reflexionen über wachstum und wachstumsprognose im kiefer-gebißbereich

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Reflexionen fiber Wachstum und Wachstumsprognose im Kiefer-Gebiflbereich Von H. G. Gerlaeh, Ravensburg Mit 9 Abbildungen Gemessen an den ersten rOntgenographischen Langzeituntersuchungen des Wachstums im Schadel-Gesichtsbereich yon Broadbent und dann von Brodie ist dieses Problem seit nunmehr 45 Jahren aktuell. Eine so einseitig betonte thema- tische Ausrichtung der Wissenschaft ist ~berraschend. Danach zu urteilen er- scheint die ROntgen,Kephalometrie nicht nur als hochqualifizierte wissenschaft- liche Methode, sondern auch als Diagnostikum der Wahl. Brodie setbst hat die Methode allerdings mit folgenden Worten begrenzt: ,,man k6nne aus gruppenstatistischen Erhebungen das Individuelle nicht beurteilen und auch nicht erwarten, auf Grund yon Winkelkombinationen eine Diagnose erstel- len zu kOnnen." Autoren wie BjOrk, Tulley, Moorrees, LundstrOm, Harris, Hixon, Koski u. a. interpretieren ebenfalls zuriickhaltender als etwa Ricketts. Dieser, in erster Reihe der Pragmatiker stehend, vertritt die Auffassung, dab diagnostische Fragen aus kephalometrischen Daten und gesttitzt auf ein gtoBes Basismaterial, durch Com- puterhilfe zu lOsen seien. Aus der Strukturanalyse soll eine ,,Struktursynthese" in Form einer Wachstumsvorhersage abgeleitet werden. Manchen Fachmann wird jedoch Ricketts Begrandung irritieren, dal~ ,,die Wachstumsvorhersage den Kie- ferorthopaden yon der Begrenzung befreie, die ihm seine eigene Erfahrung aufer- lege." Ricketts rechnet also mit gewisser Unerfahrenheit der Kieferorthopaden in diagnost4schen Fragen, wohl auch in der therapeutischen Nutzanwendung, weil gleichzeitig mit der Wachstumsvorhersage spezielle technische Hilfsapparaturen angeboten werden. Auch bei Hasunds Methode der Wachstumsvorhersage werden bestimmte Hilfsmittel empfohlen. Nur Morrees beschr~nkt sich bei seinem Netz- diagrammverfahren auf das rein wissenschaftliche Problem der Wachstums- prognose. Bei so viel neuen und auf praktische Belange abgestellten Empfehlungen er- scheint es an der Zeit, vorurteilslos Sachverhalte klarzulegen und 1. die Frage n,ach dem Stellenwert der kephalometrischen Diagnostik in bezug auf das indi- : viduelle Wachstum zu prtifen und 2. abzuw~gen, ob die bisherigen Erkenntnisse aus den kraniofazialen Wachstumsstudien die MOglichkeit einer Wactistumsvor- hersage zu diagnostischen Zwecken stt~tzen k6nnen. Die individudle Variabilit~it des Wachstums In der frtihen .~ra der Kephalometrik fehlten noch exakte AufschlOsse tiber die Strukturwandlungen in individuellen Fallen. Broadbents und Brodies Studien konnten zunachst nur AufschluB geben t~ber die aUgemeine durchschnittliche Qualitat und Richtung des Wachstums im kraniofazialen Bereich. Erst die wissen- Fortschr. Kieferorthop.38 (i977), 241--252 (Nr. 3) 241

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Reflexionen fiber Wachstum und Wachstumsprognose im Kiefer-Gebiflbereich

Von H. G. Gerlaeh, Ravensburg

Mit 9 Abbildungen

Gemessen an den ersten rOntgenographischen Langzeituntersuchungen des Wachstums im Schadel-Gesichtsbereich yon Broadbent und dann von Brodie ist dieses Problem seit nunmehr 45 Jahren aktuell. Eine so einseitig betonte thema- tische Ausrichtung der Wissenschaft ist ~berraschend. Danach zu urteilen er- scheint die ROntgen,Kephalometrie nicht nur als hochqualifizierte wissenschaft- liche Methode, sondern auch als Diagnostikum der Wahl.

Brodie setbst hat die Methode allerdings mit folgenden Worten begrenzt: ,,man k6nne aus gruppenstatistischen Erhebungen das Individuelle nicht beurteilen und auch nicht erwarten, auf Grund yon Winkelkombinationen eine Diagnose erstel- len zu kOnnen."

Autoren wie BjOrk, Tulley, Moorrees, LundstrOm, Harris, Hixon, Koski u. a. interpretieren ebenfalls zuriickhaltender als etwa Ricketts. Dieser, in erster Reihe der Pragmatiker stehend, vertritt die Auffassung, dab diagnostische Fragen aus kephalometrischen Daten und gesttitzt auf ein gtoBes Basismaterial, durch Com- puterhilfe zu lOsen seien. Aus der Strukturanalyse soll eine ,,Struktursynthese" in Form einer Wachstumsvorhersage abgeleitet werden. Manchen Fachmann wird jedoch Ricketts Begrandung irritieren, dal~ ,,die Wachstumsvorhersage den Kie- ferorthopaden yon der Begrenzung befreie, die ihm seine eigene Erfahrung aufer-

lege." Ricketts rechnet also mit gewisser Unerfahrenheit der Kieferorthopaden in diagnost4schen Fragen, wohl auch in der therapeutischen Nutzanwendung, weil gleichzeitig mit der Wachstumsvorhersage spezielle technische Hilfsapparaturen angeboten werden. Auch bei Hasunds Methode der Wachstumsvorhersage werden bestimmte Hilfsmittel empfohlen. Nur Morrees beschr~nkt sich bei seinem Netz- diagrammverfahren auf das rein wissenschaftliche Problem der Wachstums- prognose.

Bei so viel neuen und auf praktische Belange abgestellten Empfehlungen er- scheint es an der Zeit, vorurteilslos Sachverhalte klarzulegen und 1. die Frage n,ach dem Stellenwert der kephalometrischen Diagnostik in bezug auf das indi-

: viduelle Wachstum zu prtifen und 2. abzuw~gen, ob die bisherigen Erkenntnisse a u s den kraniofazialen Wachstumsstudien die MOglichkeit einer Wactistumsvor-

hersage zu diagnostischen Zwecken stt~tzen k6nnen.

Die individudle Variabilit~it des Wachstums

In der frtihen .~ra der Kephalometrik fehlten noch exakte AufschlOsse tiber die Strukturwandlungen in individuellen Fallen. Broadbents und Brodies Studien konnten zunachst nur AufschluB geben t~ber die aUgemeine durchschnittliche Qualitat und Richtung des Wachstums im kraniofazialen Bereich. Erst die wissen-

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AGE IN YEARS

Abb. 1. Durchschnittliche Zeit und WachstumsgrOl~e in verschiedenen Regionen des Gesichtsschadels n. BjOrk (n=25). Fiir die Minimumperiode wie fur das Maximum im Wachsturn sind die jeweiligen individuellen quantitativen und altersm~tBigen Variationen durch gekreuzte Linienziige angegeben.

schafllich genaue Methode, mit Hilfe von Metallimplantation Wachstumsver- ~nderungen zu verfolgen (Franke 1921, BjOrk 1955), fiallte diese Lticke. So konnte BjOrk (1964) rOntgenographisch dokumentieren, wo das Wachstum in den verschiedenen sklett~ren Regionen abl~uft und welcher Grad von individueller Variabilit~t sich dabei zeigt. Es geniigt der Hinweis auf zwei seiner diagrammati- schen Darstellungen.

In dem Diagramm Abb. 1 sind KieferkOrperhOhe (Jochbein - - Kieferbasis- implantate), das Kondylenwachstum und das suturale Wachstum im Zehnjahres- schnitt wiedergegeben. Die Variabilit~t ist jeweils durch die gekreuzten Linienztige zu jedem Kurvenbild angezeigt. Vertikal werden die verschiedenartigen Wachs- tumsgrOBen in Millimetern ausgedrfickt. Horizontal beziehen sich diese auf die altersm~Sige Fluktuation. Im Durchschnitt variiert die KieferkOrperhOhe um 7-12 mm, der Parameter des Kondylenwachstums liegt zwischen 3-9 mm und beim suturalen Wachstum liegen die Werte bei etwa 1-3 ram. Altersm~iBig kann sich der Kulminationspunkt der einzelnen Wachstumszonen zwischen jeweils etwa 3 �89 Jahren bewegen. Diese einzelnen Grenzbereiche liegen also sehr weit auseinander. Sie sagen mehr aus als die mittelwertigen Kurvenzfige.

Um die schematische Darstellung der suturalen wachstumsrichtung heraus- zugreifen (Abb. 2), wird die durchschnittliche Richtung mit 51 ~ Neigung zur NS-Linie angegeben. Aber das individuelle Wachstum kann von 0 ~ also von einer rein sagittalen Richtung bis zu maximal 82 ~ in eine fast vertikale Richtung

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/ / / • MEAN 51"

li I // \ RANGE 0"1"0 82"

~ Abb. 2. Hauptrichtung des suturalen Wachsturns n. Bj6rk (n=32) mit Angabe der Varia- tion bei Oberlagerung an der vorderen Sch~tdelgrube und der Fossa pterygopalatina.

tibergehen. BjOrk best/itigte damit seine 1953 geauBerte Ansicht, daft die indi- viduellen Ftille ganz betrachtlich und in fast jedem Detail yon den durchschnitt- lichen Maflen des Wachstums abweichen. ""

Wenn die Gebiftokkiusipn mit 14 Jahren l~tngst konsolidiert ist, l~iuft das Wachstum im kraniofazialen Bereich weiter. Neben Anderungen der WachstumS- richtung werden auch h6chst unterschiedlich verteilte Wachstumszunahmen regi- striert (Lundstdm 1969).

Solche individuell vOllig verschiedenartigen Abl~ufe demonstriert Abb. 3. Die vereinfachten Profildiagramme zeigen, wie teils mehr eine horizontale Wachs- tumszunahme vorherrscht, ein anderes Mal mehr eine Vertikale. Auch der Grad der Wachstumszunahme in den einzelnen Bezirken ist so unterschiedlich, dal3 es verwundert, wenn die Wachstumsprognostiker dennoch das Individuum zum Durchschnittsmenschen abwerten. Alle diese Ver~tnderungen der individuellen

Form sind hOchst natiirliche Vorg~tnge der Reifung. Einer prognostischen Be- wertung sind sie jedoch kaum zug/inglich.

Alle diese vielffiltigen Variationen im Wachstum weisen auf die Beschr~inkungen lain, die sich aus der Strukturanalyse der skelettaren Gewebe mit dem Bezug a u f Mittelwerte ergeben. Das Dilemma liegt darin, dab die naturwissenschaftli- chen Grunds~tze keine Alternative zum Mittelwert zulassen. Das Individuum ist daher nur am Modellfall des Durchschnitts zu bemessen. Damit wird es abet zwangsl~iufig , ,entpers6nlicht". Demnach kann der Strukturanalyse nach dem FRS-Bild - - auch wenn sie als gefestigte wissenschaftliche Methode anerkannt wird - - kein absoluter Richtwert zufallen.

Nach meiner Ansicht kann ein Kephalogramm AufschluJ3 geben ~ber regionale Formzusammenhimge, wie sie sich zu eine'r gegebenen Zeit darstellen, lhm steht daher eine Entscheidungshilfe zu bei der Bewertung oder zur Charakterisierung einer Gebiflanomalie oder ihres Tragers. ,

Die Grenzen des FRS-Bildes treten noch deutlicher hervor, wenn die Bedingun- gen des Wachstums im Raum betrachtet werden.

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Abb. 3. Diagrammatische, ver- einfachte Darstellung extremer Wachstumsvariationen im Zeit- raum von abgeschlossener Gebil3- einstellung bis etwa 26 Jahren (n. LundstrOm). Obere Reihe: mehr frontal gerichtetes Wachs- rum. Untere Reihe: mehr verti- kal gerichtetes Wachstum.

Das Wachstum im Raum

Die bisher t~berwiegend praktiziertc r6ntgenographische Strukturanalyse des Profils bedingt eine bildlichc Einebnung der Organstruktur. Abweichungen vom Durchschnitt, die sich wachstumsm~gig im Raum auswirken, gchen dabe i ver- loren. Da das menschliche Gesicht in der Rege! h~lftig ungleich ist, kann diese Naturgebundenheit mit ihrer Wirkung auf das Strukturpanorama nicht iJber- gangen werden~ An einem Organpraparat vom Gesichtsschadel 1/~Bt sich dieses anschaulich machen.

Die im Profi lr0ntgenogramm auftretende Doppelkontur des U n t e r k i e f e r s (Abb. 4) ist kein Einstellfehler. Die Kondylen sind deckungsgleich abgebildet. Demnach liegt eine h/ilftige Ungleichheit im Gesichtsskelett vor. Wiarde der Kiefer- basiswinkel dann wie ~blich v o n d e r Winkelhalbierenden der beiden Basislinien aus bestimmt, so w ~ e dieses fehlerhaft. Doch davon abgesehen wiegt die Mil3- achtung der wahren Natur solcher morphologischen Variationen an sich schwer genug.

Auf der Abbildungstafel 5 sind Ober- und Unterkiefer getrennt dargestellt. Bei a) ist der maxillare Teil, nach der Okklusionsebene horizontal ausgerichtet,

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Wachstumsprognose im Kiefer-Gebiflbereich

Abb. 4. FRS-Bild eines Gesichtssch~idel-Prfiparates mit Doploetkontur des Unterkiefers auf Grund h~lftenungleichen Wachstums. Orientierung nach F.H. r= Linienzug der rechtsseitigen Okklusions- ebene.

von rtickw~rts dargestellt. Die rechte Kieferh6hle ist etwa 8 mm niedriger als die linke. Ebenso ist der rechte Jochbeinansatz bedeutend schwacher entwickelt als links. Die verschiedenartige Achsenstellung der Z~ihne ist vermutlich eine Anpas- sungsreaktion an die kranialen Strukturen. In b) ist tier zugehOrige Unterkiefer abgebildet. Der rechte aufsteigende Ast ist etwa 10 mm niedriger, d. h. weniger hoch ausgewachsen als links. Bei c) f~llt die verschiedene Ausbitdung der Kondylen auf, ihre Formunterschiede und die achsenverschobene Stellung der Gelenkwalzen in bezug auf die Mittellinie; d) gibt yon rOckw~trts Einsicht in die Unterkiefer- spange. Die Muskelans~ttze sind verschieden stark entwickelt, es bestehen wesent- liche Differenzen auch in der HOhe der horizontalen .A, ste.

Im frontookzipitalen (.lbersichtsbild (Abb. 6 )kommt die korrespondierende Inklination yon kranialen und odontologischen Bezugsebenen zum Ausdruck, wenn das Objekt nach der Kondylenachse ausgerichtet wird.

Die kraniofazialen Strukturen bildefi also nicht nur einen Komplex wechsel- seitig abhiingiger Teile, sondern sie konkurrieren aul3erdem in bezug auf die Quantit~it des Wachstums. Es entsteht der Eindruck einer halbseitigen Wachs- tumsautonomie im Gesichtsschlidel. Bei der Einordnung der Z~thne, diesen be- weglichen Gliedern des Systems, entsteht ein Widerstreit gegentiber dem Wachs-

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Abb. 5. a) Oberkiefer des Gesichtsschfidels (Abb. 4) mit verstgrktem Wachstum der tinken Seite, Sicht- bar an der verschiedenartigen Ausbitdung im ~'olumen der Kieferh6hlen und des Jochbeinfortsatzes. b) H0hendiffereriz der Uriterkiefer~te bei Erhaltung gleichgroBer Gonialwinkel. c) Verschiedenartige Form und Stellung der Kondylenachsen. d) Der gesamte reclat e Corp, mandib, ist schwacher entwickelt. Ausgenommen ist der Pars alveolaris.

tumsdiktat der tibergeordneten Strukturen. Aus diesem Mit- und Gegeneinander im WachstumsprozeB wird eigentlich erst die individuelle Form geboren. Die kraniale Steuerung 10st eine induktive Wachstumsbeeinflussung des Gebisses aus. Das Ausmal3 ist aber nur im kephalometrisch nach der Frankfurter Ebene orien- tierten Modell zu diagnostizieren (Abb. 7a). Die unterschiedliche Neigung der sagittalen Okklusionsebene, im Bild der Deutlichkeit wegen durch die Zervikal- linien ersetzt, wird auch durch die transversale Inklinationslinie unterstrichen. Im Draxisilblichen Gebil3modell (Abb. 7b) sind die wahren Zusammenh/inge ver- lorengegangen. Das GebiB stellt sich kompensatorisch auf solche Asymmetrien durch Anderung der Zahnstellung ein.

I n einem anderen Beispiel yon h/ilftenungleichem Wachstum zeigt das fronto- okzipitale Strukturbild (Abb. 8) ein Wachstumstibergewicht der gesamten rechten Kopfseite. Diese Entwicklung wurde fiber einen Zeitraum von neun Jahren ver- folgt. Die Asymmetr ie prggt sieh bis in die Sch~idelbasis aus.

Bei Fr steht der Schatten des Felsenbeins hOher als links. Dieses Wachstums- muster zeigt sich in allen Strukturen, auch in den transversalen Gaumenkurven.

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Wachstumsprognose im KzeJer-oeou~oerezcn

Abb. 6. Frontookzil~itales Strukturbild des httlftenungleichen Gesichtsschfidels (Abb. 4) orientiert nach der Kondylen-Ebene. Die Orbitalpunkte verbindet eine charakteristische~stark inklinierte Ebene, die annfihernd parallel xnit tier Okklusionsebene, der Kieferwinkelebene und der Ebene durch das Foramen mentale verlfiuft;

Abb. 7. Im praxis0blichen, nach der RME und nach der Kauebene ausgerichteten GebiBmodell (b) kOnnen hgtlftenurtgleiche Wachstumsabweichungen nicht dargestellt werden. Nur das kephalometrisch orientierte ,,Neostatmodell" (a) gibt die wahren Verhaltnisse mit Inklination der Kauebene und der Zahnreihenverschiebung unverf~scht wieder. Die sagittalen zervikalen Randiinien charakterisieren ebenfalls den Unterschied der Modellaussage.

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5~ ] ,5

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Abb. 8. Frontookzipitales Struk- turbild eines 16j~thrigen. Patien- ten mit asymmetrischen Wachs- turn, (Rechtsseitigkeit). Beacht- lich die Felsenbeinschatten (Fr), die Kiefet;h0hlen, die Orbital- hOhien, die WarzenfortsAtze, die Kondylen (K), die transversalen Gaumenkurven, die inklinierte Okklusionsebene (OE) mit dem KreuzbiB.

A b b . 9i Eineiige DriU~nge (nach Korkhaus) im Alier von 6 und l4 Jahren mi t charakteristlscher Mimik, welches auf die :feste Bindung von individueUer Form des Skeletts und der Weichteile mit der Funktion hinweist und wachstumsmaBigen EinfluB auf das GebiB aus~bt.

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Wachstumsprognose im Kiefer-Gebiflbereich

Eine Inklination der Okklusions-Ebene (OE) ist tiber den Zeitraum der Beobach- tung vom siebenten Jahre an unverfindert geblieben. Ab dem zwOlften Jahr pr~igt sich linksseitig deutlich ein transversaler Wachstumsstillstand aus, wie die defor- mierte Gaumenkurve dieser Seite ausweist. Der begleitende linksseitige KreuzbiB ist wiederum die Folge dieser .kranialen Strukturentwicklung. Sie kann sich im lateralen R6ntgenbild nicht offenbaren. Auch in diesem Fall sind die Kondylen (K) verschiedenartig geformt und ebenso verschiedenartig in der Fossa mandib. gelagert.

Der mOgliche Einwand, dab solche h~tlftigungleichen Wachstumsvariationen Ausnahmen seien, ist nicht stichhaltig, da jede Form von Anomalie eine Aus- nahme vonder Regel darstellt. Diese Ausnahmen massen nur methodisch erfaflt werden, um sie analytisch verwerten zu kOnnen.

Wenn die natiarliche Wirklichkeit eines individuellen Falles nur im Raurnbild gegeben ist, so wird damit zugleich der Aussagewert des lateralen Kephalogramms wesentlich eingeschrankt. Das kephalographische ,,Neostatmodell" gewinnt da- durch wieder mehr Bedeutung.

Form und Funktion im Wachstumsprozel}

Wachstum betrifft die ganze Person. Die Weichteilbedeckung und ihre Funk- tion ist ein aktives Element des Waehstums. Hier offenbaren sich scharf umrissene Wachstumsmuster auf dem Boden skelett~trer Variationen mit lest damit ver- bundenen funktionellen Eigenarten der muskul~ren Gewebe. Doch Sensorik geht vor Motorik, d. h. zur aktiven Augerung bedarf es noch des geistig-sensorischen Impulses. Hier liegt die grol3e, weitgehend unbekannte Dimension der individuel-

" len Funktion, welche den WachstumsprozeB berfihrt.

Nebe~ Tulle), u. a. befgrwortet auch Van der Linden die Notwendigkeit, die, wie er sagt, ,,Interaktion" zwischen den skelett~iren und weichen Geweben in die Strukturanalyse einzubeziehen. Diese Aktion ist sehr hintergrtindig. Ein Bei- spiel zeigt es auf. Bekanntlich begleitet den Reifungsvorgang des Menschen eine Wandlung der Form, die sich am eindrucksvollsten durch die Verfinderung der Gesichtsproportionen anzeigt. Trotz solcher Formwandlungen k6nnen funktio- helle Eigenarten, die das Gesicht beherrschen, bis ins Alter bewahrt werden. Sie bleiben damit das Signum einer Person. Bei Drillingen, welche Korkhaus einmal im Zuge seiner Zwillingsforschung vorstellte (Abb. 9), ist die Mimik der 6j/~hri- gen Schulanf~tnger auch mit 14 Jahren unverfindert erhalten geblieben. Solche Ausdrucksformen mit zugeh6rigem Distalbig beruhen nicht nur wie hier auf zu- f~lliger genetischer Koinzidenz. Sie ~/reten, wie diese Drillinge zugleich zeigen, auch als dominantes Familienmerkmal auf. In diesem Verhalten, in dieser Inter- aktion offenbart sich ein scharf pointiertes Wachstumsmuster. Es sind zweifellos Extravariationen der Form und der Funktion. Beide, Form und Funk'tion~stehen in gegenseitiger fester Bindung.

Die Wachstumsprognostiker mischen zwar ebenfalls myofunktionelle Symptome in ihr Programm. Sie beschr~tnken diese allerdings auf den Status der Lippen-

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muskulatur und wie er sich im Momentbild ergibt. Aus Gr0nden der kindlichen Verhaltensweise bei der Untersuchung wird dieser Zustand aber oft unnattirlich wiedergegeben. Es muB zugleich gesagt werden, dab auf die funktionellen Grund- elemente im Rahmen der prognostischen Bewertung kieferorthopadischer Ein- griffe noch immer zu wenig Gewicht gelegt wird.

Wachstumsvorhersage und die Beziehung zu Diagnose und Therapie

An den schulmaBigen Vorlagen zur Erstellung von Wachstumsprognosen f~illt auf, dab sich die Beztige zum GebiB wesentlich auf die Stellung der Frontzahne beschr~nken und dab aus statistischen Untertagen mit einem MeBbereich yon wenigen Millimetern Zukunftsaussichten abgeleitet werden. Jede Prognose ist die SchluBfolgerung aus Symptomen, deren Zahl ffir die Genauigkeit der Aussage entseheidend ist. Jedoch sind die vielen geometrisch erfal3baren strukturellen Konstellationen im FRS-Bild immer nur ein Symptomkomplex des einen Indi- viduums zu einer gegebenen Zeit und von einem einzigen gegebenen Ort, n~imlich gewonnen aus dem medianen L~ingsschnitt des Sch/~dels. Jede Prognose bleibt auch immer nur eine Verrnutung mit hoher Fehlerquote. Ricketts grttndet das diagnostische Konzept auf eine durchschnittliche Wachstumsrate von 1 mm pro Jahr (!), bezogen auf ein 10-j~ihriges Kind und bestimmte Regionen. Davon aus- gehend wird tiber das jeweilige FRS-Bild eines Patienten eine sogenannte ,,Ziet- zeichnung" des zu erwartenden Wachstums konstruiert und daraus dann ein therapeufisches Konzept abgeleitet.

Gaudet hat diese Gedanken der Wachstumsvorhersage nach Ricketts illustriert und Sueur hat fiber praktische Erfahrungen berichtet. Es wurden 80 Kinder im Durchschnittsalter yon 9 Jahren verschiedenartiger Behandlung unterzogen (11 41 Monate). Die Winkelmessungen bewegen sich in einer Gr0Benordnung von 1,5 - - 2,5 ~ Bei einem Extraktionsfall mit Entfernung der beiden ersten oberen Pr~imolaren hatte sich beispielsweise der SNA-Winkel yon anf~tnglich 79,5 ~ nach fast zwei Jahren auf 760 verringert. Daraus wird gefolgert, daB er damit der Vor- hersage yon 75,5 ~ nahekommt. Ich argw6hne, dab nicht viele imstande sind, Winkelwerte dieser GrOBe akkurat zu bestimmen oder dab sie sich darauf ein- lassen werden, nach einer solehen Me,bode und auf Grund solcher Befunde ,,Vor- hersage" und ,,Erfolg" kausal zu verbinden.

Schlulifolgerung

Alle Fakten und Erw~igungen lassen nur den Sehlul3 zu, dab das Wachstum des Gesichts ein ganz pers0nliches Geschehen ist und zwar in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht, in bezug auf die Zeit wie auf den Ort des Waehstums. Ober die individuelle Variabilit~lt des Wachstums liegen gentigend wissenschaft- lich gut fundierte Unterlagen vor. Das Wachstum l~luft jedoch in r~iumlichen Dimensionen ab. Es wird aufgezeigt, dab sich h~ilftenungleiches Waclastum da- her nicht im FRS-Bild analysieren l~iBt und dab dieses dadurch verf~Ischt werden kann. Die Bedeutung der Weichteilbedeckung und ihre Funktion als aktives Element des Wachstums wird hervorgehoben.

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Wachs tumsprognose im Kiefer:Gebiflbereich

Die b i s h e r i g e n Ta tbes t~ tnde u n d E r k e n n t n i s s e f o r d e r n e ine m e h r z u r a c k h a l t e n d e

I n t e r p r e t a t i o n der s t r u k t u r a n a l y t i s c h e n B e f u n d e , sowei t d i a g n o s t i s c h e B e l a n g e

be r t ih r t w e r d e n . E i n e e twa ige G e f a h r , sie , , m a n g e l s e igene r 10be r s i ch t " fa l sch zu

b e w e r t e n , wie s ich Ricket t s s inngemf ig a u s d r 0 c k t e , k a n n n ich t d u r c h den G l a u b e n

an die A l l m a c h t des C o m p u t e r s g e b a n n t w e r d e n . D a s Bi ld v o m M e n s c h e n , wel -

ches die M a S c h i n e e n t w i r f t , b l e ib t e in M o d e l l , es d a r f n ich t als das w a h r e Bi ld

des I n d i v i d u u m s g e w e r t e t w e r d e n .

Zusammenfassung

Gesttitzt auf die Kephalometrik haben sich die Versuche, das Ausmag des Wachstums im Kiefer- Gebil~bereich vorherzusagen, in den Vordergrund geschoben. Der Stellenwert der kephalometrischen Diagnostik in bezug auf das individuelle Wachstum wird an Hand bisheriger wissenschaftlicher Er- kenntnisse nachgeprtfft:

Nachweislich stt~tzen solche Befunde in keiner Weise die M6glichkeit,darauf auch wissenschaftlich fundierte Wachstumsvorhersagen,zu grtinden.

Im individuellen Wachstumsvorgang liegen gravierende, quantitativ nicht bestimmbare Variatio- nen, wie etwa in der physiologisch als normal geltenden halftenungleichen Schfidel-Kiefer-Gebif~- hilduug. Sic entziehen sich routinemafliger rOntgenographischer Analyse.-Dies wird durch anatomische, Unterlagen belegt.

Sammary

Attempts to predict the extent of growth in the region of the jaw and dentition on the basis of cephalometries have come to the fore. The value of cephatometric diagnosis with respect to individual growth is examined with the aid of the scientific knowledge to date.

It has been proved that such findings in no way support the possibility of basing scientific growth predictions on them.

In the individual growth process, marked variations occur that cannot be determined, such as, for example, unequal development of the two sides of the skull, jaws and dentition, which is considered physiologically normal. These variations cannot be dealt with by routine radiological analysis: - - This is documented by anatomic material.

R~sum~

Sur la base de la c~phalom~trie, les essais de pr~vision de t'importance de la croissance de la r6gion m~choire-dentition ont 6t(~ mis en gvidence. On a v&ifi6 la valeur indicative du diagnostic c6phalom6trique en fonction de la croissance individueUe, sur la base des connaissances scientifiques actuelles. I1 est prouv~ que de teUes constatations ne confirment en aucune fagon la possibilit+ de d~duire des pr6visions de croissance qui soient vraiment fond6es scientifiquement.

I1 existe dans le processus de croissance individuel des variations d6terminantes impossibles fi 6valuer quantitativement, telles que par exemple des in6galit6s de croissance entre les deux moiti+s de l'ensemble erfine-m~ichoire-dentition que l 'on consid6re physiologiquement comme normales. Ces variations 6chappent/~ l'analyse radiographique de routine. - - Ces faits sore confirm6s ~3ar des docu- ments anatomiques.

Schrifttum

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Anschr. d. Verfassers: Prof. Dr. Dr. 1t. G, Gerlach, Stadtblick 8, 798 Ravensburg.

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