rg13 2008 kritik duve

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Sacrum Imperium einen wichtigen Bereich der Ordnung Alteuropas behandelt zu haben, der sich zumindest teilweise von der allgemeinen Entwicklung abkoppelte. Eine gewisse Rück- ständigkeit des Reichssystems, dessen Rechts- kultur »durchaus auch einmal quer zum europä- ischen Völkerrecht stehen konnte« (Schnettger 634), verkennen sie nicht, sondern akzeptieren die Fremdheit als erhellend für die Wahrneh- mung des Ganzen. Marquardt plädiert darüber hinaus für vergleichende Untersuchungen all jener »Gebiete Europas, die außerhalb der frie- dens- und justizstaatlichen Herrschaftsintensi- vierungen blieben, wozu neben der Eidgenossen- schaft und Graubünden auch Reichs-Italien, Kurland, Schleswig, die Isle of Man oder Malta zu rechnen sind« (334). Ob seine dafür vorge- schlagene analytische Kategorie »Sonderstatus- zone« glücklich gewählt ist, mag man angesichts der Gefahr bezweifeln, dass der implizite »Nor- malfall« die Maßstäbe setzt. Der vorbildlich de- taillierten Beschreibung à la Schnettger gebührt jedenfalls der Vorzug. KarlHeinz Lingens In schlechter Verfassung* The key is in semantics, and not in philolo- gy, in the science of meaning and not of stemm- ing (27); There is no good European History without non-European histories (46); Humanity cannot be conceived by only a part of it (49). Dieses Buch ist voll von solchen Postulaten, die banal scheinen mögen – und die dennoch von der Rechts- und Verfassungsgeschichtsschrei- bung kaum beherzigt werden. Genau darum geht es dem Autor aber. Denn Bartolomé Clavero hat sich seit einiger Zeit einem giro ético, einer ethischen Wende der His- toriographie, verschrieben. 1 Aus dieser Pragma- tik heraus entstanden nach Werken wie Mayo- razgo (1973) und Antidora (1991) schon seit den 90er Jahren Titel wie Derecho indígena y cultura constitucional (1994) oder Genocidio y Justicia. La Destrucción de Las Indias, ayer y hoy (2002), in denen eine Linie von der Unterjochung der indigenen Völker im Zeichen des Kreuzes zu deren Entrechtung im Verfassungsstaat gezogen wird. Auch in dieser Sammlung zweier bereits in den Quaderni Fiorentini (30/2001; 32/2003) publizierter, für diesen Band leicht überarbeiteter Beiträge wird die Vergangenheit in den Dienst der Gerechtigkeit gestellt: This book on history is concerned with present American – both Ang- lo and Latin – rather than past European law and legal culture (XI). Clavero widmet sich der Geschichte des Konstitutionalismus, der entitle- ment to rights for the happy few and a degredat- ed status for the unlucky many gebracht habe (186), um zu zeigen, dass auf dieser Tradition keine wirklich gerechte Ordnung für die Zukunft aufgebaut werden kann – ein emanzipatorischer Blick auf das Vergangene also, »damit wir nicht bewusstlos davon beherrscht werden«. Claveros Insistieren kommt wegen der United Nations Declaration of the Rights of the Indigenous Peoples vom September 2007, vor allem aber angesichts der anlaufenden Jubiläumsforschung zu 200 Jahren lateinamerikanischem Konstitu- 190 Duve, In schlechter Verfassung Rg13/2008 * Bartolomé Clavero, Freedom’s Law and Indigenous Rights. From Europe’s Oeconomy to the con- stitutionalism of the Americas, Berkeley: The Robbins Collection Publications 2005, XIII, 202 S., ISBN 1-882239-16-4 1 Vgl. dazu Fernando Martínez, Alejandro Agüero: »Ein Gespräch mit Bartolomé Clavero«, forum historiae iuris, Beitrag vom 10.03.2008, URL:http://www. forhistiur.de/zitat/0803clavero.htm.

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  • Sacrum Imperium einen wichtigen Bereich derOrdnung Alteuropas behandelt zu haben, dersich zumindest teilweise von der allgemeinenEntwicklung abkoppelte. Eine gewisse Rck-stndigkeit des Reichssystems, dessen Rechts-kultur durchaus auch einmal quer zum europ-ischen Vlkerrecht stehen konnte (Schnettger634), verkennen sie nicht, sondern akzeptierendie Fremdheit als erhellend fr die Wahrneh-mung des Ganzen. Marquardt pldiert darberhinaus fr vergleichende Untersuchungen alljener Gebiete Europas, die auerhalb der frie-dens- und justizstaatlichen Herrschaftsintensi-

    vierungen blieben, wozu neben der Eidgenossen-schaft und Graubnden auch Reichs-Italien,Kurland, Schleswig, die Isle of Man oder Maltazu rechnen sind (334). Ob seine dafr vorge-schlagene analytische Kategorie Sonderstatus-zone glcklich gewhlt ist, mag man angesichtsder Gefahr bezweifeln, dass der implizite Nor-malfall die Mastbe setzt. Der vorbildlich de-taillierten Beschreibung la Schnettger gebhrtjedenfalls der Vorzug.

    KarlHeinz Lingens

    In schlechter Verfassung*

    The key is in semantics, and not in philolo-gy, in the science of meaning and not of stemm-ing (27); There is no good European Historywithout non-European histories (46); Humanitycannot be conceived by only a part of it (49).Dieses Buch ist voll von solchen Postulaten, diebanal scheinen mgen und die dennoch vonder Rechts- und Verfassungsgeschichtsschrei-bung kaum beherzigt werden.

    Genau darum geht es dem Autor aber. DennBartolom Clavero hat sich seit einiger Zeiteinem giro tico, einer ethischen Wende der His-toriographie, verschrieben.1 Aus dieser Pragma-tik heraus entstanden nach Werken wie Mayo-razgo (1973) undAntidora (1991) schon seit den90er Jahren Titel wieDerecho indgena y culturaconstitucional (1994) oder Genocidio y Justicia.La Destruccin de Las Indias, ayer y hoy (2002),in denen eine Linie von der Unterjochung derindigenen Vlker im Zeichen des Kreuzes zuderen Entrechtung im Verfassungsstaat gezogen

    wird. Auch in dieser Sammlung zweier bereitsin den Quaderni Fiorentini (30/2001; 32/2003)publizierter, fr diesen Band leicht berarbeiteterBeitrge wird die Vergangenheit in den Dienstder Gerechtigkeit gestellt: This book on historyis concerned with present American both Ang-lo and Latin rather than past European lawand legal culture (XI). Clavero widmet sich derGeschichte des Konstitutionalismus, der entitle-ment to rights for the happy few and a degredat-ed status for the unlucky many gebracht habe(186), um zu zeigen, dass auf dieser Traditionkeine wirklich gerechte Ordnung fr die Zukunftaufgebaut werden kann ein emanzipatorischerBlick auf das Vergangene also, damit wir nichtbewusstlos davon beherrscht werden. ClaverosInsistieren kommt wegen der United NationsDeclaration of the Rights of the IndigenousPeoples vom September 2007, vor allem aberangesichts der anlaufenden Jubilumsforschungzu 200 Jahren lateinamerikanischem Konstitu-

    190

    Duve, In schlechter Verfassung

    Rg13

    /200

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    * Bartolom Clavero, FreedomsLaw and Indigenous Rights. FromEuropes Oeconomy to the con-stitutionalism of the Americas,Berkeley: The Robbins CollectionPublications 2005, XIII, 202 S.,ISBN 1-882239-16-4

    1 Vgl. dazu Fernando Martnez,Alejandro Agero: Ein Gesprchmit Bartolom Clavero, forumhistoriae iuris, Beitrag vom10.03.2008, URL:http://www.forhistiur.de/zitat/0803clavero.htm.

  • tionalismus und der eher traditionellen Ausrich-tung der einschlgigen Verfassungsgeschichts-schreibung zu einem wichtigen Zeitpunkt.

    Die Beweisfhrung ist einfach, nicht neu,doch eindringlich. Im ersten Teil (FreedomsLaw and Oeconomical Status: The Euro-Ame-rican Constituent Moment, 156) leitet er auseiner kontextualisierenden Lektre mit Black-stones Commentaries on the Laws of Englandund Vattels Droit des Gens her, dass All men areby nature equally free and independent and havecertain inherent rights (Virginia 1776) eben nichtim Widerspruch zum Sklavenhalten oder India-nermorden stand, sondern meinte, was geschrie-ben war: man war eben nicht jeder, sondernthe individual enjoying both freedom in the pub-lic domain and power in the private sphere (21),nach den Grundstzen der natrlichen Ordnungalso der weie begterte Mann, der die ihm nachden private oeconomical relations zugeordnetenAngehrigen seines Hauses reprsentierte. DieVerfassung wurde also vonHausvtern gemacht,die natrliche Ordnung strukturierte die politi-sche Gemeinschaft: Constitution was public lawunder the law of nature (28).

    Dasselbe Denken prgte das Verhltnis zuden indigenen Vlkern: Ihnen wurde spter(1831) der Status von domestic dependent na-tions zuerkannt, unter dem Patronat des Prsi-denten und des Kongresses. Auch auf dieserEbene durchdrang die naturrechtliche, in derOeconomia verfestigte Sozialtheorie das Verfas-sungsrecht. Clavero sieht die Diskriminierungder indigenen Mehrheit unter dem Freiheits-und Gleichheitspathos, und diese Tradition kannfr ihn keine Zukunft haben.

    Im zweiten Teil geht es um Minority Mak-ing: Indigenous People and Non-IndigenousLaw, in Mexiko und den USA. Clavero fragthier, wieso auch nach der Unabhngigkeit auf

    der Ebene des Verfassungsrechts die in weitenTeilen zahlenmige Mehrheit zur zu scht-zenden Minderheit deklariert werden konnte(57 ff.). Fr Mexiko sieht er die Kontinuittschon in den Cortes und mit der Verfassungvon Cdiz (1812) vorgezeichnet, die hinsichtlichder berseeterritorien lediglich das Problem derReprsentation der in Spanien und der in Ame-rika lebenden Spanier beschftigte. Auch dieUnabhngigkeit Mexikos (1821) bedeutete nurein Ende des spanischen Imperialismus, nichtaber des hispanischen Kolonialismus. Denn auchjetzt wurden die Sozialtheorie der Oeconomiaund die soziale Realitt der Vergangenheit in dieneue politische Ordnung bersetzt. Technischvollzog sich das minority making ber Qualifi-kationserfordernisse fr die Ausbung desWahl-rechts oder die Schaffung von direkt dem Bundunterstellten Territorien mit indigener Bevlke-rung und ohne die konstitutionellen Rechte derBundesstaaten. So lebte die indigene Bevlke-rung in einem verfassungsrechtlichen limbo, ineinem Zwischenzustand also, in demman daraufwartete, der Verheiungen des Konstitutionalis-mus auch einmal teilhaftig werden zu drfen.Lebhafte Debatten um die Reform der Gerichts-verfassung in der mexikanischen Verfassungvon 1857, die zu einer offiziellen Verankerungder Justizautonomie der indigenen Bevlkerung und damit einem Eindringen ihres in den Ge-wohnheiten lebendigen Rechts in das formelleRecht gefhrt htte, verliefen im Nichts. Erstdie Revolutionsverfassung von 1917 rumte kol-lektiven Eigentumsformen der indigenen Rechts-kulturen einen Platz im geschriebenen Verfas-sungsrecht ein was allerdings (ausgerechnet)1992 trotz gegenteiliger Beteuerungen hinsicht-lich der multikulturellen Zusammensetzung derNation eliminiert wurde. Auch die vorerst letzteVerfassungsreform von 2001 geht in diese Rich-

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    Duve, In schlechter Verfassung

    Kritik

  • tung der Strkung des Staates, trotz aller Kon-zessionen einer beschrnkten Autonomie, die frClavero ohnehin den Geburtsmakel des rassis-tisch-kolonialen Verfassungsdiktats in sich trgt.

    Nicht viel anders ist das Bild, das schlielichaus der Perspektive des internationalen Rechtsfr die Behandlung der indigenen Vlker imSden der heutigen USA und in Mexiko gezeich-net wird (95 ff.). Im 19. Jahrhundert wurdendort zwar zahlreiche vlkerrechtliche Vertrgemit indigenen Vlkern unterzeichnet allein inden USA mehr als 350. Doch auch hier relati-vierte man die Bindungswirkung der Vertrge,auch wenn diese organisationsrechtlich nichtanders abgewickelt wurden als die zahlreichenzwischen 1850 und 1870 abgeschlossenen inter-nationalen Vertrge mit anderen Staaten. DieRegierung schloss sie mit ihren eigenen Brgernab, weil es pragmatisch ntzlich schien, und sahsich dann an diese Vertrge nicht gebunden.Letzlich wurde, so Clavero, auch das internatio-nale Recht vom paternalistischen Denken derOeconomia-Tradition berformt.

    Was also tun? Clavero blickt am Schluss indie Zukunft: Let us go international to be inter-native (169). So wie schon in der Vergangenheitdas Verfassungsrecht nicht autonom war, son-dern von vor-positiven berzeugungen relati-viert wurde, so sieht er auch in der Zukunft dieentscheidenden Impulse von auen kommen diesmal allerdings vielleicht zum Nutzen derindigenen Vlker. Die von der Staatsgewalt he-runterdeduzierten Minderheitenrechte ergnzensich vielleicht bald mit dem vom InternationalenRecht garantierten individuellen Freiheitsrecht

    der kulturellen Identitt und peoples and peo-ples rights stemming from peoples and peoplethemselves (193).

    Clavero, dessen Lust an Regelversten sichbis in die Nachweise hinein zieht, will mit die-sem wie mit seinen anderen Bchern vor allemNachdenken provozieren; Kritik an fehlenderBibliographie zur Geschichte des Konstitutiona-lismus, einseitiger Literaturauswahl oder histo-rischer Verkrzung trifft ihn nicht. Wie seinemLehrer Paolo Grossi und einem Teil der intensivzum modernen Konstitutionalismus arbeitendenspanischen Schule (M. Lorente, C. Garriga) liegtihm vor allem daran zu zeigen, dass wir nichtin der besten aller mglichen Welten leben. Dasgeht nicht ohne Tabubrche ab. Doch erst solcheGrenzberschreitungen ermglichen eine echteAuenperspektive. Clavero nimmt die Vergan-genheit und ihre Texte nicht als Erfolgsgeschich-te, sondern in ihrer Historizitt ernst und po-lemisiert insofern heftig gegen die traditionelleVerfassungsgeschichtsschreibung; er verdeutlichtdie berlagerungen von Konstitutionalismus,Internationalem Recht und der politischen Tra-dition der konomie; er blickt auf die blicher-weise getrennt betrachtete anglo- und lateiname-rikanische Welt; er verweist auch auf alles das,was der Konstitutionalismus nicht schtzt; esgeht ihm nicht allein um die nicht-indigene,sondern eben um die gesamte Bevlkerung desKontinents. Das beunruhigende Ergebnis gehtweit ber den engeren Gegenstand hinaus: Cla-vero glaubt nicht an die Geschichte einer europ-ischen Kultur der Freiheit.

    Thomas Duve

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    Rg13

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