwendigerweise die Menschheit an das spirituelle Christentum an-knüpfen muß, an das, was das Christentum wirklich sein soll, um denwahren geistigen Inhalt aus ihm herauszuholen. Und das wird ge-schehen durch die anthroposophische Vertiefung des Christentums.Indem wir Anthroposophie auf das Christentum anwenden, folgenwir der welthistorischen Notwendigkeit, die dritte christliche Zeit-

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epoche vorzubereiten, die entgegenlebt dem Einströmen des Manasim sechsten Zeitraum. Das wird sozusagen das dritte Kapitel sein. -Das erste Kapitel ist die Zeit der Vorverkündigung des Christentumsbis zum Erscheinen des Christus Jesus und ein wenig darüber hinaus.Das zweite Kapitel ist das tiefste Heruntertauchen des menschlichenGeistes in die Materie und die Vermaterialisierung selbst des Christen-tums. Und das dritte Kapitel soll sein die geistige Erfassung des Chri-stentums durch anthroposophische Vertiefung.

Es hängt mit der ganzen materialistischen Entwickelung zusam-men, daß eine solche Urkunde wie das Johannes-Evangelium bis zuunserer Zeit nicht verstanden worden ist. Eine materialistische Kul-tur, wie sie sich nach und nach herausgebildet hat, konnte das Johannes-Evangelium nicht voll verstehen. Die spirituelle Kultur, die mit deranthroposophischen Bewegung beginnen muß, wird gerade diesesDokument in seiner wahren spirituellen Gestalt verstehen und dasvorbereiten, was hinüberleiten soll in die sechste Kulturepoche.

Für denjenigen, der eine christliche Einweihung oder eine rosen-kreuzerische Einweihung erlangt - übrigens auch für den, der über-haupt die Einweihung erlangt -, stellt sich eine ganz besondere Er-scheinung heraus. Für ihn erlangen die Dinge, die da vorgehen, einedoppelte Bedeutung: die eine, welche sich außen abspielt in der phy-sischen Welt, die andere, durch welche die Dinge, die sich in derphysischen Welt abspielen, Fingerzeige sind für große, umfassendegeistige Geschehnisse. Und so werden Sie mich verstehen, wenn ichjetzt versuche, ein wenig den Eindruck zu schildern, den bei einerbestimmten Gelegenheit derjenige hatte, der das Johannes-Evange-lium geschrieben hat.

Es gab ein besonderes Ereignis im Verlaufe des Lebens des Chri-stus Jesus, und dieses Ereignis geschah auf dem physischen Plane.Derjenige, der im Sinne des Johannes-Evangeliums schildert, schildertes aber als Eingeweihter. Daher stellt für ihn das Ereignis zu gleicherZeit dar die Wahrnehmungen und Erlebnisse während des Ein-weihungsaktes. Denken Sie sich nun den letzten Schluß des Ein-weihungsaktes.

Dreieinhalb Epochen, die in alten Zeiten, wie wir schon erwähnt

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hatten, durch dreieinhalb Tage dargestellt waren, war der Einzu-weihende in einem lethargischen Schlaf. An jedem Tage erlebte derEinzuweihende etwas anderes in bezug auf die geistigen Welten. Amersten Tage hatte er bestimmte Erlebnisse, die sich ihm als Gescheh-nisse in der geistigen Welt darstellten, am zweiten Tage andere undam dritten Tage wieder andere. Nun hat sich demjenigen, von demhier die Rede ist in der betreffenden Stelle, gezeigt, was sich geistigimmer zeigt für das hellseherische Vermögen: die Zukunft derMenschheit. Wissen wir die Impulse der Zukunft, so können wir sieder Gegenwart einimpfen und dadurch die Gegenwart der Zukunftentgegenführen.

Denken Sie sich den Seher der damaligen Zeit. Er erlebte die gei-stige Bedeutung des ersten der geschilderten Kapitel, von da an, woder Rufertönt: «Sage deinem Volk: Ich bin der <Ich-bin>», bis zurHerabkunft des Messias. Als zweites Kapitel erlebte er den Herunter-stieg des Christus in die Materie. Und als drittes Kapitel erlebte er,wie allmählich die Menschheit vorbereitet wird, zu empfangen denGeist oder das Geistselbst, Manas, im sechsten Zeitraum. Und er er-lebte das in einem astralen Vorgesicht. Er erlebte die Hochzeit zwi-schen der Menschheit und dem Geist. Das ist ein wichtiges Erlebnis,das aber die Menschheit nur dadurch äußerlich zur Ausprägungbringen kann, daß der Christus in die Zelt, in die Geschichte ein-getreten ist. Vorher hat die Menschheit nicht gelebt in einer solchenBrüderlichkeit, die durch den im Innern aufgegangenen Geist herbei-geführt wird, wo Friede ist zwischen Mensch und Mensch. Vorhergab es nur die Liebe, die materiell vorbereitet war durch die Bluts-verwandtschaft. Diese Liebe entwickelt sich nach und nach zur gei-stigen Liebe, und diese geistige Liebe senkt sich herunter. Als Schluß-erfolg des dritten Kapitels der Einweihung sagen wir daher: DieMenschheit feiert ihre Ehe mit dem Geistselbst oder Manas. Daskann erst eintreten, wenn die Zeit dafür gekommen ist, wenn die Zeitreif geworden ist für das volle Verwirklichen des Impulses des Chri-stus. Solange sie nicht gekommen ist, so lange gilt noch das Verhält-nis, das sich auf die Blutsverwandtschaft begründet, so lange ist dieLiebe nicht geistig.

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Überall, wo in den alten Urkunden von Zahlen gesprochen wird, istvon dem Geheimnis der Zahl die Rede. Und wenn wir lesen: «Amdritten Tage war eine Hochzeit zu Kana in Galiläa» (2, 1), so weißjeder Eingeweihte, daß mit diesem «dritten Tage» etwas Besonderesgemeint ist. Was liegt da vor? Der Schreiber des Johannes-Evange-liums weist hier darauf hin, daß es sich nicht nur um ein wirklichesErlebnis handelt, sondern zu gleicher Zeit noch um eine große, gewal-tige Prophetie. Diese Hochzeit drückt aus die große Menschheitshoch-zeit, die sich in der Einweihung zeigte am dritten Tage. Am erstenTage zeigte sich, was sich in der ersten Epoche abspielt beim Herüber-gehen von der dritten in die vierte Kulturepoche, am zweiten Tage,was sich abspielt beim Herübergehen von der vierten zur fünften Kul-turepoche, und am dritten Tage das, was geschieht, wenn die Mensch-heit von der fünften zur sechsten Kulturepoche hinübergehen wird.Das sind die drei Tage der Einweihung. Und es mußte der Christus-Impuls warten bis zum dritten Zeitpunkt. Vorher ist der Zeitpunktnicht da, wo er wirken kann.

Im Johannes-Evangelium wird hingedeutet auf eine besondere Be-ziehung von «mir und dir», von «uns beiden». Dies ist es nämlich,

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was dort steht, nicht das absurde: «Weib, was habe ich mit dir zuschaffen?» Als die Mutter den Christus auffordert, daß er das Zei-chen tue, sagt er: «Meine Zeit ist noch nicht gekommen» (2, 4), umauf Hochzeiten zu wirken, das heißt um die Menschen zusammen-zuführen. Die Zeit wird erst kommen. Jetzt wirkt noch nach und wirdfortwirken dasjenige, was auf Blutsbande begründet ist; daher derHinweis auf Beziehungen zwischen Mutter und Sohn bei der Hoch-zeit.

Wenn wir so diese Urkunde betrachten, hebt sich uns alles realÄußerliche ab von einem bedeutsamen spirituellen Hintergrund. Wirschauen in eine abgrundartige Tiefe des geistigen Lebens hinein,wenn wir durchschauen, was ein solcher Eingeweihter, wie derSchreiber des Johannes-Evangeliums, der Menschheit geschenkt hatund was er ihr nur dadurch schenken konnte, daß der Christus seinenImpuls der Menschheitsentwickelung eingeimpft hat.

So haben wir gesehen, daß nicht durch eine hohle Allegorie oderSymbolik, sondern aus der astralen Wirklichkeit heraus, die der Ein-geweihte erlebt, diese Dinge erklärt werden müssen. Nicht nur umeine symbolische Auslegung kann es sich hier handeln, sondern umeine Erzählung dessen, was der Eingeweihte erlebt. Wenn das nichtso hingestellt wird, erlebt man es wohl mit Recht, daß diejenigen,die da draußen stehen, sagen, die Geisteswissenschaft bringe garnichts weiter als allegorische Auslegungen! Wenn wir nun an dieserStelle die geisteswissenschaftliche Auslegung, so wie wir es jetzt ver-standen haben, anwenden, dann lernen wir, wie durch drei Welten-tage hindurch - von der dritten in die vierte, von der vierten in diefünfte und von der fünften in die sechste Kulturepoche - der Chri-stus-Impuls innerhalb der Menschheit wirkt. Und wir sehen dieseEntwickelung im Sinne des Johannes-Evangeliums so an, daß wirsagen: Der Impuls des Christus war ein so großer, daß ihn dieMenschheit heute nur zum geringsten Teile verstanden hat und daßer erst in einer späteren Zeit ganz verstanden werden wird.

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ELFTER VORTRAG

Hamburg, 30. Mai 1908

Sollen wir unsere ganzen Kursusbetrachtungen zuspitzen auf dietiefere Erfassung des Johannes-Evangeliums, auf die Worte «Vaterund Mutter Jesu» und dadurch auf das Wesen des Christentums imSinne des Johannes-Evangeliums überhaupt, dann müssen wir unseinmal jetzt die Materialien erwerben, um den Mutter- und Vater-Begriff in seinem geistigen Sinne zu verstehen, wie er gemeint ist imJohannes-Evangelium und zu gleicher Zeit in seinem wirklichenSinne. Denn es handelt sich nicht um allegorische und symbolischeAusdeutungen.

Da müssen wir vor allem verstehen, was es heißt: sich mit denhöheren geistigen Welten zu vereinigen, sich bereitzumachen, diehöheren Welten aufzunehmen. Wir müssen dabei das Wesen der Ein-weihung, insbesondere im Hinblick auf das Johannes-Evangeliumins Auge fassen. Wer ist ein Eingeweihter?

Zu allen Zeiten der nachatlantischen Menschheitsentwickelung warein Eingeweihter der, der sich erheben konnte über die äußere phy-sisch-sinnliche Welt und eigene Erlebnisse, eigene Erfahrungen habenkonnte in den geistigen Welten, der also die geistige Welt so erlebt,wie der Mensch durch seine äußeren Sinne, Augen, Ohren und soweiter, die physisch-sinnliche Welt erlebt. Ein solcher Eingeweihter istalso ein Zeuge für die geistigen Welten und ihre Wahrheit. Das ist daseine. Dann kommt aber noch etwas wesentlich anderes hinzu, wasjeder Eingeweihte als eine besondere Eigenschaft während der Ein-weihung erwirbt, das ist, daß er sich auch erhebt über die Gefühle undEmpfindungen, die innerhalb der physischen Welt durchaus nicht nurberechtigt, sondern auch tief notwendig sind, die aber nicht in der-selben Weise in der geistigen Welt vorhanden sein können.

Mißverstehen Sie das nicht und fassen Sie das nicht so auf, als obder, der als Eingeweihter imstande ist, außer der physischen Weltauch noch die geistige Welt zu erleben, sich nun alle anderen mensch-lichen Gefühle und Empfindungen abgewöhnen muß, die hier in der

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physischen Welt Wert haben, und dafür eintauscht die anderen Ge-fühle für die höheren Welten. So ist es nicht. Er tauscht nicht daseine für das andere ein, sondern er erwirbt sich eines zum andern hin-zu. Wenn der Mensch auf der einen Seite seine Gefühle vergeistigenmuß, muß er auf der anderen Seite auch wiederum um so stärker jeneGefühle haben, die zum Arbeiten in der physischen Welt brauchbarmachen. In dem Sinne ist es aufzufassen, wenn man für den Ein-geweihten das Wort braucht: Er muß in einer gewissen Beziehungein heimatloser Mensch werden. Nicht, als ob er der Heimat und derFamilie im geringsten Grade entfremdet werden müßte, solange erin der physischen Welt lebt, sondern das Wort hat höchstens insofernetwas damit zu tun, als durch Aneignung der entsprechenden Gefühlein der geistigen Welt die Gefühle für die physische Welt eine feinere,schönere Ausbildung erfahren werden. Was ist ein «heimatloserMensch»? Ohne dies Prädikat kann niemand im wahren Sinne desWortes die Einweihung erlangen. Ein «heimatloser Mensch» seinheißt: Ein Mensch darf keine Spezialsympathien in der geistigen Weltentwickeln, die ähnlich sind jenen Spezialsympathien, die der Menschhier in der physischen Welt für einzelne spezielle Gebiete und Zu-sammenhänge hat. Der einzelne Mensch in der physischen Welt ge-hört zu diesem oder jenem Volke, zu dieser oder jener Familie, zudieser oder jener Staatsgemeinschaft; das ist alles recht so. Diesbraucht er nicht zu verlieren, hier braucht er das. Wenn er aber dieseGefühle anwenden wollte in der geistigen Welt, würde er eine sehrschlimme Mitgift mitbringen für die geistige Welt. Da heißt es nicht,irgendeine Sympathie für etwas zu entwickeln, sondern alles auf sichobjektiv wirken zu lassen, nach dem im Objekte liegenden Wert. Mankönnte auch sagen, wenn das allgemein verstanden würde: Ein ob-jektiver Mensch im vollen Sinne des Wortes muß der Eingeweihtewerden.

Nun ist die Menschheit gerade durch ihre Entwickelung auf un-serer Erde herausgekommen aus einer früheren, mit dem alten däm-merhaften hellseherischen Bewußtsein verbundenen Heimatlosigkeit.Wir haben ja gesehen, wie die Menschheit heruntergestiegen ist ausden geistigen Sphären in die physische Welt. In den ursprünglichen

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geistigen Sphären gab es so etwas wie Patriotismus und dergleichennicht. Als die Menschen herunterstiegen aus den geistigen Sphären,bevölkerte der eine Teil die Erde hier, der andere Teil bevölkerte siedort; und da wurden die einzelnen Menschengruppen bestimmterGebiete ein Abklatsch dieser Gebiete. Glauben Sie nicht, daß derNeger bloß aus inneren Gründen schwarz wurde, sondern auch durchdie Anpassung an sein Erdgebiet ist er schwarz geworden, und mitden Weißen verhält es sich ebenso. Und ebenso wie die großen Unter-schiede in bezug auf Farbe und Rasse, so sind auch die kleinerenUnterschiede der Völkerindividualitäten dadurch entstanden, daß derMensch etwas angenommen hat durch den Zusammenhang mit seinerUmgebung. Das hängt aber auch wieder zusammen mit der Speziali-sierung der Liebe auf der Erde. Dadurch, daß sich die Menschenunähnlich geworden sind, wurde die Liebe zuerst in kleinen Gemein-schaften begründet. Nach und nach erst, aus den kleinen Gemeinschaf-ten heraus, können sich die Menschen hinentwickeln zu einer großenLiebesgemeinschaft, wie sie sich konkret gerade durch die Einpflan-zung des Geistselbstes entwickeln wird. So mußte der Eingeweihtegleichsam vorausnehmen, wozu die Menschheitsentwickelung wiederdrängt: alle Schranken zu überwinden, zu überbrücken, den großenFrieden, die große Harmonie und Brüderlichkeit auszubilden. DerEingeweihte muß in seiner Heimatlosigkeit schon von vornherein im-mer die gleichen Keime aufnehmen zu der großen Bruderliebe. Daswurde symbolisch angedeutet in alten Zeiten dadurch, daß geschildertwird, was der Eingeweihte alles für Wanderungen durchgemacht hat,zum Beispiel bei Pythagoras. Warum wurde das geschildert? Damit ermit seinen Gefühlen, die innerhalb der inneren Gemeinschaft ausgebil-det werden, allem gegenüber objektiv werde.

Nun ist es die Aufgabe des Christentums, den Impuls zu dieserBrüderlichkeit, das, was der Eingeweihte immer als einzelnen Impulshatte, der ganzen Menschheit beizubringen. Fassen wir einmal insAuge jene tiefste Idee des Christentums, daß der Christus der Geistder Erde ist und die Erde der Leib oder das Kleid des Christus. Undnehmen wir das wörtlich; denn wir haben gesagt, daß wir eine solcheUrkunde wie das Johannes-Evangelium in den einzelnen Worten auf

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die Goldwaage legen müssen. Was erfahren wir in bezug auf «dasKleid» der Erde, wenn wir die Entwickelung überblicken? Wir er-fahren, daß zunächst dieses Kleid der Erde, das heißt die festen Teileder Erde getrennt wurden. Der eine ergriff von dem, der andere vonjenem Besitz. Das eine gehörte dem, das andere dem. Der Besitz, dieErweiterung der Persönlichkeit durch Aneignung von Eigentum, dasist, in was man in einer gewissen Beziehung das Kleid, das der Chri-stus, der Geist der Erde, trägt, geteilt hat im Laufe der Zeit. Nureines konnte nicht geteilt werden, sondern gehörte allen, das ist dieLufthülle, die um die Erde herum ist. Und aus dieser Lufthülle heraus,wie uns in der Paradiesesmythe angedeutet wird, wurde dem Men-schen der lebendige Odem eingeblasen. Damit haben wir die ersteAnlage des Ich im physischen Leibe. Die Luft kann nicht geteiltwerden.

Versuchen wir einmal, ob uns der, der das Christentum am tiefstenim Johannes-Evangelium schildert, dies irgendwie andeutet:

«Und sie zerissen sein Kleid; den Rock aber, den zerissen sienicht.» (Vgl. 19, 23/24)

Hier haben Sie das Wort, das Ihnen Aufschluß gibt, wie die Erdeals Ganzes samt ihrer Lufthülle der Leib oder das Kleid und derRock des Christus ist. In Kontinente und Gebiete ist das Kleid desChristus geteilt worden, nicht aber der Rock. Die Luft ist nicht ge-teilt worden, sie gehört allen gemeinsam. Sie ist das äußere materielleSymbolum für die den Erdkreis umspielende Liebe, die später sichrealisieren wird.

Und in vielen anderen Beziehungen muß das Christentum dieMenschen dahin bringen, als Menschheit etwas aufzunehmen vondem alten Einweihungsprinzip. Wollen wir das verstehen, dann müs-sen wir einmal die Einweihung charakterisieren. Es genügt für uns,wenn wir im wesentlichen die drei Haupttypen der Einweihung insAuge fassen: die alte Yoga-Einweihung, die eigentlich spezifischchristliche Einweihung und die, die eigentlich für den heutigen Men-schen die absolut passende ist, die christlich-rosenkreuzerische Ein-weihung. Und nun wollen wir einmal schildern, wie die Einweihung

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überhaupt im Prinzip für alle drei Einweihungsformen verläuft, wassie ist und was sie vorstellt.

Wodurch wird ein Mensch fähig, in die geistigen Welten hinein-zuschauen? Nun, wodurch sind Sie fähig geworden, die physischeWelt wahrzunehmen? Der physische Leib hat Sinnesorgane dafür.Wenn Sie die Menschheitsentwickelung weit zurück verfolgen, dannwerden Sie finden, daß in Urzeiten der Mensch noch nicht Augenzum Sehen, Ohren zum Hören hatte in der physischen Welt, sonderndaß das alles noch «undifferenzierte, gleichgültige Organe» waren,wie Goethe sagt. Zum Beweis dafür können Sie daran denken, wiegewisse niedere Tiere heute noch diese gleichgültigen Organe haben.Punkte haben gewisse niedere Tiere, wodurch sie nur Licht undDunkel unterscheiden können. Und aus diesen gleichgültigen Orga-nen ist nach und nach herausplastiziert, herausgeformt worden, wasAuge und Ohr ist. Das ist hineingearbeitet worden in die plastischeSubstanz des physischen Leibes. Und indem Ihr Auge ausmodelliertworden ist, entstand für Sie die physische Welt der Farben, indem IhrOhr herausmodelliert worden ist, entstand die physische Welt derTöne.

Niemand hat ein Recht zu sagen, daß eine Welt nicht wirklich sei;er darf nur sagen: Ich nehme sie nicht wahr. Denn die Welt im wirk-lichen Sinne sehen heißt: Ich habe Organe, sie wahrzunehmen. Mandarf sagen: Ich kenne nur diese oder jene Welt; man darf aber nichtsagen: Ich lasse die Welt, die der andere wahrnimmt, nicht gelten.Denn der, der so spricht, verlangt, daß auch die anderen nichts andereswahrnehmen dürfen als er; er verlangt autoritativ, daß nur das gilt,was er sieht. Wenn heute jemand auftritt und sagt: Das ist eine an-throposophische Träumerei, so etwas, wie es die Anthroposophenbehaupten, gibt es nicht, - so beweist er nur, daß er und seinesgleichensolche Welten nicht wahrnehmen. Wir stellen uns auf den Ja-Stand-punkt der Dinge. Wer aber nur das gelten läßt, was er wahrnimmt,der verlangt nicht nur, daß wir das zugeben, was er weiß, sondern derwill autoritativ entscheiden über das, was er nicht weiß. Es gibt keineschlimmere Intoleranz als die, die heute von der offiziellen Wissen-schaft der Geisteswissenschaft entgegengebracht wird, und die wird

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sich noch zu einer viel schlimmeren entwickeln, als sie jemals vor-handen war. Sie tritt unter den verschiedensten Formen auf. DieMenschen haben gar kein Bewußtsein dafür, daß sie irgend etwassagen, was sie gar nicht sagen dürften. Bei vielen Versammlungen,die aus recht guten Christen bestehen, kann man es hören: Die An-throposophen reden von irgendeiner christlichen Geheimlehre, aberdas Christentum bedarf keiner Geheimlehre; denn es darf nur dasgelten, was auch das einfache, schlichte Gemüt wahrnehmen und ver-stehen kann! - das heißt natürlich nichts anderes, als was er, der ein-zelne, der gerade redet, wahrnehmen und verstehen kann. Also erverlangt, daß keiner etwas anderes verstehe und wahrnehme als er.Die Unfehlbarkeit des Papstes wird mit Recht in solchen christlichenVersammlungen nicht zugegeben. Aber die Unfehlbarkeit der eigenenPersönlichkeit wird heute im weitesten Umfange, auch bei Christen,für die eigene Person in Anspruch genommen. Die Anthroposophiewird vom Standpunkte des Papsttums aus bekämpft, wo sich jederselbst zu einer Art von Päpstlein aufwirft.

Wenn wir bedenken, daß die physisch-sinnliche Welt dadurch füruns vorhanden ist, daß die einzelnen Organe in den physischen Leibhineinziseliert worden sind, dann wird es auch nicht mehr auffälligerscheinen, wenn gesagt wird: Die Wahrnehmung in einer höherenWelt beruht darauf, daß in die höheren Glieder der menschlichenWesenheit, in Ätherleib und astralischen Leib, solche höhere Organehineingebaut werden. Der physische Leib ist heute mit seinen Orga-nen in dieser Weise schon ausgerüstet, der Ätherleib und Astralleibnoch nicht; da müssen sie erst hineinziseliert werden. Sind sie dar-innen, dann entsteht das, was man die Wahrnehmung in den höherenWelten nennt.

Wir wollen jetzt davon sprechen, wie man diese Organe in denÄther- und Astralleib hineinbaut. Wir sagten, daß bei dem, der dieEinweihung anstrebt und erhält, die höheren Organe herausmodel-liert werden. Wie macht man das? Es handelt sich darum, daß manden Astralleib des Menschen abfaßt da, wo er in seiner Reinheit zuhaben ist. Während der astralische Leib im Tagwachen untergetauchtist in den physischen Leib, wirken die Kräfte des physischen Leibes

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auf den Astralleib; da hat man ihn also nicht frei. Da folgt er dem,was der physische Leib will, da kann man sozusagen nichts anfangenmit ihm. Man kann etwas anfangen mit ihm, man kann nur dann ihnmodellieren, wenn er im Schlafe aus dem physischen Leibe herausist. Nur dadurch kann der Astralleib eines Menschen die höherenSinnesorgane ausgebildet erhalten, daß man sie ihm hineinziseliert,während er außerhalb des physischen Leibes ist, im Schlafe. Nunkann man aber am schlafenden Menschen nicht herumhantieren. Daswäre beim heutigen Menschen nicht möglich, wenn er das, was mitihm geschieht, wahrnehmen soll. Wenn Sie ihn im bewußtlosen Zu-stande haben, kann er das nicht wahrnehmen. Hier scheint ein Wider-spruch vorzuliegen, denn der Astralleib ist sich seines Zusammen-hanges mit dem physischen Leibe nicht bewußt, während der Menschschläft. Aber indirekt geht es zu machen dadurch, daß man währenddes Tagwachens auf den physischen Leib wirkt, so daß die Eindrücke,die der physische Leib während des Tagwachens erhält, im Astral-leib bleiben, wenn dieser sich herauszieht. Geradeso wie sonst imAstralleib die Eindrücke, die er durch die umliegende physische Welterhält, eingedrückt sind, so muß man etwas ganz Spezifisches mit demphysischen Leibe anfangen, damit das sich in den astralischen Leibeindrückt und dann in der entsprechenden Weise ausgebildet wird.

Das geschieht nun, indem der Mensch nicht immer so in den Taghineinlebt, wie es sonst der Fall ist, und Eindrücke von da und dorthereinkommen läßt, sondern indem er in der durch eine methodischeSchulung vorgeschriebenen Art sein inneres Leben in die Handnimmt. Man nennt das Meditation, Konzentration oder Kontempla-tion. Das sind Übungen, die ebenso streng vorgeschrieben sind in denentsprechenden Schulen wie in den Laboratorien das Mikroskopierenund so weiter. Wenn ein Mensch solche Übungen macht, wirken sie sointensiv auf ihn ein, daß der astralische Leib, wenn er herausrutschtwährend des Schlafes, sich plastisch umgestaltet. Gerade so wie derSchwamm hier, solange ich ihn in meiner Hand habe, sich den Formender Hand anpaßt, aber sobald ich ihn wieder loslasse, sich wieder nachden Kräften formt, die in ihm sind, ebenso ist es mit dem astralischenLeibe: Wenn er im Schlafe aus der Leiblichkeit heraustritt, folgt er

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den astralischen Kräften, die in ihm angelegt sind. So muß manwährend des Tagwachens diejenigen geistigen Verrichtungen vor-nehmen, durch welche in der Nacht der astralische Leib sich so pla-stisch gestaltet, daß er in sich die Organe bildet zum höheren Wahr-nehmen.

Nun kann man diese Meditation in dreifacher Weise einrichten.Man kann mehr auf das Gedankenmaterial Rücksicht nehmen, aufdas, was man Weisheitselemente, reine Gedankenelemente nennt, dasist dann die Yogaschulung, die hauptsächlich mit dem Gedankenele-ment, der Kontemplation, arbeitet. Man kann aber auch mehr auf dasGefühl wirken durch dessen besondere Ausbildung, das ist die spezi-fisch christliche Richtung. Und man kann durch Kombinierung vonGefühl und Willen wirken, das ist dann die christlich-rosenkreuze-rische Methode. Auf die Yogaschulung einzugehen, würde zu weitführen; es hätte auch keinen Zusammenhang mit dem Johannes-Evangelium. An der spezifisch christlichen Einweihung wollen wiruns klarmachen, worauf diese Einweihung beruht. Sie müssen das soauffassen, daß ein Mensch in den heutigen Gesellschaftskreisen dieseEinweihung kaum durchmachen könnte. Sie erfordert eine zeitweiligeIsolation des Menschen. Aber die Rosenkreuzer-Methode ist geradedazu da, daß der Mensch, ohne seine Pflichten zu verletzen, sich hin-aufarbeiten kann in die höheren Welten. Das aber, was im Prinzipgilt, können wir uns auch an der christlichen Einweihung vollständigklarmachen.

Diese Einweihungsmethode arbeitet ausschließlich mit dem Ge-fühle, und zwar werde ich Ihnen sieben Gefühlserlebnisse anzugebenhaben, sieben Gefühlsstufen, durch deren Durchleben der astralischeLeib wirklich so beeinflußt wird, daß er seine Organe während derNacht entwickelt. Wollen wir uns einmal klarmachen, wie der christ-liche Schüler leben muß, damit er diese Stufen durchmacht.

Die erste Stufe ist das, was man nennt die «Fußwaschung ». Da wirddem Schüler von dem Lehrer gesagt: Sieh dir an die Pflanze. Siewurzelt im Boden; der mineralische Boden ist ein niedrigeres Wesenals die Pflanze. Wenn sich die Pflanze ihr Wesen vorhalten könnte,müßte sie zum Boden sagen: Zwar bin ich das höhere Wesen, aber

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ohne daß du bist, könnte ich nicht bestehen; denn aus dir, Boden,ziehe ich meine Nahrung zum größten Teile. Und könnte die Pflanzedas in Gefühle umsetzen, so müßte sie sich herunterneigen zum Steineund sagen: Zu dir neige ich mich, du niedrigeres Wesen, Stein, denndir verdanke ich mein Dasein. - Und wenn wir zum Tier hinauf-steigen, so müßte in ähnlicher Weise das Tier sich zur Pflanze ver-halten und sagen: Zwar bin ich höher als die Pflanze, aber dem nie-deren Reiche verdanke ich mein Dasein. - Und wenn wir in dieserWeise weiter hinaufsteigen und zum Menschen kommen, so müßtejeder, der etwas höher steht auf der sozialen Stufenleiter, sich zu derniedrigeren Stufe herunterneigen und sagen: Der niedrigeren Stufeverdanke ich mein Dasein! - Und so geht das hinauf bis zu dem Chri-stus Jesus. Die Zwölf, die ihn umgeben, sind eine Stufe niedriger alser; aber wie die Pflanze sich aus dem Stein herausentwickelt, so wächstder Christus Jesus heraus aus den Zwölfen. Er neigt sich herunter zuden Zwölfen und sagt: Euch verdanke ich mein Dasein.

Wenn der Lehrer dem Schüler das erklärt hatte, dann sagte er ihm:Wochenlang mußt du dich diesem kosmischen Gefühle hingeben, wiedas Höhere sich dem Niederen neigen muß; und wenn du das gründ-lich in dir ausgebildet hast, dann erlebst du ein inneres und ein äußeresSymptom. - Diese sind aber nicht das Wesentliche, sondern zeigennur an, daß der Betreffende genügend geübt hatte. Wenn so der phy-sische Leib genug beeinflußt war von der Seele, zeigte sich ihm diesin dem äußeren Symptom, daß er ein Gefühl hatte, wie wenn Wasserseine Füße umspülte. Das ist ganz reales Gefühl. Und ein anderesreales Gefühl ist, daß er in einer gewaltigen Vision im Astralen wievor sich hat die Fußwaschung, das Herunterneigen des höheren Selb-stes zu dem niederen Selbste. Da erlebt der Mensch im Astralen das,was man im Johannes-Evangelium als historische Tatsache geschil-dert findet.

Die zweite Stufe besteht darin, daß dem Schüler gesagt wird: Dumußt in dir noch ein anderes Gefühl entwickeln. Du mußt dir vor-stellen, wie es wäre, wenn alle möglichen Schmerzen und Leiden derWelt herantreten an dich, - empfinden, wie es wäre, wenn du aus-gesetzt wärest dem Ansturm aller möglichen Hindernisse, und du

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mußt dich in das Gefühl versetzen, daß du aufrecht stehen mußt, wennauch alles Elend der Welt an dich herankommt! Dann gibt es, wennder Schüler das genügend geübt hat, wieder zwei Symptome: Daseine ist ein Gefühl, wie wenn er geschlagen würde von allen Seiten,und als zweites hat er in einer astralen Vision die «Geißelung» vorsich. - Ich erzähle etwas, was Hunderte von Menschen erlebt haben,wodurch sie die Fähigkeit erlangt haben, hinaufzusteigen in die gei-stigen Welten.

Als Drittes hatte der Schüler sich vorzustellen, daß das Heiligste,was er hat, wofür er mit dem ganzen Ich eintritt, mit Spott und Hohnübergössen wird. Da mußte er sich sagen: Ich muß, was auch kom-men mag, aufrecht stehen und für das, was mir heilig ist, eintreten! -Wenn er sich darin eingelebt hatte, hatte er etwas wie Stiche im Kopf,und als astrale Vision erlebte er die «Dornenkrönung». Wieder mußgesagt werden: Nicht auf die Symptome kommt es an, aber sie tretenein als Folge der Übungen. Und es wird auch dafür gesorgt, daß vonSuggestion und Autosuggestion gar nicht die Rede sein kann.

Das Vierte ist das, daß dem Schüler sein Leib, den er hat, in seinemGefühl so fremd werden muß wie ein äußerer Gegenstand, zum Bei-spiel ein Stück Holz, und daß er nicht zu seinem Leibe «Ich» sagt.Das muß ihm so zum Gefühl werden, daß er sagt: Ich trage meinenLeib mit mir herum, wie ich meinen Rock mit mir herumtrage! Erverbindet sein Ich nicht mehr mit seinem Leibe. Dann tritt etwas ein,was man nennt die «Blutsprobe». Was in vielen Fällen ein krank-hafter Zustand sein kann, ist in diesem Falle, weil alles Krankhafteausgeschaltet sein muß, eine Folge der Meditation. An den Füßen, anden Händen und an der rechten Seite der Brust zeigen sich die soge-nannten Blutsmale; und als inneres Symptom sieht er in einer astralenVision die «Kreuzigung».

Nur kurz können wir die fünfte, sechste und siebente Gefühlsstufeschildern.

Die fünfte Stufe besteht in dem, was man nennt den «mystischenTod». Durch die Gefühle, die man den Schüler auf dieser Stufe er-leben läßt, erlebt er etwas, was sich ihm so darstellt, als ob sich ineinem Augenblick vor alles physisch Sichtbare ein schwarzer Vorhang

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stellt und als ob alles verschwände. Dieser Moment ist noch durchetwas anderes wichtig, was man erlebt haben muß, wenn man wirk-lich zur christlichen Einweihung im wahren Sinne des Wortes dringenwill. Man erlebt dann, daß man hinuntertauchen kann in die Ur-gründe des Bösen, des Schmerzes, des Kummers und Leides. Undalles, was an Bösem auf dem Grunde der Menschenseele lebt, kannman auskosten, wenn man hinuntersteigt in die Hölle. Das ist das«Niedersteigen in die Hölle». Hat man das erlebt, dann ist es, wiewenn der schwarze Vorhang zerreißt - und man sieht hinein in diegeistige Welt.

Das Sechste ist das, was man die «Grablegung und Auferstehung»nennt. Das ist die Stufe, wo der Schüler sich eins fühlt mit dem gan-zen Erdenleib; wie hineingelegt und zusammengehörig mit demganzen Erdenplaneten fühlt er sich. Sein Leben hat sich erweitert zuplanetarischem Leben.

Das siebente Gefühl kann man mit Worten nicht schildern. Nurder könnte es schildern, der imstande wäre, zu denken ohne das In-strument des physischen Gehirnes; und für das gibt es keine Sprache,weil unsere Sprache nur Bezeichnungen hat für den physischen Plan.Daher kann nur hingewiesen werden auf diese Stufe. Sie übersteigtalles, wovon sich der Mensch sonst eine Vorstellung macht. Mannennt sie die «Himmelfahrt» oder die völlige Aufnahme in die gei-stige Welt.

Da schließt die Skala der Gefühle ab, in die sich der Schüler wäh-rend des Tagwachens in völliger innerer Sammlung versetzen muß.Wenn sich der Schüler diesen Erlebnissen hingegeben hat, dann wir-ken sie so stark auf den Astralleib, daß sich in der Nacht die innerenWahrnehmungsorgane ausbilden, sich plastisch gestalten. - In der Ro-senkreuzer-Einweihung wird nicht diese siebengliedrige Gefühlsskaladurchgemacht, aber es ist dieselbe Wirkung da, die wir eben bespro-chen haben.

So sehen Sie, daß es bei der Einweihung darauf ankommt, denastralischen Leib auf dem Umwege durch die Tageserlebnisse so zubeeinflussen, daß er, wenn er ganz frei ist, in der Nacht sich selbst eineneue plastische Gestalt gibt. Wenn der Mensch sich selbst auf diese

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Weise als Astralwesen eine plastische Gestalt gegeben hat, ist derAstralleib eigentlich ein neues Wesensglied des Menschen geworden.Er ist dann ganz und gar durchdrungen von Manas oder Geistselbst.

Wenn nun der astralische Leib so gegliedert ist, handelt es sichdarum, daß das, was so in ihm plastisch ausgebildet worden ist, auchin den Ätherleib hineingebracht wird. Geradeso, wie wenn Sie miteinem Petschaft auf Siegellack drücken und dann der Name des Pet-schafts nicht nur im Petschaft, sondern auch im Siegellack ist, so mußder Astralleib in den Ätherleib untertauchen und das, was er nun hat,in den Ätherleib hineindrücken.

Das erste Verfahren, das Bearbeiten des Astralleibes, ist bei allenEinweihungsmethoden dasselbe. Nur in der Übertragung auf denÄtherleib unterscheiden sich die einzelnen Methoden. Von diesemUnterschiede werden wir morgen sprechen und zeigen, wie sich die dreiMethoden der Einweihung, die sich als die tiefsten Entwickelungsim-pulse im Laufe der nachatlantischen Zeit ergeben haben, voneinanderunterscheiden, und was überhaupt die Einweihung für eine Bedeutunghat für die Menschheitsentwickelung. Dann werden uns auch diejeni-gen Partien des Johannes-Evangeliums völlig klar werden, die wirnoch nicht besprechen konnten.

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ZWÖLFTER VORTRAG

Hamburg, 31. Mai 1908

Wir sind gestern fortgeschritten bis zur Besprechung jener Ver-änderung, die mit dem astralischen Leibe des Menschen vorgehtdurch Meditation, Konzentration und andere Übungen, die durch dieverschiedenen Einweihungsmethoden gegeben werden. Wir habengesehen, daß dadurch der astralische Leib herausgearbeitet wird, sodaß er die Organe in sich aufnimmt, die er braucht, um in die höherenWelten hineinzuschauen, und wir haben gesagt, daß bis dahin - ob-zwar die Übungen sich ganz nach den entsprechenden Kulturperiodenrichten - doch das Prinzip der Einweihung überall eigentlich dasselbeist. Die große prinzipielle Verschiedenheit beginnt erst, wenn dasNächste, was nunmehr hinzukommen muß, eintreten soll. Damit derMensch nämlich wirklich in die höheren Welten hineinschauen kann,ist es notwendig, daß das, was im astralischen Teil herausgearbeitetist an Organen, sich abdrückt, ausprägt im Ätherleib, daß es also hin-eingedrückt wird in den Ätherleib.

Man nennt mit einem alten Ausdruck die Bearbeitung des astra-lischen Leibes auf dem Umwege durch Meditation und Konzentration«Katharsis», Reinigung. Diese Katharsis oder Reinigung hat ja dasZiel, alles das aus dem astralischen Leibe herauszuwerfen, was ihnhindert, harmonisch und regulär organisiert zu sein, so daß er höhereOrgane erlangen kann; denn er ist veranlagt zu diesen höheren Or-ganen, man braucht nur sozusagen die Kräfte bloßzulegen, die in ihmsind.

Wir sagten, es könnten die verschiedensten Methoden angewendetwerden, um diese Katharsis herbeizuführen. Sehr weit kann derMensch in bezug auf diese Katharsis schon kommen, wenn er zumBeispiel alles das, was in meiner «Philosophie der Freiheit» steht, soinnerlich durchgenommen und erlebt hat, daß er das Gefühl hat:Das Buch war für mich eine Anregung, aber ich kann jetzt die Ge-danken genau so, wie sie dastehen, eigentlich selbst reproduzieren.Wenn sich jemand zu diesem Buch so verhält - denn so ist es ge-

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schrieben -, wie sich etwa ein Virtuose mit dem Spielen eines Stückesauf dem Klavier verhält zu dem Komponisten des Stückes, so daßer das Ganze in sich selbst produziert - natürlich in der entsprechen-den. Weise -, dann kann schon durch die in sich streng gegliederteGedankenfolge dieses Buches bis zu einem hohen Grade die Katharsisherbeigeführt werden. Denn es. kommt eben bei solchen Dingen, wiedieses Buch es ist, darauf an, daß die Gedanken alle so gesetzt sind,daß sie zur Wirksamkeit kommen. Bei vielen anderen Büchern derGegenwart ist es so, daß man im Grunde genommen, wenn man nurdie Systematik ein bißchen anders gestaltet, das eine früher, das anderespäter sagen kann. Bei der «Philosophie der Freiheit» ist das nichtmöglich. Da kann man ebensowenig die Seite 150 etwa 50 Seitenfrüher stellen in dem Inhalt, wie man bei einem Hund die Hinterbeinemit den Vorderbeinen auswechseln kann. Denn dieses Buch ist eingegliederter Organismus, und das Durcharbeiten der Gedanken diesesBuches bewirkt so etwas wie eine innere Trainierung. So gibt es ver-schiedene Methoden, um die Katharsis herbeizuführen. Der, der sienicht herbeigeführt hat, wenn er dieses Buch durchgenommen hat,braucht nicht zu denken, daß es nicht richtig ist, was ich sage, sonderneher, daß er es nicht richtig oder nicht energisch und gründlich genugdurchgearbeitet hat.

Nun aber kommt etwas anderes in Betracht, das ist, daß dann,wenn diese Katharsis eingetreten ist, wenn im astralischen Leibe aus-gebildet sind die astralen Sinnesorgane, das Ganze abgedrückt werdenmuß im Ätherleibe. Nun hat man in den vorchristlichen Einweihungendie Sache so gemacht: Nachdem der Schüler die entsprechenden Vor-übungen durchgemacht hatte, die man ihn oft jahrelang hat durch-machen lassen, sagte man: Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo derastralische Leib so weit ist, daß er seine astralen Erkenntnisorgane hat;jetzt können diese ihren Abdruck erfahren im Ätherleib. - Da wurdedann der betreffende Schüler einer Prozedur unterworfen, die heute- wenigstens für unsere Kulturepoche - nicht nur nicht notwendigist, sondern auch nicht im Ernst ausführbar ist. Er wurde durch drei-einhalb Tage hindurch in einen lethargischen Zustand gebracht. Dawurde er so behandelt, daß nicht nur das für ihn eintrat in diesen

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dreieinhalb Tagen, was jede Nacht im Schlaf eintritt: daß der astra-lische Leib aus dem physischen Leib und dem Ätherleib heraustritt,sondern es wurde bis zu einem gewissen Grade auch der Ätherleibherausgehoben, und es wurde auch dafür Sorge getragen, daß derphysische Leib intakt blieb und der Betreffende nicht inzwischen starb.Jetzt war der Ätherleib befreit von den Kräften des physischen Leibes,die auf ihn wirken. Man hatte jetzt sozusagen den Ätherleib elastischund plastisch, und wenn man jetzt in ihn hineinsenkte, was im astra-lischen Leibe an Sinnesorganen ausgebildet war, dann erhielt derÄtherleib einen Abdruck des ganzen Astralleibes. Wenn dann derBetreffende durch den Hierophanten wieder in den Normalzustand

. gebracht wurde, wenn Astralleib und Ich wieder mit dem physischenLeib und Ätherleib vereinigt wurden - das war eine Prozedur, die derHierophant-Initiator verstand -, dann war für ihn nicht nur die Ka-tharsis da, sondern auch das, was man die «Erleuchtung » nennt, «Pho-tismos ». Der Betreffende konnte jetzt in der Welt, die um ihn herumwar, alle diejenigen Dinge wahrnehmen, die nicht nur physisch-sinnlich sind, sondern er konnte die geistigen Wahrnehmungsorganegebrauchen, das heißt, er sah das Geistige und konnte es wahrnehmen.Aus diesen zwei Vorgängen, der Reinigung oder Läuterung und derErleuchtung, bestand im wesentlichen die Einweihung.

Nun ist im Laufe der Menschheitsentwickelung für den Menscheneine solche Phase eingetreten, daß es nach und nach unmöglich wurde,ohne eine weitgehende Störung aller Funktionen den Ätherleib soherauszubringen aus dem physischen Leib, weil ja die ganze nach-atlantische Entwickelung darauf hinauslief, daß sich der Ätherleibimmer mehr und mehr befestigte im physischen Leibe. Es war dahernotwendig, andere Methoden auszuführen, die darauf hinausgehen,daß ohne die Trennung von physischem Leib und Ätherleib derAstralleib, wenn er genügend entwickelt ist innerhalb der Katharsis,wenn er von selbst wieder hineingeht in den physischen und Äther-leib, dann trotz des Hindernisses des physischen Leibes zu einemAbdruck seiner Organe im Ätherleibe kommt. Das, was eintretenmußte, ist also, daß stärkere Kräfte in Meditation und Konzen-tration wirken mußten, damit starke Impulse im Astralleib seien,

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welche die Widerstandskraft des physischen Leibes überwindenkönnen.

Zunächst kam dann die eigentlich spezifisch christliche Einweihung,die es notwendig macht, daß der Mensch sich den Prozeduren unter-wirft, die gestern als die sieben Stufen geschildert worden sind. Wennder Mensch diese Gefühle und Empfindungen durchmacht, wird seinastralischer Leib so intensiv bearbeitet, daß er - vielleicht erst nachJahren, aber doch früher oder später - plastisch seine Wahrnehmungs-organe formt und sie dann in den Ätherleib hineindrückt, um dadurchden Menschen zu einem Erleuchteten zu machen. Diese Art der Ein-weihung, die die spezifisch christliche ist, könnte ausführlich nur be-schrieben werden, wenn ich nicht nur mehrere Tage, sondern viel-leicht zwei Wochen jeden Tag einen Vortrag über alle Einzelheitenhalten könnte. Darauf kommt es aber nicht an. - Es handelte sichgestern darum, gewisse Einzelheiten in der christlichen EinweihungIhnen anzugeben. Wir wollen uns ja nur mit dem Prinzip bekannt-machen. - Dadurch, daß der Mensch so etwas durchmacht, ist er inder Tat in der Lage, ohne den dreieinhalb Tage dauernden lethargi-schen Schlaf die Einweihung zu erlangen, namentlich wenn der christ-liche Schüler fortdauernd meditiert über die Sätze des Johannes-Evangeliums. Wenn er die ersten Sätze des Johannes-Evangeliums:«Im Urbeginne war das Wort» bis zu der Stelle «voller Hingabe undWahrheit» jeden Tag auf sich wirken läßt, sind sie eine ungeheuerbedeutsame Meditation. Diese Kraft haben sie in sich. Denn diesesJohannes-Evangelium ist überhaupt in seiner Ganzheit nicht bloßdazu da, gelesen und mit dem Intellekt verstanden zu werden, sondernes muß innerlich ganz erlebt und gefühlt werden. Dann ist es selbsteine Kraft, die der Einweihung zu Hilfe kommt und für sie arbeitet,und dann werden «Fußwaschung», «Geißelung» und andere innereVorgänge als astralische Visionen, ganz entsprechend dem, wie sieim Johannes-Evangelium vom 13. Kapitel ab selbst beschrieben wer-den, erlebt.

Die Rosenkreuzer-Initiation aber, obwohl sie durchaus auf christ-lichem Boden steht, arbeitet mehr mit anderen symbolischen Vor-stellungen, die die Katharsis herbeiführen, namentlich mit Imagina-

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tionsbildern. Das ist wiederum eine Modifikation, die angewendetwerden mußte, weil die Menschheit wieder ein Stück in der Ent-wickelung weitergeschritten war und weil sich die Einweihungs-methode dem anpassen muß, was die Menschheit nach und nach ent-wickelt hat.

Nun müssen wir verstehen, daß der Mensch im Grunde doch einganz anderer wird, als er früher war, wenn er diese Einweihung er-langt. Während er früher nur seinen Umgang gehalten hat mit denDingen der physischen Welt, erlangt er dann die Möglichkeit, ebensoumzugehen mit den Vorgängen und Wesen der geistigen Welt. Dassetzt voraus, daß der Mensch in einem viel realeren Sinne die Er-kenntnis erlangt als in jenem abstrakten, nüchternen, prosaischenSinne, wie man gewöhnlich von Erkenntnis spricht. Für den, dergeistige Erkenntnis erlangt, ist der Erkenntnisprozeß etwas ganzanderes noch. Er ist etwas, was ganz und gar eine Verwirklichung desschönen Spruches ist: «Erkenne dich selbst!» Aber es ist das Ge-fährlichste auf dem Erkenntnisgebiete, diesen Spruch in mißverständ-licher Weise aufzufassen; und das geschieht heute nur allzu häufig.Diesen Spruch legen sich manche Leute so aus: sie sollen nicht mehrin der Welt herumschauen, sondern in ihr eigenes Innere hinein-gaffen und alles Geistige in diesem ihrem Innern suchen. Dies ist einesehr mißverstandene Auffassung des Spruches, denn das bedeutet ergar nicht. Der Mensch muß sich klar sein, daß eine wirkliche höhereErkenntnis auch eine Entwickelung ist von einem Standpunkte, dender Mensch erreicht hat, zu einem Standpunkt, den er vorher nichterreicht hatte. Übt man Selbsterkenntnis auf die Weise, daß man nurin sich hineinbrütet, so sieht man nur, was man bisher schon hatte.Dadurch erlangt der Mensch aber nichts Neues, sondern nur eine imheutigen Sinne gemeinte Erkenntnis des eigenen niederen Ich. DiesesInnere ist nur der eine Teil, der zur Erkenntnis notwendig ist. Derandere Teil, der zur Erkenntnis gehört, muß hinzukommen. Ohne diezwei Teile geht es nicht. Durch das Innere kann der Mensch dazukommen, die Organe in sich zu entwickeln, durch die man erkennt.Aber ebensowenig wie das Auge als äußeres Sinnesorgan durch einHineinblicken in sich selber die Sonne erkennen würde, sondern eben

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nach außen auf die Sonne blicken muß, so muß auch das innere Er-kenntnisorgan nach außen, das heißt nach dem geistigen Außen, hin-blicken, um wirklich zu erkennen. Der Begriff «Erkenntnis» hatte inden Zeiten, als man die geistigen Dinge noch realer auffaßte, einenviel tieferen, realeren Sinn als heute. Lesen Sie in der Bibel, was esheißt: «Adam erkannte sein Weib» (i. Mose 4,1 u. 25), oder dieser oderjener der Patriarchen «erkannte sein Weib». Sie brauchen nicht weitzu gehen, um es dahin zu verstehen, daß damit gemeint ist die Befruch-tung; und wenn man den Spruch «Erkenne dich selbst» im Griechi-schen betrachtet, heißt es nicht: Gaffe in dein Inneres hinein, sondern:Befruchte dein Selbst mit dem, was aus der geistigen Welt dir zuströmt!Erkenne dich selbst! heißt: Befruchte dich selbst mit dem Inhalte dergeistigen Welt!

Zweierlei ist dazu nötig: daß der Mensch sich präpariert durchKatharsis und Erleuchtung, dann aber sein Inneres frei öffnet dergeistigen Welt. Das Innere des Menschen dürfen wir in diesem Er-kenntniszusammenhang vergleichen mit dem Weiblichen, das Äußeremit dem Männlichen. Das Innere muß für die Aufnahme des höherenSelbstes empfänglich gemacht werden. Ist es empfänglich, dann strömtaus der geistigen Welt des Menschen höheres Selbst in den Menschenein. Denn wo ist des Menschen höheres Selbst? Ist es da drinnen impersönlichen Menschen? Nein! Auf Saturn, Sonne und Mond war dashöhere Selbst ausgegossen über den ganzen Kosmos. Damals war dasIch des Kosmos ausgegossen über den Menschen, und dieses Ich mußder Mensch auf sich wirken lassen. Er muß dieses Ich wirken lassenauf sein vorher präpariertes Inneres. Das heißt: Geläutert und ge-reinigt, veredelt, der Katharsis unterworfen werden muß des Men-schen Inneres, mit anderen Worten, sein Astralleib. Dann kann ererwarten, daß das äußere Geistige zu seiner Erleuchtung in ihn ein-strömt. Das geschieht, wenn der Mensch so weit vorbereitet ist, daß

- er seinen Astralleib der Katharsis unterworfen und dadurch seineinneren Erkenntnisorgane ausgebildet hat. Dann ist der Astralleib,wenn er jetzt untertaucht in den Ätherleib und physischen Leib, unterallen Umständen so weit, daß die Erleuchtung, der Photismos, erfolgt.Das, was wirklich eintritt, ist eben, daß der Astralleib seine Organe

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abdruckt im Ätherleibe, wodurch dann bewirkt wird, daß der Menschum sich herum eine geistige Welt wahrnimmt, daß also sein Inneres,der astralische Leib, empfängt, was ihm der Ätherleib zu bieten ver-mag, was ihm der Ätherleib heraussaugt aus dem ganzen Kosmos, ausdem kosmischen Ich.

Die christliche Esoterik nannte diesen gereinigten, geläutertenastralischen Leib, der in dem Augenblick, wo er der Erleuchtungunterworfen ist, nichts von den unreinen Eindrücken der physischenWelt in sich enthält, sondern nur die Erkenntnisorgane der geistigenWelt, die «reine, keusche, weise Jungfrau Sophia». Durch alles das,was der Mensch aufnimmt in der Katharsis, reinigt und läutert erseinen astralischen Leib zur «Jungfrau Sophia». Und der «JungfrauSophia » kommt entgegen das kosmische Ich, das Welten-Ich, das dieErleuchtung bewirkt, das also macht, daß der Mensch Licht um sichherum hat, geistiges Licht. Dieses Zweite, das zur «Jungfrau Sophia»hinzukommt, nannte die christliche Esoterik - und nennt es auchheute noch - den «Heiligen Geist». So daß man im christlich-esote-rischen Sinne ganz richtig spricht, wenn man sagt: Der christlicheEsoteriker erreicht durch seine Einweihungsvorgänge die Reinigungund Läuterung seines astralischen Leibes; er macht seinen astralischenLeib zur «Jungfrau Sophia » und wird überleuchtet - wenn Sie wollen,können Sie es überschattet nennen - von dem «Heiligen Geiste»,von dem kosmischen Welten-Ich. Und der, der also erleuchtet ist, dermit anderen Worten im Sinne der christlichen Esoterik den «HeiligenGeist» in sich aufgenommen hat, redet fortan dann in einem anderenSinne. Wie redet er? Er redet so, daß es nicht seine Meinung ist, wenner über Saturn, Sonne, Mond redet, über die verschiedenen Gliederder menschlichen Wesenheit, über die Vorgänge der Weltentwicke-lung. Seine Ansichten kommen dabei ganz und gar nicht in Betracht.Wenn ein solcher über den Saturn redet, redet der Saturn aus ihm.Wenn er über die Sonne redet, redet die geistige Wesenheit der Sonneaus ihm. Er ist das Instrument; sein Ich ist untergegangen, das heißtfür solche Augenblicke unpersönlich geworden, und das kosmischeWelten-Ich ist es, das sich seiner als Werkzeug bedient, um durch ihnzu sprechen. Daher darf man bei den wirklichen esoterischen Lehren,

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die aus der christlichen Esoterik herauskommen, nicht von Ansichtenoder Meinungen reden. Das ist im höchsten Sinne des Wortes nichtrichtig. Die gibt es da nicht. Derjenige, der im Sinne der christlichenEsoterik mit der richtigen Gesinnung von der Welt spricht, sagt sich:Nicht darauf kommt es an, daß ich den Leuten sage, da waren zweiPferde draußen, das eine gefällt mir weniger gut, ich glaube, daß dasein faules Pferd ist. Worauf es ankommt, ist, daß ich den anderen diePferde beschreibe und die Tatsachen wiedergebe! Darum handeltes sich, daß mit Ausschluß jeder persönlichen Meinung das Beob-achtete aus der geistigen Welt erzählt wird. In jedem geisteswissen-schaftlichen Lehrsystem muß einfach die Tatsachenfolge erzählt wer-den; das darf mit den Ansichten desjenigen, der da erzählt, gar nichtszu tun haben.

So haben wir zwei Begriffe zunächst in ihrer geistigen Bedeutungkennengelernt. Wir haben kennengelernt das Wesen der «JungfrauSophia», das der geläuterte Astralleib ist, und kennengelernt habenwir das Wesen des «Heiligen Geistes», des kosmischen Welten-Ichs,das von der «Jungfrau Sophia » empfangen wird und aus dem betref-fenden astralischen Leib heraus dann sprechen kann.

Noch etwas anderes, eine noch höhere Stufe ist zu erlangen, dasist: jemandem helfen zu können, ihm die Impulse geben zu können,beides zu erlangen. Die Menschen unserer Evolutionsepoche könnendie «Jungfrau Sophia», den geläuterten Astralleib, und den «HeiligenGeist», die Erleuchtung, in der geschilderten Weise empfangen. Ge-ben konnte der Erde das, was dazu notwendig ist, nur der ChristusJesus. Er hat dem geistigen Teil der Erde die Kräfte eingeimpft, diees möglich machen, daß überhaupt das geschehen kann, was mit derchristlichen Einweihung geschildert worden ist. Wodurch ist dies ge-kommen?

Zweierlei müssen wir zu dessen Verständnis herbeitragen. Wirmüssen uns erstens mit etwas rein Geschichtlichem bekanntmachen:mit der Art der Namengebung, die eine ganz andere war in der Zeit,als die Evangelien geschrieben wurden, als sie heute ist.

Diejenigen, die heute die Evangelien auslegen, verstehen das Prin-zip der Namengebung zur Zeit der Evangelien gar nicht und reden

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daher nicht so, wie sie reden müßten. Es ist ja außerordentlich schwie-rig zu schildern, wie das Prinzip der Namengebung damals war. Aberwir können es uns doch verständlich machen, wenn wir es auch nurskizzenhaft andeuten können. Denken Sie sich, wir würden bei einemMenschen, der uns entgegentritt, nicht stehen bleiben bei jenem garnicht zu ihm gehörigen Namen, den er auf den abstrakten Wegenerhält, die nun einmal heute für die Namengebung üblich sind, son-dern wir würden lauschen und achtgeben, welches seine hervorra-gendsten Eigenschaften, das hervorstechendste Merkmal in seinemCharakter ist, und wir würden in der Lage sein, hellseherisch die tie-fere Grundlage seines Wesens zu erforschen, und würden dann nachden wichtigsten Eigenschaften, die wir ihm glauben beilegen zu müs-sen, seinen Namen ihm geben.

Würden wir eine solche Namengebung einmal befolgen, dann wür-den wir ungefähr auf einer niederen, elementaren Stufe etwas Ähn-liches ausführen, was diejenigen ausgeführt haben bei einer Namen-gebung, die im Sinne des Schreibers des Johannes-Evangeliums Na-men gegeben haben. Wenn ich mich recht verständlich machen wollte,wie der Schreiber des Johannes-Evangeliums bei seiner Namengebungzu Werke ging, müßte ich jetzt sagen: Dieser Schreiber des Johannes-Evangeliums hat sich die äußere geschichtliche Mutter des Jesus aufihre hervorstechendsten Eigenschaften hin angesehen und hat nungesagt: Wo finde ich einen Namen für sie, der ihr Wesen am voll-kommensten ausdrückt? Und weil sie durch die früheren Inkarna-tionen, die sie durchgemacht hatte, bis zu der geistigen Höhe ge-kommen war, auf der sie stand, weil sie in ihrer äußeren Persönlichkeitgleichsam als ein Abdruck, als eine Offenbarung erschien dessen, wasman in der christlichen Esoterik nennt die «Jungfrau Sophia», sonannte er die Mutter des Jesus die «Jungfrau Sophia». So hat sieimmer geheißen in den esoterischen Stätten, wo das Christentumesoterisch gelehrt worden ist: die «Jungfrau Sophia». Exoterischläßt er sie überhaupt unbenannt, gegenüber den anderen Evange-listen, die den Profan-Namen Maria für sie gewählt haben. Er durftenicht den Profan-Namen nehmen. Johannes mußte im Namen aus-drücken die tiefe weltgeschichtliche Entwickelung. Das tut er, indem

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er andeutet, daß sie nicht Maria genannt werden kann, vielmehr stellter neben sie ihre Schwester Maria, Kleophas* Weib, und nennt sieeinfach «Jesu Mutter». Dadurch deutet er an, daß er ihren Namennicht nennen will, daß er öffentlich nicht bekanntgegeben werdenkann. In esoterischen Kreisen nannte man sie immer die «JungfrauSophia». Sie war diejenige, die als äußere historische Person reprä-sentiert die «Jungfrau Sophia».

Wollen wir jetzt weiter vordringen in das Wesen des Christentumsund seines Begründers, so müssen wir noch ein anderes Mysteriumvor unsere Seele hinstellen. Wir müssen uns klar sein darüber, daß wirunterscheiden müssen zwischen dem, was man in der christlichenEsoterik nennt «Jesus von Nazareth», und dem, was man nennt den«Christus Jesus », den Christus in dem Jesus von Nazareth. Was heißtdas? Das heißt folgendes.

Wir haben es zunächst zu tun in der historischen Persönlichkeitdes Jesus von Nazareth mit einem hochentwickelten Menschen, derdurch viele Inkarnationen hindurchgegangen und wiederverkörpertist nach einer hohen Entwickelungsperiode, der dadurch hingezogenwurde zu einer so reinen Mutter, daß der Schreiber des Johannes-Evangeliums sie nennen durfte die «Jungfrau Sophia». Wir haben esalso zu tun mit einem hochstehenden Menschen, dem Jesus von Na-zareth, der in seiner Entwickelung schon in der vorhergehendenInkarnation weit vorangekommen war und in diese Inkarnation aufeiner hohen geistigen Stufe eintrat.

Die anderen Evangelisten außer dem Schreiber des Johannes -Evangeliums sind nicht in einem so hohen Maße erleuchtet wie derSchreiber des Johannes-Evangeliums. Ihnen ist vielmehr die sinn-liche, wirkliche Welt offen, in der sie ihren Meister und Messias wan-deln sehen als Jesus von Nazareth. Dagegen sind ihnen die geheimerenspirituellen Zusammenhänge, wenigstens in denjenigen Höhen ver-borgen, in die der Schreiber des Johannes-Evangeliums blickt. Siemüssen daher einen ganz besonderen Wert darauf legen, daß sich indem Jesus von Nazareth dasjenige auslebt, was immerdar gelebt hatim Judentum, was immer im Judentum sich fortgepflanzt hat als derdurch alle Generationen gehende Gott der Juden, der Vater. Daher

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drücken sie das auch aus. Sie sagen: Wenn wir die Abstam-mung des Jesus von Nazareth durch die Generationen zurückverfol-gen, so können wir nachweisen, daß wirklich in ihm das Blut rinnt,das durch die Generationen hindurchgeronnen ist. - Sie geben daherdie Geschlechtsregister an, und zwar entsprechend dem, wie sie selbstwiederum auf den verschiedenen Stufen der Entwickelung stehen.Matthäus kommt es vor allem darauf an, daß er zeigt: Wir haben indem Jesus von Nazareth einen Menschen vor uns, in dem der VaterAbraham lebt; das Blut des Vaters Abraham ist heruntergeronnenbis zu ihm. Daher gibt er das Geschlechtsregister an bis zu Abraham(Matth. i, 1-17). Er steht auf einem materielleren Standpunkt als Lu-kas. Letzterem kommt es darauf an, nicht nur zu zeigen, daß der Gottin Jesus lebte, der schon in Abraham lebte, sondern ihm kommt esdarauf an, zu zeigen, daß man die Abstammung, die Blutsfolge nochweiter hinauf bis zu Adam verfolgen kann, und Adam war ein Sohnder Gottheit selbst, das heißt er gehörte der Zeit an, wo die Menschenerst aus der Geistigkeit in die Leiblichkeit übergegangen sind (Lu-kas 3, 23-38). Daraufkommt es beiden, Matthäus und Lukas, an: zuzeigen, daß dieser zeitliche Jesus von Nazareth voll darinnen steckt indem, was auf die göttliche Vaterschaft selbst zurückführt.

Dem Schreiber des Johannes-Evangeliums, der in das Spirituelleblickte, kam es darauf nicht an; denn ihm kam es nicht an auf dasWort: «Ich und der Vater Abraham sind eins», sondern er wolltezeigen: Jeden Augenblick gibt es im Menschen ein Ewiges, das vordem Vater Abraham im Menschen war. Es war im Urbeginn der Lo-gos, der da heißt «Ich-bin ». Früher, als alle äußeren Dinge und Wesen-heiten waren, war er; er war im Urbeginn.

Es handelte sich also für die, die mehr schildern wollten den Jesusvon Nazareth und auch nur ihn schildern konnten, darum, zu zeigen,wie das Blut von Anfang an herunterrann durch die Generationen.Wichtig war es ihnen, zu zeigen, daß im Joseph, dem Vater des Jesusvon Nazareth, lebte das Blut, das durch die Generationen herunterfloß.

Hier würde es natürlich, wenn wir ganz esoterisch sprechen könn-ten, notwendig sein, über den Begriff der sogenannten «unbeflecktenEmpfängnis» zu sprechen, der «Conceptio immaculata», der aber nur

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im allerengsten Kreise erörtert werden kann. Aber er gehört zu dentiefsten Mysterien, die es überhaupt gibt; und die Mißverständnisse,die sich an diesen Begriff knüpfen, rühren davon her, daß die Men-schen nicht wissen, was überhaupt unter der Conceptio immaculataverstanden werden muß. Die Menschen glauben, es bedeutet, daßkeine Vaterschaft da wäre. Das ist es nicht, sondern eine viel tiefere,geheimnisvollere Sache liegt dahinter. Und mit dem, was dahinterliegt, ist gerade dasjenige vereinbar, was die andern Evangelistenzeigen wollen: daß Joseph der Vater ist. Würden sie das in Abredestellen, so würde es völlig sinnlos sein, was sie sich zu zeigen be-mühen. Sie wollen zeigen, daß der alte Gott im Jesus von Nazarethlebt. Lukas insbesondere will es deutlich zeigen. Daher führt er dieganze Geschlechtsfolge bis hinauf zu Adam und dann zu Gott. Wiekäme er sonst zu diesem Resultat, wenn er eigentlich nur sagen wollte:Ich zeige euch, daß dieser Stammbaum existiert, aber eigentlich hatder ganze Joseph gar nichts damit zu tun. Es wäre doch sonderbar,wenn sich die Leute bemühten, den Joseph als eine so wichtige Per-sönlichkeit hinzustellen, und ihn dann wiederum abschieben von demganzen Vorgang.

Nun aber haben wir es bei dem Ereignis von Palästina nicht bloßzu tun mit dieser hochentwickelten Persönlichkeit des Jesus von Na-zareth, die viele Inkarnationen durchgemacht und sich so hoch ent-wickelt hatte, daß sie eine so hervorragende Mutter brauchte, son-dern wir haben es noch mit einem zweiten Mysterium zu tun.

Als der Jesus von Nazareth dreißig Jahre alt war, war er auch nochdurch das, was er in seiner damaligen Inkarnation erlebt hatte, so weitgekommen, daß er einen Prozeß vollziehen konnte, der in Ausnahme-fällen vollzogen werden kann. Wir wissen, daß der Mensch bestehtaus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich. Dieser vierglied-rige Mensch ist der Mensch, der unter uns lebt. Wenn der Menschauf einer gewissen Entwickelungshöhe steht, ist es ihm möglich, ineinem bestimmten Zeitpunkt sein Ich herauszuholen aus den dreiLeibern und diese intakt als vollkommen heile Leiber zurückzulassen.Dieses Ich geht dann in die geistige Welt, und die drei Leiber bleibenzurück. Diesem Prozeß begegnen wir zuweilen in der Weltenentwicke-

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lung. Bei irgendeinem Menschen tritt es ein, daß ein besonders hoher,entrückter Augenblick da ist, der unter Umständen sich auch übereinen längeren Zeitraum ausdehnen kann. Da geht das Ich fort, geht indie geistige Welt; und weil die drei Leiber so hoch entwickelt sinddurch das Ich, das in ihnen war, sind sie brauchbare Werkzeuge füreine noch höhere Wesenheit, die von ihnen Besitz nimmt. Im dreißig-sten Jahre des Jesus von Nazareth nimmt nun von dessen physischemLeibe, Ätherleibe und Astralleibe dasjenige Wesen Besitz, das wir denChristus genannt haben. Dieses Christus -Wesen konnte sich nicht ineinem gewöhnlichen Kindesleibe inkarnieren, sondern nur in einemLeibe, der erst durch ein hochentwickeltes Ich dazu vorbereitet war.Denn dieses Christus -Wesen war vorher noch niemals in einem physi-schen Leibe inkarniert gewesen. Von dem dreißigsten Jahre ab habenwir es also mit dem Christus im Jesus von Nazareth zu tun.

Was war da eingetreten in Wahrheit? In Wahrheit war diese Leib-lichkeit des Jesus von Nazareth, die er zurückgelassen hatte, so reif,so vollendet, daß in sie eindringen konnte der Sonnenlogos, das Wesender sechs Elohim, wie wir es beschrieben haben als das geistige Wesender Sonne. Es konnte sich für drei Jahre in dieser Leiblichkeit in-karnieren, konnte Fleisch werden. Der Sonnenlogos, der hinein-scheinen kann durch die Erleuchtung in den Menschen, er selbst,der Heilige Geist, tritt ein, das Welten-Ich, das kosmische Ich tritt ein,und es spricht fortan der Sonnenlogos in diesen drei Jahren aus demJesuskörper. Der Christus spricht aus dem Jesuskörper die drei Jahrehindurch. Dieser Vorgang wird angedeutet im Johannes-Evangeliumund auch in den anderen Evangelien als das Herabsteigen der Taube,des Heiligen Geistes auf den Jesus von Nazareth. Im esoterischenChristentum wird das so gesagt, daß in diesem Augenblicke das Ichdes Jesus von Nazareth dessen Körper verläßt und daß in ihm fortander Christus-Geist ist, der aus ihm spricht, um zu lehren und zu wir-ken. Das ist das erste Ereignis, das geschieht, im Sinne des Johannes-Evangeliums. Jetzt haben wir den Christus im Astralleibe, Ätherleibeund physischen Leibe des Jesus von Nazareth. Der Christus wirkt indem Sinne, wie wir das beschrieben haben, bis zu dem Mysterium vonGolgatha. Was geschieht auf Golgatha?

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Auf Golgatha geschieht das Folgende. Wir fassen den Augen-blick ins Auge, der der eigentlich wichtige ist, wo das Blut fließtaus den Wunden des Gekreuzigten. Nun will ich das, was dageschieht, mit etwas anderem vergleichen, damit Sie mich besserverstehen.

Denken Sie sich, Sie hätten hier ein Gefäß mit Wasser. In diesemWasser wäre aufgelöst ein Salz, so daß das Wasser ziemlich durch-sichtig wäre. Dadurch, daß Sie das Wasser erwärmt haben, haben Sieeine Salzlösung gemacht. Nun kühlen Sie das Wasser ab. Das Salzlagert sich ab, und Sie sehen, wie von unten an das Salz sich ver-dichtet und unten sich ablagert. Das ist der Vorgang für den, der nurmit physischen Augen sieht. Für den aber, der mit geistigen Augensieht, geschieht noch etwas anderes. Während sich unten das Salzverdichtet, durchströmt nach oben der Geist des Salzes das Wasserund erfüllt es. Das Salz kann nur dadurch dichter werden, daß derGeist des Salzes das Salz verläßt und sich im Wasser ausbreitet. Werdie Dinge kennt, der weiß, daß da, wo eine Verdichtung geschieht,auch immer eine Vergeistigung stattfindet. Was also sich nach untenverdichtet, hat sein Gegenbild nach dem Geistigen, nach oben. Ganzgenau ebenso wie dann, wenn dieses Salz nach unten sickert und sichda verdichtet, der Geist des Salzes ausströmt und sich nach oben hinverbreitet, ebenso war nicht nur ein physischer Vorgang vorhanden,als das Blut herausrann aus den Wunden des Erlösers, sondern indemdas Blut herausrann, war das wirklich begleitet von einem geistigenVorgange. Und dieser geistige Vorgang besteht darin, daß der HeiligeGeist, der da aufgenommen war bei der Taufe, sich mit der Erde ver-band, daß der Christus selbst einfloß in das Wesen der Erde. Vonjetzt an war die Erde verwandelt. Denn das liegt dem zugrunde, wasIhnen in den früheren Vorträgen gesagt worden ist: man hätte sehenkönnen, wenn man von einem fernen Stern auf die Erde geblickthaben würde, daß das ganze Aussehen der Erde mit dem Ereignisvon Golgatha sich veränderte. Es sollte sich der Sonnenlogos mit-teilen der Erde, ein Bündnis mit der Erde schließen, der Geist derErde werden. Der Weg, durch den er das getan, besteht darin, daßer im dreißigsten Jahre des Jesus von Nazareth in dessen Leiber ein-

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gezogen ist, drei Jahre darin gewirkt hat und dann für die Erde er-halten worden ist.

Und nun handelt es sich darum, daß in dem wirklichen Christeneine Wirkung dieses Ereignisses sein muß, daß es etwas geben muß,wodurch der wirkliche Christ nach und nach die Anlage zu einemim christlichen Sinne geläuterten astralischen Leib erhält. Es mußtefür den Christen etwas da sein, wodurch er seinen astralischen Leibnach und nach ähnlich machen kann einer «Jungfrau Sophia», umdadurch den «Heiligen Geist» in sich aufzunehmen, der ja sonst auchausgebreitet sein könnte auf der Erde, aber nicht empfangen werdenkönnte von dem, dessen astralischer Leib nicht ähnlich ist der «Jung-frau Sophia». Es mußte etwas da sein, was die Kraft in sich enthält,den menschlichen Astralleib zu einer «Jungfrau Sophia » zu machen.

Wo liegt diese Kraft? Diese Kraft liegt darin, daß der Christus Jesusdem Jünger, den er lieb hatte, also dem Schreiber des Johannes-Evan-geliums, die Mission übertragen hat, aus seiner Erleuchtung herauswahr und getreulich die Vorgänge in Palästina aufzuschreiben, damitdie Menschen sie auf sich wirken lassen können. Lassen die Menschendas genügend auf sich wirken, was im Johannes-Evangelium aufge-schrieben ist, dann ist ihr astralischer Leib auf dem Wege, eine «Jung-frau Sophia» zu werden, und er wird dann empfänglich für den «Heili-gen Geist». Er wird allmählich empfänglich durch die Stärke der Im-pulse, die vom Johannes-Evangelium ausgehen, wahres Geistiges zufühlen und später zu erkennen. Das hat der Christus Jesus dem Schrei-ber des Johannes-Evangeliums gegeben, diese Mission, diesen Auf-trag. Sie brauchen nur das Evangelium zu lesen, Sie rinden es darin:Am Kreuze stand Jesu Mutter - die «Jungfrau Sophia» im esoteri-schen Sinne des Christentums - und vom Kreuz herab spricht derChristus zu dem Jünger, den er lieb hatte:

«Das ist fortan deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie derJünger zu sich.» (19, 27)

Das heißt: Diejenige Kraft, die in meinem astralischen Leib war undihn befähigt hat, ein Träger zu werden für den Heiligen Geist, dieseKraft, übertrage ich auf dich; du sollst niederschreiben das, was dieser

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astralische Leib durch seine Entwickelung erlangen konnte! - «Undder Jünger nahm sie zu sich», das heißt, er schrieb das Johannes-Evangelium. Und das Johannes-Evangelium ist dasjenige Evange-lium, in dem der Schreiber verborgen hat die Kräfte zur Entfaltungder «Jungfrau Sophia». Am Kreuz wird ihm die Mission erteilt, sie alsseine Mutter anzunehmen, der wahre, echte Interpret des Messias zusein. Eigentlich heißt das also: Lebt euch ganz in den Sinn des Johan-nes-Evangeliums hinein, erkennt es spirituell; es hat die Kraft, euchzur christlichen Katharsis zu führen, es hat die Kraft, euch die «Jung-frau Sophia» zu geben; dann wird auch der mit der Erde vereinigteHeilige Geist euch die Erleuchtung - Photismos im christlichen Sinne -zuteil werden lassen! - Und dies, was die intimsten Schüler erfahrenhatten dazumal in Palästina, das war so stark, daß sie fortan wenigstensdie Anlage in sich hatten, im Geiste zu sehen. Die intimsten Schülerhatten diese Anlage in sich aufgenommen. Denn dieses Im-Geistigen-Sehen im christlichen Sinne besteht darin, daß der Mensch seinenastralischen Leib so umgestaltet durch die Kraft des Ereignisses vonPalästina, daß äußerlich, physisch-sinnlich nicht da zu sein braucht,was der Mensch sehen soll.

Der Mensch hat dann noch etwas, womit er in das Geistige hinein-sieht. Es gab solche intime Schüler. Diejenige, die in dem FleckenBethanien den Christus Jesus gesalbt hat, sie hatte die starke Kraftzum geistigen Sehen aus dem Ereignis von Palästina bekommen, undsie ist zum Beispiel eine derjenigen, welche zuerst vernehmen, daßdas, was in Jesus gelebt hat, vorhanden ist nach dem Tode, auferstan-den ist. Sie hatte diese Möglichkeit. Woher hat sie diese Möglichkeit?Dadurch, daß die inneren Sinnesorgane ihr aufgegangen sind. - Wirduns das gesagt? Ja. Wir werden unterrichtet davon, daß Maria vonMagdala hingeführt wird an das Grab, daß der Leichnam fort istund sie da am Grabe zwei geistige Gestalten sieht. Man sieht diesezwei geistigen Gestalten immer, wenn ein Leichnam längere Zeit daist. Man sieht auf der einen Seite den Astralleib, und man sieht auf deranderen Seite das, was sich nach und nach als Ätherleib loslöst undin den Weltenäther übergeht. Ganz abgesehen vom physischen Leibesind zwei geistige Gestalten da, die der geistigen Welt angehören.

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«Da gingen die Jünger wieder heim.Maria aber stand vor dem Grabe und weinte draußen. Als sie nunweinte, guckte sie in das Grab.Und siehet zween Engel in weißen Kleidern sitzen.» (20, 10-12)

Sie sah das, da sie durch die Kraft und Gewalt des Ereignisses von Pa-lästina hellseherisch geworden war. Und sie sah noch mehr: den Auf-erstandenen sah sie. War es denn notwendig, daß sie dazu hellseherischwar? Trauen Sie sich zu, daß sie einen Menschen, den Sie in physischerGestalt vor ein paar Tagen gesehen haben, wenn Sie ihn nach ein paarTagen vor sich haben, dann nicht genau wiedererkennen?

«Und als sie das sagte, wandte sie sich zurück und siehet Jesumstehen und weiß nicht, daß es Jesus ist.Spricht Jesus zu ihr: Weib, was weinest du? Wen suchest du? Siemeinet, es sei der Gärtner.» (20, 14-15)

Und damit uns das möglichst genau gesagt wird, wird uns das nichtbloß einmal gesagt, sondern auch bei der nächsten Erscheinung desAuferstandenen, als Jesus erschien am See Genezareth.

«Als es aber Morgen war, stand Jesus am Ufer; aber die Jüngerwußten nicht, daß es Jesus war.» (21, 4)

Die esoterischen Schüler finden ihn da. Diejenigen, welche die volleKraft des Ereignisses von Palästina aufgenommen hatten, konntensich da hineinfinden und sehen, daß es der auferstandene Jesus ist, denman im Geistigen sehen konnte.

Wenn nun die Jünger und die Maria von Magdala ihn auch sahen,so gab es aber doch einige unter ihnen, die etwas weniger begabtwaren, die hellseherische Kraft zu entfalten. Zu ihnen gehörte zumBeispiel der Thomas. Von dem Thomas wird Ihnen gesagt, daß erdas erstemal nicht dabei war, als die Jünger den Herrn gesehenhatten; und er selbst sagt, er müsse erst seine Hände in seine Wundenlegen, er müsse erst eine leibliche Berührung mit dem Auferstandenenhaben. Was geschieht? Es sollte jetzt auch noch versucht werden,ihm nachzuhelfen, damit er geistsichtig wurde. Wie geschieht denndas? Es geschieht im Sinne der Worte:

O T T

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«Und über acht Tage waren abermal seine Jünger drinnen undThomas mit ihnen. Kommt Jesus, da die Türen verschlossen waren,und tritt mitten ein und spricht: Friede sei mit euch!Darnach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her, und siehemeine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite,und sei nicht ungläubig, sondern gläubig.» (20, 26-27)

Und du wirst etwas sehen, wenn du dich nicht bloß auf das Gesichtvon außen verläßt, sondern dich durchdringst mit der inneren Kraft 1* -Diese innere Kraft, die ausgehen soll von dem Ereignis in Palästina,nennt man den «Glauben». Das ist keine triviale, sondern eine innerehellsichtige Kraft. - Durchdringe dich mit der inneren Kraft, dannbrauchst du nicht mehr bloß das für wirklich zu halten, was du äußer-lich siehst; denn selig sind die, die wissen können von dem, was sienicht äußerlich sehen!

So wird gezeigt, daß wir es zu tun haben mit der vollen Realität undWahrheit der Auferstehung und daß diese Auferstehung allein der-jenige voll erkennen kann, der mit der inneren Kraft, in das Geistigehineinzuschauen, sich erst ausstattet.

Dies wird Ihnen das letzte Kapitel des Johannes-Evangeliums ver-ständlich machen, wo immer mehr und mehr darauf hingewiesenwird, wie allerdings die intimsten Schüler des Christus Jesus dadurch,daß das Ereignis sich vor ihnen vollzogen hat, zu der «JungfrauSophia» gekommen waren. Aber als sie das erstemal standhaltensollten, wirklich ein geistiges Ereignis schauen sollten, waren sienoch geblendet und mußten sich erst zurechtfinden. Sie wußten nicht,daß das derselbe war, der früher bei ihnen war. - Hier ist etwas, waswir mit den subtilsten Begriffen erfassen müssen; denn der grob-materialistische Geist würde sagen: Dann ist doch also an der Auf-erstehung gerüttelt! - Ganz wörtlich ist das Wunder der Auferste-hung zu nehmen und sogar so, wie er gesagt hat:

«Ich bleibe bei euch alle Tage bis an das Ende des Zeitalters, desWeltenalters!» (Matth. 28, 20)

* «Spricht Jesus zu ihm: Dieweil du mich gesehen hast, Thomas, so glaubst du.Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.» (20, 29).

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Er ist da und er wird wiederkommen, zwar nicht in einer fleisch-lichen Gestalt, aber in einer solchen Gestalt, daß die Menschen, diesich bis dahin durch die Kraft des Johannes-Evangeliums entwickelthaben, ihn sehen, ihn wirklich wahrnehmen können und nicht mehrungläubig sind, wenn sie die geistige Kraft haben, ihn zu sehen. DieseMission hat die anthroposophische Bewegung: denjenigen Teil derMenschheit, der sich vorbereiten lassen will, auf die Wiederkunft desChristus auf Erden vorzubereiten. Das ist die welthistorische Be-deutung der anthroposophischen Geisteswissenschaft: die Menschheitvorzubereiten und ihr die Augen geöffnet zu halten, wenn der Christusim sechsten Kulturabschnitt wiederum erscheint, wirksam unter denMenschen, so daß sich für einen großen Teil der Menschheit das voll-ziehen kann, was uns angedeutet ist in der Hochzeit zu Kana.

So nimmt sich die anthroposophische Weltanschauung aus wie eineTestamentsvollstreckung des Christentums. Um zum wahren Chri-stentum geführt zu werden, wird der Mensch in Zukunft jene spiri-tuellen Lehren aufnehmen müssen, welche die anthroposophischeWeltanschauung zu geben vermag. Mögen gegenwärtig auch nochviele Leute sagen: Ach, Anthroposophie ist etwas, was eigentlichdem wahren Christentum widerspricht! Aber das sind jene kleinenPäpste, die über das entscheiden wollen, wovon sie nichts wissen,die zum Dogma machen wollen: das, wovon sie nichts wissen, seiauch nicht da.

Diese Intoleranz wird in Zukunft immer größer werden, und dasChristentum wird die stärkste Gefahr gerade von jener Seite erleben,wo die Leute sind, die gegenwärtig gerade glauben, gute Christen sichnennen zu können. Durch die Namenchristen wird das Christentumin der Geisteswissenschaft schwere Angriffe erfahren. Denn alle Be-griffe werden sich wandeln müssen, wenn ein wirkliches spirituellesVerständnis des Christentums heranrücken soll. Vor allem wird dasVermächtnis des Schreibers des Johannes-Evangeliums, die großeSchule der «Jungfrau Sophia», das Johannes-Evangelium selbst, sichimmer mehr in die Seelen einleben und verstanden werden müssen.Tiefer aber in das Johannes-Evangelium kann nur die Geisteswissen-schaft einführen.

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Es sollte in diesen Vorträgen nur eine Probe davon gegeben wer-den, wie die Geisteswissenschaft einführen kann in das Johannes-Evangelium; denn es ist unmöglich, das ganze Johannes-Evangeliumzu erklären. Es heißt selbst im Johannes-Evangelium:

«Es sind auch viele andere Dinge, die Jesus getan hat; so sie abersollten eins nach dem andern geschrieben werden, achte ich, die Weltwürde die Bücher nicht begreifen, die zu schreiben wären.» (21,25)

Ebensowenig wie das Johannes-Evangelium selber in allen Einzel-heiten ausführlich sein konnte in bezug auf das Ereignis von Palästina,ebensowenig kann der längste Vortragszyklus alles das bringen, wasin dem Johannes-Evangelium an spirituellem Inhalt darinnen liegt.Deshalb begnügen wir uns mit den Andeutungen, die diesmal ge-geben werden konnten. Begnügen wir uns aber in dem Sinne, daßdurch solche Andeutungen gerade das wirkliche Testament des Chri-stentums im Verlaufe der Menschheitsentwickelung ausgeführt wird.Und lassen wir dies alles in dem Sinne auf uns wirken, daß wir dieKraft haben, festzustehen auf dem Boden dessen, was wir im Johannes-Evangelium erkennen, wenn andere kommen, die da sagen: Ihr gebtuns zu komplizierte Begriffe, viele Begriffe, die man sich erst aneignensoll, um das Evangelium zu begreifen, denn das Evangelium ist fürdie Einfachen und Naiven da, und denen darf man nicht mit vielenBegriffen und Vorstellungen kommen! - So sagen gegenwärtig viele.Sie berufen sich vielleicht auf einen anderen Spruch:

« Selig sind die Armen im Geiste, denn ihnen wird das Himmelreichwerden.» (Matth. 5, 3)

Auf einen solchen Ausspruch kann man sich nur so lange berufen,solange man ihn nicht richtig versteht. Denn er heißt wirklich:

« Selig sind die Bettler im Geiste, denn sie werden in sich selbst dieReiche der Himmel erlangen.»

Das heißt: Diejenigen, die da sind wie die Bettler um Geist, die anGeist immer mehr aufnehmen wollen, die finden in sich die Reicheder Himmel!

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Man hat gegenwärtig nur zu sehr die Meinung, daß alles Religiöseidentisch sei mit allem Primitiven und Einfachen. Man sagt: DerWissenschaft gestehen wir es zu, daß sie viele und komplizierte Be-griffe habe; dem Glauben und der Religion aber gestehen wir dasnicht zu. Glaube und Religion - so sagen viele « Christen» - müsseneinfach und naiv sein! Das verlangen sie; und manche mögen sichdabei berufen auf eine Anschauung, die vielleicht wenig genannt wird,die aber jetzt doch viel in den Gemütern spukt und die Voltaire, einerder großen Lehrer des Materialismus, geäußert hat: Wer da will einProphet sein, der muß Glauben finden, denn das, was er vorbringt,muß ihm geglaubt werden, und nur das Einfache, das immer wieder inseiner Einfachheit wiederholt wird, das allein findet Glauben.

So ist es vielfach gegenwärtig bei vielen Propheten, den wahrenund falschen. Sie bemühen sich, etwas zu sagen und es immer wiederzu wiederholen, und die Leute lernen es glauben, weil es immer wie-derholt wird. Der Vertreter der Geisteswissenschaft soll und will keinsolcher Prophet sein. Er will überhaupt kein Prophet sein. Und manmag ihm noch so sehr sagen: Ja, du wiederholst ja nicht nur, sondernimmer wieder werden die Dinge von anderen Seiten beleuchtet, immerwieder werden die Dinge in anderer Weise besprochen, - wenn so vonihm gesagt wird, bezichtigt er sich keines Fehlers. Ein Prophet will,daß man an ihn glaubt; die Geisteswissenschaft will aber nicht zumGlauben, sondern zum Erkennen führen. Deshalb nehmen wir Voltai-res Ausspruch im andern Sinn auf: «Das Einfache wird geglaubt undist Sache des Propheten», sagt er. «Das Mannigfaltige aber wird er-kannt », sagt die Geisteswissenschaft.

Versuchen wir, immer mehr uns damit bekannt zu machen, daßGeisteswissenschaft etwas ist, was mannigfaltig ist, nicht ein Glau-bensbekenntnis, sondern ein Weg zur Erkenntnis, daß sie daher dieMannigfaltigkeit erträgt. Deshalb scheuen wir uns nicht, vieles her-beizutragen, um eine der wichtigsten Urkunden des Christentums,das Johannes-Evangelium, zu verstehen. Deshalb versuchten wir, diemannigfaltigsten Materialien herbeizutragen, die uns in die Lage ver-setzen, die tiefen Wahrheiten des Johannes-Evangeliums immer mehrzu verstehen; zu verstehen, wie die leibliche Mutter des Jesus eine

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äußere Offenbarung, ein Abbild ist für die «Jungfrau Sophia » ; was fürden Mysterienschüler, den Christus lieb hatte, geistig die «JungfrauSophia» gilt; wie dann noch für die anderen Evangelisten, die aufleibliche Abkunft schauen, hineinspielt der leibliche Vater, der seineBedeutung da hat, wo es auf die äußere Ausprägung des Gottesbegrif-fes im Blute ankommt; was ferner für Johannes der «Heilige Geist»bedeutet, durch den der Christus in Jesus gezeugt wurde während derdrei Jahre, der Geist, der uns angedeutet wird symbolisch dadurch,daß herunterstieg die Taube bei der Johannes-Taufe.

Verstehen wir also zu nennen den «Heiligen Geist» den Vater desChristus Jesus, der ausgeboren hat in den Leibern des Jesus den Chri-stus, so werden wir, wenn wir eine Sache von allen Seiten erfassenkönnen, leicht finden, daß diejenigen Schüler, die weniger eingeweihtwaren, uns auch nicht ein so tiefes Bild von den Ereignissen in Palä-stina geben konnten als der Jünger, den der Herr lieb hatte. Und wenndie Leute gegenwärtig von den Synoptikern sprechen, die ihnen einzigund allein maßgebend sind, so beweist das nur, daß die Leute nichtden Willen haben, sich aufzuschwingen zu dem Verständnis der wah-ren Gestalt des Johannes-Evangeliums. Denn jeder gleicht dem Geist,den er begreift!

Versuchen wir das, was wir lernen können durch die anthropo-sophische Geisteswissenschaft über das Johannes-Evangelium, zumGefühl, zur Empfindung zu machen, so werden wir erfahren, daß dasJohannes-Evangelium nicht nur eine Lehrschrift, sondern eine Kraftist, die in unserer Seele wirken kann.

Haben diese kurzen Vorträge in Ihnen das Gefühl hervorgerufen,daß das Johannes-Evangelium nicht nur das enthält, was hier aus-gesprochen ist, sondern daß es auch auf dem Umweg durch Wortedie Kraft enthält, die die Seele selbst weiter bringt, dann ist das richtigverstanden worden, was eigentlich mit diesen Vorträgen gemeint ist.Denn mit diesen Vorträgen ist nicht nur gemeint etwas für den Ver-stand, für das intellektuelle Auffassungsvermögen; sondern das, wasdurch das intellektuelle Auffassungsvermögen seinen Umweg nimmt,soll sich verdichten zu Gefühlen und Empfindungen, und die Gefühleund Empfindungen sollen ein Resultat sein aus den Einzelheiten, die

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vorgetragen worden sind. Wenn das in einem gewissen Sinne richtigverstanden wird, dann wird man auch verstehen, was es heißt, dieanthroposophische Bewegung habe die Sendung, das Christentum zurWeisheit zu erheben, das Christentum auf dem Umwege durch diespirituelle Weisheit richtig zu verstehen. Man wird verstehen, daß dasChristentum erst im Anfang seines Wirkens ist und seine wahre Mis-sion erst dann erfüllen wird, wenn es in seiner wahren, das heißtgeistigen Gestalt verstanden wird. Je mehr diese Vorträge in diesemSinne aufgefaßt werden, desto mehr sind sie begriffen in dem Sinne,wie sie gemeint waren.

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HINWEISE

Zu dieser Ausgabe

Textgrundlagen: Die Hamburger Vorträge über das Johannes-Evangelium wurdenvon Walter Vegelahn, Berlin, mitgeschrieben und von ihm in Klartext übertragen.Die ersten fünf Vorträge sind von Rudolf Steiner durchgesehen und korrigiertworden. Die herangezogenen Evangelienstellen sind von Rudolf Steiner fast allenach der Lutherschen Bibelübersetzung wiedergegeben worden. Wo bei denTextstellen in der Klammer nur Kapitel und Vers angegeben sind, handelt es sichum Stellen aus dem Johannes-Evangelium.

Das früheren Ausgaben vorangestellte Vorwort von Marie Steiner ist enthalten inBand I ihrer Gesammelten Schriften: «Die Anthroposophie Rudolf Steiners.Gesammelte Vorworte zu Erstveröffentlichungen von Werken Rudolf Steiners»,Domach 1967.

Der Titel des Bandes geht auf die Ankündigung der Vortragsreihe durch RudolfSteiner zurück.

Hinweise ^um Text

Werke Rudolf Steiners innerhalb der Gesamtausgabe (GA) werden in den Hinweisen mitder Bibliographie-Nummer angegeben. Siehe auch die Übersicht am Schluß des Bandes.

Zu Seite

10 Euklid, etwa 365-300 v. Chr., griechischer Mathematiker in Alexandria, «Vater derGeometrie», Verfasser der «Elemente», des bekannten systematischen Lehrbuchsder griechischen Mathematik.

16 vom «schlichten Mann aus Nazareth»: Siehe z. B. Heinrich Weinel, «Jesus im neunzehn-ten Jahrhundert», Tübingen u. Leipzig 1903, S. 6 u. 7.

21 Philo von Alexandrien, um 25 v. Chr. bis um 50 n. Chr., jüdisch-griechischer Philo-soph aus Alexandria, sagt vom Logos zum Beispiel in seiner Schrift «Legum alle-goriarum» (I, 19): Die Weltvernunft, der Logos, erscheint als das Buch, in dem«aller Weltbestand eingetragen und gezeichnet ist».

27 daß unsere Erde frühere Zustände durchgemacht hat: Vergleiche hierzu besonders RudolfSteiner, «Die Geheimwissenschaft im Umriß» (1910), GA 13, Kap. «Die Weltent-wickelung und der Mensch».

29 Es bleibt dann von dem Ätherleibe nur jener Extrakt %wrück, von dem wir öfter gesprochenhaben: Siehe die Ausführungen in den beiden Vortragszyklen Rudolf Steiners: «Vordem Tore der Theosophie», GA 95, 4. Vortrag, und «Die Theosophie des Rosen-kreuzers», GA 99, 3. Vortrag.

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42 Und das Licht schien in die Finsternis: Nach der Übersetzung Rudolf Steiners, die er im1. Vortrag des Münchner Vortragszyklus' «Die Theosophie an Hand des Johannes-Evangeliums» erstmals mitgeteilt hat und die auch handschriftlich vorliegt; veröf-fentlicht in «Kosmogonie», GA 94, S. 230, Rudolf Steiner war die übliche Überset-zung (Und das licht scheint in der Finsternis...} durchaus bekannt.

62 Dante Alighieri, 1265-1321.

64 «Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums» (1902),GA 8, 1959, S. 121 ff.

72 Publius Cornelius Tadtus, um 55 bis um 120 n. Chr., römischer Historiker, in seinerSchrift «De origine et de situ Germanorum» («Germania»).

82 «Wasgeht da von mir %u dir?»: Siehe hierzu die weiteren Ausführungen Rudolf Steinersim 9. und 11. Vortrag des Kasseler Vortragszyklus' «Das Johannes-Evangelium imVerhältnis zu den drei anderen Evangelien, besonders zu dem Lukas-Evangelium»,GA 112, S. 167ff. u. 213f.

84 Doktor der Theologie: Emil Zittel, 1831-1899, «Die Entstehung der Bibel», 5. verb.Aufl., Leipzig 1891.

128 «Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung» (1904),G A 9 .

139 Und der Führer dieses Volkes («Ursemiten») ... war ein großer Eingeweihter Über diesengroßen Eingeweihten spricht sich Rudolf Steiner im 4. Vortrag des Vortragszyklusüber «Das Lukas-Evangelium», GA 114, 1968, S. 84f., näher aus: «Und an derSpitze des großen Orakels, das die Oberaufsicht über die übrigen hatte und das mandas Sonnenorakel nennt, stand der größte der atlantischen Eingeweihten, der großeSonnen-Eingeweihte, der zu gleicher Zeit der Manu, der Führer der atlantischenBevölkerung war. Er war derjenige, welcher sich, als die atlantische Katastropheheranrückte, die Aufgabe zu stellen hatte, mit den Menschen, die er für brauchbarfand, hinüberzuziehen nach dem Osten und eine Ausgangsstätte zu begründen fürdie nachatlantische Kultur.»

148 in den «Sibyllinischen Büchern»: Siehe hierzu Johannes Geffcken, «Christliche Sibylli-nen», in Edgar Hennecke, «Neutestamentliche Apokryphen», 2. Aufl., Tübingen1924, S. 399ff.

150 Aschylos, um 525—456 v. Chr., der älteste der großen griechischen Tragödiendichter.

152 Geometrie des Euklid: Siehe Hinweis zu Seite 10.

162 Sixtinische Kapelle: Hauskapelle des Papstes im Vatikan, 1473 unter Papst Sixtus IV.vom Florentiner Giovanni de' Dolci erbaut, rechteckig, 48 m lang, 15m breit und19 m hoch, mit Fresken von Michelangelo und Wandgemälden von Pietro Perugi-no, Sandro Botticelli und anderen.

163 Piatons Ausspruch «Gottgeometrisiert fortwährend»: Dieser Ausspruch findet sich in kei-nem seiner Dialoge, sondern ist Tradition in der platonischen Schule; er ist durchPlutarchs «Tischgespräche», Achtes Buch, Zweite Frage (In welchem Sinne sagtPlato, daß Gott fortwährend geometrisiert?), überliefert.

171 In meiner «Theosophie»: Siehe Hinweis zu Seite 128.

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185 Pythagoras von Samos, um 580 bis um 496 v. Chr., griechische Philosoph; über seineWanderungen vgl. Ernst Bindel, «Pythagoras», Stuttgart 1962, 3. Kap.: Leben undWirksamkeit des Pythagoras / Lebenszeit und -dauer.

187 wie Goethe sagt: «Das Auge hat sein Dasein dem Licht zu danken. Aus gleichgültigentierischen Hilfsorganen ruft sich das Licht ein Organ hervor, das seinesgleichenwerde, und so bildet sich das Auge am Lichte fürs Licht, damit das innere Lichtdem äußeren entgegentrete.» «Entwurf einer Farbenlehre», didaktischer Teil, Ein-leitung. Siehe «Goethes Naturwissenschaftliche Schriften», herausgegeben undkommentiert von Rudolf Steiner in Kürschners «Deutsche National-Litteratur»(1884-97), 5 Bände, Nachdruck Dornach 1975, GA 1 a-e, Bd. 3, S. 88.

195 «Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung — SeelischeBeobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode» (1894), GA 4

215 Voltaire (Frangois Marie Arouet), 1694-1778; sein Ausspruch «Wer da will ein Pro-phet sein...» konnte bisher nicht nachgewiesen werden.

NAMENREGISTER

(* = ohne Namensnennung im Text)

Abraham 89, 167, 205Adam 205f.Äschylos 150Aristoteles 173Dante Alighieri 62Dionysius Areopagita 33Ehebrecherin, die 134Euklid 10-12, 152Goethe, Johann Wolfgang von 187Haeckel, Ernst 19Jesaias 159Johannes der Evangelist s. auch Laza-

rus 13-15, 20£, 25, 43, 57, 62f., 67,77, 84, 127, 130, 132, 165, 181, 203f,2091, 213

Johannes der Täufer 68f, 71, 78, 100f,167

Joseph, Vater des Jesus von Nazareth205f., 216

Jünger, «den der Herr lieb hatte», der,s. auch Lazarus 83f., I65f., 209, 216

Lazarus, s. auch der Jünger, «den der Herrlieb hatte» 6f., 66f., 69, 83

Lukas der Evangelist 21 f., 205f.Maria, des Kleophas Weib 166, 204

Maria von Magdala 166, 210f.Matthäus der Evangelist 205Moses 119f., 134, 160, 176f.Mutter Jesu 82, 97, 165£, 203, 209, 215f.Nathanael 86f.Nikodemus 98f., 104f., 115, 117Noah 91, 139Paulus 33Philo von Alexandrien 21Pythagoras 185samaritische Weib, das 99f.Sohn des Königischen 99Tacitus, Publius Cornelius 72Thomas der Jünger 211 f.Usia, König 159Voltaire 215Zittel, Emil 84*

Steiner, Rudolf (Werke)Die Philosophie der Freiheit

(GA 4) 195f.Das Christentum als mystische

Tatsache (GA 8) 64Theosophie (GA 9) 128

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ÜBER DIE VORTRAGSNACHSCHRIFTEN

Aus Rudolf Steiners Autobiographie«Alein Lebensgang» (35. Kap., 1925)

Es liegen nun aus meinem anthroposophischen Wirken zwei Ergebnissevor; erstens meine vor aller Welt veröffentlichten Bücher, zweitens einegroße Reihe von Kursen, die zunächst als Privatdruck gedacht und ver-käuflich nur an Mitglieder der Theosophischen (später Anthroposophi-schen) Gesellschaft sein sollten. Es waren dies Nachschriften, die bei denVorträgen mehr oder weniger gut gemacht worden sind und die - wegenmangelnder Zeit - nicht von mir korrigiert werden konnten. Mir wäre esam liebsten gewesen, wenn mündlich gesprochenes Wort mündlich ge-sprochenes Wort geblieben wäre. Aber die Mitglieder wollten den Privat-druck der Kurse. Und so kam er zustande. Hätte ich Zeit gehabt, die Dingezu korrigieren, so hätte vom Anfange an die Einschränkung «Nur für Mit-glieder» nicht zu bestehen gebraucht. Jetzt ist sie seit mehr als einem Jahreja fallen gelassen.

Hier in meinem «Lebensgang» ist notwendig, vor allem zu sagen, wiesich die beiden: meine veröffentlichten Bücher und diese Privatdrucke indas einfügen, was ich als Anthroposophie ausarbeitete.

Wer mein eigenes inneres Ringen und Arbeiten für das Hinstellen derAnthroposophie vor das Bewußtsein der gegenwärtigen Zeit verfolgen will,der muß das an Hand der allgemein veröffentlichten Schriften tun. In ihnensetzte ich mich auch mit alle dem auseinander, was an Erkenntnisstrebenin der Zeit vorhanden ist. Da ist gegeben, was sich mir in «geistigemSchauen» immer mehr gestaltete, was zum Gebäude der Anthroposophie -allerdings in vieler Hinsicht in unvollkommener Art - wurde.

Neben diese Forderung, die «Anthroposophie» aufzubauen und dabeinur dem zu dienen, was sich ergab, wenn man Mitteilungen aus der Geist-Welt der allgemeinen Bildungswelt von heute zu übergeben hat, trat nunaber die andere, auch dem voll entgegenzukommen, was aus der Mitglied-schaft heraus als Seelenbedürfnis, als Geistessehnsucht sich offenbarte.

Da war vor allem eine starke Neigung vorhanden, die Evangelien undden Schrift-Inhalt der Bibel überhaupt in dem Lichte dargestellt zu hören,das sich als das anthroposophische ergeben hatte. Man wollte in Kursenüber diese der Menschheit gegebenen Offenbarungen hören.

Indem interne Vortragskurse im Sinne dieser Forderung gehalten wur-den, kam dazu noch ein anderes. Bei diesen Vorträgen waren nur Mitglie-der. Sie waren mit den Anfangs-Mitteilungen aus Anthroposophie bekannt.Man konnte zu ihnen eben so sprechen, wie zu Vorgeschrittenen auf dem

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Gebiete der Anthroposophie. Die Haltung dieser internen Vorträge wareine solche, wie sie eben in Schriften nicht sein konnte, die ganz für dieÖffentlichkeit bestimmt waren.

Ich durfte in internen Kreisen in einer Art über Dinge sprechen, die ichfür die öffentliche Darstellung, wenn sie für sie von Anfang an bestimmtgewesen wären, hätte anders gestalten müssen.

So liegt in der Zweiheit, den öffentlichen und den privaten Schriften, inder Tat etwas vor, das aus zwei verschiedenen Untergründen stammt. Dieganz öffentlichen Schriften sind das Ergebnis dessen, was in mir rang undarbeitete; in den Privatdrucken ringt und arbeitet die Gesellschaft mit. Ichhöre auf die Schwingungen im Seelenleben der Mitgliedschaft, und in mei-nem lebendigen Drinnenleben in dem, was ich da höre, entsteht die Haltungder Vorträge.

Es ist nirgends auch nur in geringstem Maße etwas gesagt, was nichtreinstes Ergebnis der sich aufbauenden Anthroposophie wäre. Von irgendeiner Konzession an Vorurteile oder Voretnpfindungen der Mitgliedschaftkann nicht die Rede sein. Wer diese Privatdrucke liest, kann sie im vollstenSinne eben als. das nehmen, was Anthroposophie zu sagen hat. Deshalbkonnte ja auch ohne Bedenken, als die Anklagen nach dieser Richtung zudrängend wurden, von der Einrichtung abgegangen werden, diese Druckenur im Kreise der Mitgliedschaft zu verbreiten. Es wird eben nur hin-genommen werden müssen, daß in den von mir nicht nachgesehenen Vor-lagen sich Fehlerhaftes rindet.

Ein Urteil über den Inhalt eines solchen Privatdruckes wird ja allerdings nurdemjenigen zugestanden werden können, der kennt, was als Urteils-Vor-aussetzung angenommen wird. Und das ist für die allermeisten dieser Druckemindestens die anthroposophische Erkenntnis des Menschen, des Kosmos,insofern sein Wesen in der Anthroposophie dargestellt wird, und dessen,was als «anthroposophische Geschichte» in den Mitteilungen aus der Geist-Welt sich findet.

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R U D O L F S T E I N E R G E S A M T A U S G A B E

Gliederung nach: Rudolf Steinet — Das literarischeund künstlerische Werk. Eine bibliographische Übersicht

(Bibliographie-Nrn. kursiv in Klammern)

A. SCHRIFTEN

/. Werke

Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, eingeleitet und kommentiert von R. Steiner, 5Bände, 1884-97, Nachdruck 1975, (U-e); separate Ausgabe der Einleitungen, 1925 (1)

Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, 1886 (2)Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer <Philosophie der Freiheit), 1892 (3)Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung, 1894 (4)Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit, 1895 (5)Goethes Weltanschauung, 1897 (6)Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur moder-

nen Weltanschauung, 1901 (7)Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums, 1902 (8)Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung,

1904 (9)Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? 1904/05 (10)Aus der Akasha-Chronik, 1904-08 (11)Die Stufen der höheren Erkenntnis, 1905-08 (12)Die Geheimwissenschaft im Umriß, 1910 (13)Vier Mysteriendramen, 1910-13 (14)Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit, 1911 (15)Anthroposophischer Seelenkalender, 1912 (in 40)Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen, 1912 (16)Die Schwelle der geistigen Welt, 1913 (17)Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt, 1914 (18)Vom Menschenrätsel, 1916 (20)Von Seelenrätseln, 1917 (21)Goethes Geistesart in ihrer Offenbarung durch seinen Faust und durch das Märchen von

der Schlange und der Lilie, 1918 (22)Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und

Zukunft, 1919 (23)Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage, 1915-21 (24)Kosmologie, Religion und Philosophie, 1922 (25)Anthroposophische Leitsätze, 1924/25 (26)Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Er-

kenntnissen, 1925. Von Dr. R. Steiner und Dr. I. Wegman (27)Mein Lebensgang, 1923-25 (28)

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Page 224: RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE VORTRÄGEfvn-rs.net/PDF/GA/GA103.pdf · 2011. 12. 25. · Zu den Veröffentlichungen aus dem Vorfragswerk Rudolf Steiners Die Gesamtausgabe der Werke

//. Gesammelte Aufsätze

Aufsätze zur Dramaturgie, 1889-1901 (29) — Methodische Grundlagen der Anthroposo-phie 1884-1901 (30) - Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1887-1901 (31) - Auf-sätze zur Literatur 1886-1902 (32) - Biographien und biographische Skizzen 1894-1905(33) — Aufsätze aus «Lucifer-Gnosis» 1903-1908 (34) — Philosophie und Anthroposophie1904-1918 (35) - Aufsätze aus «Das Goetheanum» 1921-1925 (36)

III. Veröffentlichungen aus dem Nachlaß

Briefe — Wahrspruchworte — Bühnenbearbeitungen — Entwürfe zu den Vier Mysterien-dramen, 1910-1913 - Anthroposophie. Ein Fragment aus dem Jahre 1910 - GesammelteSkizzen und Fragmente - Aus Notizbüchern und -blättern - (38^47)

B. DAS VORTRAGSWERK/. Öffentliche "Vorträge

Die Berliner öffentlichen Vortragsreihen 1903/04 bis 1917/18 (51-67) - ÖffentlicheVorträge, Vortragsreihen und Hochschulkurse an anderen Orten Europas 1906—1924(68-84)

II. Vorträge vor Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft

Vorträge und Vortragszyklen allgemein-anthroposophischen Inhalts - Christologie undEvangelien-Betrachtungen — Geisteswissenschaftliche Menschenkunde — Kosmische undmenschliche Geschichte — Die geistigen Hintergründe der sozialen Frage — Der Menschin seinem Zusammenhang mit dem Kosmos — Karma-Betrachtungen — (91—244)Vorträge und Schriften zur Geschichte der anthroposophischen Bewegung und der An-throposophischen Gesellschaft — Veröffentlichungen zur Geschichte und aus den Inhal-ten der Esoterischen Schule (251-270)

III. Vorträge und Kurse %u einzelnen Lebensgebieten

Vorträge über Kunst: Allgemein-Künstlerisches — Eurythmie — Sprachgestaltung undDramatische Kunst - Musik - Bildende Künste - Kunstgeschichte - (271-292) — Vor-träge über Erziehung (293-311) — Vorträge über Medizin (312—319) - Vorträge überNaturwissenschaft (320—327) — Vorträge über das soziale Leben und die Drei-gliederungdes sozialen Organismus (328—341) - Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wir-ken (342-346) - Vorträge für die Arbeiter am Goetheanumbau (347-354)

C. DAS KÜNSTLERISCHE WERK

Originalgetreue Wiedergaben von malerischen und graphischen Entwürfen und SkizzenRudolf Steiners in Kunstmappen oder als Einzelblätter. Entwürfe für die Malerei desErsten Goetheanum — Schulungsskizzen für Maler — Programmbilder für Eurythmie-Aufführungen — Eurythmieformen — Entwürfe zu den Eurythmiefiguren — Wandtafel-zeichnungen zum Vortrags werk, u.a.

Die Bände der Rudolf Steiner Gesamtausgabesind innerhalb einzelner Gruppen einheitlich ausgestattet.

Jeder Band ist einzeln erhältlich.

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