rorty, richard - vier formen des schreibens von philosophiegeschichte (bearbeitet)

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Richard Rorty Wahrheit und Fortschritt Übersetzt 'von joacbim Scbulte Suhfkamp

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Rorty, Richard - Vier Formen Des Schreibens Von Philosophiegeschichte (Bearbeitet)

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Page 1: Rorty, Richard - Vier Formen Des Schreibens Von Philosophiegeschichte (Bearbeitet)

Richard RortyWahrheit und Fortschritt

Übersetzt 'vonjoacbim Scbulte

Suhfkamp

Page 2: Rorty, Richard - Vier Formen Des Schreibens Von Philosophiegeschichte (Bearbeitet)

Titel der Originalausgabe: Truth and Progress ' Inhalt© 1998 Cambridge University Press

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . , . .Ü-

UF”%i`~†~~ ' JS- I Wahrheit: Einige PhilosophenbihšimiiekMÜnchen 1 Ist Wahrheit ein Ziel der Forschung? «

Donald Davidson kontra Crispin Wright . . . . . . . . . . . .f 2 Hilary Putnam und dierelativistische Bedrohung . . . . .

für M413, 3 john Searle über Realismus und Relativisrnus . . . . . . . .nach fiinfundzwanzig jahren 4 Charles Taylor über 'Waiırheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

5 Daniel Dennett über intrinsische Eigenschaften . . . . . . . . . 144

Die Deutsche Bibliothek - CIP-EinheitsaufnalnneBin Titeldatensatz für diese Publikation

ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich

© der deutschen AusgabeSuhrkamp Verlag Frankfurt am Main zooo

Älle Rechte vorbehalten, insbesondere das derÜbersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen., auch einzelner Teile.- Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

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' Printed in Germann' Ü ' * 1 N“ “ f Erste Auflage zooo D D

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3.

6 Robert Brandom über soziale Praktiken und

7

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Repräsentationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1797 Die Verantwortlichkeit des Menschen gegenüber der Welt

John McDowells Lesart des Empirismus . . . . . . . . . . . . . . . „zoı8 Waffen gegen den Skeptizismus

Michael Williams oder Donald Davidson . . . . . . . . . . . . . . . 223

_ II Moralischer Fortschritt:Für integrativere Gemeinschaften

9 Menschenrechte, Rationalität und Empfindsamkeit . . .Io Rationalität und kulturelle Verschiedenheit . .› . . . . . . . .1 1 Feminismus und Pragmatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .rz Das Ende des Leninismus, Havel und die soziale -

Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

III Fortschritt und Philosophie13 Vier Formen des Schreibens von PhilosophiegeschichteI4 Die Kontingenz derphilosophischen Probleme

Textnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

i'7 Derridlaund die 'philosophische Tradition '. .1.; . .2 1.» L

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I3 Ä,Vier Formen des Schreibens von

Philosoph-iegeschichte*

Rationale undhistorische Rekonstruktionen

Analytische Philosophen, die sich um »rationale_Rekonstruktionen«der Argumente großer, verstorbener Philosophen bemüht haben,sind dabei in der Hoffnung verfahren, diese Philosophen als Zeit-genossen zu behandeln, als Kollegen, mit denen sie Meinungen aus-tauschen können. Wenn man nicht so vorgehe, könne man, wie sieausführen, die Philosophiegesclıichte gleich den Historikern iiber-lassen, denen es nach ihrer Darstellung nicht um die philosophischeWahrheit, sondern bloß um Doxographie gehe. Derartige Rekon-struktionen haben allerdings zu Anachronismus~VorWürfen geführt.Häufig werden analytisch gesinnte Philosophiehistoriker beschul-digt, sie hämrnerten sich die Texte so zurecht, daß sie die Gestalt vonAussagen annehmen, über die derzeit in den philosophischen Fach-zeitschriften diskutiert wird. Mit Nachdruck wird darauf gedrun-gen, wir sollten Aristoteles oder Kant keine Gewalt antun undsie zwingen, im Rahmen gegenwärtiger Auseinandersetzungen übersprachphilosophische oder metaethische Themen Stellung fzu be-ziehen. Híer scheinen wir vor einem Dilemma zu stehen: Entwederwir oktroyieren den Toten in anachronistischer Manier genügendProbleme und Vokabeln unserer Zeit auf, um sie zu Gesprächspart-nern zu machen, oder wir beschränken unsere Interpretationstätig-keit darauf, ihre falschen Sätze weniger töricht wirken zu lassen,indem wir sie in den Zusammenhang der rückständigen Zeiten stel-len, in denen_diese Sätze ni_edergeschrie_l:_pen_ wurden. ,_ _, V

der diesie1n"Gebiet' zögernfig keineswegs zu4 David I-Iollinger danke ich für hilfreiche Anrneı-kungen zu einer früheren Fassung

dieser Abhandlung und dem Center for Advanced Study in the Behavioral Sciencesfür die idealen Umstände, unter denen ich diese Arbeit schreiben durfte.

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behaupten, wir wüfšten besser als unsere Vorfahren, worüber sieeigentlich geredet haben. Wir halten es nicht für anachronistisch zusagen, das I-Iimrnelsmodell des Aristoteles sei falsch oder Galenushabe nicht begriffen, wie der Blutkreislauf funktioniert. Die ent-schuldbare Ahnungslosigkeit der großen, verstorbenen Wissen-schaftler nehmen wir als Selbstverständlichkeit hin. Genauso solltenwir zu der Behauptung bereit sein, Aristoteles habe leider nichtgewuišt, daiš es keine realen Wesen gibt, Leibniz habe nicht gewußt,daß Gott nicht existiert, bzw. Descartes habe nicht gewußt, daß derGeist nichts weiter ist als das anders beschriebene Zentralnervensy-stem. Wir zögern nur deshalb, weil wir Kollegen haben, denen dieseFakten ebenfalls unbekannt sind und die wir aus lauter Höflichkeitnicht als ››ahnungslos« bezeichnen, sondern als »Vertreter andererphilosophischer Anschauungen«. Wissenschaftshistoriker habenkeine Kollegenfdie an die Existenz von Kristallsphären glauben oderHarveys Erklärung des Blutkreislaufs bezweifeln, und daher sind siediesen Zwängen nicht ausgesetzt.

Es ist daran auszusetzen, wenn wir uns von unserenAnschauungen die Begriffe vorschreiben

lassen, wir die Toten kennzeichnen. Es gibt aberGründe, weshalb man sie auch mit anderen, nämlich mit ihren eige-nen Begriffen beschreiben sollte. Es ist nützlich, die geistige Land-schaft, in der die Verstorbenen einst ihr Leben führten, neu zu schaf-fen, insbesondere die wirklichen oder imaginären Gespräche, die siemit ihren Zeitgenossen (oder Beinahezeitgenossen) hätten führenkönnen. Es gibt Zwecke, für die es nützlich ist zu erfahren, wieLeute, die weniger wußten als wir heute, geredet haben, und darübergenügend Details zu erfahren, um uns ausmalen zu können, wie eswäre, wenn wir selbst diese veraltete Sprache benutzten. Der Ethno-loge will wissen, wie die Eingeborenen mit anderen Eingeborenenreden, und außerdem will er wissen, wie sie auf den Unterricht derMissionare reagieren. Zu diesem Zweck versucht er sich in sie hin-

Hinnéı c'±scc›riraaa±trsii satt:rtaısnts:sgttagtcir1;.hätte, etwas Interessantes, wovion der triumphaiistisch in der Gegen-wart befangene Astrophysiker keine Ahnung hat, der seinerseits nursieht, wie Aristoteles von den Argumenten Galileos zerschmettert

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worden wäre. Es gibt ein Wissen - historisches Wissen -~, zu demman nur gelangen kann, wenn man die eigenen überlegenen Kennt-nisse ausklammert und z. B. unberücksichtigt läßt, was man über dieBewegungen der Himmelskörper oder die Existenz Gottes Weiß.

Wer nach dieser Art von Wissen strebt, muß sich einer einschrän-kenden Bedingung fügen, die Quentin Skinner wie folgt formuliert:

Von keinem Akteur kann man letztlich behaupten, er habe etwas gemeintoder getan, was er unter keinen Umständen als zutreffende Beschreibungdessen, was er gemeint oder getan hat, akzeptiert hättef

Skinner behauptet, diese Maxime schließe die Möglichkeit aus, »daßeine akzeptable Erklärung des Verhaltens eines Akteurs in Geltungbleiben könnte, wenn nachgewiesen würde, daß sie ihrerseits vonBeschreibungs- und Klassifíkationskriterien abhängt, die dem Akteurselbst nicht zu Gebote standen«. Es gibt eine wichtige Bedeutung derFormulierungen »was der Akteur meinte oder tat« und »Erklärungdes Verhaltens eines Akteur-s<<, beider diese einschränkende Bedin-gung unerläfšlich ist. Wünschen wir eine dieser Bedingung gehor-chende Erklärung des Verhaltens von Aristoteles oder Locke, müs-sen wir uns allerdings auf eine Erklärung beschränken, die uns imidealen Grenzfall' mitteilt, was sie auf alle kritischen Einwände oderFragen von seiten ihrer Zeitgenossen geantwortet hätten (oder, ge-nauer gesagt, von seiten der Gruppe ihrer Zeitgenossen, deren kriti-sche Bemerkungen und Fragen ihnen ohne weiteres verständlich ge-wesen wären, also von seiten aller Personen, die in etwa »dieselbeSprache redeten wie sie selbst<<, und zwar nicht zuletzt- deshalb, weilsie unsere heutigen Kenntnisse genausowenig hatten wie der betref-fende große, verstorbene Philosoph selbst). Anschließend könnenwir fortfahren und Fragen stellen wie »Was hätte Aristoteles über diejupitermonde (oder über Quines Antiessentialismus) gesagt?« oder»Was hätte Locke über die Gewerkschaften (oder über Rawls) ge-sagt?« oder »Was hätte Berkeley über Ayers oder Bennetts Versuche%_~'i=.$_.=isF›.§.sías_,.As§shani1rıssn, über.$ímis§wahraehmwgımd±Ma:erie.=

Besehfeibsngeır*d±±±§é±±“ kemizèiëhfiëfi;”sie “sifiı±;±~` Ski±äfiè~š§simeinten odertatenmi' A' S. A `

1 Quentin Skinner, »Meaning and Understanding in the History of Ideas«, in: History«md Theory S (1969), S. 28.

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Der weshalb wir historische Kenntnisse wünschen,die sich auf das beziehen, was noch nicht umerzogene Eingeboreneoder verstorbene Philosophen und Wissenschaftler zueinander ge-sagt hätten, liegt darin, daß diese Kenntnisse zu der Einsicht beitra-gen, daß es andere Formen geistigen Lebens als unsere eigenen gege-ben hat. Skinner schreibt daher zu Recht: »Der unentbehrliche Wertdes Studiums der Geistesgeschichte« besteht darin, daß man lernt,»worin der Unterschied liegt zwíschen dem Notwencligen und dem,was bloß ein Produkt unserer eigenen kontingenten Verhältnisseist«.2 Dies ist in der Tat, wie Skinner anschließend ausführt, »derSchlüssel zur bewußten Kenntnis seiner selbst<<. Aber wir wollenuns außerdem Gespräche vorstellen zwischen uns selbst (zu derenkontingenten Verhältnissen auch die allgemein geteilte Meinung ge-hört, daß es keine realen Wesen, keinen Gott usw. gibt) und den gro-ßen Verstorbenen. Diesen Wunsch haben wir nicht nur deshalb, weildas Gefühl, überlegenen Menschen etwas vorauszuhaben, so ange-nehm ist, sondern weil wir gern imstande wären, die Geschichteunseres Geschlechts als lange währenden Meinungsaustausch zubegreifen. Wir möchten die Geschichte gern als ein solches Gesprächauffassen, die Gewißheit zu verschaffen, daß es im Laufe der

rationalen Fortschritt gegeben hat - daßunsere Me denen unserer Vorfahren aus Gründen ab-weichen, zu dëfen Akzeptierung man auch sie hätte bewegen kön-nen. Das Bedürfnis nach dieser Art von Vergewisserung ist nichtgeringer als das Bedürfnis nach Kenntnis seiner selbst. Wir brauchendie Vorstellung von einem Aristoteles, der Galileo oder Quine liestund dann seine Meinung ändert, von einem Thomas von Aquin, derNewton oder Hume liest und dann seine Meinung ändert usw. In derPhilosophie wie in der Wissenschaft brauchen wir die Vorstellung,daß die großen Verstorbenen mit ihren Irrtümern vom Himmel her-abblicken, unsere in letzter Zeit errungenen Erfolge sehen und frohsind über die Feststellung, daß ihre Irrtümer korrigiert wurden.

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2 Ebd.,S. jzf. ii'

3:8

tige Beschreibung akzeptiert hätte. Den idealen Ureinwohner kannman letzten Endes dazu bewegen, eine Beschreibung seiner selbst zuakzeptieren, wonach er an der Fortdauer eines Verwandtschaftssy-stems mitgewirkt hat, das dazu bestimmt war, die ungerechten wirt-schaftlichen Verhältnisse in seinem Stamm zu ermöglichen. Einenidealen Gulag-Wächter kann man letzten Endes dazu bringen, daßer nach eigener Anschauung gegen die Loyalitätsbeziehung zu sei-nen russischen Mitmenschen verstoßen hat. Einen idealen Aristote-les kann man zu einer Selbstbeschreibung veranlassen, wonach er dietaxonomischen Vorbereitungsstadien der biologischen Forschungmit dem Wesen aller wissenschaftlichen Forschung verwechselthat.]eder dieser imaginären Menschen ist, sobald man ihn dazu gebrachthat, eine solche Neubeschreibung dessen zu akzeptieren, was ergemeint oder getan hat, zu »einem von uns« geworden. Er ist nununser Zeitgenosse, unser Mitbürger oder ein Angehöriger derselbenFachmatrix wie wir selbst.

Als Beispiel für ein solches Gespräch mit den umerzogenen Totenwollen wir einen Blick auf Strawsons Kant-Buch werfen? DieBeweggründe, die Strawson zu The Bound: ofSense angeregt haben,sind die gleicheniwie bei seinem früheren Buch Individuals, nämlichdie Überzeugung, daß der psychologische Atomismus im SinneHumes ein völlig verfehlter und erkiínstelter Ansatz ist und daß Ver-suche, die Dinge des ››aristotelischen« Common-sense-Rahmensdurch ›>Ereignisse« oder ››Reize« zu ersetzen (wie es bei Whiteheadund Quine geschieht), ganz irrig sind. Da Kant ebenso dachte und daes in einem großen Teil der »Transzendentalen Analytik« darumgeht, ähnliche Vorstellungen zu verdeutlichen, ist es für jemandenmit Strawsons Interessen naheliegend, Kant darauf hinzuweisen,wie er diese Vorstellungen klarmachen kann, ohne einige andere,weniger einleuchtende Dinge zu sagen, die er tatsächlich behauptethat. Dabei handelt es sich um Dinge, die aufgrund des philosophi-schen Fortschritts seit Kant längst nicht mehr so verlockend wirken.

es mit jemandem führt, der sich über etWas,wasieíı1emiam'PIerzen3 P- F- SEIRWSOH, T50 Bvvmds 0f5`erıse: An Essay an Kamt's »Critique ofPuıre Reasom,

London: Methuen 1966, Übers. Die Grenzen des Sinus, Königstein: Hain 1981.

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liegt, in brillanter und origineller Weise richtig äußert, der einendabei Vermengung mit veralteten und törichtenAnsichtenšiliälirë_2l%lfzTir Verzweiflung bringt. Weitere Beispiele für sol-che Gespräche sind die Unterhaltungen Ayers und Bennetts mit denbritischen Empiristen über den Phänornenalisırıus. In diesen Unter-haltungen versuchen sie den reinen Extrakt des Phänomenalismusaus wahrnehmungsphysiologischen bzw. die Existenz Gottes be-treffenden Fragen herauszufiltern (denn das sind Themen, über diewir heute besser unterrichtet sind und deren Belanglosigkeit wirdaher zu erkennen vermögen).* Hier geht es wieder um die Erfül-lung des natürlichen Wunsches, mit Leuten zu reden, deren Vorstel-lungen den eigenen durchaus ähnlich sind, wobei man hofft, dieseLeute zu dem Zugeständnis zu bewegen, daß man selbst diese Vor-stellungen besser geklärt hat, oder auch in der Hoffnung, sie imLaufe des Gesprächs weiter zu klärenf

1%

4 A. I. Ayer, Language, Truth und Logic, London: Gollancz 1936; Jonathan Bennett,Locke, Berkeley, Hımıe: Central Themes, Oxford: Oxford University Press 1971.

5 Daher kann ich gar nicht einverstanden sein, wenn Michael Ayers solche Bemühun-gen scharf kritisiert oder wenn er behauptet, es sei eine ››Illusion« zu glauben, daßmetaphysische, logisclıe und erkenntnistheoretische Ideen ebenso wie die Ideen derMathematik Euklids »unabhängig sind von den Zufällen der Geschichte« (››AnalyticPhilosophy and the History of Philosophy«, in: Jonathan Rêe/Michael Ayers/AdamWestoby (Hg), Philosophy und Its Past, Brighton: Harvester Press 1978, S. 46). Ichstimme der ,zitierten These Bennetts zu, daß »wir Kant nur insoweit ver-stehen,-íšäifilššif fiHilfe heutiger Begriffe angeben können, welches seineProblenieili 531-”-' davon auch heute noch Probleme sind und was Kant zuihrer Lösung beisfeuert« (S. 54). Ayers repliziert; »Legt man die natürliche Interpre-tation dieser Behauptung [von Bennett] zugrunde, so impliziert sie, daß es unmög-lich ist, einen Philosophen im Rahmen seiner eigenen Begrifflichkeit zu verstehen,sofern damit ein anderes und früher ansetzendes Vorgehen gemeint ist als dasschwierige Unterfangen, sein Denken zu dem in Beziehung zu setzen, was wir selbsteventuell sagen wollen« (S. 54). Darauf würde ich im Namen Bennetts erwidern, daßwir zwar tatsächlich in gewissem Sinne imstande sind, die Aussagen eines Philoso-phen im Rahmen seiner eigenen Begrifflichkeit zu verstehen, ehe wir seine Gedankenzu unseren eigenen in Beziehung setzen, daß dieses Miniı-nalverständnis jedoch derFähigkeit gleicht, in einer fremden Sprache Höfliclıkeiten auszutauschen, ohne die

= cze±±.' Ubefs*efztmgist;`new†ead1g,“~'§öfeffig~tvefsfeıiëıfiraefif* r›fl±±1ea±è±i,'e'sı±ılí`›'aIš;fäiëf3Beteiligung an ritqellen Handlungen, deren Sinniman nicht eiıisieht, undeine Außer„mg fii›@fs@tz.±±;§;*ı;±^=±i1s±; Sie in „mas Praktiken sa±„fiıge„.~ (sehe anmerken 5*3unten.) Erfolgreiche historische Rekonstruktionen können nur von Personen gelei-stet werden, die eine Vorstellung davon haben, was sie selbst über die erörterten Fra-

36o ' "

Bei solchen Angleichungsbemühungen verfährt man natürlichnachronistisch. Doch wenn sie im vollen Bewußtsein des Anachro-iismus ausgeführt werden, ist nichts dagegen einzuwenden. Die ein«.igen Probleme, die sich dabei stellen, sind zum einen die verbaleirage, ob rationale Rekonstruktionen als Verdeutlichung dessen,vas die Verstorbenen wirklich gesagt haben, betrachtet werden soll-en, und zum anderen die nicht minder verbale Frage, ob rationaleRekonstruktionen ››eigentlich« noch ein historisches Verfahren dar-tellen. Von der Antwort auf beide Fragen hängt nichts weiter ab. Esst eine natürliche Beschreibung, wenn man sagt, Kolumbus habeLicht China, sondern Amerika entdeckt, ohne es zu Wissen. Beinahebenso natürlich ist die Beschreibung, wenn man sagt, Aristotelesiabe keine natürliche Abwärtsbewegung, sondern, ohne es zu wis-en, die Wirkungen der Gravitation geschildert. Ein wenig bemühterlingt die Beschreibung, die aber nur ein weiterer Schritt auf demsel-›en Weg ist, wenn man sagt, Platon habe, ohne es zu wissen, ge-laubt, alle Wörter seien Namen (oder Welche Prämisse modernen,emantisch orientierten Interpreten sonst noch nützlich erscheint

3

gen denken, selbst wenn ihre Meinung bloß darauf hinausläuft, daß es sich umScheinfragen handelt. Historische Rekonstruktionsversuche, die (wie z.B. WolfsonsBuch über Spinoza) in dieser Hinsicht selbstlos verfahren, sind eigentlich keineRekonstruktionen, sondern Zusammenstellungen von Rohmaterial für solcheRekonstruktionen. Wenn Ayers schreibt: »Anstatt die Terminologie Lockes der Ter-minologie unserer eigenen Theorien gegenüberzustellen, sollten wir seine Absichtenzu verstehen versuchen, indem wir die gleiche Beziehung zwischen Denken undEmpfinden herstellen wie er selbst«~(S. 61), dann Würde ich dem entgegenhalten, daßwir mit dem letzteren Verfahren nicht weit kommen, ehe wir uns eifrig des ersterenVerfahrens bedient haben. Wenn man nicht an die Existenz geistiger Vermögen wie»Denkem und »Empfindem glaubt (und das gilt für viele von uns nachwittgenstei-nianischen Philosophen des Geistes), muß man eine Menge Zeit darauf verwenden,akzeptable Äquivalente fı'ír die Begriffe Lockes ausfindig zu machen, ehe man Wei-terlesen und feststellen kann, wie er seine Begriffe verwendet. Man muß also genausovorgehen wie wir Atheisten, wenn wir moraltheologische Schriften lesen. Generellbin ich der Ansicht, daß Ayers den Gegensatz zwischen »unseren Begriffen« und.rfisiefle B=ßfiff=I1«...üb.flrtrsil>=›„w=m1. =f„„=~„11<í<_=_"=fi=›,›,=„e1=».=1,.. f$ö›11.1<.=f_:.=__11=f„„S.v:~.r .1.1.-f„»=..=„<„›.=,f.i$.~=.1„=«s~„=,ıi2

'tefgiımmmaa ia; iawaa›.±1±'ríe'=aa@ \ivaıa;1±ei±j' efı;aaa±`_1{;±±ëa;' Das taaaaagtsollten als Teilbereicheieines anhaltenden Fortschreitens auf dem Weg umden her-meneutischen Zirkel gesehenwerden, und diesen Zirkel muß man schon etliche Maleumschritten haben, ehe man mit der einen oder der anderen Art von Rekonstruktionbeginnen kann.

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um Platons Argumente zu rekonstruieren). Es ist ziemlich klar, daßPlaton nichts dergleichen gemeint hat, wenn man das Wort »mei-nen« im Sinrıe_Skinners auffaßt. Wenn wir anachronistisch verfahrenund behgggífi- __igentlich<< habe Platon solche Theorien vertreten,dann ineiiiiifñ er bei einer imaginären Auseinandersetzungmit heutigen Philosophen um die Frage, ob er bestimmte andereAnschauungen vertreten habe, nicht umhin käme, eine Prämisse auf-zustellen, die er nie formuliert hat und die sich auf einen Gegenstandbezieht, den er nie in Betracht gezogen hat - und diese Prämissemüßte ihm vielleicht von einem wohlmeinenden rationalen Rekon-strukteur vorgeschlagen werden.

Historische Rekonstruktionen dessen, was nicht umerzogene,verstorbene Denker zu ihren Zeitgenossen gesagt hätten - alsoRekonstruktionen, die sich an die Maxime Skinners halten - sind imIdealfall Rekonstruktionen, über die alle Historiker einer Meinungsein können. Wenn die Frage lautet, was Locke Wahrscheinlich zueinem Hobbes gesagt hätte, der ein paar jahrzehnte länger gelebtund noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte gestanden hätte, gibtes keinen Grund, warum die Historiker nicht zu einer einhelligenAntwort gelangen sollten, die durch die Entdeckung eines vonLocke stammenden Manuskripts bestätigt werden könnte, in dem ersich ein imaghiäzres Gespräch zwischen ihm selbst und Hobbes aus-malt. Bei rationalen Rekonstruktionen hingegen ist es unwahr-scheinlich, daß sie zu einem übereinstimmenden Resultat führen,und es ,_,ke',Al„;§n_,Grund, weshalb es anders sein sollte. Wer die

rage, 0 , „e_ '_ ggtgr Namen sin , oder irgendeine andere semanti-sche These -iiınblick auf eine Reihe sonstiger Themen für maß-geblich erachtet, wird eine völlig andere imaginäre Unterhaltung mitPlaton führen als jemand, der die Sprachphilosophie für eine vor-übergehende Modeerscheinung hält, die ohne Belang sei für diewirklichen Streitfragen, die Platon von seinen bedeutenden moder-nen Antagonisten trennen (z. B. von Whitehead, Heidegger oder

abiftrarsafıasrircrta Kaıaraer=zwanziger“Jatfınaasfafntataies;

Philosophen abvvechseltauf der Einhaltung der iMaiximeiiSkinniers beruht)iu„nd rationalerRekonstruktion (die davon abhängt, daß man diese Maxime außer

362

acht läßt) braucht es keinen Konflikt zwischen den beiden Verfahrenzu geben. Sobald man Skinners Maxime respektiert, wird man dentoten Denker »im Rahmen seiner eigenen Begrifflichkeit« darstellenund davon absehen, daß man von jedem, der sich heute dieser Be-griffe bediente, eine schlechte Meinung hätte. Sobald man dieMaxime Skinners außer acht läßt, erfolgt die Darstellung ››im Rah-men unserer eigenen Begrifflichkeim, wobei unberücksichtigt bleibt,daß der tote Denker, den sprachlichen Gewohnheiten seiner Zeitentsprechend, diese Begriffe abgelehnt hätte, weil sie mit seinen In~teressen und Absichten nichts zu tun haben. Den Gegensatz zwi-schen diesen beiden Aufgaben sollte man allerdings nicht so formu-lieren, als ginge es einerseits darum, lıerauszubekommen, was dertote Denker gemeint hat, und andererseits darum, herauszubekom-men, ob seine Äußerungen wahr, sind. Wer herausfinden Will, wasjemand gemeint hat, muß ermitteln, wie die Äußerungen des Betref-fenden zu seinem allgemeinen Muster sprachlichen und sonstigenVerhaltens passen; er muß also, grob gesprochen, ermitteln, was derBetreffende auf Fragen bezüglich früherer Äußerungen seinerseitsgeantwortet hätte. »Was er gemeint hat«, fällt demnach verschiedenaus, je nachdem, wer diese Fragen stellt. Allgemeiner gesprochen,fällt das ››Gemeinte« verschieden aus, je nachdem, Wie groß der insAuge gefaßte Bereich wirklichen und möglichen Verhaltens ist.Häufig sagen die Leute - und das ist durchaus vernünftig -, was siemeinten, hätten sie erst herausgefunden, als sie hörten, was sie selbstspäter äußerten, nämlich als sie hörten, wie sie selbst auf die Konse-quenzen ihrer Anfarıgsäußerurıg reagierten. Es ist völlig vernünftig,wenn man es so hinstelit, als habe Locke erst herausgefunden, was erin seiner Zweiten Abhandlung über die Regierung wirklich meinteund eigentlich beabsichtigte, nachdem er sich im Himmel mit Jeffer-son, dann mit Marx und anschließend mit Rawls unterhalten hatte.Nicht minder vernünftig ist es, die Frage auszuschließen, wie einidealer und unsterblicher Locke über das von ihm selbst Gemeinte

B©`F`=l§š$'f1ín<š1 der siatatiefi feirmspeıifiselieıa irıresretflten“irt*ren.. m * Q i „› ~ › ±

Natürlich können wir den Begriff des ››Gemeinten« oder der»gemeinten Bedeutung« auf das beschränken, Worum es bei dem

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zuletzt genannten Unterfangen à la Skinner geht, anstatt ihn so zuverwenden, daß die Anzahl der einem Text zukommenden Bedeu-tungen genauso groß sein darf wie die Anzahl der dialektischenKontexte, in denen man ihm einen Ort zuweisen kann. Wenn wirden Begriff so einschränken wollen, können wir uns die von E. D.Hirsch vorgzegcggšlvagene Unterscheidung zwischen gemeinter »Be-

zu eigen machen und jenen Ausdruckauf das mit den Absichten des Autors zur Zeit derAbfassung des Textes in Einklang steht, Während wir ››Signifikanz«auf die Stellung des Texts in einem anderen Kontext anwenden.“Doch davon hängt nichts Weiter ab, es sei' denn, man will unbedingtdarauf beharren, der ›'>I-Iistoriker« habe die Aufgabe, die ››gemeinteBedeutung« zu ermitteln, Während es (im Falle philosophischerTexte) dem »Philosophen « obliege, die ››Signifikanz« und schließlichdie Wahrheit zu erforschen. Wirklich Wichtig ist die Klarstellung,daß es beim Erfassen der mit einer Behauptung gemeinten Bedeu-tung nicht darauf ankommt, aus dem Geist des Sprechers ein Sinn-Klümpchen herauszuklauben, sondern darum, diese Behauptung ineinen Kontext zu stellen. Ob man den Kontext der Gedanken desSprechers zur Zeit seiner Äußerung bevorzugt, hängt davon ab, wasman mit dent; Nachdenken über die Behauptung erreichen will.Wenn es, wie .Skinner sagt, um die »Kenntnis seiner selbst« geht,müssen Anachronismen möglichst weitgehend vermieden werden.Wenn wir das mit den toten Deııkern über unsere derzeitigenProbleme geführte Gespräch zur Selbstrechtfertigung gelangen wol-len, steht es uns frei, so anachronistisch zu verfahren, wie wir wollen,solange wir unsdarüber im klaren sind, daß wir so vorgehen.

Wie der Erkundung der Frage, ob das von demverstorben, Geäußerte wahr ist? So wie die Bestimmungder gemeintenBedeutung davon abhängt, daß man eine Behauptungin einen Kontext wirklichen und möglichen Verhaltens rückt, sohängt die Bestimmung der Wahrheit davon ab, daß man diese

` Univefsifif~"@±f,=t<=I›fiee±;~.f Pfj-ı-§s:=›1.tf§†"s;-§1g etwa ±ı›.;›puıosopty.~e„f~p;m„ia,~Daa›,a;afi,eoxfnaj, Bj1atıti›'±eıı,=›±§§s;i~›s;~§35f;gasl'=~Hımıis, dietfmitaufigraefsigıiifikaiiztgetzëafsfifis;als f±.;5a±~iia±=1±±fa'aı~›" temaifitt

Bedeutung ausfindig geınaichtShabei,'> Würde ichriausiclenigleichen,auf Davidsonzurücl-:gehenden Gründen nicht zustimmen, aus denen ich Ayers in der vorigenAnmerkung nicht beigepflichtet habe.

364

aufzustellen bereit Wären. Da das, was uns als verständliches Verhal-tensmuster gilt, davon abhängt, Was wir für Wahr halten, lassen sichWahrheit und Bedeutung nicht unabhängig voneinander bestim-men.7 Die Anzahl der rationalen Rekonstruktionen, die im Werkeines großen, verstorbenen Philosophen signifikante Wahrheitenoder fruchtbare und wichtige Falsclıheiten zu finden beanspruchen,wird genauso groß sein wie die Anzahl der in wichtiger Hinsicht ver-schiedenen Kontexte, in die man sein Werk stellen kann. Um meinenanfangs geäußerten Gedanken zu wiederholen: Der augenschein-liche Unterschied zwischen Wissenschaftsgeschichte und Philoso-phiegeschichte kommt auf wenig mehr hinaus als einen Reflex deruninteressanten Tatsache, daß einige dieser voneinander abweichen-den Kontexte die verschiedenen Meinungen von Angehörigen des-selben Berufs Wiedergeben. Darum stößt man unter Philosophiehi-storikern auf mehr Meinungsverschiedenheiten über die Anzahl derin Aristoteles' Schriften enthaltenen wahren Aussagen als unterI-Iistorikern der Biologie. Die Beilegung dieser Auseinandersetzun-gen ist eher eine ››philosophische« als eine ››historische<< Frage. Gäbees unter den Historikern der Biologie ähnliche Meinungsverschie-denheiten, Wäre deren Beilegung eher eine ››biologische« als eine››historische« Angelegenheit.

7 Siehe die Aufsätze Davidsons in seinem Sammelband Inquiries into Truth md Inter-pretation, Oxford: Clarendon Press 1984 (übers. von Joachim Schulte: Wahrheit undInterpretation, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986). Dort finden sich Gründe fürmeine in den vorigen Anmerkungen geäußerte These: was jemand meine, könne manweder herausfinden, ehe man ermittelt, inwiefern seine sprachlichen und sonstigenPraktiken den unseren ähneln oder von ihnen abweichen, noch «könne man es unab-hängig von der wohlwollenden Annahme herausbekommen, die meisten Überzeu-gungen des Betreffenden seien wahr. Ayers' Voraussetzung, die historische Rekon-struktion habe natürlich Vorrang vor der rationalen Rekonstruktion, und Hirschs

._ _Y@rss§tF_=sf?g.›..s!isFssislseS.Fle

. (übers: von Ioachirn Schulte: ›i›Pr'agmatismus, Davidson' 'undi'deriWahrheitsbegi-iff&;'iın: Eva Pıcardi/Joachim Schulte [Hg.], Die Wahrheit der Interpremtion, Frankfurtam Main: Suhrkamp 1990, S. S. 5 5»96).

36:

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Geistesgeschichte als Aufstellung eines Kanons

Bisher habe ich dargelegt, daß die Geschichte der Philosophie nur inbeiläufiger Hinsicht von der Geschichte einer Naturwissenschaftabweicht. In'= beiden Bereichen gibt es einen Gegensatz zwischenkontextgebundenen Darstellungen, die spätere Entwicklungen nichtin den Blick kommen lassen, und gegenwartsbefangene oder trium-phalistische„“Dharstellungen, die auf unser eigenes, überlegenes Wis-sen Der einzige Unterschied, den ich genannt habe,läuft weil die Philosophie umstrittener ist als dieBiologie, anabhronistische Rekonstruktionen großer, verstorbenerPhilosophen verschiedenartiger sind als die anachronistischen Re-konstruktionen großer, verstorbener Biologen. Doch bisher hatmeine Erörterung das Problem außer acht gelassen, wie man heraus-bekommt, Wer als großer, verstorbener Philosoph gilt (im Gegensatzzu der Frage, wer als großer, verstorbener Vertreter eines anderenFachs gilt). Daher ist das Problem außer acht geblieben, Wie man dieGeschichte der Philosophie von der Geschichte des ››Denkens« oderder ››Kultur« trennen soll. Diese Art von Problem stellt sich im Hin-blick auf die Geschichte der Biologie gar nicht, denn die ist umfangs-gleich mit der Geschichte der Schriften über Pflanzen und Tiere.Nur beider Geschichte der Chemie stellt sich dieses Problem, wennauch in relatifvitrivialer Form, denn niemand kümmert sich sonder-lich darum, ob man Paracelsus als Chemiker, Alchimisten oder bei-des bezeichnet. Fragen darüber, ob Plinius im gleichen Sinne Biologewar wie Mendel, oder darüber, ob Aristoteles' Schrift De Generati-one et Cowujšfione zur Chemie gehört, geben nicht zu leidenschaft-lichen Auseinandersetzungen Anlaß. Das liegt daran, daß wir indiesen Bereichen Geschichten zu erzählen haben, die von klaremPorts An welchem Punkt man die*Geschichte anfan-gen läßt'~'~lli'ål_lff, Punkt wir sehen, daß aus dem Chaos der Spe-kulation einl'lšilhlälšh<< zum Vorschein kommt -, macht keinen großenUfltCrSChlCd›il=›Ef;5.1§§iif';`:I::›.31.i1*{2í 1.šë':'-Iiif; = 1 -1 11;: ;.2 1:; :-3.2: :1: : -_ ,::›ı;.*.›.w'-ııff' f=.2:1;:.' 1:: -. -: S››I1.':›í;r:.'.tii 11'›3I'.' '- i'=~

Schneewinds Studie über Sidgwick und solchen rationalen Rekon-struktionen wie Bennetts Abhandlung über die britischen Empiri-sten oder Strawsons Buch über Kant gibt es die großen, umfassendengeistesgeschichtlichen Darstellungen, also das von Hegel mustergül-tig exemplifizierte Genre. Moderne Vertreter dieses Genres sind z. B.Heidegger, Reichenbach, Foucault, Blumenberg und MaclntyrefiDiese Form der Geschichtsbetrachtung zielt in der gleichen Weisewie die rationale Rekonstruktion auf Selbstrechtfertigung ab, dochder Maßstab ist ein anderer. Rationale Rekonstruktionen Wollen imRegelfall sagen, der große, verstorbene Philosoph habe ein paar aus-gezeichnete Einfälle gehabt, die er jedoch wegen der »zeitbedingtenGrenzen« nicht klar habe entfalten können. Bei diesem Verfahrenbeschränkt man sich normalerweise auf einen verhältnismäßig klei-nen Ausschnitt aus der Arbeit des betreffenden Philosophen, z. B.auf Themen Wie: Kant über das Verhältnis zwischen Erscheinungund Wirldichkeit, Leibniz über Modalbegriffe oder Aristoteles überdie Begriffe ››Wesen«, ››EXistenz« und »Voraussage«. Rationale Re-konstruktionen berücksichtigen neuere philosophische Arbeiten,von denen man mit gutem Grund behaupten kann, sie handelten››von den gleichen Fragen« wie die Ausführungen der großen, ver-storbenen Philosophen. Diese Rekonstruktionen sollen zeigen, daßdie Antworten des Philosophen auf diese Fragen zwar einleuchtendund spannend sind, aber einer neuen oder gesäuberten Formulie-8 Dabei denke ich an Heideggers ››Erıtwí.irfe zur Geschichte des Seins als Metaphysik

(ı94ı)«, in: Nietzscbe, Zweiter Band, Pfullingen: Neske 1961, S. 4 58 ff., und an die Artund Weise, in der diese in Heideggersspäteren Arbeiten ausgemalt werden._Reichen-bachs Tbe Rise ofScientıficPhilosophy (die umfassendste positivistische Darstellungdes Geschehens, durch das die Philosopl-de allmählich Vorurteile und Verwirrunghinter sich gelassen hat) erörtere ich in meinem Buch Canseqııences ofPragmøtılsm(Minneapolis: University of Minnesota Press 1981), S.ır1-zı4. Auf Foucaults DieOrdmmg derDinge gehe ich weiterunten in dem Abschnitt »Intellektualgeschicl'ıte«ein. Meine Hinweise auf Blumenberg und Maclntyre beziehen sich aufDie Legitimi-tät der Neuzeit bzw. aufAfter .Virtue (Der Verlust der Tugend). Mit meiner Behaup-Fl-1_1'1g›, hgarı_d_ele_esv sich um Werke,der Selbstrechtfertigung, meine ich natürlich

noch ein drittes Genre. Neben solchen historischen Rekonstruktio-nen im Sinne Skirmers wie John Dunns Arbeit über Locke oder ]. B.

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..P1±i1±›§sphieigeee1„ie1±±sga~ umfaßt :treat-ffiij1f',`* die beijçianjnannten Formen von Gieschichtsschreibung,J 'isondern' ^außierden1=._?3 * '7 5 í . nmiımenar nineellungen nr:dieses;tënıeikefiairdatfeehıfefiígea ±±;aaı›; ve1±~aiësefil

Autorenivorgenoniınene Auisvvahli'derianzuerkennendeniplıilosophíschen Fragestel-lungen. Hegels, Reichenbachs und Blumenbergs optimistische Darstellungen erfül-len die gleiche Funktion.

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rung bedürfen, vielleicht sogar einer exakten Widerlegung, die durchweitere Beschäftigung mit diesem Gebiet neuerdings möglich ge-worden ist. Die Geistesgeschichte hingegen verfährt nicht auf derEbene der Problemlösungen, sondern auf der Ebene der Problem-stellungen. Auf Fragen wie »Warum hätte man die Frage in denMittelpunkt des Denkens rücken sollen P« oder ››Warum hat man dasProblem überhaupt ernst genommen?« verwendet sie mehr Zeitals auf die Frage, in welcher Hinsicht die Antwort oder Lösung desgroßen, verstorbenen Philosophen mit den Antworten oder Lösun-gen heutiger Philosophen in Einklang steht. Es ist typisch für dasgeistes Verfahren, daß der betreffende Philosoph nichtim bekanntesten Argumente, sondern im Hin-blick auf gekennzeichnet wird (Kant z. B. nicht sosehr als Verfasser der ››Transzendentalen Analytik<<, sondern alsAutor aller drei Kritiken, als begeisterter Beobachter der Französi-schen Revolution, als Vorläufer der Theologie Schleierrnachersusw.). Bei diesem Verfahren geht es nicht darum, die von dem ewei-ligen Historiker und seinen Freunden genannten spezifischenLösungen philosophischer Probleme zu begründen, sondern es gehtdarum, ihre Interessen - die ihnen eigene Auffassung von Philoso-phie -~ zu rechtfertigen. Beim geistesgeschichtlichen Ansatz will mannicht eine bestimmte Lösung eines gegebenen philosophischen Pro-blems verdeutlichen, indem man darlegt, inwiefern ein großer, ver-storbener Philosoph diese Lösung vorweggenornmen bzw. nichtvorweggenomrnen hat, sondern man will einem bestimmten Bildvon der Philosophie Plausibilität verleihen.

Die Existenz dieser dritten, geistesgeschichtlichen Art von Philo-sophiegeschichte ist ein zusätzlicher Grund für den augenfälligenUnterschied iitlischen Wissenschaftsgeschichte und Philosophiege-schichte. Wissenschaftshistoriker empfinden kein Bedürfnis, das In-teresse unserer Physiker an Elementarteilchen oder das Interesseunserer Biologen an der DNS zu rechtfertigen. Wenn es möglich ist,

bssíarfnss ltflíssr: hísfsrítshflašssififf _

aattaasag aateaaatrıicrarnatariiiit-.11oder was immer'dasi.Thieniafsein mag, füridasisich derseine größe, ii iiumfassende Geschichte erzählencle Philosoph wirklich interessiert.Die Frage, welche Probleme »die Probleme der Philosophie« sind,

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und die Frage,Vwelche Fragen philosophische Fragen sind - das sinddie Fragestellungen, mit denen sich geisteswissenschaftliche Dar-stellungen der Philosophiegeschichte in erster Linie beschäftigen.Bei historischen Darstellungen der Biologie oder der Chemie hinge-gen kann man solche Fragen abtun, da sie bloß verbal seien. Hierkann man einfach die derzeit unkontroversen Teile des betreffendenFachs als Zielpunkt der historischen Entwicklung hinstellen. DerTerminus ad quem der Wissenschaftsgeschichte im Sinne von Fort-schrittsgeschichte ist gar nicht umstritten.

Ein Grund für den augenscheinlichen Unterschied zwischen Phi-losophiegeschichte und Wissenschaftsgesclıichte rührt, wie bereitsgesagt, daher, daß Philosophen, die etwa im Hinblick aufdie ExistenzGottes verschiedene Meinungen vertreten, dennoch Berufskollegensind. Der zweite Grund für diesen augenscheinlichen Unterschiedliegt darin, daß Vertreter unterschiedlicher Meinungen über dieFrage, ob die Existenz Gottes eine wichtige, eine interessante oderüberhaupt eine ››wirkliche« Frage ist, ebenfalls Berufskollegen sind.Im Rahmen des Universitätsfachs ››Philosophie« gibt es nicht nurverschiedene Antworten auf philosophische Fragen, sondern auchvöllig unterschiedliche Meinungen darüber, welche Fragen über-haupt philosopbische sind. Rationale Rekonstruktionen und geistes-geschichtliche Neuinterpretationen unterscheiden sich unter diesemGesichtspunkt nur graduell, nämlich im Hinblick auf den Grad derMeinungsverschiedenheit mit dem großen, verstorbenen Philoso-phen, dem die Rekonstruktion oder Neuinterpretation gilt. Beziehtsich die Meinungsverschiedenheit nicht hauptsächlich darauf,welcheProbleme der Lösung bedürfen, sondern auf die Lösungen der Pro-bleme selbst, wird man sich nach eigener Auffassung mit der Rekon-struktion dieses Philosophen befassen (so wie Ayer .z. B. eine Rekon-struktion Berkeleys liefert). Geht es nach eigener Auffassung urn denNachweis, man brauche gar nicht über die Themen nachzudenken,über die der betreffende Philosoph nachgedacht hat (wie beispiels-weise Ayer mit seiner despektierlichen Heidegger-Interpretation oderHeideggei* init' seiner deSpektierli'chen Kennzeichnung Kierkegaards,dieser sei kein »Denker«, sondern ein »religiöser Schriftsteller« gewe-sen), dann Will man nach dieser eigenen Auffassung erklären, warumman den Betreffenden nicht als philosophischen Kollegen gelten las-sen sollte. Man stellt eine neue Definition der ››Philosophie« auf,durch die der Betreffende aus dem Kanon hinausbefördert wird.

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Für die Wissenschaftsgeschichte ist die Aufstellung eines Kanonsgar kein Problem. Hier besteht kein Bedürfnis danach, die eigenewissenschaftliche Tätigkeit mit der eines großen, verstorbenen Wis-senschaftlers in Verbindung zu bringen, um dem eigenen Tun mehrAnsehen zu verschaffen oder einen angeblich hervorragenden Vor-läufer als Scheinwissenschaftler in Verruf zu bringen, urn so die eige-nen Interessen zu rechtfertigen. In der Philosophiegeschichte ist dieAufstellung eines Kanons deshalb wichtig, weil das Wort »Philoso-phie« zusätzlich ,zu seiner deskriptiven Verwendung auch nocheinen wichtigenii-,Gebrauch als Ehrentitel hat. Bei deskriptiver Ver-wendung kann der Ausdruck »philosophische Frage« entweder eineFragestellung bedeuten, über die derzeit im Rahmen einer aktuellen››Richtung<< wird, oder eine Fragestellung, die von allenoder Gestalten erörtert wurde, die üblicherweisezu den ››Phildš„`iii« gerechnet werden. Als Ehrentitel gebraucht,bezieht sich das 'Wort jedoch auf Fragen, über die man diskutierensollte, mithin auf Fragen von solcher Allgemeinheit und Bedeutung,daß die Denker aller Orte und aller Zeiten über sie hätten nachden-ken sollen, einerlei, ob es diesen Denkern gelang, die betreffendenFragen explizit zu formulieren, oder nicht?

Für rationale Rekonstruktionen ist dieser Gebrauch des Ehrenti-tels »philosophische Frage«, theoretisch gesehen, ohne Belang. Einzeitgenössischer Philosoph, der sich mit Descartes über den Dualis-mus zwischen Leib und Seele, mit Kant über die Unterscheidung

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9 Das Bedürfnis nach dem Gebrauch des Wortes ››Philosophie« als Ehrentitei, alsonach einem Kanon, erklärt, wie mir scheint, ebenso wie das Bedürfnis nach Selbst-rechtfertigung die åbefremdliche Tendenz«, die nach John Dunn »vor allem imBereich der Geschichte des politischen Denkens in vielen Schriften dazu führt, daß esin diesen Arbeiten darum geht, welche Aussagen in welchen bedeutenden Bücherndeıı Autor an welche anderen Aussagen in welchen anderen bedeutenden Büchernerinnern« (Political Oløligatiorı in Its Historical Context, Cambridge UniversityPress 19 80, S. 15).; Diese Tendenz kennzeichnet den größten Teil der Geistesge-schichte und komint mir gar nicht befremdlich vor. Es handelt sich dabei um die Ten-denz, der sowohl Historiker als auch Philosophen nachgeben, sobald sie ihre Taiareablegenundwasihnen an ihren bedeutenden Lieblingsbüf-'

- und fféli`i-nacht-, ist der Umstand, daß sie Bedürfnisse stillt, diewahrscheinlichiiiiihiftl einer unphilosophischen Geschichtsschreibung noch voneiner unhistorischen Philosophie erfüllt werden. (Vgl. weiter unten den Abschnitt››Intellektualgeschichte«, in dem ich auf den Vorschlag eingehe, man sollte dieseBedürfnisse unterdrücken.)

chem irıeineis Erachteı'-is so schön ist an der Geistesgeschichte 2

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zwischen Schein und Sein oder mit Aristoteles über Fragen derBedeutung und der Bezugnahme streiten« will, braucht nicht zubehaupten - und behauptet normalerweise tatsächlich nicht -, dieseThemen stellten sich zwangsläufig, sobald die Menschen über ihreSituation und ihr Schicksal nachdenken. Der rationale Rekonstruk-teur beschränkt sich typischerweise auf die Behauptung, dies seienThemen, die eine interessantehntwicklung hinter sich haben undmit denen man sich immer noch auf interessante Weise beschäftige.Er wird sich also genauso ausdrücken wie ein Wissenschafßhistori-ker, der über die Taxonomie der Vögel oder über die verschiedenenArten von Geisteskrankheit redet. Solange es um rationale Rekon-struktionen und die daran anschließenden Auseinandersetzungengeht, besteht keine Notwendigkeit, sich über die etwaige »Zwangs-läufígkeit« eines Themas den Kopf zu zerbrechen. Für die Geistes-geschichte, aus der sich eine Moral ziehen läßt, besteht diese Not-wendigkeit tatsächlich. Denn die Moral, die man daraus ziehensollte, besagt, daß wir auf der richtigen bzw. auf der falschen Fährtegewesen sind mit den philosophischen Fragen, die wir in letzter Zeitaufgeworfen haben, und daß der Geisteshistoriker gerechtfertigt ist,wenn er sich eine bestimmte Problemstellung zu eigen macht. Derrationale Rekonstrukteur hingegen ,spürt das Verlangen nach derFrage, ob die Philosophie auf der richtigen Fährte sei, ebensowenigwie der Wissenschaftshistoriker das Bedürfnis nach der Frage, ob diemoderne Biochemie in guter Verfassung sei.

Auch für die historische Rekonstruktion ist der Ehrentitei »Philo-sophie«, 'theoretisch gesehen, belanglos. Falls die derzeit aktuelleGeistesgeschichte Locke oder Kierkegaard so liest, daß sie aus demphilosophischen Kanon ausscheiden, können kontextualistischgesínnte Historiker getrost fortfahren zu beschreiben, was es hieß,damals ein Locke oder ein Kierkegaard gewesen zu sein. Vom Stand-punkt der kontextualistischen Geschichtsbetrachtung besteht keinBedarf an großangelegten, viele Jahrhunderte streifenden Berichten,in die man seine Darstellung des Themas einbetten müßte, was eshieß, sich im England des siebzehntenJahrhunderts mit Politikgoderim Dänemark des neunzehnten Jahrhunderts Religion zubefas-.sen. Für solche Historiker ist die Frage, ob die von ihnen ausge-wählte Persönlichkeit >›wirklich« P ein bedeutender Philosoph, einunbedeutender Philosoph, ein Politiker, ein Theologe oder ein Bel-letrist war, ebenso belanglos wie die taxonomischen Aktivitäten des

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Verbandes der Ornithologen für den praktizierenden Vogelkundlermit seinen Notizen über das Paarungsverhalten einer Art von Gold-specht, die vom Ornithologen-Verband hinter seinem Rücken neuklassifiziert worden ist. Man kann in seiner Eigenschaft als Philo-soph die in angelsächsischen Ländern verbreitete Überzeugung tei-len, zwischen Kant und Frege habe es keinen philosophischen Fort-schritt gegeben, und sich dennoch als Historiker freudig der Auf«gabe widmen, die Interessen Schillers und Schellings von neuem zuerfassen. _ í

Doch dieser theoretischen Unabhängigkeit der historischen wieder rationalen Rekonstruktion vom jeweils geltenden Kanon wird inder Praxis nuriíselten entsprochen. Rationale Rekonstrukteure wol-len sich eigentlich nicht rnit der Rekonstruktion unbedeutender Phi-losophen abgeben, noch wollen sie sich mit unbedeutenden Philoso-phen streiten. Historische Rekonstrukteure möchten ihre Rekon-struktiggg ,ggsonenbeziehen, die bei der Entwicklung einerSache nicht der Philosophie, so doch vielleicht des››europäischeıiifienkens« oder der ››Moderne« ~ eine ›>signifikante«Rolle gespielt haben. Bei beiden Formen rekonstruierenden Tunshält man stets ein Auge auf die neuesten Arbeiten zur Aufstellungdes Kanons gerichtet, und das ist das Hoheitsgebiet der Geisteshi-storiker. Denn der Geisteshistoriker ist derjenige, der Ausdrückewie ››Philosophie« und »philosophische Frage« als Ehrentitel ver-wendet. Er ist es aiso, cler entscheidet, worüber es sich nachzuden-ken lohnt, und mithin entscheidet, welche Fragen von den ››kontin-genten Verhältnissen« der jetztzeit abhängen und welche uns anunsere Vorläufer fesseln. In seiner Eigenschaft als derjenige, der dar-über befindet, Wer die wirklich wichtigen Dinge ››erahnte« und wersich nur von den Nebensächlichkeiten seiner Zeit ablenken ließ,spielt der Geisteshistoriker heute die gleiche Rolle wie der Weise inder Antike. Ein Unterschied zwischen der Welt der Antike undunserer eigenen Welt besteht darin, daß die Hochkultur der Neuzeit

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››eıgentl±i%Iir_$_nstand der Astrophysik. Dieses Gefühl, dieWahl des Vokabulars sei zumindest ebenso wichtig wie-r-äëe

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die Antworten, die man auf die irn Rahmen eines gegebenen Voka-bulars gestellten Fragen gibt, ist die Ursache dafür, daß der Geistes-historiker an die Stelle des Philosophen getreten ist (bzw. wie imFalle Hegels, Nietzsches und Heideggers die Ursache dafür, daß derName ››Philosophie« zur Bezeichnung einer bestimmten, besondersabstrakten und ungebundenen Art von Geistesgeschichte verwendetWird).

Dieser Punkt läßt sich auch einfacher formulieren, indem mansagt, heutzutage sei niemand gewiß, daß die deskriptive Bedeutungdes Ausdrucks »philosophische Frage«.viel mit der Bedeutung desentsprechenden Ehrentitels zutun hat. Niemand ist sicher, ob es sichbei den von heutigen Philosophieprofessoren (beliebiger Couleur)erörterten Problemen um Fragen handelt, die »notwendig« sindoder nur von unseren »kontingenten Verhältnissen« abhängen.Außerdem ist niemand sicher, ob die von allen oder den meistenAutoren des in Büchern mit dem Titel »Philosophiegeschichte desAbendlands« aufgestellten Kanons großer, verstorbener Philoso-phen erörterten Fragestellungen ~ wie z. B. das Universalienpro~blem, das Verhältnis zwischen Leib und Seele, Wiliensfreiheit,Schein und Sein, Tatsachen und Werte - Wirklich wichtige Fragensind. Hin und wieder wird innerhalb wie außerhalb der Philosophieder Verdacht geäußert, einige oder alle diese Probleme seien »bloßphilosophischer Art«, wobei diese Formulierung ebenso abschätziggebraucht wird wie die Bezeichnung »alchimistisch« von einemChemiker, der Begriff ››Überbau« von einem Marxisten oder dasWort »I\/íittelschicht« von einem Aristokraten. Die Selbstkenntnis,zu der wir durch historische Rekonstruktionen gelangt sind, ist dasBewußtsein, daß einige Menschen, die uns in geistiger und morali-scher Hinsicht ebenbürtig Waren, kein Interesse an Fragen hatten,die sich nach unserem Eindruck zwangsläufig stellen und die unstiefgründig erscheinen. Da derartige historische Rekonstruktioneneine Quelle von Zweifeln darüber sind, ob die Philosophie (in einer.4es1?ieš.d.§n>„slsskıíiiëtítšıiiäêdsiitsiitšnWislltie.ístriiteist_dsr.Gsi$1ås$_f

:eii'iff'i,†G'eschehení ibericlitet,±±;s±au§'ha±±±je±g'tii±;iwiesıirsza diëfinegesfeııtfigen gelangt ein-1,= dieuns heute zwangsläufig und tiefgriíndig vorkommen. Wo dieseFiguren Schriften hinterlassen haben, bilden ihre Texte einen Kanon,

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ein Literaturverzeichnis, das man durchstudiert haben muß, um zurechtfertigen, wer man ist.

Was ich über die dritte Form der philosophischen Geschichts-schreibung gesagt habe, läßt sich in der Behauptung zusammenfas-sen, daß es sich hierbei um die Gattung handelt, welche die Verant-wortung dafür übernimmt, zu ermitteln, welche Autoren »die gro-ßen, verstorbenen Philosophen« waren. In dieser Rolle zehrt sie vonden ersten beiden Formen - nämlich von den historischen und ratio-nalen Rekonstruktionen - und bringt diese zur Synthese. Im Gegen-satz zu rationalen Rekonstruktionen und im Gegensatz zur Wissen-schaftsgeschichte muß sie sich um Anachronismen bekürnrnern,denn die Frage, wer eigentlich als Philosoph gilt, kann sie nicht alseine durch die Verfahrensweisen der heute entsprechend gekenn-zeichneten Autošren entschiedene Frage auffassen. Im Gegensatz zuhistorischen Rekonstruktionen kann sie allerdings nicht im Rahmendes von einer Gestalt der Vergangenheit benutzten Vokabulars ver-bleiben. Sie muß dieses Vokabular in einer Reihe verschiedenerVokabulare ;ieren<<und seine Wichtigkeit taxieren, indem sieihm im `§ die Veränderungen des Vokabulars nachzeich-nenden Darstbfseine Stelle zuweist. Ebenso wie die rationaleRekonstruktion rechtfertigt sie sich selbst, doch angespornt wird sievon der gleichen Hoffnung auf gesteigerte Selbstkenntnis, die dieMenschen zur Beschäftigung mit historischen Rekonstruktionenveranlaßt. Denn die Geistesgeschichte will uns weiterhin die Tatsa-che bewußt machen, daß wir immer noch unterwegs sind - daß diedramatische Handlung, über die sie berichtet, von unseren Nachfah-ren fortgesetzt werden muß. Sobald sie sich ihrer selbst völlig be-wußt ist, fragt sie sich, ob nicht alle bisher erörterten Fragen womög-lich von den »kontingenten Verhältnissen« früherer Zeiten abhängen.Sie beharrt darauf, daß selbst dann, wenn einige dieser Fragen wirk-lich notwendig gewesen und zwangsläufig aufgekommen sind, füruns keine Gewißheit besteht, welche Fragen das Waren.

Die drei bisher?geschilderten Gattungen weisen nur geringelichkeit auf mit dem Genre, das einem zuerst in den Sinn kommt,wenn das Wort_››_Philosophiegeschichte« gebraucht wird. Diese Gat-

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tung, die vierte auf meiner Liste, ist die vertrautestc und fragwürdig-ste. Ich werde sie ››Doxographie« nennen. Beispiele hierfür sindBücher, die bei Thales oder Descartes ansetzen und bei einem Autoraufhören, der ungefähr der gleichen Zeit angehört wie der Verfasserselbst, der dabei nacheinander abhakt, was diverse Gestalten, die tra-ditionell ››Philosophen« genannt wurden, über Probleme zu sagenhatten, die herkömmlicherweise als ››philosophische« bezeichnetwurden. Diese Form von Philosophiegeschiclıte löst Langeweileund Verzweiflung aus. Es ist die Form, auf die sich Gilbert Rylebezog, als er zur Entschuldigung seiner eigenen gewagten rationalenRekonstruktionen Platons und anderer Autoren die Bemerkung fal-lenließ, mit der Existenz »unserer Standardgeschichten der Philoso-phie« sei »nicht bloß das Risiko der Misere, sondern die Misereselbst« gegeben“, Vermutlich Waren die meisten von Ryles Lesernvon Herzen der gleichen Meinung. Sogar die aufrichtigsten, gewis-senhaftesten und ausführlichsten Bücher mit dem Titel »Geschichteder Philosophie« - ja, gerade diese Bücher - scheinen die darin erör-terten Denker ihres gedanklichen Gehalts zu berauben. Das ist dieMisere, auf die Befürworter der historischen Rekonstruktion reagie-ren, indem sie auf der Notwendigkeit bestehen, den jeweiligen Kon-text, in dem die Texte geschrieben wurden, auszubuchstabieren, undauf den die Verfechter der rationalen Rekonstruktion reagieren,indem sie mit Nachdruck betonen, man sollte bei der Betrachtungder großen, verstorbenen Philosophen die besten Arbeiten berück-sichtigen, die heute über die von .ihnen erörterten Probleme veröf-fentlicht werden. Beides sind Versuche, die-urıabsichtlich mumifi-zierten Gestalten wieder zum Leben zu erwecken.

Die Erklärung für diese Misere liegt meines Erachtens darin, daßdie meisten Philosophiehistoriker, die über »die Geschichte der Phi-losophie von den Vorsokratikerrı bis heute« zu berichten versuchen,von vornherein wissen, wie die meisten ihrer Kapitelüberschriftenlauten werden. Sie wissen auch, daß der Verleger ihr Manuskriptablehnen würde, wenn eine beträchtliche Anzahl der erwartetenÜberschriften remis., Typisehen;&eí§t.,1^a±4ı5eítë;i:'åíëšéi`Hists±iketg"taa;Rahmen eines Kanons, der*sin`ı`1volliérsicliiierifialsiriiäıi=inochi"vonlden;im neunzehnten Iahrhundert aufgekornnieneıil*neukantianischenVorstellungen von »den Hauptproblernen der Philosophie« ausgirıg,

io Gilbert Ryle, Collected Papers, Band 1, London: Hutclıison 1971, S. x.

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.11;doch diese Ver tëllungen werden heute nur noch von wenigen mo-dernen Leserniernst genommen. Daraus haben sich verzweifelteVersuche ergeben, Leibniz und Hegel, Mill und Nietzsche, Des-cartes und Carnap so darzustellen, als redeten sie über die gleichenThemen, einerlei, ob sich der Historiker oder seine Leser für dieseThemen interessieren oder nicht.

In der von mir gebrauchten Bedeutung des Wortes ist Doxogra-phie der Versuch, einem Kanon eine Problemstellung zu okwoyie-ren, ohne daß bei der Aufstellung des Kanons auf diese ProblematikBezug genommen worden wäre, oder - umgekehrt - der Versuch,einer ohne Berücksichtigung des betreffenden Kanons ersonnenenProblemstellung diesen Kanon zuoktroyieren. Diogenes Laertiosbrachte die Doxographie in Verruf, indem er daran festhielt, dieFrage ››Was ist das Gute nach der Meinung von XP« für jedes X ineinem vorformulierten Kanon zu beantworten. Die Historiker desneunzehnten Jahrhunderts haben sie noch mehr in Verruf gebracht,weil sie sich davon abbringen ließen, die Frage »Was ist dasWesen der Erkenntnis nach X P« für jedes X in einem anderen kano-nischen Verzeichnis dieser Art zu beantworten. Die analytischenPhílosophenëitnd auf dem besten Wege, die Situation zu verschlim-mern, Antwort auf die Frage ››Welches war die Be-deutungslt X?« verlangen, und das gleiche gilt für die Hei-deggerianer ihrer Forderung nach Beantwortung der Frage››Welches war die Meinung von X über das Sein ?«. Solche unbeholfe-nen Bemühungen, eine neue Frage mit einem alten Kanon in Ein-klang zu bringen, erinnern uns jedoch daran, daß die neuen Doxo-graphien im Regelfall als frische, wagemutige und revisionistischeBestrebungen zur Vertreibung der die bisherige doxographischeÜberlieferung auszeichnenden Langeweile ansetzten und daß dieseBestrebungen von der Überzeugung beseelt waren, endlich habeman die wahre Problemstellung der Philosophie ausfindig gemacht.Das wirklich Ärgerliche an der Doxographie liegt also darin, daß sieeinen balbfzverzigen Versuch darstellt, eine neue Geschichte über dengeistigen Fortschritt zu erzählen und dabei alle Texte im Hinblickauf neuere zu beschreiben.

Der Hauptgrbnd für diese immer wieder zum Vorschein kom-mende Halbherzigkeit ist die Vorstellung, ››Philosophie« sei derName für einenatürliche Art, also der Name für ein Fach, dem es inallen Zeiten und an allen Orten gelungen sei, durch fortgesetztes

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Schürfen immer wieder auf dieselben tiefen und grundlegenden Fra-gen zu stoßen. Sobald jemand als »großer Philosoph« gilt (irn Ge-gensatz zu einem großen Dichter, Wissenschaftler, Theologen, po-litischen Denker oder dergleichen), muß er demnach als jemandhingestellt werden, der sich mit diesen Fragen befaßt hat.“ Da jedeneue Philosophengeneration entdeckt zu haben beansprucht, wo-rum es sich bei diesen tiefen und grundlegenden Fragen eigentlichhandelt, muß sich jede Generation eine Möglichkeit ausdenken, dengroßen Philosophen so zu betrachten, als habe er sich für eben dieseFragen interessiert. Auf diese Weise erhalten wir wagemutige neueDoxographien, die wenige Generationen später genauso den Ein-druck der Misere erwecken wie ihre Vorgängerinnen.

Urn uns von der Vorstellung zu befreien, die Philosophie sei einenatürliche Art, brauchen wir mehr und bessere historische Rekon-struktionen kontextualistischer Art einerseits und selbstbewußteregeistesgeschichtliche Darstellungen andererseits. Wir müssen ein-sehen, daß die Fragen, die wir aufgrund der »kontingenten Verhält-nisse« der Gegenwart als die Fragestellungen ansehen, vielleichtbessere, aber nicht unbedingt dieselben Fragen sind wie die unsererVorfahren. Es sind keine Fragen, auf die ederreflektierte Menschunbedingt gestoßen sein muß. Wir brauchen uns nicht so zu sehen,als reagierten wir auf dieselben Reize wie unsere Vorfahren, sondernwir müssen uns als Wesen sehen, die selbständig neue und interes-santere Reize geschaffen haben. Zur Selbstrechtfertigung sollten wirnicht beanspruchen, die von unseren Vorfahren schlecht beantwor-teten zeitlosen, »tiefen und grundlegenden Fragen« besser zu beant-worten, sondern wir sollten beanspruchen, bessere Fragen zu stel-len. Unter den Grundfragen der Philosophie können wir die Fragenverstehen, die jeder eigentlich hätte stellen sollen, bzw. die Fragen,die jeder gestellt hätte, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, aber

11 Jonathan Rée gibt eine äußerst aufschhıßreiche Darstellung der Entwicklung derVorstellung, es gebe eine allen gemeinsame, ahistorische Menge von Fragen, welchedie Philosophen beantworten müßten. In seinem ausgezeichneten Artikel »Philo-sophy and the History of Philosophy« (in: Rêe/Ayers/Westoby [Hg.], Philosophyund Its Past) nennt Rée die Überzeugungvon Renouvier, wonach »die sogenannteGeschichte der Philosophie eigentlich nichts weiter gewesen sei als die Geschichtevon Einzelpersonen, die sich für verschiedene philosophische Standpunkte ent-schieden hätten; die Standpunkte selbst seien immer schon dagewesen, ewig verfüg-bar_und unwandelbar« (S. 17). Das ist der vorausgesetzte Grundgedanke der Doxo~graphie in meinem Sinne.

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nicht die Fragen, die jeder tatsächlich gestellt hat, egal, ob er sich dar-über nicht. Es ist eine Sache zu behaupten, eingroßer, sei? Philosoph hätte nicht uınhin gekonnt, sichüber ein bestiiiiıiıtes Thema eine Meinung zu bilden, wenn wir dieMöglichkeit gehabt hätten, mit ihm zu reden und ihm so zu der Ein-sicht zu verhelfen, welches eigentlich die Grundfragen der Philoso-phie sind. Eine ganz andere Sache ist es zu behaupten, ››implizit«habe er eine Meinung über dieses Thema vertreten, die wir aus seinenTexten herausklauben können. Das Interessante an dem großen, ver-storbenen Philosophen liegt häufig darin, daß es ihm nie in den Sinngekommen ist, sich eine Meinung über dieses Thema zu bilden.Genau dies ist eine der interessanten Informationen, die man histori-schen Rekonstruktionen der kontextualistischen Art entnehmenkann. ,

Meine These, die Philosophie sei keine natürliche Art, läßt sichauch anders formulieren, nämlich unter Bezugnahme auf die be-liebte Vorstellung, die Philosophie habe es mit ››methodologischen«oder ››begrif'flichen« - von den Einzelfächern oder, allgemeinergesprochen, ven anderen Bereichen der Kultur abgesonderten «-Metafragen Diese Behauptung ist einleuchtend, sofern damitgemeint ist, daıß sich zu jeder Zeit aus dem Zusammenstoß zwischenalten Ideen und neuen Ideen (in den Naturwissenschaften, in derKunst, Fragen ergeben haben, die das Interesseder dilettierenclen und phantasiebegabtenIntellektuel éifijfeii'eri Zeit erregten. Nicht einleuchtend Wirkt dieseBehauptung hingegen, wenn damit gemeint ist, diese Fragen handel-ten immer von denselben Themen, z. B. vom Wesen der Erkenntnis,der Realität, der Wahrheit, der Bedeutung, des Guten oder irgendei-ner anderen Abstraktion, die unscharf genug ist, um die Unter-schiede zwischen den historischen Epochen verschwimınen zu las»sen. Diesen Philosophiebegriff kann man parodieren, indem mansich ausrnalt, in den Anfängen der Tierkunde hätte sich - in Analogiezur Aristotelischen Unterscheidung zwischen »erster Philosophie«und ››Physik« - eine Unterscheidung zwischen »primärer Biol'otgie`«ffund »sekundärer Biologie« eingebürgert. Dieser Auffassung ent-sprechend galt den besonders großen, hervorstechenden, imponie-renden und mustergültigen Tieren das Interesse eines eigenen Fachs-So kam es, dafšifhhan über die gemeinsamen Merkmale der Python-schlange, des Bären, des Löwen, des Adlers, des Straußen und des

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Wals Theorien aufstellte. Diese mit Hilfe ausreichend verschwom-rnener Abstraktionen formulierten Theorien waren gut ausgetíífteltund spannend. Doch den Menschen fielen immer neue Dinge auf,die ebenfalls in das kanonische Verzeichnis der ››Prirnärtiere<< einge-ordnet werden mußten. Die Riesenratte aus Sumatra, die Riesen-schmetterlinge aus Brasilien und (um einen eher umstrittenenFall zunennen) das Einhorn mußten in Betracht gezogen werden. Die Kri-terien für die Angemessenheit von Theorien im Bereich der primä-ren Biologie wurden mit zunehmendem Umfang des Kanons immerunklarer. Dann stieß man auf die Knochenreste des Moa und desMammuts. Da wurden die Dinge noch komplizierter. Schließlich.gelang es den Sekundärbiólogen, neue Formen von Leben mit sovielGeschick aus der Retorte zu erzeugen, daß sie sich zur eigenen Belu-stigung mit ihren neuen Riesengeschöpfen bei der höheren Instanzmeldeten und die verblüfften Primärbiologen dazu herausforderten,diesen Geschöpfen den gebührenden Platz zuzuweisen. Die Verren-kungen der Primširbiologen beim Versuch, diese neuen kanonischenExemplare durch andere Theorieentwürfe unter Dach und Fach zubringen, boten einen Anblick, der die Primärbiologie als eigenstän-diges Fach ziemlich in Verruf brachte.

Was ich miteinander vergleichen möchte, sind ››Primärbiologie«und ››Pl1ilosophiegeschichte« einerseits und ››Sekundärbiologie<<und ››Geistesgeschichte« andererseits. Löst man die Philosophiege-schichte von der umfassenderen Geschichte der Intellektuellen, hatsie so lange einen gewissen Sinn, als man sich auf ein oder zwei jahr-hunderte beschränkt, also wenn es sich z. B. um eine Darstellung derSchritte handelt, die von Descartes zu Kant führten. Hegels Schilde-rung der Entfaltung der cartesianischen Subjektivität zur Transzen-dentalphilosophie und Gilsons Darstellung der Reductio ad absur-dum repräsentationalistischer Erkenntnistheorien sind Beispiele fürinteressante Geschichten, die man ohne Berücksichtigung des grö-ßeren Zusammenhangs erzählen kann. Dies sind lediglich zwei vonvielen einleuchtenden und interessanten Möglichkeiten, Ahnlichjkeiten und Unterschiede zwischen' einem Dutzend herausragendenund imponierender Gestalten eines etwa' 17; Iahre unifassendeneZeitraums festzustellen (Descartes, Hobbes, Male-branche, Locke,Condillac, Leibniz, Wolff, Berkeley, Huıne und Kant - plus/minusein paar Namen, die im Belieben des jeweiligen Philosophiehistori-kers stehen). Doch sobald man Hegel selbst am einen Ende einer sol-

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chen Darstellung oder Bacon und Ramus am anderen Ende anzufü-gen versucht, geraten die Dinge ziemlich tendenziös. Sobald mansich bemüht, Platon und Aristoteles einzubeziehen, gibt es offenbarderart wı,1,i,;_<-,;l'igl]keiten - je nachdem, welchen Dialog Platonsbzw. welc _*e:~';;_ši"ijidlung Aristoteles' man als »gı'undlegend« auf-fallt -, daß sicli die Alternativgeschichten ungehemmt wucherndvermehren. Außerdem sind Platon und Aristoteles so gewaltige undbeeindruckende Gestalten, daß ihre Charakterisierung mit Hilfe voneigentlich zur Kennzeichnung von Autoren wie Hobbes und Berke-ley ersonnenen Begriffen ein wenig seltsam zu wirken beginnt.Daneben besteht das Problem, ob man Augustinus, Thomas vonAquino und Willielm von Ockham als Philosophen oder als Theolo-gen behandeln soll - ganz zu schweigen von den Problemen, die vonLao~tse, Shankara und ähnlich exotischen Exemplaren aufgeworfenwerden. Während sich die Philosophiehistoriker fragen, wie sie allediese Autoren unter die alten Rubriken einordnen sollen, fahrenmutwillige Intellektuelle, um alles noch schlimmer zu machen, fort,neue Geistestränke zu brauen und die Philosophiehistoriker mit derHerausforderung zu konfrontieren, ob sie sich wirklich unterste-hen, ihnen die Bezeichnung ››Philosophie« vorzuenthalten. Sobaldes notwendigjtgird, eine Geschichte auszuhecken, von der alle oderdie meisten genannten Gestalten dann auch noch mitG. E. Moore, Saul Kripke und Gilles Deleuze in Verbindung gebrachtwerden, sind die Phiiosophiehistoriker nahe daran, ihre Arbeit anden Nag_§l,..;k1›;5ii]iig„5}ll'

Sie sollfifëii Nagel hängen. Wir sollten schlicht den Ver-such einstelileıififiilliiicher mit dem Titel »Geschichte der Philosophie«zu schreiben, die bei Thales anfangen und etwa bei Wittgenstein auf-hören. Derartige Bücher sind rnit verzweifelt erkünstelten Entschul-digungen durchsetzt, weshalb sie beispielsweise nicht auf Plotin,Comte oder Kierkegaard eingehen. Tapfer versuchen sie, ein paar»fortwährende Anliegen« ausfindig zu machen, die bei allen rofšen,

1'-'fiám

'äh'

3im Rahmen ihrer Darstellung berücksichtigten Philosophen vor-kommen. Dabei geraten sie ständig in Verlegenheit, weil' auch diehervorstechendsten Gestalten, die man keinesfalls auss aren kannP à,auf einige dieser Anliegen gar nicht eingehen, und weil es lange Zeit-spannen gibt, in denen das eine oder andere Anliegen bei allen Auto-ren in Vergessenheit geraten war. (Sie müssen sich z. B. Sorgenmachen über das Fehlen oder die Dürftigkeit der Kapitel »Erkennt-

38° ,

nistheorie im sechzehnten ]ahrhundert«, »Moralphilosophie imzwölften Jahrhundert« oder »Logik im achtzehnten Jahrhunderte)Kein Wunder, daß sich die geistesgeschichlich orientierten Histori-ker - also die Autoren großangelegter, in Bausch und Bogen verfah-render und der Selbstrechtfertigung dienender Darstellungen - oftabschätzig äußern über die Russell und Windelband gemeinsameArt von Doxographie. Es ist auch kein Wunder, daß analytische Phi-losophen und Heideggerianer - auf jeweils eigene Weise - eine neueRolle ausfindig machen, welche die Philosophiegeschichte spielenkönnte. Der Versuch, den Rahm der Geistesgeschichte abzuschöp-fen, indem man eine Geschichte »der Philosophie« schreibt, ist vonvornherein genauso zum Scheitern verurteilt wie derVersuch meinerimaginären ››Primärbiologen«, den Rahm des Tierreichs abzuschöp-fen. Bei beiden Versuchen wird vorausgesetzt, daß bestimmte Ele-mentarteile des am Boden urnherwallenden vermischten Stoffs vonNatur aus nach oben schwimmen.

Dieses Bild der Rahmabschöpfung setzt einen Gegensatz vorauszwischen der höheren und reineren Geschichte eines »Philosophie«genannten Unterfangens - dem Streben nach Wissen über bleibendeund dauerhafte Gegenstände von seiten derjenigen, die sich auf der-gleichen spezialisiert haben - und der ››Geistesgeschichte« im Sinneder Chronik wunderlicher Meinungsveränderungen im Kreise derje-nigen, die sich bestenfalls als Literaten, politische Aktivisten oderKirchenmänner hervorgetan haben. Sobald gegen dieses Bild und ge-gen diesen impliziten Gegensatz Einwände erhoben werden, fühltman sich oft gekränkt wegen der Andeutung, die Philosophie sei garnicht das Streben nach Erkenntnis, sondern alles sei (wie die Erstse-mester gern sagen) »Ansichtssache«. Andernfalls kommt das gleicheGefühl des Gekränktseins durch die Behauptung zum Ausdruck,wenn man den traditionellen Gegensatz verwerfe, werde die Philoso-phie auf ››Rhetorik« (kontra ››Logik«) reduziert bzw. auf »Überre-dung« (kontra ››Argumentation«) oder auf sonst etwas Niedriges undLiterarisches anstelle von etwas Hohem und Wissenschaftlichem. Da«das Selbstbild der Pbilosopliie"als'eínerfauf ihrem quasi wissenschaftlichen Charakter beruht, wirddie Kritik'der hinter dem Bild der Rahmabschöpfungi stehenden Voraussetzungnicht nur als Einwand gegen einen Zweig der Philosophie namens››Philosophiegeschichte« aufgefaßt, sondern als Einwand gegen diePhilosophie selbst im Sinne einer professionellen Fachtätigkeit.

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Die Kränkung kann man abschwächen und dabei dennoch dasBild der Rahmabschöpfung vermeiden, wenn man sich eine soziolo-gische Auffassung der Unterscheidung zwischen Wissen und Mei-nung zu eigen macht. Nach dieser Auffassung bedeutet die Behaup-tung, etwas sei eine Sache der jeweiligen Meinung, daß ein Abwei-chen vom; "A gn,Konsens über das fragliche Thema vereinbar istmit zu einer relevanten Gemeinschaft. Die Be-hauptung, sich um Wissen, bedeutet, daß eine Abwei-chung nicht damit vereinbar ist. In den Vereinigten Staaten gilt z. B.die Entscheidung, wem man seine Stimme gibt, als »Sache der eige-nen Meinung«; dagegen wissen wir, daß die Presse nicht durchRegierungszensur gegängelt werden darf. Gesinnungstreue Russenwissen, daß diese Art von Zensur notwendig ist, doch sie halten dieFrage, ob man Dissidenten in Arbeitslager oder in Irrenhäuser stek-ken sollte, für Ansichtssache. Beide Gemeinschaften weigern sich,diejenigen als Mitglieder anzuerkennen, die nicht als Wissen geltenlassen, was man allgemein zu wissen beansprucht. Ebenso bedeutetdie Behauptung, in philosophischen Instituten gelte die Existenzrealer Wesen oder die Existenz Gottes als »Angelegenheit der eige-nen Meinung«, daß Personen mit unterschiedlichen Ansichten überdiese Dinge dennoch von denselben Institutionen durch Stipendienoder Gehälter unterstützt werden, dieselben Studenten prüfen undbenoten können usw. Wer hingegen hinsichtlich der Planeten diegleiche vertritt wie Ptolemäus oder hinsichtlich der Entste-hung der Arten die gleiche Meinung wie William Iennings Bryan,wird keinem respektablen Institut für Astronomie bzw. Biologieangehören denn die Zugehörigkeit zu diesen Instituten setztvoraus,.§§§j§§;ber die Falschheit dieser Meinungen Bescheidweiß. jeder seinen Gebrauch des Ausdrucks »philo-sophisches_Wissen« einfach dadurch legitimieren, daß er auf eineihrer selbst bewußte Gemeinschaft von Philosophen verweist, in derMitgliedschaft Zustimmung zu bestimmten Gedanken voraussetzt(z. B. daß es so etwas wie reale Wesen, unveräußerliche Menschen-rechte oder Gott gibt bzw. nicht gibt). Innerhalb der betreffendenGemeinschaft gibt es Übereinstimmung im Hinblick auf bekanntePrämissen und das Streben nach weiterem Wissen, und zwar im glei-chen Sinne, in dem man solche Prämissen und ein solches Streben inden Instituten für Biologie und Astronomie antrifft.

Das Bestehen einer solchen Gemeinschaft ist allerdings völlig

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belanglos für die Frage, ob es etwas interessantes gibt, was diese Ge-meinschaft mit Aristoteles, Plotin, Descartes, Kant, Moore, Kripkeoder Deleuze verbindet. Derartigen Gemeinschaften sollte es frei-stehen, sich ihre eigenen geistigen Vorfahren herauszusuchen, ohnedabei auf einen vorher eingebürgerten Kanon großer, verstorbenerPhilosophen Bezug zu nehmen. Ebenfalls freistehen sollte ihnen dieBehauptung, sie hätten gar keine Vorläufer. Sie sollten das Gefühlhaben, es stünde ihnen frei, sich nach Belieben Stücke der Vergan-genheit herauszugreifen und als »Geschichte der Philosophie« zubezeichnen, ohne irgendwelche frülıerenßestimmungen hinsicht-lich der Bezeichnung ››Philosophie« zu berücksichtigen oder dieVergangenheit überhaupt irgendwie in Anschlag zu bringen. jeder,der zur Aufgabe des Versuchs bereit ist, gemeinsame Interessen aus-findig zu machen, die ihm selbst und allen übrigen Mitgliedern derAmerican Philosophieal Association etwa oder der Mind Associa-tion bzw. der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie gemeinsamsind (und wer nicht bereit wäre, diesen Versuch aufzugeben, müßteschon ein bißchen verrückt sein), dem steht es demnach frei, den Ver-such fallenzulassen, eine »Geschichte der Philosophie« mit denüblichen Kapiteliiberschriften zu schreiben. Ihm steht es frei, einenneuen Kanon aufzustellen, solange er das Recht der anderen respek-tiert, ihre eigenen kanonischen Verzeichnisse anzulegen. Wir solltenfroh sein über Leute wie Reichenbach, die Hegel einfach links lie-genlassen. Wir sollten diejenigen unterstützen, die versucht sind,Aristoteles als einen überspannten Biologen abzutun, Berkeley alseinen exzentrischen Bischof, Frege als einen originellen Logiker mitunbegründeten erkenntnistheoretischen Ansprüchen oder Mooreals einen reizenden Amateur, der nie so richtig begriffen hat, worumes den Profis eigentlich geht. Man sollte sie dazu anhalten, ihreBemühungen umzusetzen und herauszufinden, was für historischeDarstellungen möglich sind, sobald man die betreffenden Gestaltenausspart und einige weniger bekannte Figuren einbezieht. Nur mitHilfe derartiger experimenteller Veränderungen des Kanons läßtsich der doxographische Ansatz vermeideni, Genau idieseigVeränide-rungen sind es, die von der Geistesgesclıichte errnöglichtiündivonder Doxographie erschwert werden. - . .

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; Intellektualgeschichte

Bisher habe ich vier Formen auseinandergehalten und vorgeschla-gen, eine von ihnen sollte mit einer gewissen Verachtung gestraftwerden. Dieiiibrigen drei sind unentbehrlich und stehen nicht inKonkurrenz zueinander. Rationale Rekonstruktionen werden ge-braucht, um uns Philosophen von heute beim Durchdenken unsererProbleme._,gn.,=_hgelfen. Historische Rekonstruktionen werden ge-

zu erinnern, daß diese Probleme Erzeugnisseder Gescliif; indem diese Rekonstruktionen den Nachweiserbringen, daß unsere Probleme für die Vorläufer unsichtbar waren.Die Geistesgeschichte wird gebraucht, um unsere Überzeugung zurechtfertigen, daß wir, Weil uns diese Probleme zum Bewußtseingekommen sind, besser daran sind als unsere Vorfahren. ]ede_s philo-sophiegeschichtliche Buch wird natürlich eine Mischung dieser dreiFormen darstellen. Doch normalerweise ist das eine oder andereMotiv vorherrschend, denn es gibt hier drei verschiedene Aufgabenzu erfüllen. Die Verschiedenheit dieser Aufgaben ist Wichtig undnicht auszulöschen. Gerade die Spannung zwischen dem munterenTriumphalismus der rationalen Rekonstrukteure und der vermittel-ten und ironischen Einfühlung der Kontextualisten - also die Span-nung zwischen dem Bedürfnis, die anstehende Aufgabe zu erledi-gen, und derniBedürfnis, alles (einschließlich dieser Aufgabe) denkontingenten Verhältnissen zuzurechnen - schafft das Bedürfnisnach Geistesgeschichte, nach der Selbstrechtfertigung, für die diesedritte Gattung: zuständig ist. jede derartige Rechtfertigung gewähr-leistet allerdings das letztliche Auftauchen einer neuen Reihe selbst-zufriedener Doxograplıien, die ihrerseits einen Widerwillen erregen,der dann - unter der Schirmherrschaft neuer, in der Zwischenzeitaufgelgggš A*:'i"*iš†1š;'gl;_;,l^›jlosopfıischer Problemstellungen - zu neuenrationalšifåšštruktionen anregen Wird. Diese drei Gattungenbilden also eiii hübsches Beispiel für den üblichen dialektischenDreischritt im Sinne Hegels.

Ich für mein Teil möchte den Ausdruck »Intellektualgeschichte<<für ein sehr viel reichhaltigeres und weniger scharf umrissenes Genrebenutzen, für eine Form der Geschichtsbetrachtung, die sich nicht indiesen Dreischritt eingliedern läßt. Die Intellektualgeschichte inmeinem Sinne des Wortes besteht aus Beschreibungen, die angeben,Worauf es die Intellektuellen zu einer bestimmten Zeit abgesehen

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hatten und welches ihre Interaktionen mit der übrigen GesellschaftWaren, also Beschreibungen, die zumeist' die Frage ausschließen,welche Intellektuellen Welchen Tätigkeiten nachgingen. Die Intel-lektualgeschichte kann bestimmte Probleme außer acht lassen, überdie man befunden haben muß, wenn man die Geschichte eines Fachsschreiben will, nämlich Fragen wie die, welche Personen als Natur-wissenschaftler, Welche als Dichter, welche als Philosophen usw. gel-ten sollten. Beschreibungen der mir vorschwebenden Art können inAbhandlungen vorkommen, die Titel tragen wie »Das Geisteslebenim Bologna des fünfzehnten ]ahrhunderts«, aber auch in Nebenka~piteln oder Ausnahmeabsätzen von Büchern über die Geschichteder Politik, der Gesellschaft, der Ökonomie oder der Diplomatie, aauch in Nebenkapiteln oder Ausnahmeabsätzen philosophiege-schichtlicher Werke (die einer der vier bisher unterschiedenen For-men angehören). Liest jemand, der sich für einen bestimmten raum-zeitlichen Bereich interessiert, solche Abhandlungen, Kapitel oderAbsätze und denkt über sie nach, so erzeugen sie in ihm ein Gefühldafür, was es hieß, in diesem Bereich als Intellektueller zu leben -welche Bücher man las, welche Sorgen man sich machen mußte, wel-che Wahl man hatte zwischen verschiedenen Vokabularen, Hoff-nungen; Freunden, Feinden und beruflichen Möglichkeiten.

Um ein Gefühl dafür zu entwickeln, was es hieß, als junger undgeistig neugieriger Mensch in einem solchen Bereich zu leben, mußman nicht nur eine Menge über die Geschichte der betreffendenFächer wissen, sondern auch eine Menge über die soziale, politischeund ökonomische Geschichte. Ein Buch wie T/ve Making of theEnglish Working Class von E. P. Thompson gibt nicht nur zahlreicheAuskünfte über die Lohnverhältnisse, die Lebensbedingungen derBergarbeiter und Weber sowie über die taktischen Überlegungen derPolitiker, sondern unterrichtet darüber hinaus in vieler Hinsichtüber die Chancen und Rezeptionsmöglichkeiten von Paine und Cob-bett.” Aus einem Buch wie Moml Philosophy at .S`e'venteenth-Cm-mry Harvard von Norman Fiering erfährt man eine Menge über dieMöglichkeiten, die man zu dieser Zeit als ,Intellektueller an der Uni-versität Harvard hatte." Fierings Buch bildet zusammen mit Stellen

ıı E. P. Thompson, The Making oftbe English Working Class, Harmondsworth: Pen-guin Books 1963. -

13 Norman Fiering, MoralPhilosophy at Seventeentb-Century Harvard:A Disciplinein Transition, Chapel Hill: University of North Carolina Press 1931.

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aus Lebensbeschreibungen der Universitätspräsiclenten von Har-vard und der Gouverneure von Massachusetts einen Strom, der einGefühl für die Yeränderungen dieser Möglichkeiten vermittelt. Stel-len aus Thompsbns Buch bilden zusammen mit Stellen aus den Bio»graphien von Bentham und Melbourne einen Strom, der erkennenläßt, inwiefern sich andere Möglichkeiten veränderten. Die Gesamt-heit solcher Bücher und Stellen strömt im Geist ihrer Leser insolcher Weise zusammen, daß sie ein Gefühl für die Unterschiedezwischen den Alternativen vermittelt, die den Intellektuellen zu ver-schiedenen Zeiten an verschiedenen Orten offenstanden.

Zur möchte ich Bücher über alle jeneüberaus Persönlichkeiten rechnen, die zwar nicht inden Kanon großen,verstorbenen Philosophen aufgenommen,aber trotzdem häufig als Philosophen bezeichnet werden, sei es weilsie einen entsprechend bezeichneten Lehrstuhl innehatten oder weileinem sonst nichts besseres einfällt, also Gestalten wie Eriugena,Bruno, Ramus, Mersenne, Wolff, Diderot, Cousin, Schopenhauer,Hamilton, McCosh, Bergson und Austin. Die Erörterung dieser»weniger bedeutenden Figuren« verschrnilzt häufig mit dichten Be-schreibungen der institutionellen Verhältnisse und der Fächermatri-zes, denn zum Teil besteht das von ihnen aufgeworfene historischeProblem darin, daß erklärt werden muß, warum _ diese Wenigerbedeutenden Philosophen oder Beinahephilosophen soviel ernstergenommen wurden als die nachweisbar großen Philosophen derbetreffenden Zeit. Daneben gibt es Bücher über das Denken und denEinfluß von Autoren, die normalerweise zwar nicht als Philosophenbezeichnet werden, aber doch immerhin Grenzfälle dieser Speziesdarstellen. Dabei handelt es sich um Personen, die wirklich die Auf-gaben erfüllt haben, die nach populärer Auffassung den Philosophenobliegt, nämlich gesellschaftliche Reformen in Gang zu bringen,neue Vokabulare für moralische Überlegungen beizusteuern undden StrQ5124, ff„;1.§,1„1_1;- und geisteswissenschaftlichen Fächer in andere

gehören beispielsweise Autoren wie Para-celsus, Bayle, Lessing, Paine, Coleridge, Alex-ander von Híiinboldt, Emerson, T. H. Huxley, Matthew Arnold,Weber, Freud, Franz Boas, Walter Lippm-ann, D. H. Lawrence undT. S. Kuhn - ganz zu schweigen von all den unbekannten Personen(z. B. den Verfassern einflußreicher Abhandlungen über die philoso-phischen Grundlagen der Polizeiwissenschaft), die in den Anmer-

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kungen der Bücher Foucaults auftauchen. Wenn man verstehenmöchte, was es hieß, im Deutschland des sechzehnten Jahrhundertsals Gelehrter zu leben, als politischer Denker in den VereinigtenStaaten des achtzehnten Iahrhunderts, als Naturwissenschaftler imFrankreich des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts oder alsjournalist im Großbritannien des frühen zwanzigsten Iahrhunderts-wenn man also erfahren möchte, Welchen Fragestellungen, Verlok-kungen und Dilemmata sich ein junger Mensch stellen mußte, der inder Hochkultur enerZeiten und Orte eine Rolle spielen wollte -,dann sind dies die Autoren, über die man Bescheid wissen muß.Wenn man über genug derartige Autoren genug Weiß, kann man einedetaillierte und überzeugende Geschichte über das in Europa ge-führte Gespräch erzählen, eine Geschichte, in der Descartes, Hume,Kant und Hegel vielleicht nur en passant erwähnt Werden.

Sobald wir uns unter das Niveau der von Gipfel zu Gipfel sprin-genden Geistesgeschichte in die sachhaltigen Niederungen der Intel-lektualgeschichte begeben, verlieren die Unterscheidungen zwischengroßen und nicht so großen verstorbenen Philosophen, zwischeneindeutigen Fällen tmd Grenzfällen von ››Philosophie<< sowie zwi-schen Philosophie, Literatur, Politik, Religion und Sozialwissen-schaft imıner mehr an Bedeutung. Die Frage, ob Weber Soziologeoder Philosoph, ob Arnold Literaturwissenschaftler oder Philo-soph, ob. Freud Psychologe oder Philosoph, ob Lipprnann Philo-soph oder Journalist war, läßt sich offenbar ebenso wie die Frage, obman Francis Bacon zu den Philosophen rechnen kann, wenn manRobert Fludd ausschließt, nicht entscheiden, ehe man seine eigeneIntellektualgeschichte geschrieben hat, sondern erst anschließend.Dabei werden interessante Abstammungsverhältnisse, die zwischendiesen Grenzfällen und eindeutigeren Fällen von ››Philosophie« eineVerbindung herstellen, zutage treten oder nicht zutage treten,und auf der Grundlage derartiger Abstammungsverhältnisse werdenwir unsere Taxonomien zurechtrücken. Außerdem sorgen neueStandardbeispiele des Philosophierens dafür, daß die Begriffe zurBestimmung solcher Abstammungsverhältnisse neu festgesetzt wer-den. Neue Erklärungen der Intellektualgeschichte treten in Wech-selwirkung mit zeitgenössischen Entwicklungen, um die Liste der››Philosophen« ständig neu anzupassen, und zum Schluß führendiese Modifizierungen zu neuen kanonischen Verzeichnissen dergroßen verstorbenen Philosophen. Die Geschichte der Philosophie

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wird, ebenso wie die Geschichte jedes anderen Gebiets, von den Sie-gern geschrieben. Die Sieger dürfen sich ihre Vorfahren aussuchen,insofern sie bestimmen können, welche ihrer allzu vielfältigen Vor-fahren genannt, durch Biographien gewürdigt und ihren Nachfah-ren ans Herz gelegt werden sollen.

Solange das Wort ››Philosophie« als Ehrentitel gebraucht wird,spielt es eine Rolle, welche Gestalten als ››Philosophen« gelten.Wenn alles gutgeht, können wir also damit rechnen, daß der philoso-phische Kanoifi btändig modifiziert werden wird, um ihn den jeweili-gen Bedürfnissen der Hochkultur anzupassen. Wenn sich die Dingenicht so gut entwickeln, können wir mit einer sturen Verewigung desKanons rechnen, der i`m Verlauf der]ahrzehnte immer wunderlicherund iëäa,f;,=_ssehenwird. Nach dem Bild, das ich hier vorfüh-ren ilšlllihtellektualgeschichteder Rohstoff für diephilo-sásophische Geschichtsschreibung oder, um eine andere Metapher zubenutzen, der Boden, aus dem die Darstellungen der Philosophiege-schichte wachsen. Der oben skizzierte Dreischritt å. la Hegel wirderst möglich, wenn man - die aktuellen Bedürfnisse ebenso wie dieneueren Schriften revisionistischer lntellektualhistoriker im Augebehaltencl - bereits einen philosophischen Kanon formuliert hat. DieDoxographie hingegen - die Form der Geschichtsbetrachtung also,die eine durch alle von den Irıtellektualhistorikern geschildertenRaum-Zeit-Blöcke hindurchlaufende, ununterbrochene Ader phi-losophischen Erzes zu finden beansprucht - ist von den jeweiligenEntwicklungen der Intellektualgeschichte relativ unabhängig. IhreWurzeln liegen in der Vergangenheit: in der vergessenen Verbindungvon überwundenen Kulturbedürfnissen mit veralteter Intellektuel-geschichte, die den in ihrem Schrein aufbewahrten Kanon hervorge-bracht hat.

In dieser Rolle als Anregerin zur Unıformulierung der (philoso-phischen und sonstigen) kanonischen Verzeichnisse liegt jedochnicht der einzige Nutzen der Intellektualgeschichte. Ein weitererNutzen liegt darin, daß sie im Verhältnis zur Geistesgeschichte diegleiche, Rolle spielt wie die historische Rekonstruktionim Rekonstruktion. Historische Rekon-

uns, wie schon gesagt, an alle jene sonderbarenZwistigkeiten, über die sich die Philosophen mit den großen Namendie Köpfe zerbrochen haben, also eneStreitigkeiten, die sie von denerst durch uns moderne Philosophen klar in den Blick gerückten

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››echten<< und ››clauerhaften« Problemen abgelenkt haben. Indemhistorische Rekonstruktionen uns daran erinnern, lösen sie eine ge-sunde Skepsis aus hinsichtlich der Frage, ob wir wirklich so klarsehen und ob unsere Probleme wirklich so echt sind. In ähnlicherWeise erinnern uns die Bücher von Ong über Ramus, von Yates überLullus, von Fiering über Mather, von Wartofsky über Feuerbachund ähnliche Schriften daran, daß die großen verstorbenen Philoso-phen, auf deren Rekonstruktion wir soviel Zeit verwenden, wenigerEinfluß hatten - daß sie für das Gespräch ihrer eigenen Generationund etlicher Zwischengenerationen von weniger zentraler Bedeu-tung waren - als eine Menge anderer Autoren, an die wir nie einenGedanken verschwendet haben. Außerdem sorgen sie dafür, daß wirin den Gestalten unseres derzeitigen Kanons weniger originelle,weniger hervorstechende Figuren erblicken als bisher. Sie wirkenallmählich nicht mehr wie Berggipfel, sondern eher wie Exemplare,die einen ausgestorbenen Typus erneut zur Erscheinung bringen. Soträgt die Intellektualgeschichte genauso dazu bei, die Aufrichtigkeitder Geistesgeschichte zu wahren, wie die historische Rekonstruk-tion darauf hinwirkt, die Aufrichtigkeit der rationalen Rekonstruk-tionen zu wahren.

Aufrichtigkeit heißt hier: die Möglichkeit im Gedächtnis zu be-halten, daß wir unsere der Selbstrechtfertigung dienenden Gesprä-che nicht mit historischen Gestalten, anicht einmal mit ideal umer-zogenen historischen Gestalten führen, sondern mit Geschöpfenunserer eigenen Einbildung. Diese Möglichkeit muß von denen, dieGeistesgeschichte schreiben wollen, anerkannt werden, denn siemüssen sich darum kümmern, ob ihre eigenen Kapitelüberschriftenwomöglich zu sehr unter dem Einfluß der doxographischen Kapitel-überschriften stehen. Wenn sich beispielsweise ein Philosophiepro-fessor an die Ausführung eines solchen Vorhabens der Selbstrecht-fertigung begibt, tut er das normalerweise erst, nachdem er schonjahrzehntelang Seminare über diverse große verstorbene Philoso-phen abgehalten hat, also über die Philosophen, deren Namen;“auf.>dem Lehrplan und in der Prüfungsordnung für Studéntenistel*ie1`i,i'=wobei es sich um einen Lehrplan handelt, den er wahrscheirilichinicht selbst entworfen, sondern von anderen übernommen hat. Für-ihn ist es naheliegend, Geistesgeschichte zu schreiben, indem er eineMenge Notizen aus seiner bisherigen Lehrerfahrung zusammen-stoppelt und so zwischen denselben alten Gipfeln hin und her

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springt, indes er über die philosophischen Niederungen des drittenund des fünfzehnten jahrhunderts z. B. schweigend hinweggeht.Dieses Vorgehen führt zu solchen Extremfällen wie dem VersuchHeideggers, die »Geschichte des Seins« zu schreiben, indem er Textebespricht, die zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in den philo-sophischen Promotionsordnungen deutscher Universitäten eineRolle spielten. Sobald die Spannung des von Heidegger inszeniertenDramas ein wenig abgeklungen ist, findet man es womöglich dochein wenig verdächtig, daß sich das Sein so genau nach dem Lehrplangerichtet hat.

Die Anhänger Heideggers änderten den Lehrplan, damit alles zuNietzsche uncllf-leidegger hinführte, so wie die Anhänger Russellsden Lehrplan änderten, damit der Weg bei Frege und Russell endete.Die Geistesgeschichte kann den Kanon in einer Weise ändern, in derdas der Doxg, _ nicht gelingt. Diese partielle Modifikation des

allerdings die Tatsache, daß Nietzsche viel-leicht nur i so wichtig vorkommt, die sich allzusem vonder Kantischen Ethik beeindrucken lassen, so wie Frege vielleichtnur denen so wichtig erscheint, die sich allzusehr von der KantischenErkenntnistheorie beeindrucken lassen. Dabei bleiben wir immernoch im unklaren hinsichtlich der Frage, wie es überhaupt gekom-men ist, daß Kant als dermaßen wichtig gilt. Wir sind geneigt, un-seren Studenten auseinanderzusetzen, ihr eigenes philosophischesDenken dürfe Kant nicht umgehen, sondern müsse durch ihn hin-durchgehen, doch hier ist nicht klar, ob wir damit mehr meinen, alsdaß die Studenten unsere eigenen Bücher nicht verstehen werden,wenn sie vorher nicht die Schriften Kants gelesen haben. Wenn wirvom philosophischen Kanon in der durch die Lektüre der detaillier-ten und dicht gegøvobenen Schilderungen intellektualgeschichtlicherDarstellungen íeimöglichten Art und Weise Abstand nehmen, kön-nen wir die Frage aufwerfen, ob es für die Studenten wirklich sowichtig ist zu begreifen, was wir Philosophen von heute treiben. Dassind die Selbstzweifel, die manchen Autoren ein Motivund den schenken, um eine radikal innovative Geistes-geschichte zu schreiben, als deren Paradebeispiel Foucaults DieOrdnung der Dinge mit dem berühmten Verweis auf ››'ene Gestalt,die wir zu nennen wäre. ~

Manche :Ag-gger Foucaults werden vielleicht Eınwande erhe-ben, wenn ich 'dieses Buch als ein Werk der Geistesgeschichte kenn-

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zeichne, doch für meine Argumentation ist es Wichtig, daß es zur sel-ben Gruppe gerechnet wird wie z. B. die historischen Darstellungenvon Hegel und Blumenberg. Trotz Foucaults nachdrücklicher Beto-nung von Materialität und Kontingenz und trotz seiner bewußtenOpposition gegen das Geistliche und Dialektische der I-IegelschenGeschichte, gibt es eine ganze Reihe von Ähnlichkeiten zwischendieser Geschichte und Foucaults eigener Darstellung. Beide tragendazu bei, die von der Doxographie gemiedene' Frage zu beantwor-ten: In welcherliinsicht geht es uns besser und in welcher Hinsichtgeht es uns schlechter als dieser oder jener..Gruppe von Vorläufern?Beide Darstellungen Weisen uns einen epischen Ort zu, einen Ort imEpos des neuzeitlichen Europa, obwohl es sich in Foucaults Fall umein Epos handelt, das von keinem Geschick regiert wird. FoucaultsGeschichte ist ebenso wie die Darstellung Hegels eine Geschichtemit einer Moral. Zwar fällt sowohl Foucault selbst als auch seinenLesern die Formulierung dieser Moral schwer, doch dabei solltenwir nicht vergessen, daß für Hegel und seine Leser das gleiche galt.Foucault verknüpft die ››Gestalt, die wir Hurne nennen«, mit dendamaligen Bestrebungen der Ärzte und der Polizei, so wie Hegelverschiedene Philosophen mit den Bestrebungen der Priester undder Tyrannen ihrer jeweiligen Zeit in Verbindung bringt. Hegel ver-sucht rnit seiner Unterordnung des Materiellen unter das Geistigedie gleiche Aufgabe zu erfüllen wie Foucault mit seiner Erklärungder Wahrheit durch Macht. Beide bemühen sich, uns Intellektuellezu einer Ansicht zu überreden, von der wir unbedingtaüberzeugtsein müssen, nämlich daß -die Hochkultur einer bestimmten Zeitnicht nur Schaum ist, sondern der Ausdruck von etwas, was bis zumtiefsten Boden reicht.

Ich betone diesen Punkt mit solchem Nachdruck, Weil das Bei-spiel Foucaults zusammen mit meinem bereits geäußerten Argwohnhinsichtlich der Auffassung, Philosophie sei eine natürliche Art,sowie hinsichtlich des Rahmabschöpfungsmoclells der Beziehungzwischen lntellektualgeschichte und Philosophiegeschichte zu demVorschlag anregen könnte, daß die Doxographie, sofern sie ver-schwindet, die Geistesgeschichte mit sich reißen sollte. Viele Be-wunderer Foucaults neigen zu der Auffassung, eigentlich brauchtenwir keine Darstellungen mehr, die erklären, wie »die Gipfel einandersehen«, Man könnte sogar versucht sein, noch weiter zu gehen undzu meinen, »die philosophische Geschichtsschreibung« selbst sei ein

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Begriff, der seine Nützlichkeit überlebt habe, und zwar grob gespro-chen deshalb, weil inzwischen der Ehrentitel ››Philosophie« seiner-seits allen Nutzen eingebüßt habe. Reicht es uns denn nicht, wennwir über eine komplizierte, dichte Intellektualgeschichte verfügen,die vor kanonischen Verzeichnissen (philosophischer, literarischer,naturwissenschaftlicher oder sonstiger Art) auf der Hut ist? Ge-nauso, wie es sich fragt, ob die Fortführung des Fachs ››Philosophie<<nötig ist, so fragt es sich, ob überhaupt Bedarf besteht an histori-schen Darstellungen eines Spezialgebiets dieses Namens. Wenn wirwirklich glauben, daß es weder Gott noch reale Wesenheiten, nochirgendeinen Ersatz für sie gibt, und wenn wir im Anschluß an Fou-cault konsequent materialistisch und nomlnalistisch denken, fragt essich, ob wir die, Dinge nicht so aufwirbeln wollen, daß es gar keineMöglichkeit mehr gibt, den Rahm von der Milch, das Begrifflicheund Philosophische vom Empirischen und Historischen zu unter-scheiden.“

Für dieseıfgåg-çdaıılrengang habe ich als wackerer Materialist undeiniges übrig. Doch als Liebhaber der

Geistesgešc ;ı"'iiiiiıöchte ich mich dagegen wehren. Ich bin zwardurchaus dafürj kanonische Vorschriften, die nur noch Wunderlichwirken, abzuschaffen, aber ich glaube nicht, daß wir ganz ohnekanonische Regeln auskommen. Der Grund dafür ist, daß wir nichtohne Helden auskommen. Wir brauchen Berggipfel, zu denen wiremporblicken. Wir müssen einander detaillierte Geschichten überdie großen Toten erzählen, um unseren Hoffnungen, es weiter zubringen als sie, konkrete Gestalt zu verleihen. Außerdem brauchenwir die Vorstellung, daß es so etwas ››Pl-ıilosophie« im Sinne desEhrentitels gibt, also die Vorstellung, daß es Fragen gibt, die - wennwir nur schlau genug wären, sie zu stellen -› jeder immer schon hätteaufwerfen sollen. Diese Vorstellung können wir nicht preisgeben,

14 Dieser skep tische Gedankengang äußert sich in Jonathan Rees polemischen Bemer-kungen über die'Rolle der »Idee der Philosophiegeschichte« in Darstellungen, wel-che »die Philosophie als einen in sich abgeschlossenen, zeitlosen Teilbereich der gei~stigerı Erzeu'g:i,;i;iss_eg; präsentieren und ihr eine »eigene Geschichte« zuschreiben,»die wie die }ahı-hunderte hindurch zurückreiche« (››Philosophyand the fPhilosophy«,S. 32). Hier bin ich rnit Rée völlig einverstanden,glaube aber, daß inan sich dem Mythos entziehen und zur gleichen Zeit die drei vonmir empfohlenen Gattungen weiter betreiben kann, indem man das Wort »Philoso-phie« nicht als' deskriptiven Begriff, sondern einfach ganz bewußt als Ehrentitel ver-

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ohne zugleich die Vorstellung preiszugeben, daß die Intellektuellender bisherigen europäischen Geschichtsepochen eine Gemeinschaftbilden, der anzugehören ein Vorzug ist. Wenn wir an diesem Selbst-bild festhalten wollen, benötigen wir sowohl imaginäre Gesprächemit den Verstorbenen als auch die Überzeugung, wir hätten Weitergeblickt als sie. Das heißt: Wir brauchen Geistesgeschichte, derSelbstrechtfertigung dienende Gespräche. Die Alternative wäre dasfriiher einmal von Foucault angedeutete, aber inzwischen hoffent-lich fallengelassene Bestreben, gesichtslos zu werden und die Ge-meinschaft der europäischen Intellektuellen hinter sich zu lassen,indem man eine kontextfreie Anonymität vortäuscht, so wie jeneFiguren bei Beckett, die die Selbstrechtfertigung ebenso aufgegebenhaben wie den Gedankenaustausch durchs Gespräch und die Hoff-nung. Wenn man sich diesem Bestreben wirklich hingehen will, danngehört die Geistesgeschichte - und sogar die materialistische, nomi-nalistische, entzauberte Art von Geistesgeschichte, die ich Foucaultunterstelle - zu den ersten Dingen, deren man sich entledigen muß.Ich meinerseits bin in diesem Aufsatz von der Voraussetzung ausge-gangen, daß wir uns diesem Bestreben nicht anzuschließen Wün-schen, sondern 'es vorziehen, unser Gespräch mit den Verstorbenenreichhaltiger und erfüllter zu gestalten.

Unter dieser Voraussetzung müssen wir die Geschichte der Philo-sophie als Geschichte derjenigen sehen, die hinreißende, aber zu-meist erfolglose Versuche gemacht haben, die Fragen zu stellen, diewir stellen sollten. Diese Personen sind Anwärter auf einen Platz imKanon, einer Liste von Autoren, deren Lektüre überaus ratsamwäre, ehe man herauszubekommen versucht, welche Fragen die phi-losophischen sind - ››philosophisch« im Sinne des Ehrentitels »Phi-losophie«. Es liegt auf der Hand, daß jeder einzelne Anwärtergviel-leicht die gleichen Anliegen wie diese oder jene Gruppe heutigerPhilosophen hat oder nicht hat. Ob das an dem Betreffenden selbstoder an der fraglichen Gruppe liegt, wird man erst dann wissen kön-nen, Wenn man alle übrigen Anwärter gelesen und seinen eigenenKanon aufgestellt - seine eigene Geistesgeschichte erzählt - hat. ]emehr Intellektualgeschichte uns zu Gebote steht- und zwar Intel-lektualgeschichte von der Art, die sich nicht darum kümmert, wel-che Fragen philosophischer Art sind und wer eigentlich als Philo-soph gilt -, desto besser sind unsere Aussichten auf eine ausreichendlange Liste von Anwärtern auf einen Platz im Kanon. ]e mannigfalti-

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Page 23: Rorty, Richard - Vier Formen Des Schreibens Von Philosophiegeschichte (Bearbeitet)

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ger die aufgesrellten Kanons - je mehr konkurrierende Geistesge-schichten zu Gebote stehen -, desto wahrscheinlicher gelingen unszunächst die rationale und dann die historische Rekonstruktioninteressanter Denker. Je hítziger dieser Wettkampf enthrennt, destoschwächer wird die Neigung zum Schreiben cloxographischer Dar-stellungen, und das wiederum bringt nichts als Vorteile. Der Wett-kampf wird Wahrscheinlich nie entschieden, doch solange er Weiterausgetragen wird, werden wir nicht enesGerneinschaftsgefiíhl ver-lieren, dessen Möglichkeit sich allein dem leidenschaftlichen Ge-spräch verdankt.

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