plus minus racine der systemcharakter in der racine-analyse

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Orbis Lifferarum (1972), XXVII, 1-12. Plus Minus Racine Der Systemcharakter in der Racine-Analyse von R. Barthes Werner Forner, Romanisches Seminar, Albertus-Magnus-Universitat, 5000 Koln 41. 1 1.1 1.2 1.21 1.3 1.31 1.4 1.41 1.411 Das literarische Werk ist ein >>System von Funktionem (Barthes, Les Deux Critiques, MLN 1963, S. 452). >>System<< ist der Name fur eine Totalitat mit Eigengesetzlichkeit. >>Funktionen<< heil3en die Segmente des Systems. Die Gesamtheit der Regeln ihres Zusammenwirkens ist das System. Die Funktionen sind grundsatzlich birelatimell: eine Funktion a ist die Beziehung zwischen zwei Tragern dieser Funktion a, aber mit umgekehrtem Vorzeichen in Bezug auf a: a = def R(+A, -A) R = >>Relation<(; A = >>Trager von a<< Die Funktionstrager heil3en Figuren: sie sind die minimalen Einheiten des literarischen Werkes. Figur und Funktion sind Namen fur zwei komplementare Aspekte desselben Sachverhalts. Die Figur ist die Extension des Funktionsbe- griffes. Es besteht - etwa im Drama - keine eindeutige Zuordnung zwischen Personen und Figuren: eine einzige Figur kann mehrere Personen (l), genau eine Person, weniger als eine Person (2) erfassen, oder sogar etwas, was gar nicht als Rolle im Stuck auftritt (3). Mehrere Personen konnen dieselbe Funktion, aber doppelte Wertig- keit (+, -) haben, d.h. die Funktion ist eine transitive Relation. Man kann dann die Personen, die (u.a.) den Wert + besitzen, im Ver- haltnis zu derjenigen Person, die ausschlieljlich den Wert - hat, als eine einzige Figur A ansehen (1.411). Diese Zusammenfassung nach einer einzigen Wertigkeit ist wichtig, um die Funktionen als birela- tionell (binar) erklaren zu konnen. Behiel: Racine. Baiazet (A = def kmachtie iiber)

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Orbis Lifferarum (1972), XXVII, 1-12.

Plus Minus Racine Der Systemcharakter in der Racine-Analyse von R. Barthes Werner Forner, Romanisches Seminar, Albertus-Magnus-Universitat, 5000 Koln 41.

1

1.1 1.2

1.21

1.3

1.31

1.4

1.41

1.411

Das literarische Werk ist ein >>System von Funktionem (Barthes, Les Deux Critiques, MLN 1963, S. 452). >>System<< ist der Name fur eine Totalitat mit Eigengesetzlichkeit. >>Funktionen<< heil3en die Segmente des Systems. Die Gesamtheit der Regeln ihres Zusammenwirkens ist das System. Die Funktionen sind grundsatzlich birelatimell: eine Funktion a ist die Beziehung zwischen zwei Tragern dieser Funktion a, aber mit umgekehrtem Vorzeichen in Bezug auf a: a = def R(+A, -A) R = >>Relation<(; A = >>Trager von a<< Die Funktionstrager heil3en Figuren: sie sind die minimalen Einheiten des literarischen Werkes. Figur und Funktion sind Namen fur zwei komplementare Aspekte desselben Sachverhalts. Die Figur ist die Extension des Funktionsbe- griffes. Es besteht - etwa im Drama - keine eindeutige Zuordnung zwischen Personen und Figuren: eine einzige Figur kann mehrere Personen (l), genau eine Person, weniger als eine Person (2) erfassen, oder sogar etwas, was gar nicht als Rolle im Stuck auftritt (3). Mehrere Personen konnen dieselbe Funktion, aber doppelte Wertig- keit (+, -) haben, d.h. die Funktion ist eine transitive Relation. Man kann dann die Personen, die (u.a.) den Wert + besitzen, im Ver- haltnis zu derjenigen Person, die ausschlieljlich den Wert - hat, als eine einzige Figur A ansehen (1.411). Diese Zusammenfassung nach einer einzigen Wertigkeit ist wichtig, um die Funktionen als birela- tionell (binar) erklaren zu konnen. Behiel: Racine. Baiazet (A = def kmachtie iiber)

2 Werner Forner

1.42

1.43

2

2.1

2.2

2.21

Bajazet - Roxane - Orcan - Amurat

-d -A + A

L d - A + A

- A +A +A -A +A

+A 3

, d - - fur +a: *2 A1 fur -a: A'1 A'2

Eine einzige Person kann aufgespalten ())divisCcc) sein in zwei Funk- tionen. Ihre Relation gegeniiber der zu ihr komplementaren Person ist sowohl die Negation wie die Aquivalenz (auf der Ebene der Fi- guren). Der Trager einer Funktion braucht nicht aufmtreten. Nicht-auftre- tende Figuren konnen Menschen sein, die im Hintergrund bleiben (s.o. 1.411: Orcan und Amurat treten nicht auf); auch Gotter und Ideologien, die die Handlung bestimmen, haben figurlichen Wert. Racines Werk ist ein System von funf grundlegenden Funktionen: a, b, c, d und die Kontiguitat. Jeder dieser Funktionen entsprechen theoretisch zwei komplementare Figuren: Ai.2; Bi,2; C1.2; Di.2. Das allgemeine Schema aller Racine'schen Dramen ist demnach: xi x x?. Allen Stiicken Racines lie@ die autoritare Funktion a zugrunde: A1 a A2 = ))A1 hat alle Macht iiber A2cc. Diese Funktion ist die Basis des funktionalen Kriiftespiels. Dieses Kraftespiel (und eine gewisse Komplikation) wird erst moglich durch das Hinzutreten einer oder mehrerer anderer Funktionen, jedoch setzt das Spiel aller weiterer Funktionen diese urspriingliche Polarisierung in A1 und AZ voraus. Eine zweite wichtige Funktion ist diejenige der einseitigen Liebe (b): BI b Be = ist ungeliebt verliebt in Blcc. Die Funktion b ist des- halb von entscheidender Wichtigkeit, weil durch sie die Grundfunk- tion erst sichtbar und problematisch wird: b ist der Ausloser des Kon- flikts. Die Funktion b kann deshalb den Konflikt auslosen, weil die Figuren BI, B2 mit A2 und A, immer personal identisch sind, und mar:

Die Liebesrelation ist oft verschleiert: sie kann )>maskiertcc sein B1 Ae; & Ai.

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2.22

2.3

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(Athalie-Joas), problematisch (Titus-BCrBnice), problemlos (Iphigtnie- Agamemnon), umgekehrt (= B1:Bz) (Eriphile-Achille, Btrknice-Ti-

Man mulj zwei Arten der Liebesrelation unterscheiden: - die briiderliche Liebe (Cros sororal), die langsam gewachsen und legitim ist. - die Faszination (Bros-BvBnement), die als absolutes, vollendetes Ereignis unverrnittelt auftaucht. Die auftauchende Faszination wird zwar nie realiter gezeigt, sondern wird nur als vorgestelltes Bild (Hy- potypose) in der Erinnerung immer wieder nacherlebt; jedoch ist gerade die Faszination diejenige Liebesrelation, die das tragische Kraftespiel auslost. Eine dritte Relation ist bestimmend fur das System: die Beziehung der Verpflichtung (c): C1 c Cz = >)CI stellt Anspriiche an CZ<<, G ist C1 gegenuber verpflich- tet. Auch die Relation der Verpflichtung fuhrt zum Konflikt, dadurch daI3 C, seine Dankbarkeit gegenuber C1 als obligatorisch und hinderlich empfindet. Dieser Zwang kann nur durch die Vernichtung von C1 aufgehoben werden. Diese Revolte wird dadurch moglich, dal3 die Relation der Verpflichtung mit derjenigen der Autoritat immer per- sonal verkoppelt ist:

Oft besteht zwischen den Helden eine Beziehung der Schuldhaftigkeit (d): D1 d & = >>D1 ist unschuldig und 4 ist schuldigcc. Die Schuld- relation uberlagert diejenige der Autoritat: D1 Es mulj an dieser Stelle betont werden, daI3 die Funktionen b, c, d in Bezug auf das AbhBhgigkeitsverhaltnis der Figuren komplementar zur Funktion a sind: A2 ist A1 durch seine Ohnmacht unterworfen, umgekehrt ist aber A1 durch seine Liebe und/oder seine Verpflichtung bzw. Schuld von A2 abhiingig. Es handelt sich hierbei urn eine Bi- naritat auf der abstrakten Stufe des >>Abhangigkeitsverhaltnissesq das fur keinen der vier Inhalte spezifiziert ist. Dieser abstrakte Begriff des Abhhgigkeitsverhaltnisses sowie dessen Aufspaltung in zwei kom- plementare Bereiche wird bei Barthes nicht postuliert; beides ist jedoch meiner Meinung nach die notwendige Vorautsetzung fur das Funktionieren des Barthes’schen Systems (s.u.6.4). Das tragische

tus).

C1 E A2; Cz A1.

A,; DZ = AI.

4 Werner Forner

2.6

2.61

2.62

2.63

3

3.1

3.2

Kraftespiel bei Racine 1aDt sich daher definieren als ein Gespanntsein zwischen zwei Polen: zwischen Abhangigkeit und Freiheit, zwischen Emanzipation und Bindung. Die Anteile der Figuren an den ver- schiedenen Funktionen sind nun so dosiert, daB die Figuren sich zwar einem Gleichgewichtszustand zwischen den beiden Extremen nahern, ihn aber nie venvirklichen konnen. Damit aber die Funktionen uberhaupt aufeinander wirken konnen, mu0 noch folgende vierte Bedingung erfullt sein: Die widerstreitenden Figuren befinden sich am selben Ort, das ist die Biihne (bzw. der >)Vorraum<<). Nur hier kann der Konflikt durchge- spielt werden. Im Racine’schen Theater sind drei Orte zu unterscheiden, die ent- sprechend der fundamentalen Funktion (Macht) charakterisierbar sind: Kammer (Chambre), Vorraum (Antichambre), AuRenwelt (ExtC- rieur). Die Kammer ist der Sitz der Macht. Die Kammer ist verschlossen; die Macht ist Geheimnis, ihre Nahe ungewiB, sie schweigt. Der Vorraum ist der Ort des Wartens auf die Tat, der Ort der Sprache und der Aktion (die Sprache kann die Funktion der Aktion iiber- nehmen, z.B. in Phedre), der Ort des Konflikts und der tragischen Helden. Hier ist der Ubergang von der verborgenen Macht zur Tat, die in der AuDenwelt stattfindet. Die AuBenwelt ist der Ort der Tat, des Untragischen. Sie ist fur die Tragodie bedeutsam als Bedrohung, Verlockung und Losung: Be- drohung durch berichtete Ereignisse, Verlockung zur Negation der Tragodie durch Flucht, Losung durch den Tod des tragischen Helden. (Der Tod ist von der Biihne verbannt.) Ausgehend von der Autoritatsfunktion (a) und der Liebesrelation (b) lassen sich vier Figuren der Racine’schen Tragodie definieren: Vater - Sohn (l), Bruder (2) und Frau (3). Vater - Sohn sind die komplementaren Trager der Autoritatsfunk- tion: Der Vater (2.B. Herr, Tyrann, Gott) ist im Besitz der Frau(en), der Kinder und der Guter. Der Sohn sucht dieses Autoritatsverhaltnis durch Vatermord aufmheben, zu negieren. Der Bruder ist definiert als der Trager der negierten Autoritatsrela- tion: Der Vater (Al) ist tot, die Sohne kampfen um das Erbe, d.h. darum, in der Autoritatsrelation die leere Stelle des Vaters einzu-

Plus Minus Racine 5

nehmen: sie sind nicht mehr >>Sohnecc (= def x-Kampf gegen Vatercc), sondern >>Briidercc (= def ,Kampf gegeneinander, um Vater zu wer- dencc). Die Frau ist durch die Liebesre1,ation definiert: sie wird - meist ver- gebens - begehrt (BI). Jede der vier Figuren ist durch eine einzige Funktion hinreichend definiert. Eine Hinzunahme der je restlichen Funktionen ist redundant fur a bzw. b. Fur c und d ist die Charakterisierung nicht allgemein durchzufiihren; c und d sind jedoch in jedem Fall an -a gebunden:

3.3

3.4

Man konnte also allgemein hinzufiigen, dal3 die mannlichen Figuren immer Bz, die weiblichen Figuren immer A2 sind (wobei die Liebes- relation allerdings umgekehrt ist fur BCrCnice und fur firiphile). (>>Weibliche Figurcc # >>weibliche Personcc!) Das Kraftespiel der Funktionen 1aOt sich von der Basis, der Autoritats- funktion, her beschreiben; es ist im wesentlichen eine Revolte gegen die Ohnmacht: eine Machtergreifung auf der einen Seite (Sohn), und eine Bestatigung, Behauptung oder Ausweitung der Macht auf der an- deren Seite (Vater) (= Peripetie); technisch gesprochen: eine Kon- version (oder eben nicht) der Komplementarbereiche. Die figurliche Verteilung bleibt also unverandert: xeul le sens de ses ClCments est permutkcc ( S . 52); es handelt sich urn eine Permutation der (autorita- ren) Figuren: Al:A2, dh. urn die Negation der autoritaren Relation: +a: - a. Dieselbe grundsatzliche Charakterisierung der Peripetie ist auch gultig fur den Bruderzwist: die Machtverteilung zwischen zwei >>Briiderncc ist notwendigerweise hinreichend unterschiedlich, urn diese in das Schema AI, A,z zu pressen. Die Peripetie erfaflt - per definitionem, denn Al, A2 beschreiben die gesamte Racine’sche Wirklichkeit unter einem Aspekt - eine >>Totali- tatcc, deren sich der Racine’sche Held ubrigens auch bewul3t ist (s. S . 51); aus entsprechendem Grunde ist seine Form >>symmetrisch<c (S. 52).

4.02 Die Tragodie ist das Schauspiel der Revolte und der Peripetie: sie beginnt unmittelbar nach der Ablehnung der Vergangenheit (= Ab- lehnung von AI durch A2) und vor der Etablierung der neuen Lega-

4

4.01

b Werner Forner

litat. Die eigentlich tragische Gestalt ist dementsprechend der sich gegen die Bindung (an den Vater) revoltierende Held. Die Negiemng der herkommlichen Autoritatsrelation heiljt Aggression. Sie geschieht durch Negierung des Gegenubers. Entsprechend dem Subjekt und Objekt (Al oder A2) der Aggression lassen sich zwei Va- rianten unterscheiden: Leichtere Formen der Aggression sind bei beiden Aggressoren zu finden: die verbale Aggression und vor allem der Blick. Sie erzielen die >>Frustrationcc (S. 42) des Gegners, seine Verwirrung (>)trouble<<; s. Liste der Formen des Trouble S. 27). Diese Wirkungen sind Vari- anten der Negation, meist Vorspiel der folgenden totalen Negation (Vernichtung). Sie sind zugleich untragisch, weil sie die Peripetie zu umgehen trachten. 1st der Vater das Subjekt und der Sohn das Objekt der Aggression, so ist die allgemeine Form der Negierung: >>A1 schenkt auf Widerrufcc. A2 steht so sehr in der Macht von AI, dal3 selbst seine Existenz als Leihgabe aufzufassen ist, die zuriickgenommen werden kann und wird. Das >)Schenkencc ist das positive Aquivalent und die Vorausset- zung der Negation; diese folgt dem Schenken (in Form von Mord, Verbannung).

4.121 Die Verteidigung des angegriffenen Sohnes kennt verschiedene For- men der Aggression, die alle dadurch gekennzeichnet sind, daB sie zwar einen Anspruch erheben, aber nie bis zur Revolte vordringen; sie bezwecken nicht die Negation des anderen, sondern suchen ledig- lich die eigene Negation zu verhindern. Sie sind wesentlich sprach- licher Art: Klage, Selbstmorddrohung, Drohung des Todes von A1 (aber nicht als Attentat von A*, sondern etwa als Strafe der Gotter). Die revoltierende Aggression des (>>dogmatischencc) Sohnes gegen den Vater ist eine Verselbstandigung der vaterlichen >>Leihgabecc (s. 0. 4.12), eine Loslosung von der Bindung an die Vergangenheit, eine Emanzipation, durch Negation der autoritaren Figur (Mord). Die Revolte ist hervorgerufen durch die Bindung selbst, die aber gleich- zeitig als Legalitat empfunden wird. Der Racine’sche Held ist ein schwankender Held: Die Bindung will er losen, aber fur die Legalitat findet er (auBer Pyrrhus) keinen Ersatz. Seine Revolte gegen die sichtbare Bindung (Vater) wird daher von der unsichtbaren Macht der Legalitat erstickt: der tragische Held scheitert.

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Die Peripetie, die Aggression werden bei Barthes nur als Kraftespiel zwischen den Komplementarbereichen der Autoritatsfunktion (a) cha- rakterisiert. Ob und wie jede der ubrigen Funktionen (b, c) bei dem Konflikt modifiziert wird, erfahren wir nicht. Barthes informiert uns nur uber das, was geradezu zur Definition dieser Funktionen gehort (s.o. 3.2 bis 3.4), namlich daB sie den Konflikt auslosen. Allein zur Schuldfunktion gibt Barthes nahere Angaben: Die Negation des autoritaren Verhaltnisses in der Revolte (+a --f -a) bedingt auch eine Negation der Schuldrelation (- d --f +d). In der Ausgangssituation ist der machtige Vater schuldig, der ohnmachtige Sohn unschuldig. Damit die Machtausubung gerechtfertigt ist, mu13 der Sohn sich schuldig machen: >>La culpabilit6 de la crCature de- charge la divinitkcc (S. 54). Zur Beseitigung des Konflikts bieten sich zwei grundsatzliche Mog- lichkeiten an, die beide, meist vergeblich, die Vermeidung der Kata- strophe erstreben, und m a r entweder durch Anerkennung der beste- henden komplementaren Verteilung der Figuren, oder durch Flucht aus der Antithetik der Tragodie. Die erste Moglichkeit ist die konformistische Losung: der Sohn akzep- tiert seine eigene Ohnmacht. Der Konformismus kann auf zwei Wegen zu einer Losung fuhren: Der Vater kann verdoppelt werden in eine rachsuchtige und eine schutzende Macht (in: Vater/Konig) und so das Opfer vor der Rache schutzen. Zweitens kann A2 als unschuldiger, konformistischer Sohn ein Doppel erhalten, das dann an seiner Statt als Suhneopfer fungiert. Bei diesen beiden Varianten der konformistischen Losung lauft alles weiter wie gewohnt. Die zweite Moglichkeit ist das Ausweichen auf ein neutrales Feld dritter Ordnung (d.h. # Ai, Az). Dieser neutrale Bereich ist die Zeit (Warten; Hoffen auf die Zukunft) oder die Umwelt (gutes oder schlechtes RenommCe). Diese Art des Ausweichens modifiziert wohl die Peripetie, negiert aber nicht die grundlegende Antithetik. Demgegenuber liegen die vermittelnden Ratschlage des >>Vertrauten<< (namlich: Flucht, Aufschub, Leben) ganzlich auBerhalb der Logik der Tragodie und werden daher nie befolgt. Gerade diese Inadaquat-

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6.4

6.41

heit des Vertrauten dient dam, den Alternativcharakter des tragischen Konflikts zu unterstreichen. Es ist dienlich, in einem Ruckblick noch einmal den Systemcharakter der Racine-Analyse Barthes’ zu betonen. Er beruht: 1) auf der binaren Struktur der Figuren 2) auf dem geregelten funktionalen Zusammenwirken der Figuren 3) auf der Koordinierung der Funktionen zu einer binar organisierten Gesamtheit. Jede Figur ist komplementar zu genau einer andern in mindestens einer funktionalen Hinsicht. Die Regel des Zusammenwirkens der Figuren ist die Negation, dh. die Tendenz, den komplementaren Charakter der figiirlichen Distri- bution zu permutieren. Auch die Funktionen sind immer so koordiniert, daB mindestens zwei Funktionen sich in zwei ubergeordnete Funktionsfelder einordnen lassen, die zueinander komplementar sind. Die Gesamtheit dieser beiden komplementaren Funktionsfelder nenne ich >>Abhangigkeits- verhaltniw (>>RK). Dabei fullt die Autoritatsfunktion immer das eine der beiden Felder allein aus, und die iibrigen 1 bis 3 Funktionen miissen diese eine Funktion aufwiegen. Wenn man die Barthes’sche Strukturanalyse konsequent weiterent- wickelt, so kann man das Racine’sche System aus einem einzigen An- fangssymbol, namlich dem >)Abhangigkeitsverhaltnis< R, mit Hilfe des Begriffs der Binaritat (+/-) allgemein herleiten; dabei ist es wichtig, die komplementaren Relationen als miteinander gekoppelte (- n -) Entitaten einzufuhren (1). Der abstrakte Grundterminus R ist formal definiert als die Gesamtmenge aller moglichen Relationen zwischen je zwei komplementaren Relationstragern (Figuren); inhalt- lich wird R dann durch die beiden Expansionsregeln (2) und (3) gefiillt: 1) R + ‘R n -R (= Konjunktion der Binaritat) 2) ‘R -+ +a (= Autoritatsrelation) 3) -R -+ -b, (x) , (-d) (= Liebesrelation, Verpflichtung, Schuld) Die Figuren brauchen in diesen Formalismus nicht ausdriicklich ein- gefiihrt zu werden: sie sind formal (d.h. als XI - XZ) als Kontext in >>Rc miteinbegriffen; inhaltlich (als A, B, C, D) sind sie durch die Relationen (a, b, c, d) hinreichend definiert.

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Die Peripetie hat ihren AnlaB in der binaren, d.h. kontradiktorischen Struktur von R: Die Konjunktion selbst von Plus und Minus drangt zu ihrer Aufhebung. Diese Aufhebung ist formal beschreibbar als Transformation in den Komplementarbereich einer der vorausge- henden Relationen. Die Korrektion des Vorzeichens van b oder c gelingt nie; die ubliche Form ist die Transformation +a * -a, die von der Konversion des Schuldverhaltnisses (-d * +d) noch unterstutzt werden kann (cf. 4.3). Die Peripetie 1al3t sich dann formal allgemein so beschreiben: +a n -b (-c) (-d) 3 -a n (‘d) In Critique et vCrit6cc (Pans 1966, S. 64 ff) berichtet Barthes, was die Aufgabe der Literaturkritik (im Gegensatz zur Literaturwissenschaft) ist: Das literarische Werk ist eine Menge von Symbolen, die fur Funk- tionen stehen (s.o. 1); die Funktionen sind in der Formulierung des Dichters nicht eindeutig reprasentiert, sondern konnen durch ,Trans- formationencc verdeckt sein. Die Aufgabe des Kritikers besteht nun darin, diese Transformationen als solche zu erkennen, die formalen Funktionen zu ennitteln und diese )>Form<< mit einer (!) Bedeutung zu fullen. Die Bedeutung ist weder die einzig mogliche, noch ist d e willkurlich. Die Bedeutung ist nicht arbitrar, weil sie einem dreifachen Form- zwang unterliegt: - Die formale Systematik mul3 den gesamten Text erschopfend er- fassen. - Die Variationen sind formal von der Rhetorik und inhaltlich von der Psychoanalyse her bestimmbar. - Inhaltliche Deutung und formales System mussen )>homologischcc koharent sein. Das Postulat der erschopfenden Erfassung aller Einheiten des Textes ist nicht nur als Kontrolle der deskriptiven Angemessenheit des Systems relevant, sondern hat auch erklarende Funktion: Jedes ein- zelne Element wird durch seine Einordnung in ein Beziehungssystem als Trager einer Relation (als >>Symbolcc) gedeutet. (Z.B. werden die Empfindungen, die Charaktere zweier Personen aus der Relation zwischen den entsprechenden Figuren erklart, die ihrerseits vom System her bedingt sind. Cf. )Sur Racinecc, S . 36 u. 51). Aus demselben Grunde ist auch die >>Transformation<< fur die Er-

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klarung des Symbolcharakters des Textes wichtig. Unter Transforma- tionen diirfen wir sicher mehr verstehen als die Tropen der Rhetorik; dazu gehoren alle Varianten (wubstitutscc) der Einheiten des Systems (2.B. ist das >)Exil des Konigscc eine Variante der ))Kammercc - )Sur Racinecc S . 16) und die Verdoppelung (s.o. 5.12 und 5.13). Fur die deskriptive Adaquatheit des Systems ist die Transformation ein wert- volles Korrektiv, da sie die von der Theorie scheinbar abweichende Empirie nun doch noch vom System her beschreibt. Die Literatur hat kommunikative Funktion. Das Werk kann diese Funktion aber erst durch die Vereinigung mit der Kritik erfiillen, weil das Werk ein System von Leerstellen ist, die eine inhaltliche Fullung erfordern. Die Identifizierbarkeit des Inhalts mit dem for- malen System, der ))Redeweisecc des Kritikers mit dem ))leeren<( Subjekt des Schriftstellers, ist das Kriterium fur die ))homologischecc Koharenz der inhaltlichen Deutung. (Die inhaltliche Deutung z.B. des Racine’schen Systems ist die psychoanalytische Auslegung der Funk- tionen a, b, c, d.) Inhalt und Struktur sind zwei verschiedene GroBen: die Form scheint m a r gewisse Inhalte auszuschlieBen (wegen des Koharenzkriteriums 7.13), aber nicht einen einzigen bestimrnten Inhalt zu implizieren. Der Inhalt ist daher variabel, die Form allein ist dem Werk inharent. Der wissenschaftstheoretische Wert einer Theorie hangt von einer Vielzahl von Kriterien ab: Von einer Theorie erwarte ich, daB sie (in sich) exakt (l), allgemein (2), (empirisch) richtig (3) und verifizierbar oder falsifizierbar ist (4) ist. Exakt ist eine Theorie, die widerspruchsfrei und koharent ist. Beides 1aBt sich an einer formalisierten Theorie mit Hilfe des formalen Systems selbst nachweisen. Die Tatsache, daB die Racine-Interpreta- tion von Roland Barthes einer Formalisierung standhalt, spricht daher fur ihren wissenschaftlichen Wert als System. - DaB die inhaltliche Deutung des formalen Systems variabel ist, andert nichts am Wert des Systems. Man sollte daraus nur (erneut) die Konsequenz ziehen, daB eine exakte Wissenschaft von der Literatur auf der Ebene der Inhalte wahrscheinlich nicht moglich ist. Barthes selbst spricht daher die in- haltliche Deutung der Kritik, nicht der Wissenschaft, zu. Eine Theorie beschreibt und erklart eine definierte Gesamtheit; die Theorie ist umso allgemeiner, je umfangreicher die durch die Defini-

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tion betroffene Empirie ist. Die Barthes’sche Analyse beansprucht einen relativ hohen Grad von Allgemeingultigkeit, da sie ja allen Dramen Racines gerecht zu werden verspricht. Eine noch allgemei- nere Theorie wiirde versuchen, ein literarisches Genre oder die gesamte literarische Produktion beschreibend zu erfassen. Ob eine derartige Verallgemeinerung des Barthes’schen Entwurfes moglich ist, ist fraglich, aber durchaus nicht auszuschlieBen: die gelegentlichen Verweise auf Corneille legen die Vermutung nahe, dalj z.B. auch des- sen Dramen einem vergleichbaren System gehorchen. Es konnte sein, da13 die von mir in 6.4 pastulierte abstrakte Regel 1) der Ausgangs- punkt fur viele Dramensysteme ist. Das jst jedoch eine empirische Frage. Eine Theorie ist richtig, wenn sie die Empirie adaquat darstellt. Man unterscheidet die deskriptive Adaquatheit von der erklarenden. Eine Paraphrase ist z.B. deskriptiv adaquat, sie erklart jedoch nichts, da sie nur ein anderer Name fur den durch den paraphrasierten Ausdruck bezeichneten Gegenstand ist. Uber die deskriptive (In-) Adaquatheit der Theorie von Roland Barthes ist vie1 geschrieben worden. Ich venveise hier nur auf das Pamphlet von R. Picard (,Nouvelle Critique ou Nouvelle Imposture<<, Paris 1965), das Barthes einige ernstmnehmende Fehler nachweist. Der erklarende Wert einer Theorie besteht darin, daS sie jedes Ele- ment der betreffenden Empirie als Teil eines Beziehungssystems be- schreibt und so in einen allgemeineren Rahmen einordnet. DaJ3 die Theorie von R. Barthes diese Art von Erkllrung in nicht-trivialer Weise bietet, habe ich schon in 7 (bes. 7.11 und 7.12) angedeutet. Dariiberhinaus konnte man das System moglichenveise fur Racines Wahl der Thematiken verantwortlich machen - wenn man die Struk- tur des Werkes mit der mentalen Struktur des Autors identifizieren darf (so wie man Strukturen der Sprache mit Denkstrukturen des Sprechers identifiziert). Die Verifizierbarkeit ist von entscheidender Bedeutung fur die Beur- teilung einer Theorie. Es ist nicht hinreichend, dal3 eine Theorie wi- derspruchsfrei, koharent und allgemein ist und da13 sie mit jedem Element der Empirie in Beziehung steht. Diesen Bedingungen ge- nugen auch die meisten Mythen. Man mu13 von einer exakten Theorie uberdies fordern, dalj ihre Verbindung zur Empirie iiberprufbar ist.

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Wenn es sich um eine induktive Theorie handelt, mulj sie formale Kriterien bieten, mit deren Hilfe man von den nicht-relevanten Cha- rakteristiken des empirischen Gegenstandes abstrahieren und die rele- vanten zusammenordnen oder sich gegenseitig unterordnen kann. Ein deduktives System dagegen muO formale Regeln beinhalten, die die Herleitung jedes empirischen Gegenstandes aus der Theorie gestatten. Barthes bietet derartige Regeln nicht; er verlal3t sich auf die Intuition seiner psychoanalytischen Kompetenz. Zur Heuristik erfahren wir nur, dal3 jedes Element des Werkes Symbol ist, d.h. als Signifikant fur ein Signifikat steht, daO jedes Signifikat eine Relation ist, und dalj sich die Relationen zu einem dynamischen System gruppieren (s.o. 7). Wir erfahren jedoch nicht, aufgrund welcher formalen Eigenschaften ein bestimmter Signifikant eine bestimmte Relation beinhaltet. Umge- kehrt gibt Barthes auch keinerlei Derivationsregeln, die das Werk aus dem zugrundeliegenden System herleiten; er nennt nur einige Ty- pen der ,,Transformationcc. - Barthes begnugt sich also damit, ein System zu konstruieren, das mit der Empine korrespondiert, versaumt es aber weitgehend, Briicken zwischen den beiden Bereichen zu schlagen. Das ist der Grund, warum seine Theorie das Pradikat >)wahrcc nicht vertragt - und iibrigens auch nicht beansprucht (~Cri - tique et vCritC, S. 72) - sondern hochstens das Pradikat >>richtigcc.