„paradies und qual, schönheit und schmerz“ gaudlitz, auf ihren bildern sind...

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Herr Gaudlitz, auf Ihren Bildern sind Frauen zu sehen, zumindest auf den ersten, flüchtigen Blick. Ja, diese Verwirrung habe ich selbst er- lebt. Bei einer meiner Reise durch Süd- amerika habe ich 2010 aus einer gewis- sen Entfernung Frauen beim Volleyball- spiel gesehen und habe mich gewundert, was die für einen knallharten Schlag ha- ben. Das hat mich neugierig gemacht und ich bin näher rangegangen. Dann habe ich erkannt, dass das gar keine Frauen, sondern Männer sind, die aber aussehen wie tolle Frauen. Und dieser Bruch in mei- ner Wahrnehmung, der hat mich nicht mehr losgelassen. Ich sehe eine schöne Frau, aber auf dem zweiten Blick fällt mir etwas auf, ob es nun ein zu kräftiger Ober- arm oder ein zu kantiges Gesicht ist, dass da auch etwas Männliches im Spiel ist. Wie entstand aus dieser einen Begegnung die Idee für eine ganze Bilderserie? Weil ich auf meinen Reisen durch Südame- rika, insbesondere im Jahr 2010, bei der ich dem Weg Humboldts über die Anden folgte, häufig auf transsexuelle Menschen traf. Ich war zunehmend beeindruckt von dem Mut oder dem Selbstverständnis die- ser Frauen, die in einem männlichen Kör- per leben und in einer Gesellschaft, die so stark vom Machismo geprägt ist, sich so darstellen und sagen: Das bin ich, so bin ich. Zunächst regte mich das eher an, die- sem Phänomen, diesem Thema über Transsexuelle global nachzuspüren. Denn das gibt es ja in allen Kulturen der Vergangenheit und Gegenwart. Aber Sie haben sich auf Südamerika be- schränkt. Ja, denn das andere Projekt war einfach zu groß gedacht. Und dann bin ich wäh- rend meiner Recherchen auf diese wun- derbare Geschichte gestoßen, warum der Amazonas seinen Namen trägt. Der Con- quistador Francisco de Orellana, der als erste Europäer den Amazonas bis zum At- lantik durchfahren hat, wurde bei seiner Suche nach dem sagenhaften Goldland El- dorado von indigenen Kriegerinnen ange- griffen. Der ihn begleitende Dominikaner- mönch Gaspar de Carvajal schrieb darü- ber in sein Tagebuch: „Und dann kamen wir in das Land der Amazonen. Sie kämpf- ten gegen uns so mutig wie zehn Krieger, mit Pfeil und Bogen bewaffnet, halb- nackt, an der Spitze ihres Volkes.“ Diese Episode gelangte nach Europa und mit ihr wurde der antike Mythos der Amazo- nen wiederbelebt und der Fluss erhielt seinen Namen Rio Amazonas. Und Amazo im Altgriechischen bedeutet so viel wie platt, brustlos, flach und Amazo- nen demzufolge die Brustlosen. Das passte für mich wunderbar als Namens- pate für die Männer, die sozial und auch sexuell als Frauen leben wollen. Denn von Geburt an sind sie brustlos. So bleibe ich in einer gewissen mythologischen Welt. Und die wollte ich mir erhalten. Wie haben Sie das Vertrauen dieser Frauen gewonnen? Ich bin einfach an sie herangetreten, vor allem in den größeren Städten, die am Amazonas oder seinen Nebenflüssen ge- legen sind. Aber bis dann am Ende über 100 Porträts entstanden sind, das hat schon ein halbes Jahr gedauert. Es gab auch viele Enttäuschungen. Denn ehe man das Vertrauen dieser Frauen, wenn wir bei dem Begriff bleiben wollen, er- langt, muss man eine sehr große Angst überwinden. Die Angst, missbraucht zu werden. Denn sie werden diskriminiert und verprügelt, sie haben keine Rechte, was sich auch darin zeigt, dass keine Er- mittlungen aufgenommen werden, wenn eine von ihnen umgebracht wird. Wie haben Sie den Alltag dieser Frauen er- lebt? Viele, denen es den Umständen entspre- chend besser geht und die nicht völlig aus- gegrenzt werden, arbeiten oder haben ei- nen Friseursalon oder arbeiten in Kü- chen. Dann braucht es Zeit und Geduld, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Ich bin da dann sehr oft hingegangen, fünf- bis zehnmal, habe bis zu einer Stunde mit ihnen geredet. Irgendwann hat man dann den ersten Fototermin. Wie haben Sie fotografiert? Meine Porträts habe ich analog gemacht. Aber da diese Frauen ein anderes Bildver- ständnis haben als ich, habe ich immer auch Bilder mit der Digitalkamera ge- macht und ihnen am nächsten Tag davon Abzüge gebracht. Was für ein Bildverständnis haben diese Frauen? Frausein bedeutet für sie das Weibliche hervorzuheben. Dabei haben sie Vorstel- lungen von Posen die, so denke ich, dem Film entnommen sind. Jede hat da ihre eigene, und die ist dann relativ starr. Der Po muss deutlich hervortreten, auch die Brüste, sofern welche vorhanden sind, müssen betont werden. Viele diese Frauen greifen auf Prothesen zurück, was manchmal zu komischen Momenten ge- führt hat, wenn ich spontan fragte, ob wir Fotos machen können und dann die Ant- wort kam: Aber heute nicht, ich habe meine Brüste vergessen. Wenn man den europäischen Blick auf diese Posen an- setzt, dann haben sie vor allem etwas stark Sexuelles, Aufreizendes. Das wollte ich für meine Porträts nicht. Weil diesem Aufreizenden der Anschein von Prostitution innewohnt? Ja, und genau das wollte ich nicht. Ob- wohl viele dieser Frauen sich weltweit, weil sie keine anderen Möglichkeiten ha- ben, Geld zu verdienen, prostituieren müssen. Mir geht es immer in diesen Bil- dern darum, die Würde jedes Einzelnen einzufangen. Erst viel später fiel mir auf, dass ich mit dieser Würde auch eine Me- lancholie eingefangen habe. Wie nahe sind Sie diesen Frauen gekom- men? Das war ganz unterschiedlich. Es gab ei- nige, die mir geholfen haben, entspre- chende Kontakte zu knüpfen. Daraus ha- ben sich sogar Freundschaften entwi- ckelt. Bei anderen dagegen muss man eine Distanz wahren. Denn ich bin für sie ein Europäer und vielleicht sogar, wenn sie sich prostituieren, ein zahlender Klient. Da die richtige Form zu finden, war nicht immer einfach. Darum hatte ich oft eine Freundin bei, die mich beglei- tet hat. Auf Ihren Bildern sind nur junge Frauen zu sehen. War das eine bewusste Entschei- dung? Nein, das hat sich so ergeben. Denn mir fiel sehr schnell auf, dass es unter diesen Frauen keine älteren gab. Aber das liegt daran, dass mit dem Alter die Schönheit verschwindet und sie wieder zurückfal- len in das männliche Dasein, weil es keine andere Möglichkeit gibt. Was wünschen sich diese Frauen vom Le- ben? In ihrem Personalausweis steht ihr männ- licher Name. Aber sie kämpfen darum, dass da ihr weiblicher Name steht, damit sie als Frau sozial anerkannt werden. Was aber sehr, sehr weit von der Wirklichkeit entfernt ist. Ich glaube, das ist ihr größter Wunsch. Darum habe ich in den Bildti- teln immer ihren weiblichen Namen ge- schrieben. Sie sprachen von Würde und Melancholie in Ihren Bildern. Gleichzeitig vermitteln diese Porträts aber auch etwas von einer Illusion. So, wie sich diese Frauen viel- leicht gern selbst sehen möchten. Sie wissen, dass es eine Illusion ist. Die Vorbereitungsphase für die Fotosession dauerte nicht selten bis zu einer Stunde. Also das Schminken, das Schönmachen, da sind sie sehr präzise. Und durch die- ses starke Schminken, man kann da auch von einem Camouflage-Make-up spre- chen, passiert es, dass ich kein Gesicht, sondern ein bemaltes oder ein gemaltes Gesicht fotografiere und so die Grenze von der Fotografie hin zur Malerei über- schreite. Das empfand ich als ein span- nendes Moment. Darum habe ich immer auch einen farbigen, malerischen Hinter- grund gesucht, etwas, das diese Bilder in einem gewissen Sinne gemäldehaft wir- ken lässt. In der Ausstellung im Kunstraum haben Sie einigen Porträts inszenierte, altmeister- lich anmutende Stillleben gegenüberge- stellt. Stillleben, die wie bei den Porträts oft erst auf den zweiten Blick für einen Bruch der Wahrnehmung sorgen. Ja, dieser Doppelblick, über den wir schon gesprochen haben. Ich habe hier farbig opulente, gut in Szene gesetzte Stillleben aus den tropischen Früchten und Pflanzen aus dieser Region insze- niert und habe jedes dieser Fruchtarran- gements durch tierische Elemente aufge- stört. Vielleicht auch als Metapher für das Leben dieser Frauen, denn Paradies und Qual, Schönheit und Schmerz liegen hier sehr dicht beieinander. Und weil mein Arbeitsprinzip darin besteht, dass ich einer Serie immer gern etwas dazu- stelle, was eine Verbindung zu dem Hauptthema hat, habe ich mich hier für die Stillleben entschieden. Der Schwer- punkt diese Projekts liegt aber auf den Porträts, aber für die Ausstellung im Kunstraum habe ich fünf Diptychen zu- sammengestellt. Diese Stillleben sind wie die Porträts vor Ort entstanden? Ja, und während die Porträtaufnahmen für mich auch psychisch anstrengend wa- ren, auch weil es so viele Absagen gab oder Termine aus den unterschiedlichs- ten Gründen nicht eingehalten wurden, habe ich diese Stillleben als eine wunder- bare meditative Tätigkeit empfunden. Ich bin zunächst am Morgen über den Markt gegangen und habe das Monster gesucht, also das tierische Element. Da- nach dann die Früchte oder Pflanzen, die ich damit kombinieren könnte. Das war für mich wie eine Rückkehr in die Kind- heit, wo man Dinge konstruiert, aufbaut oder zusammensteckt. Das war dann eine sehr genussvolle Zeit. Nun wollen Sie ein Buch mit diesen Por- träts veröffentlichen und das über eine Crowdfunding-Aktion finanzieren. Ich mag Bücher und bin davon über- zeugt, dass diese Bilder es wert sind, in einem Buch veröffentlicht zu werden. Durch das Crowdfunding-Projekt wird dieses Buch zu einen gemeinschaftlichen Erlebnis, einer gemeinschaftlichen Ak- tion. Gleichzeitig wird ein solches Thema, das sicherlich schwer zu kommu- nizieren ist, durch diejenigen, die es un- terstützen, zu einem Bekenntnis für eine Welt der Vielfalt und der Toleranz. Denn ich glaube, dass dieses Buch diese Frauen von der Schattenseite ihres gesellschaftli- chen Daseins auf eine Plattform heben und ihnen eine Bühne geben kann. Denn einen Teil dieser Bücher möchte ich mit an den Amazonas nehmen und den Orga- nisationen vor Ort überlassen. Das ist wichtig für ihre Arbeit, denn wenn eine solche Randgruppe sich in einem quali- tätsvollen Bildband wiederfindet, bleibt das nicht ohne Wirkung. — Das Gespräch führte Dirk Becker. — Die Crowdfunding-Aktion startet am 10. Februar unter www.visionbakery.com/ gaudlitz-amazonen — Die Bilder von Frank Gaudlitz sind noch bis zum 15. Februar in der Ausstellung „Made in Potsdam“ im Kunstraum in der Schiffbauergasse zu sehen. Frank Gaudlitz, geb. 1958 in Vetschau, stu- dierte Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig bei Arno Fi- scher. Gaudlitz lebt als freier Fotograf in Potsdam. Foto: Frank Gaudlitz Der Bruch in der Wahrnehmung. Das Diptychon „Alexia Santillan, 30 Jahre; und naturaleza muerta con lagarto negro; Amazonien 2013“. Fotos (4): Frank Gaudlitz Für das Hans Otto Theater ist es eine Pre- miere: Zum mittlerweile achten Mal no- miniert das Online-Magazin „nachtkri- tik“ Kandidaten für die wichtigste Insze- nierung des Jahres, zum ersten Mal ist eine aus Potsdam dabei. Über Alexander Nerlichs „Urfaust“ schreibt die „nachtkri- tik“-Redaktion: „Mit einem nahezu un- heimlichen Bühnenbild-Spiegeleffekt führt Nerlich Mephisto als Fausts Doppel- gänger ein und strickt um dieses hoch- energetische Paar, das gewissermaßen eine Seele in zwei Brüsten zeigt, eine ex- plosive, lustvolle, kräftige und manchmal auch mit ihrer Jugendlichkeit protzende Inszenierung.“ Diese eine, gespaltene Seele wird in Nerlichs Inszenierung fan- tastisch-düster verkörpert von René Schwittay als Faust und Holger Bülow als Mephisto. Noch ist allerdings nichts ent- schieden, der Potsdamer „Urfaust“ steht in Konkurrenz mit 44 weiteren Produktio- nen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, darunter etwa Yael Ronens viel gelobtem „Common Ground“ am Berli- ner Gorki-Theater. Anders als beim Berliner Theatertref- fen, bei dem jedes Jahr eine Jury aus sie- ben Theaterkritikern zehn Sieger-Insze- nierungen auswählt, können beim virtuel- len Theatertreffen von „nachtkritik“ alle abstimmen: Theatermacher, Kritiker und Zuschauer. Das, kritisieren einige Kom- mentatoren, biete Raum für Missbrauch, schließlich könne so jedes Theater für sich selbst stimmen. Materiell gibt es beim „nachtkritik“-Theatertreffen aber ohnehin nichts zu gewinnen, „es geht eher darum, die zehn besten Stücke noch einmal zu würdigen“, sagt HOT-Spreche- rin Stefanie Eue. Nur der Inszenierung mit den meisten Stimmen winkt erstmals auch ein konkreter Preis: Zusammen mit dem Gewinner-Theater organisiert „nachtkritik“ ein Kritikergespräch im An- schluss an eine Vorstellung der siegrei- chen Produktion. Abgestimmt werden kann unter www.nachtkritik.de. alm Kiomi Chavez Cainamari, 30 Jahre. Anonym, Amazonien 2013. „Paradies und Qual, Schönheit und Schmerz“ Frank Gaudlitz über seine Porträts von Männern im falschen Körper, den Bruch in der Wahrnehmung und ein Buchprojekt ANZEIGE Die Schüler der städtischen Musikschule „Johann Sebastian Bach“ haben mit her- vorragenden Ergebnissen beim Regional- wettbewerb „Jugend musiziert“ am 23. und 24. Januar in Rathenow abgeschnit- ten, bei dem es um die Teilnahme am Lan- deswettbewerb am 20. und 21. März in Frankfurt/Oder ging. In der Kategorie „Besondere Ensembles“ qualifizierten sich Katharina Josy (Violine), Friederike Müller (Viola) und Johanna Müller (Wald- horn), bei den Bläser-Solisten erreichte Johanna Müller (Waldhorn) die Höchst- punktzahl. Auch Luise Henriette Caten- husen (Blockflöte) kam auf die maximal möglichen 25 Punkte, ebenso Georg Kozlovski (Saxofon), der aber noch zu jung für die Teilnahmen am Landeswett- bewerb ist. In der Kategorie „Klavier und Streichinstrument“ werden vier Duos am Landeswettbewerb teilnehmen: Rosa Ma- ria Schiefer (Violine) und Klara Schiefer (Klavier), Yen Quynh Vu (Violine) und Sophia Simanowitsch (Klavier), Klara-Justine Heil (Violine) und Maria Vi- nokurova (Klavier) sowie Melissa Riedel (Klavier), die mit der Cellistin Franziska Schulz angetreten war. In der Sparte „Mu- sical“ qualifizierte sich Anna-Lena Wer- ner (Gesang). PNN Potsdamer Schüler bei „Jugend musiziert“ Potsdamer „Urfaust“ nominiert DIENSTAG, 27. JANUAR 2015 POTSDAMER NEUESTE NACHRICHTEN 25 KULTUR IN POTSDAM 180 Seiten, broschier t 12,– € | Bestellnr . 10244 Preis inkl. MwSt. und Versand. Neuerscheinung www.pnn.de/shop Bestellhotline (0331) 23 76-789 PNN SHOP

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Herr Gaudlitz, auf Ihren Bildern sindFrauen zu sehen, zumindest auf den ersten,flüchtigen Blick.Ja, diese Verwirrung habe ich selbst er-lebt. Bei einer meiner Reise durch Süd-amerika habe ich 2010 aus einer gewis-sen Entfernung Frauen beim Volleyball-spiel gesehen und habe mich gewundert,was die für einen knallharten Schlag ha-ben. Das hat mich neugierig gemacht undich bin näher rangegangen. Dann habe

ich erkannt, dass das gar keine Frauen,sondern Männer sind, die aber aussehenwie tolle Frauen. Und dieser Bruch in mei-ner Wahrnehmung, der hat mich nichtmehr losgelassen. Ich sehe eine schöneFrau, aber auf dem zweiten Blick fällt miretwas auf, ob es nun ein zu kräftiger Ober-arm oder ein zu kantiges Gesicht ist, dassda auch etwas Männliches im Spiel ist.

Wie entstand aus dieser einen Begegnungdie Idee für eine ganze Bilderserie?WeilichaufmeinenReisendurchSüdame-rika, insbesondere im Jahr 2010, bei derich dem Weg Humboldts über die Andenfolgte, häufig auf transsexuelle Menschentraf. Ich war zunehmend beeindruckt vondem Mut oder dem Selbstverständnis die-ser Frauen, die in einem männlichen Kör-per leben und in einer Gesellschaft, die sostark vom Machismo geprägt ist, sich sodarstellen und sagen: Das bin ich, so binich. Zunächst regte mich das eher an, die-sem Phänomen, diesem Thema überTranssexuelle global nachzuspüren.Denn das gibt es ja in allen Kulturen derVergangenheit und Gegenwart.

Aber Sie haben sich auf Südamerika be-schränkt.Ja, denn das andere Projekt war einfachzu groß gedacht. Und dann bin ich wäh-rend meiner Recherchen auf diese wun-derbare Geschichte gestoßen, warum derAmazonas seinen Namen trägt. Der Con-quistador Francisco de Orellana, der alserste Europäer den Amazonas bis zum At-lantik durchfahren hat, wurde bei seinerSuche nach dem sagenhaften Goldland El-dorado von indigenen Kriegerinnen ange-griffen. Der ihn begleitende Dominikaner-mönch Gaspar de Carvajal schrieb darü-ber in sein Tagebuch: „Und dann kamenwir in das Land der Amazonen. Sie kämpf-ten gegen uns so mutig wie zehn Krieger,mit Pfeil und Bogen bewaffnet, halb-nackt, an der Spitze ihres Volkes.“ DieseEpisode gelangte nach Europa und mitihr wurde der antike Mythos der Amazo-nen wiederbelebt und der Fluss erhielt

seinen Namen Rio Amazonas. UndAmazo im Altgriechischen bedeutet soviel wie platt, brustlos, flach und Amazo-nen demzufolge die Brustlosen. Daspasste für mich wunderbar als Namens-pate für die Männer, die sozial und auchsexuell als Frauen leben wollen. Dennvon Geburt an sind sie brustlos. So bleibeich in einer gewissen mythologischenWelt. Und die wollte ich mir erhalten.

Wie haben Sie das Vertrauen dieserFrauen gewonnen?Ich bin einfach an sie herangetreten, vorallem in den größeren Städten, die amAmazonas oder seinen Nebenflüssen ge-legen sind. Aber bis dann am Ende über100 Porträts entstanden sind, das hatschon ein halbes Jahr gedauert. Es gabauch viele Enttäuschungen. Denn eheman das Vertrauen dieser Frauen, wennwir bei dem Begriff bleiben wollen, er-langt, muss man eine sehr große Angstüberwinden. Die Angst, missbraucht zuwerden. Denn sie werden diskriminiertund verprügelt, sie haben keine Rechte,was sich auch darin zeigt, dass keine Er-mittlungen aufgenommen werden, wenneine von ihnen umgebracht wird.

Wie haben Sie den Alltag dieser Frauen er-lebt?Viele, denen es den Umständen entspre-chend besser geht und die nicht völlig aus-gegrenzt werden, arbeiten oder haben ei-nen Friseursalon oder arbeiten in Kü-chen. Dann braucht es Zeit und Geduld,um mit ihnen ins Gespräch zu kommen.Ich bin da dann sehr oft hingegangen,

fünf- bis zehnmal, habe bis zu einerStunde mit ihnen geredet. Irgendwannhat man dann den ersten Fototermin.

Wie haben Sie fotografiert?Meine Porträts habe ich analog gemacht.Aber da diese Frauen ein anderes Bildver-ständnis haben als ich, habe ich immerauch Bilder mit der Digitalkamera ge-macht und ihnen am nächsten Tag davonAbzüge gebracht.

Was für ein Bildverständnis haben dieseFrauen?Frausein bedeutet für sie das Weiblichehervorzuheben. Dabei haben sie Vorstel-lungen von Posen die, so denke ich, demFilm entnommen sind. Jede hat da ihreeigene, und die ist dann relativ starr. DerPo muss deutlich hervortreten, auch dieBrüste, sofern welche vorhanden sind,müssen betont werden. Viele dieseFrauen greifen auf Prothesen zurück, wasmanchmal zu komischen Momenten ge-führt hat, wenn ich spontan fragte, ob wirFotos machen können und dann die Ant-wort kam: Aber heute nicht, ich habemeine Brüste vergessen. Wenn man deneuropäischen Blick auf diese Posen an-setzt, dann haben sie vor allem etwasstark Sexuelles, Aufreizendes. Das wollteich für meine Porträts nicht.

Weil diesem Aufreizenden der Anscheinvon Prostitution innewohnt?Ja, und genau das wollte ich nicht. Ob-wohl viele dieser Frauen sich weltweit,weil sie keine anderen Möglichkeiten ha-ben, Geld zu verdienen, prostituierenmüssen. Mir geht es immer in diesen Bil-dern darum, die Würde jedes Einzelneneinzufangen. Erst viel später fiel mir auf,dass ich mit dieser Würde auch eine Me-lancholie eingefangen habe.

Wie nahe sind Sie diesen Frauen gekom-men?Das war ganz unterschiedlich. Es gab ei-nige, die mir geholfen haben, entspre-chende Kontakte zu knüpfen. Daraus ha-ben sich sogar Freundschaften entwi-ckelt. Bei anderen dagegen muss maneine Distanz wahren. Denn ich bin für sieein Europäer und vielleicht sogar, wennsie sich prostituieren, ein zahlenderKlient. Da die richtige Form zu finden,war nicht immer einfach. Darum hatteich oft eine Freundin bei, die mich beglei-tet hat.

Auf Ihren Bildern sind nur junge Frauen zusehen. War das eine bewusste Entschei-dung?Nein, das hat sich so ergeben. Denn mirfiel sehr schnell auf, dass es unter diesenFrauen keine älteren gab. Aber das liegtdaran, dass mit dem Alter die Schönheitverschwindet und sie wieder zurückfal-len in das männliche Dasein, weil eskeine andere Möglichkeit gibt.

Was wünschen sich diese Frauen vom Le-ben?In ihrem Personalausweis steht ihr männ-licher Name. Aber sie kämpfen darum,

dass da ihr weiblicher Name steht, damitsie als Frau sozial anerkannt werden. Wasaber sehr, sehr weit von der Wirklichkeitentfernt ist. Ich glaube, das ist ihr größterWunsch. Darum habe ich in den Bildti-teln immer ihren weiblichen Namen ge-schrieben.

Sie sprachen von Würde und Melancholiein Ihren Bildern. Gleichzeitig vermittelndiese Porträts aber auch etwas von einerIllusion. So, wie sich diese Frauen viel-leicht gern selbst sehen möchten.Sie wissen, dass es eine Illusion ist. DieVorbereitungsphase für die Fotosessiondauerte nicht selten bis zu einer Stunde.Also das Schminken, das Schönmachen,da sind sie sehr präzise. Und durch die-ses starke Schminken, man kann da auchvon einem Camouflage-Make-up spre-chen, passiert es, dass ich kein Gesicht,sondern ein bemaltes oder ein gemaltesGesicht fotografiere und so die Grenzevon der Fotografie hin zur Malerei über-schreite. Das empfand ich als ein span-nendes Moment. Darum habe ich immerauch einen farbigen, malerischen Hinter-grund gesucht, etwas, das diese Bilder ineinem gewissen Sinne gemäldehaft wir-ken lässt.

In der Ausstellung im Kunstraum habenSie einigen Porträts inszenierte, altmeister-lich anmutende Stillleben gegenüberge-stellt. Stillleben, die wie bei den Porträtsoft erst auf den zweiten Blick für einenBruch der Wahrnehmung sorgen.Ja, dieser Doppelblick, über den wirschon gesprochen haben. Ich habe hier

farbig opulente, gut in Szene gesetzteStillleben aus den tropischen Früchtenund Pflanzen aus dieser Region insze-niert und habe jedes dieser Fruchtarran-gements durch tierische Elemente aufge-stört. Vielleicht auch als Metapher fürdas Leben dieser Frauen, denn Paradiesund Qual, Schönheit und Schmerz liegenhier sehr dicht beieinander. Und weilmein Arbeitsprinzip darin besteht, dassich einer Serie immer gern etwas dazu-stelle, was eine Verbindung zu demHauptthema hat, habe ich mich hier fürdie Stillleben entschieden. Der Schwer-punkt diese Projekts liegt aber auf denPorträts, aber für die Ausstellung imKunstraum habe ich fünf Diptychen zu-sammengestellt.

Diese Stillleben sind wie die Porträts vorOrt entstanden?Ja, und während die Porträtaufnahmenfür mich auch psychisch anstrengend wa-ren, auch weil es so viele Absagen gaboder Termine aus den unterschiedlichs-ten Gründen nicht eingehalten wurden,habe ich diese Stillleben als eine wunder-bare meditative Tätigkeit empfunden.Ich bin zunächst am Morgen über denMarkt gegangen und habe das Monstergesucht, also das tierische Element. Da-nach dann die Früchte oder Pflanzen, dieich damit kombinieren könnte. Das warfür mich wie eine Rückkehr in die Kind-heit, wo man Dinge konstruiert, aufbautoder zusammensteckt. Das war danneine sehr genussvolle Zeit.

Nun wollen Sie ein Buch mit diesen Por-träts veröffentlichen und das über eineCrowdfunding-Aktion finanzieren.Ich mag Bücher und bin davon über-zeugt, dass diese Bilder es wert sind, ineinem Buch veröffentlicht zu werden.Durch das Crowdfunding-Projekt wirddieses Buch zu einen gemeinschaftlichenErlebnis, einer gemeinschaftlichen Ak-tion. Gleichzeitig wird ein solchesThema, das sicherlich schwer zu kommu-nizieren ist, durch diejenigen, die es un-terstützen, zu einem Bekenntnis für eineWelt der Vielfalt und der Toleranz. Dennich glaube, dass dieses Buch diese Frauenvon der Schattenseite ihres gesellschaftli-chen Daseins auf eine Plattform hebenund ihnen eine Bühne geben kann. Denneinen Teil dieser Bücher möchte ich mitan den Amazonas nehmen und den Orga-nisationen vor Ort überlassen. Das istwichtig für ihre Arbeit, denn wenn einesolche Randgruppe sich in einem quali-tätsvollen Bildband wiederfindet, bleibtdas nicht ohne Wirkung.

— Das Gespräch führte Dirk Becker.

— Die Crowdfunding-Aktion startet am10. Februar unter www.visionbakery.com/gaudlitz-amazonen

— Die Bilder von Frank Gaudlitz sindnoch bis zum 15. Februar in der Ausstellung„Made in Potsdam“ im Kunstraum in derSchiffbauergasse zu sehen.

Frank Gaudlitz, geb.1958 in Vetschau, stu-dierte Fotografie ander Hochschule fürGrafik und Buchkunstin Leipzig bei Arno Fi-scher. Gaudlitz lebtals freier Fotograf inPotsdam.Fo

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Der Bruch in der Wahrnehmung. Das Diptychon „Alexia Santillan, 30 Jahre; und naturaleza muerta con lagarto negro; Amazonien 2013“. Fotos (4): Frank Gaudlitz

Für das Hans Otto Theater ist es eine Pre-miere: Zum mittlerweile achten Mal no-miniert das Online-Magazin „nachtkri-tik“ Kandidaten für die wichtigste Insze-nierung des Jahres, zum ersten Mal isteine aus Potsdam dabei. Über AlexanderNerlichs „Urfaust“ schreibt die „nachtkri-tik“-Redaktion: „Mit einem nahezu un-heimlichen Bühnenbild-Spiegeleffektführt Nerlich Mephisto als Fausts Doppel-gänger ein und strickt um dieses hoch-energetische Paar, das gewissermaßeneine Seele in zwei Brüsten zeigt, eine ex-plosive, lustvolle, kräftige und manchmalauch mit ihrer Jugendlichkeit protzendeInszenierung.“ Diese eine, gespalteneSeele wird in Nerlichs Inszenierung fan-tastisch-düster verkörpert von RenéSchwittay als Faust und Holger Bülow alsMephisto. Noch ist allerdings nichts ent-schieden, der Potsdamer „Urfaust“ stehtin Konkurrenz mit 44 weiteren Produktio-nen aus Deutschland, Österreich und derSchweiz, darunter etwa Yael Ronens vielgelobtem „Common Ground“ am Berli-ner Gorki-Theater.

Anders als beim Berliner Theatertref-fen, bei dem jedes Jahr eine Jury aus sie-ben Theaterkritikern zehn Sieger-Insze-nierungen auswählt, können beim virtuel-len Theatertreffen von „nachtkritik“ alleabstimmen: Theatermacher, Kritiker und

Zuschauer. Das, kritisieren einige Kom-mentatoren, biete Raum für Missbrauch,schließlich könne so jedes Theater fürsich selbst stimmen. Materiell gibt esbeim „nachtkritik“-Theatertreffen aberohnehin nichts zu gewinnen, „es gehteher darum, die zehn besten Stücke nocheinmal zu würdigen“, sagt HOT-Spreche-rin Stefanie Eue. Nur der Inszenierungmit den meisten Stimmen winkt erstmalsauch ein konkreter Preis: Zusammen mitdem Gewinner-Theater organisiert„nachtkritik“ ein Kritikergespräch im An-schluss an eine Vorstellung der siegrei-chen Produktion. Abgestimmt werdenkann unter www.nachtkritik.de. alm

Kiomi Chavez Cainamari, 30 Jahre. Anonym, Amazonien 2013.

„Paradies und Qual, Schönheit und Schmerz“Frank Gaudlitz über seine Porträts von Männern im falschen Körper, den Bruch in der Wahrnehmung und ein Buchprojekt

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Die Schüler der städtischen Musikschule„Johann Sebastian Bach“ haben mit her-vorragenden Ergebnissen beim Regional-wettbewerb „Jugend musiziert“ am 23.und 24. Januar in Rathenow abgeschnit-ten, bei dem es um die Teilnahme am Lan-deswettbewerb am 20. und 21. März inFrankfurt/Oder ging. In der Kategorie„Besondere Ensembles“ qualifiziertensich Katharina Josy (Violine), FriederikeMüller (Viola) und Johanna Müller (Wald-horn), bei den Bläser-Solisten erreichteJohanna Müller (Waldhorn) die Höchst-punktzahl. Auch Luise Henriette Caten-husen (Blockflöte) kam auf die maximalmöglichen 25 Punkte, ebenso GeorgKozlovski (Saxofon), der aber noch zujung für die Teilnahmen am Landeswett-bewerb ist. In der Kategorie „Klavier undStreichinstrument“ werden vier Duos amLandeswettbewerb teilnehmen: Rosa Ma-ria Schiefer (Violine) und Klara Schiefer(Klavier), Yen Quynh Vu (Violine) undSophia Simanowitsch (Klavier),Klara-Justine Heil (Violine) und Maria Vi-nokurova (Klavier) sowie Melissa Riedel(Klavier), die mit der Cellistin FranziskaSchulz angetreten war. In der Sparte „Mu-sical“ qualifizierte sich Anna-Lena Wer-ner (Gesang). PNN

PotsdamerSchüler bei

„Jugend musiziert“

Potsdamer„Urfaust“nominiert

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