pathologische struktur und lebender mensch – versuch einer annäherung

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Schmerzspitzen Pathologische Struktur und lebender Mensch – Versuch einer Annäherung D ass bei 80% der Patienten mit Rückenschmerzen die Ursache der Beschwerden nicht feststellbar sei, hat vor 40 Jahren der schwedische Arzt Alf Nachemson pos- tuliert. Über Jahrzehnte setzte er Patienten mit Rücken- schmerzen den Segnungen operativen Vorgehens aus. Am Ende seiner Lauahn stellte er in weiser Einsicht fest, dass er ein Leben lang eigentlich keine Ahnung hat- te, woran die Menschen, die er versteiſte oder auf ande- re Weise traktierte, eigentlich erkrankt waren. Dankbar nahmen dies all jene auf, die vom Rücken ebenso wenig verstanden und verstehen, sich aber dennoch bemüßigt fühlen, als Heilsbringer ihren Patienten zu erklären, dass man zwar nichts über die Ursachen von Rücken- schmerzen wisse, diese jedoch zumeist auch nicht wirk- lich gefährlich seien. Was zur Folge hatte, dass die Be- schwerden entweder irgendwann ausheilten, chronisch wurden und/oder zur (Früh-)Berentung führten. Und so füllen unsere schmerztherapeutischen Praxen Heere von armen operierten Menschen, deren einziges Pech war, dass jemand zum Beispiel feststellte, dass der Spinalkanal im Durchmesser nur 11 statt 13 mm maß und sie ausgerechnet auch unter Rückenschmerzen lit- ten. Die Erfahrung zeigt, dass die Frage nach der schmerzauslösenden Struktur meist zugunsten radio- logischer Auffälligkeiten geopfert wurde. Umso höher ist die Tatsache zu bewerten, dass die or- thopädischen Fachgesellschaſten eine Leitlinienkom- mission gegründet haben, die sich der Aufgabe stellt, die spezifischen Ursachen des bisherigen so genannten un- spezifischen Rückenschmerzes nicht nur zu benennen, sondern auch entsprechende Behandlungspfade aufzu- zeigen. Eine interessante Mixtur aus konservativen Or- thopäden, operativen Orthopäden/Unfallchirurgen, Neurochirurgen, Manualtherapeuten u. a. ringen um eine gemeinsame Nomenklatur, mit der die schmerzur- sächlichen Pathologien benannt werden können. Zunächst mutmaßten die Beteiligten, diese komplexe Fragestellung sei etwas für die universitären Einrich- tungen. Diese sollten fleißig darüber forschen und in 20 Jahren träfe man sich dann wieder, um die Ergebnisse zu diskutieren. Mittlerweile macht sich jedoch ein vor- sichtiger Konsens breit, dass man doch definieren kön- ne, an welcher Struktur bei einem Wirbelgleiten Druck und Reizung aufgebaut werden, welcher Mechanismus der Schmerzgenerierung auſtritt und wie therapeutisch sinnvoll zu verfahren sein. Es ist ein zartes Pflänzchen, das da im orthopädi- schen Fach aueimt: Die Hinwendung zum lebenden Organismus. Die Einsicht, dass als äußerste Interventi- on in der Medizin sogar das Gespräch mit dem Patien- ten zum Einsatz kommen könnte. Die Ahnung, dass eventuell eine aktuelle psychische Konstellation aus Stress, Angst oder anderen Einflüssen einen eher harm- losen Schmerz zur Unerträglichkeit verstärken kann. Der Weg, den die Orthopäden derzeit in der Leitlini- enkommission in Berlin beschreiten, ist innovativ und extrem steinig. Jahrzehnte zementierter und selten hin- terfragter Meinungen stehen auf dem Prüfstand. Aber auch jene, die hinter jedem Schmerz nur die Psyche ver- muten, müssen sich bewegen. Es ist spannend und es ist lange überfällig. Nur unser Fach kann das Dilemma des Rückenschmerzes lösen – unser Fach in der Symbiose aus operativen und konservativen Gedanken- und Lö- sungsansätzen. Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen. In Berlin hat man den Eindruck, dass die Windmühlen langsam überwiegen. Mit hoffnungsfrohen Grüßen © IGOST IGOST „Es keimt die Einsicht, dass als äußerste Intervention in der Medizin sogar das Gespräch mit dem Patienten zum Einsatz kommen könnte.“ Dr. med. Martin Strohmeier Ehrensenator der IGOST 50 ORTHOPÄDIE & RHEUMA 2014; 17 (3)

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Schmerzspitzen

Pathologische Struktur und lebender Mensch – Versuch einer AnnäherungD ass bei 80% der Patienten mit Rückenschmerzen die

Ursache der Beschwerden nicht feststellbar sei, hat vor 40 Jahren der schwedische Arzt Alf Nachemson pos-tuliert. Über Jahrzehnte setzte er Patienten mit Rücken-schmerzen den Segnungen operativen Vorgehens aus. Am Ende seiner Lau� ahn stellte er in weiser Einsicht fest, dass er ein Leben lang eigentlich keine Ahnung hat-te, woran die Menschen, die er verstei� e oder auf ande-re Weise traktierte, eigentlich erkrankt waren. Dankbar nahmen dies all jene auf, die vom Rücken ebenso wenig verstanden und verstehen, sich aber dennoch bemüßigt fühlen, als Heilsbringer ihren Patienten zu erklären, dass man zwar nichts über die Ursachen von Rücken-schmerzen wisse, diese jedoch zumeist auch nicht wirk-lich gefährlich seien. Was zur Folge hatte, dass die Be-schwerden entweder irgendwann ausheilten, chronisch wurden und/oder zur (Früh-)Berentung führten.

Und so füllen unsere schmerztherapeutischen Praxen Heere von armen operierten Menschen, deren einziges Pech war, dass jemand zum Beispiel feststellte, dass der Spinalkanal im Durchmesser nur 11 statt 13 mm maß und sie ausgerechnet auch unter Rückenschmerzen lit-ten. Die Erfahrung zeigt, dass die Frage nach der schmerzauslösenden Struktur meist zugunsten radio-logischer Au� älligkeiten geopfert wurde.

Umso höher ist die Tatsache zu bewerten, dass die or-thopädischen Fachgesellscha� en eine Leitlinienkom-mission gegründet haben, die sich der Aufgabe stellt, die spezi� schen Ursachen des bisherigen so genannten un-spezi� schen Rückenschmerzes nicht nur zu benennen, sondern auch entsprechende Behandlungspfade aufzu-zeigen. Eine interessante Mixtur aus konservativen Or-thopäden, operativen Orthopäden/Unfallchirurgen, Neurochirurgen, Manualtherapeuten u. a. ringen um eine gemeinsame Nomenklatur, mit der die schmerzur-sächlichen Pathologien benannt werden können.

Zunächst mutmaßten die Beteiligten, diese komplexe Fragestellung sei etwas für die universitären Einrich-tungen. Diese sollten � eißig darüber forschen und in 20

Jahren träfe man sich dann wieder, um die Ergebnisse zu diskutieren. Mittlerweile macht sich jedoch ein vor-sichtiger Konsens breit, dass man doch de� nieren kön-ne, an welcher Struktur bei einem Wirbelgleiten Druck und Reizung aufgebaut werden, welcher Mechanismus der Schmerzgenerierung au� ritt und wie therapeutisch sinnvoll zu verfahren sein.

Es ist ein zartes P� änzchen, das da im orthopädi-schen Fach au� eimt: Die Hinwendung zum lebenden Organismus. Die Einsicht, dass als äußerste Interventi-on in der Medizin sogar das Gespräch mit dem Patien-ten zum Einsatz kommen könnte. Die Ahnung, dass eventuell eine aktuelle psychische Konstellation aus Stress, Angst oder anderen Ein� üssen einen eher harm-losen Schmerz zur Unerträglichkeit verstärken kann.

Der Weg, den die Orthopäden derzeit in der Leitlini-enkommission in Berlin beschreiten, ist innovativ und extrem steinig. Jahrzehnte zementierter und selten hin-terfragter Meinungen stehen auf dem Prüfstand. Aber auch jene, die hinter jedem Schmerz nur die Psyche ver-muten, müssen sich bewegen. Es ist spannend und es ist lange überfällig. Nur unser Fach kann das Dilemma des Rückenschmerzes lösen – unser Fach in der Symbiose aus operativen und konservativen Gedanken- und Lö-sungsansätzen.

Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen. In Berlin hat man den Eindruck, dass die Windmühlen langsam überwiegen.

Mit ho� nungsfrohen Grüßen

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IGOST

„Es keimt die Einsicht, dass als äußerste Intervention in der Medizin sogar das Gespräch mit dem Patienten zum Einsatz kommen könnte.“

Dr. med. Martin StrohmeierEhrensenator der IGOST

50 ORTHOPÄDIE & RHEUMA 2014; 17 (3)