pistaco herr des fettes (iberoamericana)

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Iberoamericana 40/41, Hamburg (1990), S. 96-125. Rainer Huhle Pistaco - Der Herr des Fettes Funktion und Wandel des Bildes vom fremden Herrn bei den „indios“ in den Zentralanden Der „pistaco“ ist eine im Gebiet des ehemaligen Inkareichs weit verbreitete Schreckensgestalt, deren Ziel es ist, der einheimischen Bevölkerung das Fett auszusaugen. Über die reale Existenz der „pistacos“ bestehen unterschiedliche Ansichten. Die Auseinandersetzung mit dem „pistaco“ wird von den Bewohnern der Anden allerdings auf eine Weise geführt, die einen als außenstehenden Beobachter jedenfalls schnell überzeugt, dass an seiner Existenz nicht zu zweifeln sei. Die persönliche Erfahrung als gejagter „pistaco“ und die im folgenden vorgetragenen ethnohistorischen Forschungsergebnisse haben mir jedenfalls klar gemacht, dass die Frage nach der wirklichen Existenz des „pistaco“ falsch gestellt ist. Denn was ist schon wirklich? In dieser Arbeit wird die Existenz des „pistaco“ daher vorausgesetzt, um einige wesentliche Schichten seiner Wirklichkeit herausarbeiten zu können. Angesichts der weiten Verbreitung des „pistaco“ ist es erstaunlich, wie wenig Aufmerksamkeit ihm die Historiker, Ethnologen, Linguisten und sonstigen Wissenschaftler bisher gewidmet haben. Immerhin ist er inzwischen in einige Wörterbücher eingegangen, z.B. SOPENA (1983: 503). Die dort angegebene Etymologie von lat. „pistare“ ist allerdings ebenso ins Jäger-lat. zu verweisen wie die selbst im quechua-sprachigen Ayacucho zu hörende, wonach sich „pistaco“ von „pistola“ herleite. Der „pistaco“ ist schlicht der „pishtaq“ (Schlächter) des Quechua von Ancash, der durch ein „-o“ hispanisiert worden ist. Da dieses Wort im Quechua des Südens nicht gebraucht wird, sondern statt dessen das Synonym „nakaq“, ist die etymologische Unkenntnis in Ayacucho verständlich. Im Bereich des Aymara, der zweiten großen überlebenden altperuanischen Sprachgruppe, existieren weitere Synonyme: „llik'ichiri“ und „kharisiri“. Regional begrenzt gibt es noch verschiedene, z.T. rein orthographische Varianten, doch bezeichnen sie alle das Gleiche: einen schaurigen Fremden, der den einheimischen Menschen nach ihrem Körperfett trachtet. Hier wird er im Folgenden, soweit nicht regionale Varianten anzusprechen sind, „pistaco“ genannt. 1. Zur Phänomenologie des „pistaco“ Frühe Quellen geben über das Äußere des „pistaco“ noch keine Auskunft. Aus den Mitteilungen, die Volkskundler in diesem Jahrhundert gesammelt haben, ergibt sich dennoch ein relativ klares Bild davon, wie der „pistaco“, dessen Geschichte bis in die Anfänge der Kolonialzeit zurückverfolgt werden kann, ausgesehen haben muss. 1 Seine Kleidung bestand gewöhnlich aus einem groben, einteiligen, meist braunen Gewand. In der Hüfte ist es mit einer Schnur abgebunden. Der Kopf ist meist mit einer Kapuze bedeckt, bisweilen wird auch ein großer Hut erwähnt. Oft wird auch direkt von einer Mönchskutte als Gewand des „pistaco“ gesprochen. Das Gesicht des „pistaco“ ist vor allem schrecklich. Es anzusehen ist gefährlich, daher gehen die Beschreibungen selten ins Detail. Wenn überhaupt, wird es als bleich oder weiß beschrieben, mit 1 Die folgenden Beschreibungen des Aussehens und der Vorgehensweise der traditionellen „pistacos“ sind im wesentlichen den von Morote (1952), Ansión (1984 und 1987) und Manya (1969) gesammelten Aussagen entnommen, die durch eigene Befragungen 1987 in Ayacucho ergänzt wurden. Auf eigenen Erhebungen und Interviews von Vergara/Ferrüa (1987) beruhen die Angaben über die modernisierten Versionen des „pistaco“ in Ayacucho.

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Page 1: Pistaco Herr Des Fettes (Iberoamericana)

Iberoamericana 40/41, Hamburg (1990), S. 96-125.

Rainer Huhle

Pistaco - Der Herr des Fettes Funktion und Wandel des Bildes vom fremden Herrn bei den „indios“ in den Zentralanden Der „pistaco“ ist eine im Gebiet des ehemaligen Inkareichs weit verbreitete Schreckensgestalt, deren Ziel es ist, der einheimischen Bevölkerung das Fett auszusaugen. Über die reale Existenz der „pistacos“ bestehen unterschiedliche Ansichten. Die Auseinandersetzung mit dem „pistaco“ wird von den Bewohnern der Anden allerdings auf eine Weise geführt, die einen als außenstehenden Beobachter jedenfalls schnell überzeugt, dass an seiner Existenz nicht zu zweifeln sei. Die persönliche Erfahrung als gejagter „pistaco“ und die im folgenden vorgetragenen ethnohistorischen Forschungsergebnisse haben mir jedenfalls klar gemacht, dass die Frage nach der wirklichen Existenz des „pistaco“ falsch gestellt ist. Denn was ist schon wirklich? In dieser Arbeit wird die Existenz des „pistaco“ daher vorausgesetzt, um einige wesentliche Schichten seiner Wirklichkeit herausarbeiten zu können. Angesichts der weiten Verbreitung des „pistaco“ ist es erstaunlich, wie wenig Aufmerksamkeit ihm die Historiker, Ethnologen, Linguisten und sonstigen Wissenschaftler bisher gewidmet haben. Immerhin ist er inzwischen in einige Wörterbücher eingegangen, z.B. SOPENA (1983: 503). Die dort angegebene Etymologie von lat. „pistare“ ist allerdings ebenso ins Jäger-lat. zu verweisen wie die selbst im quechua-sprachigen Ayacucho zu hörende, wonach sich „pistaco“ von „pistola“ herleite. Der „pistaco“ ist schlicht der „pishtaq“ (Schlächter) des Quechua von Ancash, der durch ein „-o“ hispanisiert worden ist. Da dieses Wort im Quechua des Südens nicht gebraucht wird, sondern statt dessen das Synonym „nakaq“, ist die etymologische Unkenntnis in Ayacucho verständlich. Im Bereich des Aymara, der zweiten großen überlebenden altperuanischen Sprachgruppe, existieren weitere Synonyme: „llik'ichiri“ und „kharisiri“. Regional begrenzt gibt es noch verschiedene, z.T. rein orthographische Varianten, doch bezeichnen sie alle das Gleiche: einen schaurigen Fremden, der den einheimischen Menschen nach ihrem Körperfett trachtet. Hier wird er im Folgenden, soweit nicht regionale Varianten anzusprechen sind, „pistaco“ genannt.

1. Zur Phänomenologie des „pistaco“

Frühe Quellen geben über das Äußere des „pistaco“ noch keine Auskunft. Aus den Mitteilungen, die Volkskundler in diesem Jahrhundert gesammelt haben, ergibt sich dennoch ein relativ klares Bild davon, wie der „pistaco“, dessen Geschichte bis in die Anfänge der Kolonialzeit zurückverfolgt werden kann, ausgesehen haben muss.1 Seine Kleidung bestand gewöhnlich aus einem groben, einteiligen, meist braunen Gewand. In der Hüfte ist es mit einer Schnur abgebunden. Der Kopf ist meist mit einer Kapuze bedeckt, bisweilen wird auch ein großer Hut erwähnt. Oft wird auch direkt von einer Mönchskutte als Gewand des „pistaco“ gesprochen. Das Gesicht des „pistaco“ ist vor allem schrecklich. Es anzusehen ist gefährlich, daher gehen die Beschreibungen selten ins Detail. Wenn überhaupt, wird es als bleich oder weiß beschrieben, mit

1 Die folgenden Beschreibungen des Aussehens und der Vorgehensweise der traditionellen „pistacos“ sind im wesentlichen den von Morote (1952), Ansión (1984 und 1987) und Manya (1969) gesammelten Aussagen entnommen, die durch eigene Befragungen 1987 in Ayacucho ergänzt wurden. Auf eigenen Erhebungen und Interviews von Vergara/Ferrüa (1987) beruhen die Angaben über die modernisierten Versionen des „pistaco“ in Ayacucho.

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einem riesigen Bart. Die Augen sind blutig, die Haut zerfurcht. Da die „indios“ bartlos und dunkel sind, handelt es sich offensichtlich um die Beschreibung eines Weißen. In der Tat stehen viele der z.B. von Morote (1952) gesammelten Beschreibungen nicht an, den „pistaco“ direkt als „misti“ oder Mestizen (von quechua „misti“ = weiß) zu bezeichnen. In jüngerer Zeit wird dieser Begriff häufig durch den des „gringo“ ersetzt. Nur in Ausnahmefällen wird der „pistaco“ als Einheimischer beschrieben. In der Regel geht der „pistaco“ zu Fuß, wobei er oft mit einer Glocke läutet. Es gibt aber auch „pistacos“ zu Pferde, die dann statt der Kutte einen „poncho“ (den typischen ärmellosen Umhang der Andenbewohner) und einen Hut tragen. Das klassische Werkzeug des „pistaco“ ist, seinem Namen entsprechend, ein langes scharfes Messer. In älteren Zeugnissen aus Ayacucho und Cusco wird auch eine Nadel erwähnt, „wie sie die Viehtreiber benutzen“. In Cusco kommt dazu häufig ein geheimnisvolles weißes Pulver als weiteres Werkzeug des „pistaco“. Diese traditionellen Beschreibungen des „pistaco“ waren durchaus auch 1987 noch in Ayacucho zu erhalten, als dort große Erregung unter der Bevölkerung wegen einiger aktueller Untaten von „pistacos“ herrschte. Allerdings gab es daneben auch modernere Versionen, in denen der „pistaco“ in westlicher Kleidung, vorwiegend militärischen Zuschnitts, wie Stiefeln und Uniformjacken auftrat. Aus dem herkömmlichen Metzgermesser wurde ein „automatisches Gewehr“, dessen Klinge auf Knopfdruck herausspringt und selbst noch auf größere Entfernung das Opfer erreicht (Schnappmesser, selbst einfache Taschenmesser, sind in den ländlichen Bergregionen Perus noch wenig verbreitet). Eine Frau beschrieb eine Art Haarspange, die sich zu einem riesigen Fangeisen vergrößern lässt. Auffällig ist, dass zwar gelegentlich auch Pistolen, in einem Fall sogar eine Maschinenpistole erwähnt werden, dass insgesamt aber die Modernisierung bei der Bewaffnung weniger durchschlägt als bei der Kleidung. Das Messer bleibt die wichtigste Waffe des „pistaco“ auch im militärisch besetzten Ayacucho von heute, wo man auf Schritt und Tritt auf modern ausgerüstete Soldaten trifft. Typisch ist der Bericht eines Töpfers aus Quinua, einer Kleinstadt nahe Ayacucho, der mir im Oktober 1987 von einem mit einem Messer und Pistole bewaffneten „pistaco“ berichtete, den er die Nacht zuvor gesehen habe: „Aber er tötet nur mit dem Messer.“ Eine Kinderzeichnung aus dem gleichen Monat zeigt dagegen den „pistaco“ mit Pistole in der Linken, MP in der Rechten und einem riesigen Cowboyhut auf dem Kopf. Hier ist kaum noch etwas von der schrecklichen Tradition des „pistaco“ erkennbar, es dominieren Einflüsse des täglichen Bilds auf der Straße bzw. aus den auch in Ayacucho längst allgegenwärtigen US-amerikanischen Fernsehserien. Nicht nur sein Äußeres, auch die Lebensgewohnheiten des „pistaco“ werden recht einheitlich beschrieben. Früher hauste er in der Regel an unzugänglichen, abgelegenen Orten, etwa zwischen schroffen Felsen oder in Höhlen. Seine Opfer suchte er meist in der Nähe seiner Behausung. So nimmt es nicht Wunder, dass die meisten Beschreibungen des „pistaco“ von Menschen stammen, die berufsmäßig solche Gebiete durchstreifen mussten, wie z.B. die Viehtreiber. Doch auch viele Bauern haben weite Wege zu ihren Äckern zurückzulegen und laufen somit Gefahr, dem „pistaco“ zu begegnen. In jeder Region gibt es Orte, die für das häufige Auftreten des „pistaco“ berüchtigt sind und daher möglichst gemieden werden. Nicht nur bestimmte Orte, auch gewisse Zeiten sind besonders gefährlich, wie eine Bäuerin aus der Provinz Huanta (Ayacucho), in Übereinstimmung mit Aussagen aus anderen Regionen, erläutert:

Der pistaco taucht immer zur Erntezeit auf, etwa ab April ... Am gefährlichsten ist der August, da werden selbst die zahmen Tiere wild, ... da plagen uns die Krankheiten und die Stürme, ... vielleicht ist deshalb im August der pistaco am wildesten. (Vergara/Ferrúa 1987:10)

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August ist der kälteste und trockenste Monat in den Anden. Neben dieser besonderen Stellung des Monats im bäuerlichen Jahreszyklus mag auch noch eine Rolle spielen, dass die Bartholomäusnacht auf den 24. August fällt. Nach einigen von Morote (1952) angeführten Zeugnissen gilt sie als besonderer Festtag für den „pistaco“. Im Gegensatz zu anderen finsteren Gesellen scheut der „pistaco“ das Tageslicht nicht. Er scheint sogar vorzugsweise tags zu arbeiten. Allerdings liebt er die Einsamkeit, vor größeren Menschengruppen ergreift er die Flucht. Ausnahmen wie Don Sitticha aus Cusco, der in der Stadt selbst wohnte, sind selten. Nach Manya (1969: 138) gehörte er dort sogar einem „Club de los Pistacos del Cuzco“ an. Offenbar ist die Stellung solcher „pistacos“ so unangreifbar, dass sie sich nicht vor der Bevölkerung verstecken müssen. Ihrer Arbeit müssen jedoch auch sie im Verborgenen nachgehen, also im Dunkeln oder im Schutz ihres Hauses, wohin sie die Opfer zu locken suchen. Damit sind schon die wichtigsten Schutzvorkehrungen angesprochen, die gegen den „pistaco“ zur Verfügung stehen. Man sollte, die Begegnung mit ihm möglichst vermeiden, indem man ihm nicht allein gegenüber tritt, sondern geschützt durch Anwesenheit von Familie, Nachbarn oder möglichst der ganzen Dorfgemeinschaft. Da die Umstände dies nicht immer ermöglichen, fehlt es nicht an probaten Mitteln für den Notfall. Pferde und Hunde sollten beobachtet werden, weil sie den scharfen Geruch des „pistaco“ „wie der Urin des zorrino“ (Stinktiers) frühzeitig wahrnehmen. (Oblitas 1963:112f) Kommt es dennoch zu der gefürchteten Begegnung, darf man dem „pistaco“ auf keinen Fall in die Augen sehen (daher die wenig präzisen Beschreibungen seiner Gesichtszüge), da sein Blick hypnotische Kräfte besitzt. Bisweilen hilft es, ihn laut bei seinem Namen zu rufen (Ochoa 1984:4), eine Praxis, die so manchen Weißen in den Anden entnervt hat. Manya (1969: 137) berichtet von Don Antolin aus Chinchero (Cusco), der dem „pistaco“ entrann, indem er kräftig Coca kaute und dazu „Kehr um, kehr um!“ rief. Auch das Mitführen von Salz, Brot, Eselsexkrementen, Knoblauch (!) oder einem Fläschchen Menschenfett selbst soll guten Erfolg bringen. Häufig genug jedoch ist es der „pistaco“, der siegreich aus der Begegnung hervorgeht. Wie geht er nun vor, um an sein immer gleiches Ziel, die Extraktion des Schmalzes aus dem Körper seines Opfers, zu gelangen? Offenbar sind hier zwei hauptsächliche Vorgehensweisen zu unterscheiden. Alle von Morote (1952) in Cusco und Apurimac gesammelten Berichte erwähnen eine Betäubung des Opfers, dem dann in diesem Zustand der Ohnmacht das Fett extrahiert wird. Nach dem Aufwachen verspürt es keinen Schmerz, hat lediglich eine Erinnerung „wie im Traum“ an den Vorfall und behält keine Wunde oder sichtbare Stelle zurück.2 In der Regel stirbt das Opfer Tage oder Wochen nach der Attacke des „pistaco“ an Schwäche. Ähnliches wird von den „kharisiris“ oder „llik'ichiris“ bei den Aymara berichtet. Selbst wenn es durch die Anwendung gewisser Gegenmaßnahmen, wie z.B. das Verzehren eines schwarzen Schafes, überlebt, kann das Opfer bestenfalls auf teilweise Gesundung hoffen. Es bleibt schwach und kränklich, vor allem auch psychisch verletzt. Überlebende werden als menschenscheu, depressiv, mürrisch und „nicht mehr normal“ beschrieben (Morote 1952; Ochoa 1974). Die Betäubung erfolgt in den von Morote gesammelten Fällen durchweg durch das erwähnte weiße Pulver, das der „pistaco“ dem Opfer ins Gesicht bläst. Über seine Zusammensetzung

2 Eine Ausnahme stellt eine von Esteva Fabregal (1970:52) aus Chinchero (Cuzco) berichtete Version dar, wonach an der betreffenden Stelle des Körpers eine „marca“ zurückbleiben soll. Allerdings hinterlässt dieser Bericht einige Zweifel. Die Priester von Santo Domingo in Cuzco, die auch bei Morote als „pistacos“ par excellence auftauchen, sollen hier nicht das Fett, sondern die Leber herausholen, eine völlig isoliert dastehende Variante. Auch die offensichtlich falsch aufgezeichnete Bezeichnung „Nájkar“ (statt „nakaq“) deutet auf nicht sehr sorgfältige Erhebung hin.

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können die Informanten keine Angaben machen. Bei den Aymara hingegen arbeitet der „pistaco“ direkt durch seinen hypnotischen Blick, ohne jedes Hilfsmittel. „Die 'llik'ichiris' locken ihre Opfer durch den klagenden Ton ihres Glöckchens an und sind erfahrene Hypnotiseure. Sie bewirken einen tiefen Schlaf (Costas Arguedas 1967:65f). Der Effekt ist in beiden Fällen der gleiche. Das Opfer wird gefügig, anfängliche Furcht verschwindet hinter einer angenehmen Müdigkeit. Freiwillig kniet oder legt es sich dann hin und überlässt seinen Körper der Arbeit des „pistaco“. Ehe diese beginnt, ist es in allen Fällen in tiefen Schlaf bzw. Ohnmacht gefallen. Wie geschieht nun die Extraktion des Schmalzes? Sofern am lebenden Körper gearbeitet wird, ist dazu das große Messer offensichtlich weniger geeignet. Immerhin sollen die „pistacos“ bei den Callawayas im heutigen Bolivien3 den Bauchnabel aufgeschnitten und so das Fett herausgeholt haben. In den meisten Fällen jedoch werden geeignetere Werkzeuge verwendet, in erster Linie die erwähnte Nadel („yawri“ oder „yauri“) der Viehtreiber, die diese zu zahlreichen Zwecken, u.a. zum Kurieren lahmender Kühe, mit sich führen. Vom „kharisiri“ wird auch berichtet, dass er eine „Spezialmaschine“ benutze, die keinerlei Spuren zurücklässt. In der Regel scheint der „pistaco“ das Fett aus der Leistengegend, den Nieren, dem Bauch und, besonders häufig, dem After zu holen. Viele Informanten können aber auch keine Angaben über die Stelle machen. Schließlich sind sie ja eingeschläfert worden. In Ayacucho, und erst recht in den Versionen, die Jose María Arguedas (1953: 218ff.) aus Jauja (Junin) gesammelt hat, wird der „pistaco“ seinem Namen als „Schlachter“ weit wörtlicher gerecht. Das Opfer wird zunächst enthauptet bzw. geschlachtet (dies etwa ist die Bedeutungsbreite von „degollar“, dem Verb, das gewöhnlich zur Beschreibung verwendet wird), anschließend nach Metzgerart fachmännisch zerlegt. „Nachdem er ihn zerlegt hatte, hängte er ihn wie einen der Länge nach aufgeschnittenen Hammel an einigen Ketten auf. Man sagt, dass dann das Fett heruntertropfte und sie es in großen Gefäßen auffingen ...“, berichtet einer der Informanten Ansións (1984: Protokoll 3) aus Ayacucho. Wenn der menschliche Körper in dieser Weise als Schlachtfleisch behandelt wird, scheint der Schritt zur Anthropophagie nicht mehr groß. Umso auffälliger ist, dass kaum je der „pistaco“ mit solchen Praktiken in Verbindung gebracht wird, mit Ausnahme der von Arguedas in Jauja gesammelten Berichte.4 Obwohl also auch in Ayacucho das Opfer nicht gegessen wird, bleiben gewöhnlich keine Spuren von ihm. Der Leichnam bleibt verschwunden. Im September 1987 teilten mir mehrere Personen in Ayacucho mit, dass an einem Ort ca. 30 Kilometer außerhalb der Stadt die Kleider einer Frau gefunden worden seien. Da zu dieser Zeit große Nervosität wegen der „pistacos“ herrschte, galt dies als Beweis für eine weitere Aktion eines „pistacos“, der den Körper der Frau mitgenommen, die Kleider aber zurückgelassen habe. Wozu, so bleibt schließlich noch zu fragen, begibt sich der „pistaco“ auf seine nie endende Jagd nach dem menschlichen Fett? Die Antworten darauf sind zahlreich, denn offenbar sind die Verwendungsmöglichkeiten des Rohstoffs Menschenfett schier grenzenlos. Doch für die Vergangenheit zumindest lassen sich klare Hauptverwendungsbereiche ausmachen. In erster Linie ist der kirchliche Bedarf zu nennen. In Ayacucho diente das menschliche Fett nahezu ausschließlich dem Glockengießen. Noch Anfang der achtziger Jahre gaben die meisten der von Ansión (1984) Befragten dies als wichtigste Verwendung an. Das Menschenfett gibt den Kirchenglocken einen besonders guten und weitreichenden Klang, aber auch längere Lebensdauer. Andere Verwendungszwecke im kirchlichen Bereich sind die Herstellung von

3 Nach Oblitas 1963:112; die Callawayas sind seit den Inkas für ihre besonderen Heil- und Hexerkünste bekannt. Für ein eingehendes Studium dieser Ethnie und ihres Heilwesens vgl. jetzt die Arbeiten von Ina Rösing (1987ff). 4 Die wenigen Ausnahmen weisen deutliche Einflüsse aus anderen Zusammenhängen auf. Eine von Costas Arguedas (1967:66) mitgeteilte bolivianische Legende, wonach „llik’ichiris“ die Reste ihrer Opfer in Höhlen aufbewahrten, um sie später zu braten und zu verspeisen, erinnert deutlich an die europäische Tradition der menschenfressenden Riesen, die in Höhlen wohnen. Wie gezeigt wurde, tötet normalerweise der „llik’ichiri“ sein Opfer nicht einmal. Unter den von Ansión (1984: Protokoll 12) aufgezeichneten berichten findet sich einer, der völlig aus dem Rahmen fällt. In einem mit genauer Adresse bezeichneten Haus in Ayacucho soll ein Mann gewohnt haben, der einen schwunghaften und kapitalistisch durchrationalisierten Handel mit Kinderfleisch für ein Feinschmeckerrestaurant in Lima betrieb. Auch hier ist fremder Einfluss unverkennbar. Offenbar handelt es sich um eine lokal adaptierte Version von Swifts „Modest Proposal“.

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Kerzen5, das Erzielen eines besonders schönen Glanzes auf den Gesichtern der Gipsheiligen in den Kirchen oder als Öl der letzten Ölung (Ochoa 1974:1). Ein weiterer wichtiger Verwendungsbereich, vielleicht der älteste, ist die Pharmazeutik. Wenn es beim Chronisten Cristóbal de Molina (1916: 97) noch vorsichtig heißt, dass mit dem Fett der indios - nach deren Ansicht - „eine gewisse Krankheit“ geheilt werden sollte, so wird der bolivianische Volkskundler Costas Arguedas (1967: 65) deutlicher: Das Indiofett sollte die Syphilis heilen. Aber auch andere Krankheiten, etwa die Krätze (sarna) werden angeführt (Quijada Jara 1958:103). In der Regel jedoch bleiben die Angaben eher allgemein. Das Fett wird „von den Apotheken gekauft“ für die Herstellung von Salben und anderen Medikamenten, aber auch Seife und Kosmetika. Schließlich ist das Fett begehrt als besonders feines Schmiermittel für jegliche Art von Maschinen. Die Informanten Morotes erwähnen „molinos“6, in der Sierra Central sind es die Bergwerke und schließlich die Eisenbahnen, die mit Menschenfett geschmiert werden müssen. Heute sind es auch Computer, Raketen und alle modernen Waffensysteme, die dieser besonderen Pflege bedürfen. Nach der Explosion der „Challenger“-Rakete im Januar 1986 soll, so wurde ich in Ayacucho informiert, die US-Regierung verstärkt in Peru Menschenfett geordert haben.7

2. Die Hintermänner des „pistaco“

Die kurze Phänomenologie des „pistaco“ hat deutlich gemacht, dass er bei der Verfolgung seines stets gleichen Ziels durchaus großer Flexibilität in der Anpassung an wechselnde Umstände und Zeitläufe fähig ist. Dabei fällt auf, dass der „pistaco“ selbst am Objekt seiner Begierde überhaupt nicht direkt interessiert scheint. Es gibt nicht einen Bericht, der ihn selbst als Nutznießer des Gebrauchswerts des erbeuteten Menschenschmalzes zeigte. Der „pistaco“ ist immer Agent für andere. Wer sind nun diese anderen, für die der „pistaco“ arbeitet?

Die Kirche

Die alte Provinzhauptstadt Chucuito am Titicacasee ist Sitz des „Instituto de Estudios Aymaras“, das als ein Zentrum der fortschrittlichen Theologie gilt, die sich vom herkömmlichen paternalistischen Selbstverständnis der Kirche abwenden und die geistige Welt der „indios“ ernstnehmen will. Im August 1974 gaben die Priester des Instituts eine kleine Handreichung für die Mitarbeiter der Diözese heraus, die sich aus aktuellem Anlass mit einem Problem beschäftigte, das die Arbeit der Pastoralmitarbeiter „vor Ort beeinträchtigt(e), nämlich dem Volksglauben an den 'kharisiri' oder 'llik'ichiri' (Ochoa 1974:1). Nach einer kurzen Übersicht über die wesentlichen Elemente dieses Volksglaubens werden den kirchlichen Mitarbeitern folgende „Vorsichtsmaßnahmen“ angeraten: Sie sollten nicht mit Büchern in der Hand herumlaufen, da diese für Lehrbücher der „kharisiri“ gehalten werden könnten; und sie sollten nachts möglichst nur in Gruppen gehen, um Verwechslungen vorzubeugen (der „kharisiri“ ist ein Einzelgänger). Bei einem Besuch im Institut 1987 berichtete mir dessen Leiter, der chilenische Priester Diego Irrarázaval, ebenfalls von immer wieder vorkommenden lästigen Begegnungen mit Bauern, die ihn als „kharisiri“ beschimpften. Diego Irrarázaval erträgt solche Anfeindung mit der Gelassenheit des aufgeklärten und sozial engagierten modernen Priesters. Er vermag darin sogar ein emanzipatorisches Element der Selbstbehauptung der Aymara zu erkennen, die mit Recht gegenüber der Kirche und allem Fremden misstrauisch seien.

5 Mitteilung eines Informanten in Chucuito (Puno), Oktober 1987 6 Gemeint sind die Zuckerrohrmühlen in den tiefen Tälern von Apurímac. 7 In einigen Zweigen der modernen Technik genügt Fett allein nicht. Drei der dreizehn Informanten Ansións (1984) geben an, dass in Brückenfundamente die Leichen von „pistaco“-Opfern eingegraben würden, um die Haltbarkeit der Brücke zu gewährleisten. Ähnliches wird auch von Bergwerken berichtet.

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Knapp dreihundert Jahre früher war das anders. Damals hatte der Orden der Bethlehemiter in Cusco Fuß gefasst. Obwohl die Mönche ein für die damalige Zeit vorbildliches Armenhospital betrieben, schallte ihnen von allen Seiten der Ruf „da kommt der 'nakaq'„ entgegen. Der Historiker des Ordens8 berichtet, dass es schließlich zweier Wunder Gottes bedurfte, um wenigstens an der Oberfläche die Ruhe wiederherzustellen. Einer der Beleidiger der ehrwürdigen Patres, ein Maurer, stürzte sofort von der Mauer, an der er gerade arbeitete. Der lästerliche Mund einer Frau, die die Mönche gar als „nakaq-Hunde“ beschimpft hatte, verrenkte sich derart, dass ihr nicht nur dieser Fluch darin stecken blieb, sondern ihm auch sonst kein Wort mehr entkam, bis sie vor dem Bild der Königin Maria in der Kirche der Bethlehemiten Abbitte tat. Man wird annehmen dürfen, dass sie ihre Zunge fürderhin hütete. Die gedankliche Assoziation der Priester mit den „pistacos“ jedoch konnte so nicht ausgerottet werden. Wie gerieten die Priester in diese schreckliche Rolle? Der Kirchenglocke scheint hier eine Schlüsselrolle zuzukommen. „Das menschliche Schmalz war unverzichtbar für einen guten Klang der Glocke, damit sie in den Seelen der Menschen widerhallte“, erinnert sich J.M. Arguedas (1953:219) an die Erzählungen aus seiner Kindheit in Apurimac. Felipe Guaman Poma de Ayala, der aus Ayacucho stammende indianische Chronist, der wie kein anderer das Leben zu Beginn der spanischen Kolonialzeit aus der Perspektive „von unten“ beschrieb, hielt in seiner „Nueva Corónica“ die Methoden fest, mit denen der gute Klang der Glocken in die Seelen der Indios eingehämmert wurde. Die Sakristane hatten die Glocken zu läuten, um die Indios zur Messe oder zur „doctrina“, zur Unterweisung zu rufen,

... danach zehn Glockenschläge, und zwar sehr langsam, eine Viertelstunde lang. Wenn dann der Priester die Kirche betritt, weitere zehn Schläge auf der kleinen Glocke.

Spätestens jetzt haben alle in der Kirche zu sein. Nach dieser letzten Ausrufung bricht eine aus einem Aufseher und zehn „indios“ bestehende Streife auf,

„und diejenigen, die sie bei ihrer Streife noch antreffen, sollen sie gefesselt in die Kirche bringen. Beim ersten Mal werden sie getadelt, beim zweiten Mal gibt man ihnen zehn Peitschenhiebe, im geheimen auf dem Friedhof. Beim dritten Mal soll man ihnen zwanzig Peitschenhiebe, diesmal öffentlich, geben. Beim vierten Mal setzt man ihnen einen Papierhut auf den Kopf mit einem Bild des Dämonen, der sie antreibt, nicht zur Kirche zu gehen. Um den Hals soll ihnen ein Seil hängen, und in der Hand halten sie eine brennende Kerze ... In der Kirchentür soll man Eier auf ihn werfen. So erweist man dem Christentum einen Dienst, und von den Glocken wissen sie, dass sie als Christen gerufen werden.“9

Die Glocke steht hier als Symbol für den großangelegten Versuch der katholischen Kirche, den „Götzendienst“ auszurotten, der auch nach Jahrzehnten der Christianisierung keineswegs verschwunden war. Die Kampagne der „extirpación de idolatrías“, an der Ende des 16. Jahrhunderts auch Guaman Poma teilnahm, war die Antwort der Kirche auf die Bewegung des „Taki Ongoy“, der „Tanzkrankheit“, die Ende des 16. Jahrhunderts große Teile des ehemaligen Inkareichs in Aufruhr versetzte. Im Kern war der Taki Ongoy ein Aufstand der alten, nicht nur vorspanischen, sondern auch vorinkaischen Gottheiten gegen den Allmachtsanspruch der Eroberer, und besonders des katholischen Glaubens.10 Die traditionellen Religionen der Andenvölker waren immer pluralistisch und damit offen für neue Elemente gewesen. Auch die katholische Religion, zumal sie mit dem Prestige der erfolgreichen Eroberer versehen war, konnte so adoptiert und in das bestehende religiöse Universum eingebaut werden. Als aber der

8 Die Geschichte des Bethlehemiter Ordens wurde 1723 von Franziskanerpater Joseph García de Concepción aufgezeichnet. Morote (1952) bringt ausführliche Zitate aus dieser Arbeit, denen auch die hier geschilderten Vorfälle entnommen wurden. Der Schlussfolgerung Morotes, dass die Bethlehemiten gewissermaßen die Ur-„pistacos“ gewesen seien, ist allerdings schon aus chronologischen Gründen zu widersprechen. 9 Guaman Poma 1980:617; Guaman Poma widmet ein langes Kapitel seiner Bilderchronik den Missetaten des Klerus, die er bissig und minutiös darstellt, ohne die christliche Religion oder die katholische Kirche grundsätzlich in Frage zu stellen. 10 Zu den Hintergründen des Taki Ongoy siehe vor allem Millones (1973) und Hernández et al. (1987)

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totalitäre Anspruch der neuen Religion zugleich mit dem der neuen politischen Herren immer deutlicher wurde, brach der Sturm des Taki Ongoy los, der die Kirche fast ein Jahrzehnt in Atem hielt und massive Repression zu seiner - unvollständig gelungenen - Ausrottung erforderlich machte. So wenig sich in der Geschichte der „conquista“ die Rollen von kirchlicher und weltlicher Macht scheiden lassen, so unauflöslich mischen sich auch im Taki Ongoy religiöse und soziale Komponenten. Dennoch ist bemerkenswert, dass diese - bis zum Aufstand von Tupac Amaru zwei Jahrhunderte später - größte Massenbewegung gegen die spanische Herrschaft vor allem im religiösen Gewand auftrat. Es scheint kein Zufall, dass die vielleicht früheste Beschreibung der „pistacos“ in Peru gerade in einem Bericht über den Taki Ongoy auftaucht:

... glauben die Indios, dass man aus Spanien (Männer) in dieses Reich geschickt habe wegen des Fetts („unto“) der indios, um eine gewisse Krankheit zu heilen, für die es kein Mittel außer besagtem Fett gebe. Deshalb sehen sich die indios vor und meiden die Spanier. Nicht einmal Brennholz, Kräuter und andere Dinge wollen sie den Spaniern in ihre Häuser bringen, aus Angst, dass man sie drinnen töten würde, um ihnen ihr Fett abzuzapfen. (Molina 1916:97)

Als 1570, fast zur gleichen Zeit, als Molinas „Ritos y fábulas“ erstmals erschienen, der Vizekönig Toledo zu seiner berühmten Visitation nach Peru kam, die durch die Schaffung der „indio“-Reduktionen auf politischer Ebene vollenden sollte, was die „extirpación de idolatrias“ auf religiöser Ebene versucht hatte, brachte er auch die Institution der Inquisition mit nach Peru, die dort bis 1821 bestand. Gegen diese Identität von Kirche und repressiver politischer Macht, die ihnen seit der stets lebendig gebliebenen Szene von Atahualpas Tod geläufig war, entwickelten die „indios“ ein Bild von der Kirche, das deren eigenes Bild vom unmoralischen Götzendienst der „indios“ in gesteigerter Form auf sie selbst zurückprojizierte. In der Kathedrale von Cusco, so berichtete eine Informantin Morote (1952: 75), also im symbolischen Zentrum der neuen Macht, das auf den Ruinen des zentralen Inkatempels errichtet worden war, feiern die „pistacos“ am 24. August, in der Bartholomäusnacht, um Mitternacht ein Hochamt, das von den Priestern der Kirche speziell für sie gehalten wird.11 Ein weiteres religiöses Zentrum der Kolonialzeit diente den „pistacos“ als Ausbildungszentrum. Die Patres von Copacabana am Titicacasee, so wissen die Aymara zu berichten, unterweisen dort die „pistacos“ nach regelrechten Lehrbüchern (Ochoa 1974) und statten sie mit speziellem Werkzeug für die Ausübung ihres Handwerks aus. Copacabana ist der wichtigste Marienwallfahrtsort Südamerikas, vergleichbar nur der Jungfrau von Guadalupe in Mexiko. Die Geschichte, die von der Entstehung des Marienbilds von Copacabana erzählt wird, beschreibt zugleich präzise das Verhältnis der alten und der neuen Religion:

Zu Zeiten des Inka war in Copacabana ein Heiligtum namens Copaca Huana. Es war ein Idol aus Holz in der Größe einer menschlichen Person und hatte zwei Gesichter sowie verschiedene Schlangen darum herum. Als die Spanier kamen, versteckten die indios die heilige Figur auf der Sonneninsel, in einer Höhle, in der sie geheime Riten feierten. Einige Jahre später schickte die indianische Gemeinde Tito Yupanqui nach Potosí, um dort das Holzschnitzerhandwerk zu erlernen, und beauftragte ihn, aus dem Holz der heiligen Figur eine Marienfigur zu schnitzen. Nach Beendigung seiner Arbeit brachte der Schnitzer sein Werk nach La Paz, um es dort bemalen zu lassen (nach anderen Versionen arbeitete er es in Potosi selbst um). Schließlich brachte er es nach Copacabana zurück.12

11 Die Bezüge zwischen der Bartholomäusnacht und den „pistaco“-Berichten sind komplex. Auf die besondere Bedeutung des August im bäuerlichen Jahr wurde bereits verwiesen. Die historische Bartholomäusnacht fand am 24.8.1572, also während der Visite von Toledo kurz nach der Niederschlagung des Taki Ongoy statt. Der heilige Bartholomäus wird gewöhnlich mit einem großen Messer abgebildet, durch das er den Märtyrertod fand. Die Vermutung liegt nahe, dass die Berichte über dieses Ereignis zu einer Zeit, da auch in Peru „Ketzer“ ihr Leben ließen, große Verbreitung fanden und von den „indios“ auf ihre Weise interpretiert wurden. 12 In dieser Form erhielt Fernando Montes Ruiz (o.J.: 280) Anfang der achtziger Jahre diese bekannte und weit verbreitete Erzählung von einer Frau aus dem Titicaca-Gebiet.

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Die Volkserzählung berichtet also genau das, was die „extirpadores“ immer vermuteten: das Fortbestehen des alten Glaubens unter der Fassade der neuen Religion. Der rasche Aufstieg der Madonna von Copacabana ist also in Wahrheit das weiterwirkende Prestige des alten Idols. Und genau an dem Ort, der die Ausrottung des alten Glaubens besiegeln soll, in der riesigen Marienkirche von Copacabana, werden „pistacos“ ausgebildet, mit solch gelehrter Gründlichkeit, dass bis heute noch das Tragen von Büchern in der Öffentlichkeit als verdächtig gilt. Noch etwas wird an dieser Erzählung deutlich: Nicht einzelne Priester von vielleicht schlechtem Charakter, sondern die Institution Kirche als solche steht unter „pistaco“-Verdacht. Zwar wird gelegentlich auch von bestimmten Priestern als „pistacos“ gesprochen, doch in der Regel ist es die anonyme Institution Kirche, die den „pistacos“ Auftrag und Schutz gibt. Dem entspricht auch, dass nicht in erster Linie in Gegenständen wie den Kerzen oder dem Öl, die noch deutlich an die stoffliche Seite des erbeuteten Fetts erinnern, die wesentliche Verwendung dieses ganz besonderen Stoffs gesehen wird, sondern als Ingredienz zum Glockengießen. Es handelt sich gewissermaßen um die höchste Form der Abstraktion von der fettigen Substanz, wenn sie in reinen Seelenklang umgewandelt wird. In der Glocke schwingt die Stimme der alten Götter weiter, wie es Jose Maria Arguedas formulierte13, wenn auch eingegossen in die erstarrte Form christlicher Symbolik. Die Glocke bezeichnet in dieser Doppeldeutigkeit das Verhältnis der andinen Bevölkerung zur Kirche überhaupt. Bis heute hat die Kirche in den Anden diese Doppelbödigkeit im Verhältnis zu den indianischen Gläubigen nicht überwinden können. Der extremste Ausdruck davon ist die Gestalt des Priester- „pistaco“. In diesem Licht ist auch der merkwürdigste Fall der Verbindung von Kirche und „pistaco“ zu sehen, der wiederum in Ayacucho, der Hochburg einer besonders traditionalistischen Kirche, zu finden ist. Am Allerheiligentag, und noch einmal zwei Tage später, wird aus der Kirche „del Arco“ in feierlicher Prozession „El niño Nakaq“, das „pistaco“-Kind, durch die Straßen getragen. „El niño Nakaq“ ist eine in prächtige Gewänder gekleidete Figur, gekrönt mit einem Kopfschmuck, der auch ein Heiligenschein sein könnte. In der Hand hält sie ein großes Messer. Begleitet wird das Kind von einer weiteren Figur, dem in eine prunkvolle Uniform gekleideten „edecán“ (Adjudant). Während der ungewöhnlich großen – Prozession am 1. November 1987 erfuhr ich von einem Teilnehmer die Geschichte dieses „pistaco“-Kindes:14

Als diese Gegend, wo heute die Kirche steht, noch nicht zum Stadtgebiet von Ayacucho gehörte, hauste hier ein pistaco, dem viele Bewohner zum Opfer fielen, die diese Stelle passieren mussten. Mit keinem Mittel war dem pistaco beizukommen, bis sich das Volk zu einer Reihe intensiver Gebete vereinigte. Eines Tages war der pistaco verschwunden, an seiner Stelle erschien die Figur des Kindes. Es wurde in die Kathedrale getragen, kehrte aber immer wieder zurück, bis man ihm schließlich hier eine Kirche errichtete, in der es noch immer aufbewahrt wird, zusammen mit der Virgen del Pilar, der Schutzpatronin des Stadtteils El Arco. Man legt vor seinem Bild Gelübde ab, und das Kind wacht über ihre Einhaltung. Wer sie nicht erfüllt, den straft es mit dem Tod.

Hier ist offensichtlich ein einmaliges Kunststück gelungen: die Domestizierung des „pistaco“. Statt sich, wie seinerzeit die Bethlehemiten, verzweifelt und vergeblich um Distanz vom „pistaco“-Image zu bemühen, holte die Kirche den „pistaco“ nach allen Regeln katholischer Zeremonialkunst in die Kirche selbst und nahm ihn in Dienst. Das Kind behält das „pistaco“-Werkzeug, sogar seine Fähigkeit zu töten. Doch muss es dies jetzt nach den Regeln der christlichen Moral tun. Aus dem Finsterling, der im geheimen Auftrag der Kirche das Volk mordet und ihm das Fett aussaugt, ist ein Racheengel geworden, der in aller Öffentlichkeit

13 Die Kirchenglocken, vor allem in Cuzco, enthalten noch einen weiteren Stoff, den die Spanier den „indios“ abgepresst haben: das Gold der Inkas. Die größte Glocke der Kathedrale von Cuzco, die „Maria Angola“, enthält, so die Überlieferung, eine Tonne Gold. Diese Glocke und die widersprüchlichen Empfindungen von spanischer Macht und indianischer Sehnsucht, die sie im Herzen des jungen Ernesto hervorrufen, stehen im Mittelpunkt des ersten Kapitels von José María Arguedas’ Roman „Los ríos profundos“. Bereits in einem Aufsatz von 1941 (1985:137) hatte Arguedas die Maria Angola als Symbol der Verschmelzung spanischer und indianischer Kultur evoziert, in ihr allerdings noch in erster Linie „die Stimme der fernen ‚aukis’“, also der alten Berggötter vernommen. 14 Der Bericht stimmt vollständig mit einer schon von Ansión (1984: Protokoll 9) aufgenommenen Version überein.

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auftritt und die zwischen Volk und Kirche getroffenen Vereinbarungen (Gelübde) überwacht und Übertretungen sanktioniert.

Die Ärzte

Zur Zeit der spanischen Eroberung Amerikas waren Heilkunst und Religion bei den eroberten Völkern nicht getrennt. Aber auch bei den Spaniern war die Medizin, obgleich sie sich als Naturwissenschaft zu behaupten begann, praktisch eine Abteilung der Kirche. Spitäler waren kirchliche Einrichtungen, Ärzte und Pflegepersonal waren meist Angehörige der Kirche. So liegt es nahe, dass bei der einheimischen Bevölkerung das Bild des Priesters und des Arztes oft ineinander floss. Hinter den oben angeführten Werkzeugen des „pistaco“, wie der Viehtreibernadel oder der geheimnisvollen „kleinen Maschine“ zum Fettaussaugen, könnten sich durchaus medizinische Gerätschaften der Zeit verbergen, z.B. die Klistierspritze, das Lanzett, oder das Schröpfeisen - Vermutungen, die jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht näher verfolgt werden können.15 Heilen und Töten liegt in allen Kulturen zwangsläufig eng beieinander, da das Wissen, gleich welcher Art, um die Möglichkeiten der Heilung das Wissen um das Gegenteil beinhaltet. KZ-Mediziner und schwarze Hexer unterscheiden sich da nicht grundsätzlich. Dem Heiler haftet somit immer auch etwas Bedrohliches an. In der Inquisition geht auch in Peru seit dem 17. Jahrhundert die Medizin eine repressive Allianz mit Kirche und Staat ein.16 Aber nicht nur die Tortur des lebenden, auch die Zerlegung des toten Körpers muss auf die indianische Bevölkerung mit ihrer respektvollen Haltung gegenüber ihren Toten schockierend gewirkt haben. Noch heute pflegen sich Bewohner ländlicher Gebiete in Peru mit allen Kräften gegen die Autopsie zu wehren deren Geschichte ja bekanntlich auch in Europa ein jahrhundertlanger Kampf gegen „Vorurteile“ durchzieht. Die direkteste Verknüpfung von medizinischer und „pistaco“-Praxis stellt jedoch die medizinische Verwendung des begehrten Rohstoffs Menschenfett dar. Sie ist sowohl für die Spanier (s.u.) als auch für die altperuanische Medizin belegt. Weit verbreitet in der traditionellen andinen Medizin war und ist bis heute die Verwendung tierischer Fette, vor allem des Alpaka-Fetts (Lastres 1951: Bd.II, Kap. XXXI). Das Standardwerk der peruanischen Volksmedizin weist jedoch auch verschiedene Anwendungen menschlichen Fetts, z.B. bei Rheuma oder Stauchungen, nach (Valdizán/Maldonado 1986:463). Eine weitere Merkwürdigkeit in der Ausstattung des „pistacos“ findet ebenfalls am ehesten in traditionellen medizinischen Praktiken eine Erklärung: das weiße Betäubungspulver. Unter den zahlreichen Schilderungen der Chronisten und „extirpadores“ über die teuflischen Praktiken der „indios“ ähneln einige verblüffend dem beschriebenen Vorgehen des „pistaco“. Erwähnt sei schließlich noch, dass es unter den zahlreichen Keramiken der für ihren künstlerischen Realismus bekannten Mochekultur, die um die Zeitenwende im Norden Perus blühte, einige gewöhnlich als Menschenopfer interpretierte Darstellungen gibt, die ebenfalls Assoziationen an das Vorgehen der „pistacos“ wecken können (Hocquenhem 1987: Abb. 105, 106).

15 Auch in Peru war die Praxis des Aderlasses, den auch die Inkas bereits kannten (Garcilaso 1983: 92f), während der Kolonialzeit exzessiv verbreitet (vgl. Lastres 1951: Bd. II, Kap XXXII); es gibt zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen überlieferten Vorgehensweisen beim Aderlass und beschriebenen Praktiken des „pistaco“ beim Fettraub. Auch der anschließende Tod durch Schwäche ist eine solche Parallele. Die Klistierspritze vermag vielleicht zu erklären, warum so häufig die Extraktion des Fettes durch den After beschrieben wird, eine an sich nicht sehr naheliegende Vorgehensweise (doch gibt es andere Erklärungen, s.u.). Die folgende Beschreibung (Manya 1969:136) erinnert deutlich an das Setzen einer Injektionsspritze (die in Europa seit Ende des 17. Jahrhunderts in gebrauch ist): „Der Nak’aq gibt einige leichte Schläge auf das Gesäß, dann führt er die Nadel ein, die er mit einem kleinen Apparat verbindet, den man für das Gefäß hält, in dem das Fett gesammelt wird, das er mit großer Meisterschaft herausholt.“ 16 Nach Lastres (1951: Bd.II, Kap. XX) wirkten bei den Verhören der Inquisition auch in Peru regelmäßig Ärzte mit.

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Die Bedeutung des Fetts in der andinen Tradition

Ist der „pistaco“ aufgrund dieser Beziehungen zu vorspanischen medizinischrituellen Praktiken also eine Figur inkaischen oder präinkaischen Ursprungs? Gehört zu seinen Hintermännern auch der indianische Medizinmann oder gar der inkaische Henker, wie Pater Manya (1969: 135f.) nahe legt? Für diese These lassen sich zwei Argumente anführen. Das erste ist linguistischer Natur: Wie eingangs bemerkt, haben alle altperuanischen Wörter zur Bezeichnung des „pistaco“ die Bedeutung von „Schlächter“. Nach dem Chronisten Blas Valera17 hatte das Wort nakaq“ bei den Inkas sogar die präzise Bedeutung von „Schlachter des Opfertiers“, führt also durchaus in den Bereich der Gewaltausübung durch höhere Mächte, in dem die Figur des „pistaco“ bis heute angesiedelt ist. Gewichtiger erscheint jedoch das zweite Argument, das die hohe Bedeutung berührt, die das menschliche Fett für den „pistaco“ hat. Das Fett ist für den andinen Menschen ja weit mehr als bloß ein Medikament. So wie im europäischen Kulturkreis das Blut der „magische Saft“ ist, der die Substanz des Lebens verkörpert, und das demnach auch vergossen wird, wenn es um Opfer, symbolische Verehrung oder Zerstörung des Lebens geht, ist es in der andinen Kultur das Körperfett, das weitgehend diese Bedeutung hat, wenn auch nicht ausschließlich. In den „mesas“, den rituellen Opfern an die Mutter Erde, „pachamama“, ist das Fett der Alpakas bis heute ein wesentlicher Bestandteil der dargebrachten Gaben, wobei ausschließlich das Brustfett verwendet wird, von dem die Tiere nur geringe Mengen besitzen. Zusammen mit einigen pflanzlichen Produkten, vor allem der Coca, ist es in der mesa-Zeremonie der „pachamama“ zugeordnet, während Süßigkeiten und Alkohol dem „gloria“, also dem katholischen Element bei der „mesa“ zugeordnet sind. Tierisches Fett ist in den Anden selten und somit hochgeschätzt. Dies allein prädestiniert es schon als Opfergabe. Es scheint, als übertrügen die Andenbewohner diese Wertschätzung des knappen Fettes als einer besonders kostbaren und hochwertigen Substanz auch auf sich selbst. Manya (1969: 136) erfuhr von einem seiner Informanten, dass

[der pistaco] die Einheimischen angreift, weil der indio ein trockenes Fett besitzt, da er sich hart ernährt, in erster Linie von chuño und kañiwa18, und weil dieses Fett in den Apotheken den besten Preis erzielt, während das Fett der Mistis dünnflüssig und von schlechter Qualität ist ...

Die gleiche Sichtweise findet sich in dem Bericht eines der prominentesten „extirpadores de idolatrías“, des Paters Arriaga (1968: 210f.). Lamafett (bzw. jegliches Fett der „einheimischen Schafe“, d.h. der andinen Kameloiden) wird zunächst als eine der Opfergaben der „indios“ aufgeführt - ein weiterer Beleg für die vorspanischen Ursprünge dieses Rituals. Dann berichtet Arriaga von einer besonderen Verwendung des Fetts als Mittel für einen bösen Zauber:

Vor der Visite des Hernando de Avendaño in Parquin machten sie ihr Opfer und verbrannten, wie sie sagten, die Seele des Visitadors, indem sie aus dem Fett eine Figur formten und sie verbrannten. Und so, sagen sie, verbrennen sie die Seele des Richters; oder die Person, deren Seele sie verbrennen wollen, wird verrückt, und er hat keinen Verstand und kein Herz mehr, so sind ihre Worte. Eine Besonderheit dabei ist, dass sie die Figur, wenn es sich um einen Spanier handelt, aus Schweinefett machen, denn sie sagen, dass die Seele des 'Viracocha’ (Weißen) kein Lamafett isst. Wenn aber die Seele eines indios verbrannt werden soll, machen sie es mit jenem andren Fett (des Lamas) und vermischen es mit Maismehl, im Fall des Spaniers dagegen vermischen sie das Fett mit

17 Zitiert nach Morote (1951:69); Blas Valera war Jesuit und schrieb Ende des 16. Jahrhunderts. Einige seiner Manuskripte dienten Garcilaso de la Vega als Quellen. 18 „chuño“: nach überlieferter Gefriertrocknungsmethode dauerhaft gemachte Kartoffel; „kañiwa“: Getreideart der Hochanden mit besonders reichem Eiweißgehalt.

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Weizenmehl. (...) Das pflegen sie auf den Wegen zu tun, wo die Person passieren muss, um sie daran zu hindern, in ihr Dorf zu kommen.19

Hier klingt genau das gleiche Selbstbewusstsein der „indios“ hinsichtlich ihres besonderen Fetts durch, und ebenfalls in der gleichen Weise wie in der von Manya verzeichneten Aussage wird ein Zusammenhang dieser besonderen Fettqualität mit der besonderen Qualität der einheimischen Nahrungsmittel hergestellt. Doch damit gelangen die Parallelen auch an ihr Ende. Eindeutig ist bei Arriaga von einer rein symbolischen Tötung der Seelen durch das Verbrennen des Fetts die Rede. Von hier zu einer so krud realistischen Tötung, wie sie der „pistaco“ vollzieht, wäre es ein gewaltiger Schritt, der jedoch nicht vollzogen wird. Ebenso eindeutig ist bei Arriaga von der Verwendung tierischen Fetts die Rede. Vermutungen über mögliche Menschenopfer zum Zweck der Fettentnahme sind reine Spekulation, für die es in den Quellen keine Belege gibt. In allen Zeugnissen aus der frühen Kolonialzeit, in denen von der Tötung von indios und der Verwendung ihres Fetts die Rede ist, sind eindeutig die Spanier als Täter genannt. Der Hinweis des Cristóbal de Molina auf die Angst der indios vor den Spaniern, weil diese ihnen ihr Fett rauben wollten, wurde bereits zitiert. Molina führt dies auf böswillige Gerüchtemacherei zurück. Es gibt aber Belege, dass es sich keineswegs nur um Gerüchte handelte. Der allgemein als nüchtern und relativ objektiv geschätzte Chronist und Teilnehmer der mexikanischen Eroberungszüge von Cortes, Bemal Diaz del Castillo, berichtet jedenfalls, im Ton völliger Unbefangenheit, folgendes Detail, das sich nach der Schlacht von Tlaxcala zutrug:

Und mit dem Indiofett, das ich schon öfters erwähnt habe, kurierten sich unsere Soldaten. Es waren fünfzehn, von denen einer an seinen Wunden starb. Außerdem wurden vier oder fünf verwundete Pferde geheilt.20

Die Verwendung von menschlichem Fett zur Wundbehandlung muss also eine genuin spanische Praxis gewesen sein, die völlig unbeeinflusst von irgendwelchen andinen Praktiken war, die die Spanier zu jener Zeit in Mexiko ja nicht kennen konnten. Anfang des 17. Jahrhunderts hält der Chronist Antonio de Herrera den Konquistadoren ihr Sündenregister vor. Wie selbstverständlich finden wir dort auch die Praxis des „pistaco“ einbezogen:

Wieviele haben sie nicht lebendig gebraten und verbrannt; wieviele haben sie den Hunden lebend zum Fraß vorgeworfen; wieviele haben sie getötet, weil sie dick waren, um ihnen das Fett abzuzapfen, mit dem sie die Wunden der Spanier heilten... (zit. nach Morote 1951:80)

Der Kontrast zwischen diesen Berichten und den vorangegangenen über die Bedeutung des Fetts in der andinen Kultur könnte nicht größer sein. Der rituellen Verbrennung tierischen Fetts mit symbolischem Gehalt steht die realistische Tötung und kraß materialistische Verwertung des Fetts gegenüber. Gerade diese den Eroberern eigene Verbindung von Grausamkeit und vordergründigem Materialismus macht für die andine Bevölkerung das eigentlich Entsetzliche, erst sie macht den „pistaco“ aus. Es mag einige assoziative Verbindungen zwischen dem „pistaco“ und Elementen der altperuanischen Kultur geben. Der erste „pistaco“ jedoch, soviel scheint festzustehen, war Spanier.

Die Grundherren

19 Eine andere Variante des magischen Gebrauchs von Lamafett erwähnt der Chronist Miguel Cabello Valboa in seiner „Miscelánea antártica“ (1951: 289): „Dann gab es noch die sogenannten Virapirco, die glauben machten, dass sie beim Verbrennen des Fetts von Tieren im Rauch und im Glanz der Flammen alles sehen könnten, was diejenigen, die sie um Rat fragten, wissen wollten.“ 20 Díaz del Castillo (1964: Kap. LXIII); in der Tat hatte Diaz del Castillo diese Verwendung des Indiofetts bereits mehrfach vorher erwähnt, z.B. bei der Beschreibung der Schlacht von Tabasco (ebd.: Kap. XXXIV).

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Unter den „pistacos“ gibt es einige, die statt der üblichen Kutten Poncho und breite Hüte tragen und beritten sind (s.o.). Was ohnehin naheliegt, wird gelegentlich auch klar ausgesprochen:21 dass es sich bei diesen „pistacos“ um Grundherren handelt. Der Grundherr war bis ins 20. Jahrhundert ein Herr mit praktisch unumschränkter Macht über seine indianischen Untertanen, „Vater“ und Ankläger, Richter oder auch Henker zugleich. Vor allem aber war er für die indianischen Gemeinschaften der Zerstörer ihrer Lebensgrundlage, indem er ihnen ihr Land entriss. In einem Dorf der Provinz Huari (Ancash) töteten die „comuneros“ 1973 einen der ihnen verhaßten „mistis“, den sie als „pistaco“ bezeichneten. Hintergrund war nicht nur ein langjähriger Landkonflikt, sondern auch eine extreme Dürreperiode. Für die Dürre machten die Bauern ebenfalls die „pistacos“ verantwortlich. Den gefangenen „pistaco“ töteten sie, pfählten ihn, setzten ihn auf ein weißes Pferd und trieben dieses dann in die Berge. Am nächsten Tag fiel der ersehnte Regen. Da es sich bei dem Getöteten um einen mächtigen „misti“ gehandelt hatte, endete der Vorfall tragisch. Mit Hubschraubern wurden die „sinchis“ (bewaffnete Sonderpolizei) eingeflogen und töteten mindestens acht der „comuneros“.22 Auch in den Berichten, die Arguedas in Jauja (Junin) gesammelt hat, in denen die „pistacos“ als besonders grausam erscheinen, sind sie als Grundherren-“pistacos“ zu verstehen. Bisweilen handeln sie in großem Stil mit dem Fett, was dem kommerziellen, besonders aktiven „hacendado“ von Junin durchaus angemessen ist. Eine weitere Besonderheit in diesen Berichten sind die Frauen („campesinas“), die von den „pistacos“ in ihren Höhlen gefangen gehalten werden, „um ihre Person (d.h. ihren Körper) zu genießen“, wie ein Informant lapidar feststellte (Arguedas 1953: 222). Um das Entfliehen der Frauen während seiner Arbeit zu verhindern, hackt der „pistaco“ ihnen die Beine unterhalb der Knie ab. Die Drastik, mit der hier eine auch sexuelle Vergewaltigung durch den „pistaco“ angesprochen wird, deutet wiederum auf den „hacendado“, der sich dieses Recht gegenüber den „indias“ offen herausnahm. Sexuelle Bedeutung sieht der Anthropologe Leo Casas aber auch in der häufigen Erwähnung des Afters bei der unblutigen Variante des Fettraubs23. Auch die Kirchenmänner hatten ihren Anteil an der sexuellen Ausbeutung der „indias“, wie zahllose Klagen in den Berichten der Kontrollorgane aus der Kolonialzeit belegen.24 Sie mussten sich allerdings weniger brutalen Methoden bedienen. In Chucuito, wo 1974 die Pastoralarbeit auf so große Schwierigkeiten wegen der „kharisiris“ stieß, identifizierten die Bewohner der Gegend in den sechziger Jahren den Pfarrer als „pistaco“. Die folgende Geschichte, die auch zwanzig Jahre später noch lebendig ist, ist wohl ebenfalls als Umschreibung einer Vergewaltigung zu verstehen:

In den sechziger Jahren war hier ein Gringo Pfarrer. Eines abends, als es schon finster war, dringt er ins Haus der Frau (der Name wurde genannt), öffnet die Tür mit Gewalt. Die Frau hatte eine Kerze angezündet, die sich beim Eintreten des Pfarrers seltsam blau verfärbte. Dann ging die Kerze aus. Der Pfarrer blickte sie seltsam an, dann wird die Frau ohnmächtig. Später war sie sehr krank. Sie schlachtete ein schwarzes Schaf und aß den Rücken. Das ist das beste Mittel gegen den kharisiri. Nach längerer Zeit wurde sie wieder gesund. Als sie in die Kirche ging, um zu beten und mit dem Pfarrer zu sprechen, ging er ihr aus dem Weg. Er wollte nicht mit ihr sprechen, nicht einmal den Segen gab er ihr.25

21 z.B. bei Ansión 1984: Protokoll 6, indirekt auch 2 22 Der Vorfall wurde mir von Jaime Urrutia, Professor für Geschichte an der Universität von Ayacucho, der 1973 in der betreffenden Gegend arbeitete, mitgeteilt (Interview vom 4.11.87). 23 Interview vom 2.10.1987 24 Vgl. z.B. die Abbildung eines Pfarrers bei Guamán Poma (1980: 575), der ein spezielles Pferd benötigt, um seine umfangreiche Kinderschar zu transportieren. Im zugehörigen Text befürchtet Guamán Poma so gar bevölkerungspolitische Konsequenzen, weil der Pfarrer keine jungen Frauen zur Heirat mit „indios“ freigebe, sondern alle für die Fortpflanzung von Pfarrern beanspruche. 25 Mitteilung eines Bauern aus der Umgebung von Chucuito, Oktober 1987

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Die fremden Ingenieure

Zwischen dem Vordringen moderner technischer Anlagen wie Zuckermühlen, Bergwerken, Eisenbahnen u.ä. auch in entlegene Gebiete der Anden und dem verstärkten Auftreten von „pistacos“ besteht ein klarer Zusammenhang. Für alle diese Wunderwerke moderner Technik benötigte man menschliches Fett. Die Erbauer oder Auftraggeber dieser Bauwerke und Maschinen gelten denn auch als die wichtigsten Auftraggeber der „pistacos“. Allerdings finden sich ihre Spuren eher selten in den Zügen der „pistacos“ selbst26, was sich plausibel mit der geringen Präsenz dieser Herren in den Bergen der Anden erklären lässt (der „pistaco“ hat aber dort, in den Bergen, seinen Aufenthalt). Doch lässt sich feststellen, dass der „pistaco“ überall da, wo er in engem Zusammenhang mit dem Vordringen moderner Technik auftritt, besonders deutlich die Züge des „gringo“ annimmt. Die Andenbevölkerung unterscheidet zwischen dem „misti“ und dem „gringo“. Letzterer ist der weiße Ausländer (oft einschließlich der peruanischen Küstenbewohner), ersterer bezeichnet die einheimische spanisch-stämmige Oberschicht. Die Leiter der großen Ingenieurarbeiten, vor allem des Eisenbahnbaus, waren aber fast durchweg weiße Ausländer. Und umgekehrt wird jeder Fremde in den Bergprovinzen als „ingeniero“ angeredet. Der Zusammenhang zwischen dem Auftauchen fremder Ingenieure und der Herausbildung der „gringo“-Züge beim „pistaco“ ist also durchaus deutlich. Doch ist, dies wird im nächsten Abschnitt zu zeigen sein, für das Verständnis der Hintermänner des „pistaco“ nicht unbedingt entscheidend, wie sehr sie sich in seinem Äußern spiegeln.

3. Der „pistaco“: ein Führer durch die Geschichte der Repression in den Anden?

Den Menschen der andinen Kultur ist das Fett Verkörperung ihrer Lebensessenz, ihrer Seele, wie es die von Arriaga referierten „Götzendiener“ ausdrückten. Der Anschlag des „pistaco“ gilt also nicht einfach einem Körperteil, auch nicht nur dem Leben einer konkreten Person. Kraft der symbolischen Bedeutung des Fetts ist es vielmehr ein Anschlag auf das kollektive Leben des Volkes, dessen kulturelle Identität sich unter anderem in der besonderen Bedeutung manifestiert, die es dem Fett zuweist. Der „pistaco“ hingegen scheint davon nichts zu wissen. So vielfältig die Verwendungszwecke sind, zu denen er das Fett raubt, eines ist ihnen gemeinsam: Es sind vordergründig materialistische Zwecke, die in schroffem Gegensatz zu dem hohen symbolischen Wert stehen, den das Fett in der andinen Kultur hat. Der „pistaco“ erweist sich schon damit als barbarischer Eindringling, der allenfalls durch die unbeirrbare Hartnäckigkeit, mit der er sein Ziel verfolgt, den Verdacht aufkommen lässt, dass er zumindest ahnen könnte, hier einen Lebensnerv der Bevölkerung zu treffen. Es erscheint somit nicht übertrieben, ihn als ein Urbild des Unterdrückers und Ausbeuters der andinen Bevölkerung zu erkennen. Seine Spuren lassen sich, wie zu sehen war, bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen. Ende des 20. Jahrhunderts ist er lebendig und tatendurstig wie je und hat sein Verbreitungsgebiet sogar erheblich ausweiten können. Doch mehr als 400 Jahre Geschichte sind auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Der „pistaco“ ist ein sterbliches, kein überzeitliches Wesen. Er musste sich, wie die übrigen Bewohner der Anden, wechselnden Zeiten anpassen, um zu überleben. So lassen sich in seiner Gestalt die großen Epochen der peruanischen Geschichte erkennen: der koloniale, der republikanisch-imperialistische und der moderne „pistaco“. Und wie wir alle, ist auch der „pistaco“ in jeder neuen historischen Gestalt von den Spuren seiner historischen Existenz gezeichnet.

26 Z.B. bei Ansión (1984: Protokoll 4 und 5)

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Der koloniale „pistaco“

Die ersten „pistacos“ waren, wie das Selbstzeugnis des Bernal Diaz del Castillo zeigte, Soldaten. Umso überraschender ist, dass im traditionellen Bild des „pistaco“ nichts Soldatisches zu finden ist. Nicht Rüstung und Helmbusch, nicht Schwert und Lanze bestimmen seine Erscheinung, sondern die Insignien von Kirche, Arzt und Grundherr. Auch bei den Verwendungszwecken des Fetts wird die Behandlung von Kriegsverletzungen von den andinen Informanten nicht erwähnt. Offenbar bestand für die Bevölkerung keinerlei Notwendigkeit, den erobernden spanischen Soldaten als „pistaco“ zu sehen. Dass Soldaten grausam sind und morden, ist trivial. Es ist ihr Beruf bei allen Völkern und bedarf keiner weiteren Interpretation. Die Absichten der Kirche dagegen waren weit weniger klar. Einerseits standen sie erkennbar mit den militärischen Eroberern im Bund. Ihr spezifisches Interesse jedoch, das sie von den militärischen Konquistadoren unterschied, musste zunächst unverständlich, dann besonders skandalös erscheinen. Unverständlich, weil die Geschichte der altperuanischen Völker keine vergleichbaren Präzedenzfälle für gewaltsame Bekehrungen kennt. Als die Eroberten das Unbegreifliche schließlich doch begreifen mussten, war es um vieles schrecklicher als die eigentlich militärische Niederlage. Die Eroberer ihrer Seelen waren ihnen weit unheimlicher als diejenigen, die sich nur zu Herren ihrer Länder und Physis machten. Vergeblich suchten sie die Motive der Zerstörer ihrer Heiligtümer zu ergründen. Dass es den Priestern nicht allein um Gold, wie den übrigen Spaniern, ging, machte das Verhalten zumindest des besseren Teils der Missionare deutlich. Dass sie aber allein um eines andern Gottes Willen zu den Grausamkeiten der „extirpación de idolatrias“ fähig sein konnten, musste dem andinen Denken unverständlich bleiben. Das Fett als Objekt der unersättlichen Begierde des „pistaco“ bildet somit die Ambivalenz von materiellem und geistlichem Interesse im Prozeß der Conquista ab. Für die Andenbewohner ist es Symbol ihrer spirituellen Existenz. Dem mörderischen „pistaco“ aber, der sich das Fett aneignet, wird die Erkenntnis gar nicht zugetraut, welch kostbare Beute er da an sich reißt. Deshalb bleiben immer stofflich-materielle Verwendungszwecke in den Erklärungsversuchen dominierend. Selbst wo beim Glockengießen eine Ahnung von den geistlichen Absichten der Priester-„pistacos“ durchscheint, wird das Fett als Element in einem streng materiellen Prozeß vorgestellt. Im Zentrum der Figur des kolonialen „pistaco“ steht somit die Auseinandersetzung mit der Kirche. Doch gibt es weitere Elemente, die ihn als Kind seiner Zeit kennzeichnen. Er arbeitet ausgesprochen ortsgebunden. Wer seine bevorzugten Plätze und Gewohnheiten kennt, kann sich darauf einstellen. Sein sozialer Status bleibt eher vage. Welche Beziehung er genau zur Kirche hat, wird nicht recht deutlich, der neue Herrschaftsapparat ist noch nicht transparent. Dafür dominiert allgemein, sowohl im Habitus wie in der Fettverwendung der kirchliche Bezug. Der koloniale „pistaco“ entspricht so einer Gesellschaft, die überwiegend stationär geprägt ist und nur geringe Dynamik aufweist. Räumliche und soziale Mobilität sind begrenzt bzw. werden gegebenenfalls eher als Katastrophe erlebt. Binnenmärkte sind wenig entwickelt, Selbstversorgung auf engem Raum bestimmt die bäuerliche Wirtschaft. Schließlich sind die verschiedenen Sphären der Macht, zumindest aus der Sicht des Volkes, kaum ausdifferenziert. Die Herren über Leib und Seele, über Eigentum und Recht, ja selbst über die Sexualität des Volkes sind die gleiche kleine Gruppe von Invasoren und ihren Abkömmlingen. Im „pistaco“ vereinigen sie sich zum gemeinsamen Schreckensbild.

Der republikanisch-imperialistische „pistaco“

Die Unabhängigkeit der südamerikanischen Staaten hat auch im Andenraum erhebliche Veränderungen in der Struktur und Dynamik der herrschenden Klassen gebracht. Für die „indios“ brachte sie nicht Befreiung, sondern verschärfte Ausbeutung. Die wenigen

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Schutzmechanismen, die das paternalistisch-repressive System der Kolonialzeit ihnen geboten hatte, entfielen zugunsten eines fiktiven Liberalismus, der grausame Folgen für die landgebundene Bevölkerung hatte. Der „pistaco“ vollzieht diesen Wandel mit. Er handelt jetzt auch als selbständiger Unternehmer, der sein Produkt an die Regierung zu ausgezeichneten Preisen verkauft. Er ist damit Teil der langsamen Durchdringung auch des ländlichen Raums durch kapitalistische Verkehrsformen. Stand früher einzig der Gebrauchswert des Fetts im Blick des „pistaco“, so richten sich seine gierigen Augen jetzt häufig auf den Tauschwert seiner Beute. Auch Frühformen kapitalistischer Akkumulation wie das Anhäufen von Schätzen, ohne sie sogleich der Zirkulation wieder zuzuführen, sind deutlich erkennbar, vor allem in Junín, dem reichsten Gebiet der peruanischen Anden. Doch hinter diesen Versuchen kapitalistischen Kleinunternehmertums steht unübersehbar ein neuer mächtiger Auftraggeber. An die Stelle der Kirche ist die Regierung, „el señor gobierno“, getreten. Der Fettbedarf dieses neuen Herrn übersteigt den der Kirche um einiges. So dringen die „pistacos“ immer weiter vor, und ihre Grausamkeit übertrifft die der kolonialen Vorgänger. Offenbar nehmen die Andenbewohner alle Entwicklungen der republikanischen Wirtschaft als staatsinduziert wahr. Unbeeindruckt von der in Lima gepflegten liberalen Ideologie, prägt man in den Anden die Figur eines staatskapitalistischen „pistaco“, der in vielen Details die überlieferten Züge behält, der aber einer neuen Gesamtlogik unterworfen ist: dem jetzt dominierenden Fettbedarf der Regierung. Die Regierung ist zu weit weg und zu anonym, als dass sie sich in den äußeren Merkmalen des „pistaco“ manifestieren könnte. Sie tut es auf ihr gemäße Weise, indem sie ihm einen speziellen Ausweis ausstellt. Dieser Regierungsausweis, den jetzt nahezu alle „pistacos“ besitzen, ermächtigt sie zu ihren Untaten und macht jedes legale Vorgehen gegen sie zwecklos. Ein Mann aus Ayacucho, der in Huancayo die mysteriöse Ermordung seiner Frau bei den zuständigen Behörden anzeigte, erfuhr vom Richter wie vom Distriktsvorsteher (gobernador) das gleiche: „Das war ein „pistaco“, den kann niemand zur Rechenschaft ziehen, denn die „pistacos“ haben einen Ausweis, eine Vollmacht von der Regierung.“ (Quijada 1958: 102) Was die Regierung veranlasst, kann nicht bei der Regierung denunziert werden. Die Staatstheorie der andinen Landbevölkerung ist konsequent, lässt sich auf keine staatsrechtlichen Feinheiten wie Gewaltenteilung zwischen Justiz und Exekutive oder die Universalität des Strafrechts ein. Der Staat der Republik ist ihnen genauso unumschränkte Machtausübung wie das Herrschaftssystem der Kolonialzeit. Konsequenterweise gibt es dann auch nur ein Mittel, sich des „pistaco“ zu erwehren: ihn umzubringen. Es gibt jedoch eine Grenze der staatlichen Macht, die die Andenbevölkerung sehr genau erkannt hat. Der peruanische Staat ist seinerseits abhängig von weit mächtigeren ausländischen Regierungen. In den meisten Fällen ist die peruanische Regierung nicht das letzte Glied in der Kette der Fettausbeuter, sondern gibt den kostbaren Rohstoff ihrerseits weiter an Interessenten im Ausland, die ihn offenbar weitaus besser verwerten können. Vereinzelt wird die Verwendung des Fetts durch Industrien im Ausland zwar auch schon für die Kolonialzeit erwähnt27, doch erst nach der Unabhängigkeit, mit dem Auftreten der nordeuropäischen und US-amerikanischen „gringos“ gewinnt das Bild vom Fettexport Allgemeingültigkeit. Während die kreolischen Oberklassen sich in ihren Festreden auf Unabhängigkeit und nationale Größe in permanentem Selbstbetrug üben, und wohl auch lange vor der Entdeckung von Imperialismus- und Dependenztheorien durch die intellektuelle Linke in Lima, entwickelt die Andenbevölkerung ihre eigene, sehr eindeutige Vorstellung über die wahren Auftraggeber der „pistacos“. Sie sitzen im Ausland. Während die „gringos“ vorgeblich nach Gold, Silber, Kupfer, Salpeter, Guano, Kautschuk und anderen Rohstoffen suchen, beweist der „pistaco“ der Andenbevölkerung, dass auch die Ausländer letztlich nur an einem einzigen Rohstoff interessiert sind: ihrem Körperfett. Die Ausbeutung der Schätze der Erde, dies ist die Botschaft des „pistaco“, setzt die Ausbeutung

27 Quijada (1958: 100) führt einen Bericht aus Junín an, wonach der spanische König „pistacos“ ernannt habe, um Fett für die spanischen Mühlen und Maschinen zu erhalten.

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der Menschen, die diese Erde bewohnen, voraus. Im Export des Menschenfetts wird aller übrige Rohstoffexport auf seinen wahren Begriff gebracht.

Der „pistaco“ heute: Resistenz und Krise der andinen Kultur

Der „pistaco“, so lässt sich zusammenfassen, reflektiert das Bewusstsein des andinen Volks über seine Lage und die Besonderheiten der Mächte, die es belagern und ausbeuten. Veränderungen dieser Lage und dieser Mächte spiegeln sich in veränderten Verhaltensweisen des „pistaco“. Tritt daher der „pistaco“, wie öfters in den vergangenen Jahrzehnten, in bestimmten Gebieten und zu bestimmten Zeiten massiv auf, so lässt sich dahinter eine Krise im Bewusstsein der Realität vermuten, für die ein erhöhter akuter Erklärungsbedarf besteht. Am Beispiel der „pistaco“-Welle, die in den Monaten August bis Oktober 1987 Ayacucho überfiel, kann das exemplifiziert werden. 1980 begann in Ayacucho die aus einer der zahlreichen kleinen maoistischen Parteien Perus hervorgegangene Gruppe „Sendero Luminoso“28 ihren „bewaffneten Volkskrieg“, den sie überwiegend mit terroristischen Methoden führt. Anfang 1983 verhängt die Regierung den Ausnahmezustand über die Region. Die Militärs beginnen einen blutigen „counter-insurgency“-Feldzug, dessen Kern ebenfalls in der Terrorisierung der Bevölkerung besteht. Der „schmutzige Krieg“, den bislang keine Partei für sich entscheiden konnte, kostete die Bevölkerung bereits bis 1987 mehr als 10.000 Tote und, nach inoffiziellen Angaben, über 3.000 Verschwundene.29 In einigen Landstrichen sind ganze Dörfer entvölkert, die Emigration hat nie gekannte Ausmaße erreicht (ca. ein Fünftel der Gesamtbevölkerung des Departements hat seine Heimat in diesen Jahren verlassen). Das Leben derer, die geblieben sind, steht im Zeichen permanenter Angst und Unsicherheit. Überkommene gesellschaftliche Strukturen und Normen zerfallen, vor allem auch die „comunidad campesina“, der soziale Rückhalt der ländlichen Bevölkerung. Auch die einst ausgeprägt mestizische Hauptstadt des Departements hat radikal ihr Gesicht gewandelt. Von beschaulichen 70.000 Einwohnern schwoll sie durch einen Strom von Flüchtlingen aus den Provinzen, die sich in hastig errichteten Elendsvierteln am Stadtrand niederließen, auf nahezu die doppelte Bevölkerung an. Hier, in diesen Neuansiedlungen wurden im August 1987 die ersten „pistacos“ gesichtet, die sich dann innerhalb weniger Wochen über die Stadt, das Umland und große Teile des Departements, bis hinüber nach Apurímac, verbreiteten. In den zahlreichen Schilderungen der Bevölkerung aus dieser Zeit finden sich einerseits alle überlieferten Kennzeichen des „pistaco“, was Aussehen und Ausrüstung betrifft, wieder. Dazu kamen, wie eingangs erwähnt, eine Reihe von Neuerungen in Kleidung und Bewaffnung, die insgesamt einen eher militärischen Typus mit ausgeprägten „gringo“-Zügen ergaben. Dazu passt, dass der „pistaco“ sich inzwischen vorzugsweise im Jeep fortbewegte. Viele Berichte situierten die „pistacos“ innerhalb des antisubversiven Kampfs der Militärs bzw. identifizierten sie sogar direkt mit ihnen.

Am Abend gehen sie über die Felder ..., um alle zu töten, die nachts unterwegs sind, um die Terroristen zu töten, sagen sie.30

Hintergrund dieser dem „pistaco“ an sich ungewohnten Nachtarbeit ist die Ausgangssperre, die die Militärs auf dem Land verhängt hatten, um die Bewegungsfreiheit des Sendero Luminoso einzuschränken, eine Maßnahme, die die Bauern in größte Schwierigkeiten brachte, sind sie doch gewohnt, auf ihren weit entfernten Feldern sogar zu übernachten. Noch direkter ist eine andere Aussage:

28 Zu den Ursprüngen des „Sendero Luminoso“ siehe vor allem Degregori (1986) und Granados (1987). 29 Einen detaillierten Überblick über die Menschenrechtssituation in Peru gibt Huhle (1989). 30 Aussage einer alten Bäuerin aus der Provinz Huanta (Ayacucho), aufgezeichnet von Vergara/Fernia (1987: 6f.).

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... es sind die Sinchis (bewaffnete Sonderpolizei) selbst, die nachts ausschwärmen und alle töten, die unterwegs sind. Sie schneiden ihnen Hals und Bauch auf und holen das Fett heraus. (Vergara/Fernia: 1987:6)

Andere Versionen wiederum identifizieren die „pistacos“ mit ausländischen Söldnern. Auch über die Auftraggeber dieser militarisierten „pistacos“ herrschte weitgehende Übereinstimmung: Es war die Regierung Alan Garcías, die dringend Fett zur Bezahlung ihrer Auslandsschulden benötigte. Dies war das Ergebnis der zweijährigen Propagandaschlacht des Präsidenten dafür, dass er die Auslandsschuld gerade nicht bezahlen wolle. Die Leute in Ayacucho, die „nicht einmal internationale Nachrichten hörten“, wie ein „aufgeklärter“ Befragter gegen den „Pistaco“-Glauben einwandte (Vergara/Fernia: 1987:9), ließen sich davon nicht über die zentrale Bedeutung hinwegtäuschen, die die Auslandsschulden für die Regierungspolitik hatten. Sie gingen noch einen Schritt weiter. Warum war die Regierung so hoch verschuldet? Weil sie moderne Waffen brauchte, die im Ausland mit Hilfe des von den „pistacos“ erbeuteten Fetts produziert wurden. So schließt sich der schreckliche Kreis, an dessen Anfang das geraubte Fett der Andenbevölkerung steht, und das am Ende, in den neuen Waffen, gegen sie selbst gerichtet wird (Vergara/Fernia: 1987:3). Solche direkten Assoziationen der „pistacos“ mit Militär und Polizei riefen diese verständlicherweise auf den Plan. Bei der DIRCOTE (der Antiterrorismus-Abteilung der Kriminalpolizei) wurden gründliche Studien über den „pistaco“ betrieben, die die Polizisten bis in die Nationalbibliothek führten. Ihr Ergebnis war, dass es sich bei der „'Pistaco'-Hysterie“ um ein Manöver psychologischer Kriegsführung von Sendero handle, „um unter Ausnutzung alter abergläubischer Vorstellungen in der Bevölkerung Angst und Abscheu vor den Sicherheitskräften zu erzeugen.“31 Doch auch die gegenteilige Hypothese, dass es sich um ein Manöver der Geheimdienste handelte, um die Bewegungsfreiheit von Sendero einzuengen, wurde viel diskutiert. Die tatsächliche Reaktion der Bevölkerung auf die „pistacos“ war eine Mischung aus Panik und entschlossener Selbstorganisation.

Heute früh um vier Uhr verfolgten zwei pistacos eine Frau und ihren Sohn, als sie vom Bewässern ihres Feldes heimkehrten. Die pistacos kamen in einem grauen Auto, das sie etwas abseits parkten. Zum Glück merkten wir schnell, was los war. In kürzester Zeit kamen über 20 Männer mit Knüppeln und andern Werkzeugen zusammen und schlugen die pistacos in die Flucht. Sie rannten zu ihrem Wagen und fuhren davon.32

In den neuen Vororten Ayacuchos, wo die „pistacos“ zuerst gesichtet wurden, war die Organisation ebenso eindrucksvoll. Rasch gebildete Bürgerwehren kontrollierten Tag und Nacht die Straßen. Kein Ortsfremder konnte passieren, selbst Taxifahrer wurden angegriffen und nahmen bald keine Fahrten mehr über das Stadtzentrum hinaus an. Zahlreiche Berichte über Tote, die auf das Konto der „pistacos“ gingen, heizten die Atmosphäre auf, bis schließlich am 11. September ein Handlungsreisender aus Huancayo getötet wurde, nachdem ihn die Bürgerwehr eines Vororts die ganze Nacht verhört und schließlich als „pistaco“ überführt hatte. Die Indizien: ein Schnappmesser und das Nicht-Beherrschen der Quechua-Sprache. Das Reaktionsmuster der Bevölkerung war, trotz aller „Militarisierung“ der „pistacos“, das gleiche wie immer. Der pistaco wird durch seine typische Ausrüstung und seine Nichtzugehörigkeit zur lokalen Bevölkerung identifiziert und durch die gemeinsame Aktion der lokalen Gruppen, die sich ihrer eigenen Identität durch verwandtschaftliche und nachbarschaftliche Verbindungen sicher ist, überwältigt.

31 Persönliche Mitteilung eines DIRCOTE-Offiziers, 12. Juli 1988 in Ayacucho 32 Interview mit einem Töpfer aus Quinua bei Ayacucho, September 1987

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Die Effizienz, die dabei entfaltet wurde, ist bemerkenswert. In kürzester Frist wurden die Nachrichten über das Auftreten der „pistacos“ bis in die abgelegensten Dörfer verbreitet, zunächst durch Mundpropaganda, dann auch mit Hilfe der lokalen Radiosender. Keine andere Nachricht wurde je derart schnell und massenhaft verbreitet. Kein anderes Ereignis hat eine ähnlich tiefgreifende Mobilisierung der Bevölkerung bewirkt. Effizienz und konkrete Form dieser Organisation lassen sich nur auf dem Hintergrund der großen Vertrautheit mit der Figur des „pistaco“ erklären. Die überlieferte Kenntnis von seiner Gefährlichkeit, seinen Kennzeichen, Zielen und Arbeitsmethoden erübrigte langwierige Diskussionen und Überzeugungsarbeit. Der Konsens in der Abwehr des „pistaco“ war von vornherein gegeben. Diese kollektive Abwehr ist in Jahrhunderten eingeübt worden. Wer daher möglicherweise tatsächlich geglaubt haben sollte, im Sinn psychologischer Kriegsführung die Nachrichten über „pistacos“ für sich nutzen zu können, hat sich getäuscht und dürfte sich bald schon in der Rolle des Zauberlehrlings gefunden haben. Denn der Ablauf der „Pistaco“-Jagd folgte so konsequent den Regeln der andinen Tradition, dass sein Nutzen für beide Seiten des „schmutzigen Kriegs“ äußerst fragwürdig war. Vor allem schuf diese Jagd für keine der beiden Parteien neue Loyalitäten, sie verstärkte im Gegenteil die psychische Distanz der Bevölkerung sowohl zu den Militärs als auch zu Sendero. Diese Distanz beruht grundsätzlich darauf, dass die Bevölkerung unter beiden Parteien leidet, und dass sie beide als Fremde empfindet. Bei Polizei und Armee ist dies geradezu selbstverständlich, waren sie doch schon immer die Hilfstruppen der mächtigen Herren über das Land, das einst den indios gehört hatte. Die Wahrnehmung von Sendero ist komplexer und hat sich erst im Lauf der Zeit eindeutig negativ entwickelt. Der abstrakte Anspruch der Gruppe, letztlich für die Interessen auch der Landbevölkerung zu kämpfen, bewirkt auch nach wie vor einen unterschiedlichen Akzent in der Ablehnung. Doch führten die terroristischen Methoden, die Sendero gerade auch gegen die Landbevölkerung einsetzt, um Anhänger zu rekrutieren oder Unterstützung für bewaffnete Aktionen zu erzwingen, ebenso zur Entfremdung von der Bevölkerung wie die prinzipielle Missachtung der herkömmlichen Organisations- und Sozialstrukturen der traditionellen Dorfgemeinde („comunidad campesina“), die Sendero durch eigene, aus der maoistischen Lehre hergeleitete Organisationen zu ersetzen sucht. Zu sehr auch ähneln die Methoden Senderos gewissen, noch gut im Gedächtnis haftenden, Vorgehensweisen der alten Landoligarchie. Zwangsrekrutierung junger Männer, Tributerhebung oder Zerstörung von Häusern als Strafaktion sind Methoden, die Sendero einsetzt und dabei vermutlich sogar bewusst auf die in Jahrhunderten eingeübte Passivität in der Erduldung solcher Übergriffe spekuliert, in der die andine Bevölkerung das einzige Mittel zum Überleben angesichts der übermächtigen Eindringlinge gefunden hat. Doch haftete dieser Passivität immer auch ein Element des Widerstands an. Die gleiche Bevölkerung, die sich allen äußeren Ansprüchen ihrer Herren unterwarf, akzeptierte kaum etwas von der Kultur und den Werten dieser Herren. Die äußere Unterwerfung schuf den Raum für die Erhaltung innerer Widerstandspotentiale, die sich in der Geschichte dann durchaus auch immer wieder in aktivem Widerstand und Rebellion entladen haben. Allerdings haben weder die gesellschaftlichen Machtverhältnisse noch die innere Verfassung der Rebellen je einen durchschlagenden Erfolg des offenen Widerstands erlaubt. Man muss den Kampf gegen die „pistacos“ vor dem Hintergrund dieser überwiegend passiven Tradition des Widerstands sehen, um die Ambivalenz der großen Energie zu begreifen, die in diesen Kampf investiert wird. Im Kampf gegen den „pistaco“, der den Kern der andinen Kultur angreift, kann alle verschüttete Kraft mobilisiert werden, die noch immer in dieser Kultur steckt. Er weist einen Weg, der gleiche Distanz zu den bedrohlichen fremden Mächten des schmutzigen Kriegs hält, unter dem die Bevölkerung leidet. Er nimmt dieser Bedrohung ein Stück ihrer Ausweglosigkeit. Doch hat dieser Gewinn einen hohen Preis. Denn der eingeschlagene Weg mag

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aus einer neoromantischen indigenistischen Perspektive verheißungsvoll erscheinen, doch er führt ins Abseits. Er bedeutet die Aufgabe des Versuchs, sich in die in der heutigen peruanischen Gesellschaft dominierenden Denk- und Wertmuster, und damit in diese Gesellschaft überhaupt, aktiv und mitbestimmend einzugliedern. Vielleicht gibt es diese Möglichkeit überhaupt nicht mehr. In jedem Fall zeugt die Mobilisierung gegen den „pistaco“ nicht nur von bewundernswerter Kraft einer bewundernswerten Kultur, sondern auch von ihrer tiefen Krise. Die historische Untersuchung des „pistaco“ hat ergeben, dass er zwar offenbar soldatischen Ursprungs ist, dass er aber gleichwohl in der Kolonialzeit und auch danach noch keine militärischen Züge aufwies. Ich habe dieses Phänomen so zu verstehen versucht, dass es keines „pistacos“ bedurfte, um die triviale Form der militärischen Unterdrückung vorzustellen, dass der „pistaco“ vielmehr die unbegreifliche, und damit letztlich bedrohlichere spirituelle Unterdrückung, verkörpert vor allem in der Kirche, repräsentierte. Generell ließe sich aus dem vorliegenden Material folgern, dass das Auftreten des „pistaco“ nicht nur tiefe Krisen in der geistigen und materiellen Existenz der Andenvölker ausdrückt, sondern in diesen Krisen das jeweils am bedrückendsten empfundene Moment. Wenn dem so ist, drängt sich der Schluss auf, dass der schmutzige Krieg, der heute in Peru auf dem Rücken der Andenbevölkerung ausgetragen wird, die wohl schwerste Krise im Bewusstsein dieser Bevölkerung seit der Conquista bedeutet. Denn heute treten die „pistacos“ erstmals in Uniform und mit militärischem Gerät auf. Die Menschen beschreiben Militärs, definieren sie jedoch als „pistacos“. Offensichtlich ist also das Auftreten der Militärs nicht mehr trivial, sondern ist zu einer unbegreiflichen, fürchterlichen Bedrohung geworden, die keine umstandslose Wahrnehmung erlaubt, sondern die Transformation des Bedrohers in den „pistaco“ erfordert, um sich überhaupt noch mit ihm auseinandersetzen zu können. Eingekeilt zwischen fremden Ideologien und Machtansprüchen, ziehen sich die Menschen der Anden heute verstärkt in traditionelle (koloniale, nicht vorspanische!) Denkformen und Überlebensstrategien zurück. Es ist die gleiche Festung, in der sie Jahrhunderte des Ansturms und der Belagerung überlebt haben. Möglich, dass es noch viele Jahre mehr sein werden. Aber eine Bresche durch den Ring der Belagerer wird so nicht geschlagen werden. Ein Ende der Tragödie der andinen Völker, die mit der Ankunft des Pizarro begann, ist nicht in Sicht.33

33 Die Migration an die Küste, vor allem nach Lima, wo in den letzten Jahrzehnten mehrere Millionen Menschen aus den Anden einen Ausweg aus dieser Situation gesucht haben, bietet weder materiell noch spirituell eine Lösung. Mit den Andenbewohnern kam auch der „pistaco“ nach Lima, wo er bereits seit Ende der 50er Jahre immer wieder auftritt. Im Dezember 1988 trat er in einer völlig neuen Gestalt, als „saca-ojos“, in den Armenvierteln Limas in Erscheinung, wo die Migranten leben. Der „saca-ojos“ raubt Kindern die Augen, um sie auf dem internationalen Organmarkt zu verkaufen. Als „saca-ojos“ wurden vor allem Ärzte der wenigen Gesundheitsstationen in diesen Armenvierteln ausgemacht und entsprechend verfolgt. Wie 1987 in Ayacucho, mobilisierte sich die Bevölkerung innerhalb von Stunden mit großer Effizienz, holte die Kinder aus den Schulen und von der Straße, und jagte die „saca-ojos“. Es fehlt hier der Raum für eine gründlichere Analyse dieser Mutation des „pistaco“ zum „saca-ojos“. Offensichtlich ist, dass seiner Anpassungsfähigkeit auch im städtischen Bereich keine Grenzen gesetzt sind. Von großer Bedeutung ist der Wandel vom Fett- zum Augenräuber, der weit mehr reflektiert als nur die Anpassung an einen neuen Markt. Wie das Fett die andine Existenz verkörpert, so steht das Auge für die Vitalität der westlichen Zivilisation. Wenn der „saca-ojos“ gerade den Kindern, die den „pistaco“ nie interessierten, die Augen raubt, so zerstört er den Migranten, die schon in der Gegenwart keine Chance haben, auch noch ihre einzige Zukunftshoffnung, die Integration ihrer Kinder in das westliche Lebensmodell, die vor allem durch Schule und Studium erreicht wird, also durch Arbeit mit den Augen.

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