nds 2012 - der weg zu einer anderen unterrichtskultur
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Kompetenzorientiertes Lernen
Der Weg zu einer anderen UnterrichtskulturAm Beispiel einer Unterrichtsstunde werden in diesem Beitrag Merkmale
kompetenzorientierten Unterrichts verdeutlicht, um dann zu schauen, was
Unterrichtsentwicklung in diesem Sinne zur Unterstützung von Lehrerinnen
und Lehrern leisten könnte.
Weinert (2001) defin iert Kompetenzen als
„die bei Individuen verfügbaren oder durch sie
erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertig
keiten, um bestimmte Probleme zu lösen, so
wie die dam it verbundenen motivationalen,
volitionalen (d. h. absichts- und willensbezoge
nen) und sozialen Bereitschaften und Fähig
keiten, um die Problemlösungen in variablen
Situationen erfolgreich und verantwortungs
voll nutzen zu können." Diese Definition ist
recht komplex. Leisen (2010) formuliert etwas
kürzer: „Kompetenzen werden im handelnden
Umgang m it Wissen erworben und zeigen sich
im handelnden Umgang m it Wissen. Dieses
Wissen umfasst das Fach-, Methoden- und
Strategiewissen - in der Kurzformel: Kompe
tenz = Wissen + Wollen + Handeln."
Kompetenz = Wissen + Wollen + Handeln
Was heißt dies für den schulischen Unter
richt? Am Beispiel einer Gesellschaftslehre-
stunde aus dem 5. Jahrgang soll dies verdeut
licht werden.
Der Verlauf der Stunde, in der die Kompe
tenz „Die Schülerinnen und Schüler können die
Lesestrategie 'Forscherfragen' zu Materialien
(Texte/Bilder), die sich m it einem neolithischen
Massengrab beschäftigen, anwenden" vermit
telt, ist in der Abbildung auf S. 9 dargestellt.
LINKS
Pflichtmodule Unterlagen 2011 -
lernen, planen, gestalten
http://www.studienseminar-koblenz.de
Lehr-Lernmodell kompetenzorientiert unterrichten:
http://www.leisen.studienseminar-koblenz.de
Die dargestellte Stunde entspricht folgen
den Merkmalen kompetenzorientierten Unter
richts nach Leisen (Leisen 2010):
♦ sie wird vom Lernprozess ausgehend ge
plant (Lehr-Lern-Modell);
♦ die Inhalte sind in einem Kontext darge
stellt (Deutung des Massengrabs in Eulau);
♦ die Kompetenzen werden im handelnden
Umgang m it Inhalten und Wissen ent
wickelt;
♦ die Bewältigung authentischer Anforde
rungssituationen steht im Zentrum (Ent
wicklung von Fragen);
♦ auswertbare Lernprodukte werden produ
ziert (Rollenspiel);
♦ die Reflexion und Metakognition werden ge
fördert (Selbstdiagnose des Lernzugewinns).
Ein solcher kompetenzorientierter Unterricht
stellt an Lehrkräfte besondere Anforderungen,
da er vom traditionellen Unterricht abweicht.
Ideen für Unterrichtsszenarien
Kreative Ideen für Unterrichtsszenarien und
Lernaufgaben fallen nicht vom Flimmel. Zumal
die eigene Lernsozialisation der meisten Lehre
rinnen und Lehrer auf nur wenigen Erfahrun
gen m it solchen Lernszenarien beruht. Eine
Möglichkeit, zu fruchtbaren Anregungen zu ge
langen, sind professionelle Lerngemeinschaf-
ten. Darunter verstehen Buhren/R o lff (2009)
Gemeinschaften m it gemeinsamen Werten wie
H ilfskultur und Fehlertoleranz sowie folgende
Bestimmungskriterien:
1. gemeinsame handlungsleitende Ziele,
2. Fokus auf Lernen (von SuS und LuL),
3. Deprivatisierung der Unterrichtspraxis,
4. Zusammenarbeit und
5. reflektierender Dialog (ebd.).
Unter solchen Bedingungen können Klas-
sen-, Jahrgangs- und Fachteams sehr konstruk
tiv Erfahrungen, Unterrichtsideen, Klassenar
beiten usw. gemeinsam austauschen, Lern-
standserhebungen, Schülerfeedback, Klassen
arbeiten usw. gemeinsam auswerten sowie Un
terricht, Förderpläne, Parallelarbeiten gemein
sam planen.
Materialbeschaffung
Im Zentrum des Lehr-Lern-Modells steht ei
ne Lernaufgabe, in der Informationen ausge
wertet und Lernprodukte angefertigt werden.
Mögliche Lernmaterialien können zum Beispiel
Experimentiermaterialien, Bilder, Zeichnungen,
Diagramme, Texte, Hörtexte oder Filme sein.
Der Einsatz solcher Materialien erfordert eine
umfangreichere Vorbereitung des Unterrichts
und /ode r einen umfassenden Materialpool.
Wenn professionelle Lerngemeinschaften
gemeinsam ihren Unterricht vorbereiten, kön
nen Vorbereitungsaufgaben delegiert bzw. vor
handene Materialien untereinander getauscht
werden. Ein Ort der gemeinsamen Vorberei
tungen können ritualisierte Materialüberga
ben zum Beispiel zu Schuljahresbeginn sein;
dort werden von den Fachlehrerinnen und
Fachlehrern eines Jahrgangs die Materialien
und Erfahrungen an die Kolleginnen und Kol
legen des nachfolgenden Jahrgangs überge
ben. Weitere Orte können Fachtage, Fachkon
ferenzsitzungen, Jahrgangsteams usw. sein.
Methodenkompetenz der Lehrerinnen
und Lehrer
Wenn das Lernen der Schülerinnen und
Schüler im M itte lpunkt des Unterrichts steht,
kann es keine monomethodische Struktur ge
ben. Dies meint, keine Dominanz von Frontal
unterricht m it Unterrichtsgesprächen, auch ei
ne einseitige Festlegung auf offene Unter
richtsformen ist nicht zweckdienlich.
Unsere Lerngruppen sind heterogen, somit
müssen w ir verschiedene Zugänge ermögli
chen. Unterschiedliche Kompetenzen erfordern
darüber hinaus verschiedene Lernsituationen
m it entsprechenden Methoden. Deshalb
scheint eine Verknüpfung von unterschiedli
chen Methoden wie beim kooperativen Lernen
nach Green (2005), der Sandwichstruktur im
Selbstorganisierten Lernen (SOL) nach H ero ld /
Landherr oder den Lernspiralen beim Eigenver
antwortlichen Arbeiten (EVA) nach Klippert
(2002) der erfolgversprechendste Weg zu sein.
nds 10-2011 9
Kompetenzorientierte Stundenplanung
Problemstellung1' 2,4
selber im
Bedeutungszusammenhang
entdecken
„Sammelt drei Fragen, die Euch als Alter
tumsforscher einfallen." Fragen sammeln
und sortieren „Nennt gute/schlechte
Forscherfragen''
An Lernprodukten lernen12 3 4
Aufführung der Rätsellösung Plenum:
Klärung von Fragen.
Selbstdiagnose:1,2' 3
eigenen Lernzugewinn
erkennen
TPS:
Untersucht Eure Fragen m it den
Merkmalen von guten Forscherfragen.
Was macht Ihr beim nächsten Rätsel
anders?
Lernprozess
Problemstellung entdecken
tVorstellungen entwickeln
iInformationen auswerten
♦Lernprodukt diskutieren
tLernzugewinn definieren
*Sicher werden und üben
V________________________J
Sicher werden und üben1' 3
Nächste Situation im Kompetenzerwerbsschema
Eigene Vorstellungen12,3,4
entwickeln
TPS:
.Sammelt Merkmale guter Forscherfragen."
Fachwissen für sich
durch Kommunikation
nutzbar machen1,2' 3,4
1. Beantwortet Eure Fragen mit Hilfe der
Materialien.
2. Bevor Ihr m it dem Lesen eines Materials
beginnt, notiert Ihr zwei Fragen auf die Ihr
von dem Experten eine Antwort erwartet.
3. Zusatzaufgabe: Erstellt ein Rollenspiel,
bei dem die Rätsellösung präsentiert wird.
Kom petenzen/Lernziele der Phasen: Die SuS können...
' . . . Merkmale von guten Forscherfragen benennen.
2 ... m it Hilfe von Forscherfragen Informationen einem Medium zum
neolithischen Massengrab in Eulau entnehmen.
3 ... Form und Inhalt von Forscherfragen bewerten.
4 ... die Situation des neolithischen Massengrabs in Eulau erklären.
Doch w ie werden die Kollegien entspre
chend fo rtgeb ilde t, um m it einer solchen
M ethodenv ie lfa lt unterrichten zu können?
Dazu entw ickelte K lippert (ebd.) sein erwei
tertes Haus des Lernens. N icht nur die Schü
lerinnen und Schüler müssen qua lif iz ie rt
werden, sondern es f in d e t auch eine Lehrer
qua lifiz ie rung statt. Beginnend m it Schnup
pertagen fü r das Kollegium als Vorausset
zung fü r einen klaren Beschluss der Durch
führung durch die Lehrerkonferenz, erhalten
Steuerungsteams Basisseminare, die dann
Lehrerteams m it Trainingsseminaren fo r tb i l
den können. Begleitend finden Workshops
zu Materialentwicklung, Unterrichtsevaluatio
nen, kollegialen Hospitationen, Teamteaching,
gezielter Elternarbeit sowie regelmäßige Team
besprechungen statt. So kann ein gesamtes
Kollegium systematisch fo rtgeb ilde t werden.
Wenn nach diesem gemeinsamen Prozess
neue Lehrpersonen in der Schule ankom
men, können Mentoren-Systeme den Fluss
von vorhandenem Betriebswissen gewährle i
sten. Eine ähnliche Förderungsmaßnahme
kann das „Schatten-Gehen" sein. Nach Buh-
re n /R o lf f (2009 ) hat dieses zum Ziel, dass
Erfahrungen ausgetauscht und sich gegen
se itig beraten werden kann, um b linde
Flecken aufzuhellen. Ein oder zwei Tage be
g le iten sich die „Schatten" durchgängig und
beraten sich anschließend.
Verständnis der Lehrerrolle
Lernen ist ein individueller Konstruktions
prozess, der im kollektiven Diskurs befruch
tend gefördert werden kann. Besonders Co-
Konstruktionsphasen von gelerntem Wissen
sind lau t neurobiologischer Erkenntnis beson
ders effektiv. Zentrale Kompetenzen sollen
immer wieder überlernt werden. Somit sollte
schulisches Lernen in einer organisierten und
s truk tu rie rten Lernschrittfo lge geschehen.
Wenn Lernen nun ein individueller Prozess ist,
haben Lehrende die Aufgabe der professio
nellen Gestaltung von Lernumgebungen, in
denen Lernen material- und personalgesteu
ert und zurückhaltend moderiert wird.
Dieses Verständnis der Lehrerrolle ent
spricht n icht immer dem trad itionellen Unter
richtsverständnis, wo zum Beispiel im Unter
richtsgeschehen mehr die Lehrperson im Vor
dergrund steht. Für einen kompetenzorientier
ten Unterricht wäre es wichtig, das subjektive
Lern- bzw. Lehrverständnis der Personen eines
Kollegiums oder einer Fachschaft zu them ati
sieren. Im Sinne der Theorie der subjektiven
Theorien geht es n icht um abqualifizierende
Darstellungen von einem „falschen" Ver
ständnis. Sondern subjektive Vorstellungen
von Unterricht werden durch Fortbildungen,
kollegiale Hospitationen, gemeinsame Unter
richtsplanungen in Fachkonferenzsitzungen,
ko lleg ia le Fallberatungen, Teamcoaching
usw. sichtbar gemacht und m iteinander ver
glichen. Dabei sind das Verständnis der Leh
rerrolle bei kompetenzorientiertem Unterricht
bzw. neurob io log ische Erkenntnisse eine
mögliche Perspektive von vielen.
10 BILDUNG
Um solche Prozesse in Gang zu bringen,
bedarf es lau t Buhren/R o lff (2009) folgender
Grundsätze:
♦ Freiwilligkeit: Nur wer Beratung sucht, ö ff
net sich für sie.
♦ Offenheit: Zur persönlichen Entwicklungen
müssen Stärken und Schwächen angespro
chen werden.
♦ Wertschätzung: Verständnis und persönli
che Anerkennung sind der Nährboden, auf
dem emotionale Sicherheit wachsen kann.
♦ Vertraulichkeit: Das Gesprochene bleibt in
der Gruppe, um keine Nebenfolgen befürch
ten zu müssen.
Zeitaufwand für kompetenzorientierten
Unterricht
Das zentrale Herzstück der Lernprozesse der
Schülerinnen und Schüler ist eine Lernaufgabe,
die eine Performanzsituation (Anwendungs
oder Handlungssituation) für die ausgewähl
ten Kompetenzen darstellt. „Das Herzstück des
Lernens ist die eigenständige und kooperative
Arbeit an dem Gegenstand, der Sache, dem
Thema, dem Material, (...). Es ist interaktiver
konstruktiver Prozess im Dialog m it der Sache
und m it anderen an der Sache und über die Sa
che. Es ist ein co-konstruktiver, ein im besten
Sinne hermeneutischer Prozess der Sinnkon
struktion. Lernen in diesem Sinne ist anstren
gend und herausfordernd" (Studienseminar
Koblenz 2010) und benötigt Zeit. Die Lernauf
gabe aus der Beispielstunde wäre die Partner
arbeit, wenn die Schülerinnen und Schüler die
Umstände des Massengrabs in Eulau klären.
Hinzu kommen Phasen des Überlernens von
elementaren Grundlagen, die nach Wellen-
reuther (2009) rund 50% der Unterrichtszeit
umfassen sollen. Auch wenn diese Grundlagen
(Schlüsselqualifikationen, Grundwissen usw.)
kurzfristig schon abrufbar sein sollten, müssen
sie in länger werdenden Abständen im Lang
zeitgedächtnis verankert werden.
Dies widerspricht sich manchmal m it über
fü llten schulinternen Stoffverteilungsplänen.
Konsequenz daraus sollten schulinterne Curri
cula sein, die sich an grundlegenden Fach
kompetenzen und Schlüsselqualifikationen auf
der einen Seite orientieren und auf der ande
ren Seite ein breit angelegtes Grundwissen da
m it verknüpfen.
Für den Einzelnen bedeutet dies, Schwer
punkte zu setzen und realistische Anforde
rungen an sich zu stellen. Nicht jede Stunde
kann absolut aufwendig gep lant werden.
Phasenweise kann ein Kurs ausgewählt wer
den, der aufwendiger ist bzw. Unterrichtspha
sen, in denen mehr Zeit besteht, zum Beispiel
nach einer Klausur, wird m it umfangreicheren
Lernaufgaben geplant und zum Beispiel vor
Klausuren w ird vermehrt reproduzierbares
Wissen vermittelt.
Überblick über (individuelle)
Kompetenzentwicklung
Der Kompetenzstand der Lernenden sollte
durchgängig für alle beteiligten Personen
transparent sein. Je selbstständiger die Lerne
rinnen und Lerner werden, desto mehr Verant
wortung erhalten sie. Dadurch wird ein Kön
nensbewusstsein entwickelt und eine Lerner-
persönlichkeit m it Selbstvertrauen geformt.
Die Lehrpersonen diagnostizieren und geben
Rückmeldungen bzw. regen dazu an. So wird
der Sollzustand, der sich an Standards zum
Beispiel der Kernlehrpläne orientiert, m it dem
Istzustand verglichen. Daraus ergeben sich
Konsequenzen für den weiteren Unterricht und
individuelle Fördermöglichkeiten.
Die Standards bzw. Kompetenzen der Kern
lehrpläne sind relativ abstrakte Formulierun
gen, denen variable Inhalte und konkrete Lern-
situationen zugeordnet werden sollten, um
konkrete Ideen für Unterricht zu erhalten.
Schulinterne Curricula sind also mehr als zeitli
che Stoffverteilungspläne. Sie beinhalten einen
systematischen Kompetenzaufbau, der fach
spezifisch in den Fachkonferenzen entwickelt
wird und Schlüsselqualifikationen (Lesekompe
tenz usw.), die im gesamten schulischen Rah
men festgelegt werden. Professionelle Lernge-
meinschaften können exemplarische „Brücken
stunden" planen, die eine gewisse Verbindlich
keit schaffen, die aber auch durch „privatisier
ten" Unterricht ergänzt werden können.
Fazit
Kompetenzorientierter Unterricht, der das
Lernen der Schülerinnen und Schüler in den
M itte lpunkt des Unterrichts setzt, benötigt als
Grundlage entsprechende Kernlehrpläne und
einen systematisch gesteuerten Unterrichts
entwicklungsprozess. Zentrale Initiativen könn
ten dafür von Schulleitungen ausgehen, die
Ressourcen (Entlastungsstunden, Termin
blockungen usw.) für einen solchen Prozess be
reitstellen und den Ab lau f managen.
Dirk Braun
Literaturhinweise
Buhren, C.G./Rolff H. G.: Personalmanagement
für die Schule. Weinheim u. Basel 2009
Green K./Green N.: Kooperatives Lernen im Klas
senraum und im Kollegium. Seelze-Velber 2005
Herold, M/Landherr, B.: SOL Selbstorganisiertes
Lernen. Ein systemischer Ansatz für den Unterricht.
Hohengeren 2003
Klippert, H.: Eigenverantwortliches Arbeiten und
Lernen. Weinheim und Basel 2003
Leisen, J.: Kompetenzorientiert Unterrichten mit
dem Lehr-Lern-Modell, Koblenz 2010
Lersch, R.: Kompetenzfördernd Unterrichten. In:
Pädagogik Heft 12/2007
Studienseminar Koblenz (Hrsg.): Lernprozesse pla
nen und gestalten I. Koblenz 2010.
Weinert, F. E.: Leistungsmessung in Schulen -
Eine umstrittene Selbstverständlichkeit. In: Weinert,
F. E. (Hrsg.): Leistungsmessung in Schulen. Weinheim
u. Basel 2001
Wellenreuther, M.: Forschungsbasierte Schul-
pädagogik. Baltmannsweiler 2009
Dirk Braun
Lehrer mit den Fächern Erdkunde und Biologie;
Seminardirektor Seminar Gymnasium/Gesamtschule im ZfsL Essen
nds 10-2011 11
Betrachtungen aus dem Inneren des Systemsä ■ ■.. . . . . . . . . . . . . . . ’ ' ’ . . . . 7 ' ■ ' ' i s l t k ; ' < . . K 1, _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ - - ’ ' ' ■ ^ . . . . . . . . . . . . . . . . . - -
Individuelle Förderung ~ revolutionär, aber folgenlos? M ythen der Schulpolitik, Teil 5
Als 200 6 das Recht auf individuelle Förderung im Schulgesetz verankert wurde, kam das einerr Revolution
gleich. Denn dieses Recht bedeutet, sich von einer Schule zu verabschieden, in der alle /Schülerinnen
einer Jahrgangsstufe im Gleichschritt die gleichen Inhalte mit den gleichen Methoden im bleichen Lern-
tempo lernen und ihren Leistungsstand zur gleichen Zeit an gleichen Aufgaben nachweisen. Mit dem Rechtauf individuelle Förderung wird anerkannt, dass die Schule ein soziales System ist, in dem e s \ ^ ...
um individuelle Einzigartigkeit und Diversität geht. Für seine Steuerung reichen generelle Regeln nicht aus.
Individuelle Förderung und Lernen
Individuelle Förderung hat zur Folge, das
Lehren von den Lernenden herzu denken: Ler
nen geschieht selbstgesteuert, und es wird
nur das gelernt, was das Individuum für sich
als bedeutsam erfährt. Für die Schulen heißt
das: Sie müssen für ihre Schülerinnen geeig
net sein und n icht die Schülerinnen fü r die
Schule und die Schulform. Erst dann kann es
gelingen, Anerkennung, Wertschätzung und
Ermutigung sta tt Abwertung und Demotiva-
tion zur Grundlage der pädagogischen Arbeit
zu machen und Unterricht so zu gestalten,
dass er dem Stand der Lern- und Unterrichts
forschung (vgl. nds 5 /2 0 1 1 ) entspricht.
Der Grundsatz individueller Förderung
und seine Konsequenzen
Nun könnte man zufrieden sagen: Großar
tig ! M it der Ergänzung durch das Recht auf
individuelle Förderung in § 1 SchuIG hat
Nordrhein-Westfalen die überfällige Revolu-
tionierung von Schule geschafft und aus der
Lehranstalt eine Lernschule gemacht. Nur
würde dabei übersehen, dass eine Revolution
nicht nur Einzelmaßnahmen betrifft, sondern
eine Umwälzung des gesamten sozialen Sys
tems zur Folge hat. Entsprechend hätten der
Gesetzgeber und das Schulministerium alle
normativen Vorgaben und Vorschriften auf
den Prüfstand stellen müssen: Ermöglichen
sie individuelle Förderung oder behindern sie
Die nds-Reihe „Betrachtungen aus dem
Inneren des Systems" endet mit dieser
Folge. Die Beiträge sollten gewohnte
Betrachtungsweisen „gegen den Strich"
bürsten, um den Blick zu schärfen.
Wir hoffen, das ist hier und da gelungen.
sie? Und da ist das Land NRW deutlich zu
kurz gesprungen: Es reicht nicht, die Verset
zung zum Regelfall zu erklären und bei Leis
tungsdefiziten individuelle Lern- und Förder
empfehlungen (§ 50 Abs. 3 SchuIG) vorzu
schreiben. Es geht um sehr viel mehr. Dafür
ein paar Beispiele:
♦ Die Schulstruktur muss so gestalte t wer
den, dass die Schulen und die Lehrerinnen
Verantwortung fü r ihre Schülerinnen und ihr
Lernen übernehmen; Nicht-Versetzung und
Abschulung sind dam it in der Regel n icht ver
einbar.
♦ An die Stelle von Leistungsbewertung tr i t t
die individuelle Lernstandsdiagnose und an
die Stelle von Notenstufen t r i t t die Beschrei
bung des erreichten Lern- und Kompetenz
stands - verbunden m it Empfehlungen für
die Gestaltung des weiteren Lernprozesses
und m it der Klärung, welche Unterstützung
die Schülerinnen dafür brauchen und von der
Schule erwarten können.
♦ Wann die Schülerinnen in ihrem individuel
len Lernprozess welche Kompetenzen erreichen,
ist individuell unterschiedlich. Deshalb sind al
le Vorschriften aufzuheben, die für alle Schüle
rinnen einer Lerngruppe regelmäßige Leis
tungsüberprüfungen m it den gleichen Aufga
ben zur gleichen Zeit vorsehen. Sie sind durch
gelegentliche Lernstandserhebungen zu erset
zen (und nicht zu ergänzen), die dem Einzelnen
eine Rückmeldung geben, wo er im Vergleich
m it allen anderen Schülerinnen und Schülern
der gleichen Altersstufe steht. Vertretbar sind
Leistungsüberprüfungen zur gleichen Zeit und
m it gleichen Aufgaben ausschließlich bei den
Schulabschlüssen, denn m it ihnen endet der
schulische Auftrag der individuellen Förderung
und an ihnen wird deutlich, wie weit er erfolg
reich umgesetzt worden ist.
♦ Lernen erfo lgt nicht dadurch, dass Fachun
terricht in vorgeschriebener Dosierung verab
reicht wird. Die engen Vorgaben zu den Stun
dentafeln machen es den Schulen unmöglich,
ihre Förderung so zu gestalten, dass sie zu den
individuellen Voraussetzungen und Unterstüt-
zungsbedarfen ihrer Schülerinnen passen.
♦ Individuelle Förderung setzt voraus, dass die
Schülerinnen in ihrer Entwicklung genau die
Unterstützung erhalten, die sie brauchen -
und das geht weit über das hinaus, was ihnen
der (Fach-)Unterricht und die Lehrerinnen bie
ten können. Sie erfordert deshalb multiprofes
sionelle Teams an den Schulen und in regiona
len Netzwerken, dam it z.B. Lernunterstützung
bei spezifischen Teilleistungsschwächen und
psychosoziale Beratung gewährleistet sind.
Ermöglichen sta tt Vorschreiben
Die Beispiele zeigen: Individuelle Förde
rung hat Konsequenzen für die Steuerung
von Schule. Soll individuelle Förderung nicht
zum Mythos werden, bedeutet das für die
Steuerung: Dieser Au ftrag wird zur „mission
impossible", wenn gleichzeitig Vorschriften
eingehalten werden müssen, die das Vorha
ben torpedieren. Soll individuelle Förderung
nicht zum Mythos mutieren, heißt das fü r die
Steuerung ohne Wenn und Aber: Sie muss
den Schulen ermöglichen, ihr Förderpotenzial
zu entfalten, dam it Schülerinnen und Schüler
ihr Lernpotenzial entfalten können.
A d o lf Bartz
Adolf Bartz
Leiter des Couven Gymnasiums Aachen a.D.
12 BILDUNG
Jungen haben in der Schule häufiger Probleme als Mädchen
Jungen fördern, aber wie?
Seit e lf Jahren wird der „Mädchen-Zukunftstag" mit großer Beteiligung durch
geführt. Dass es zur Berufsorientierung und Lebensplanung speziell für Jungen
inzwischen auch einen „Boys'Day" gibt, ist noch relativ neu. Der „Jungen-
Zukunftstag" knüpft an die Erfahrungen aus dem Projekt „Neue Wege für
Jungs" des Kompetenzzentrums Technik-Diversity-Chancengleichheit in Biele
feld an. Sind Jungen die Sorgenkinder der Nation?
„Nein", sagt Miguel Diaz, wissenschaftlicher
Referent und Projektbetreuer, „Jungen als Ge
samtgruppe sind nicht die Verlierer oder Be
nachteiligten in unserer Gesellschaft. Da muss
man genauer hinschauen. Es g ib t Teilgruppen,
die sich schwertun in der Schule. Jungen sind
überrepräsentiert in der Risikogruppe der be
sonders schwachen Schüler, zugleich aber auch
in der Spitzengruppe bei den sogenannten
Hochbegabten vertreten."
Diaz warnt vor Pauschalisierungen und
verweist darauf, dass schon bei den PISA-
Vergleichstests festgestellt wurde, dass der
sozioökonomische Hintergrund bedeutsamer
ist als das Geschlecht: „Bildung wird 'vererbt'
und das heißt: Die Jungs aus den unteren
Schichten haben die größten Probleme in der
Schule." Genaues Hinsehen ist also nötig.
Was ist das Dilemma?
Diaz kritisiert, dass „in der Debatte über
die Benachteiligung von Jungen vorschnell
der 'Männermangel' im Erziehungs- und Bil
dungsbereich als Erklärung angegeben wird."
Wissenschaftlich fund iert sei diese These a l
lerdings nicht. Nach einer Studie des Wissen
schaftszentrums fü r Sozialforschung Berlin
(WZB) profitieren weder Jungen noch M äd
chen im U n te rrich t von einer g le ichge
schlechtlichen Lehrkraft.
M iguel Diaz verweist darauf, dass dagegen
die Frage, inw ieweit die Orientierung an tra
dierten Männlichkeitsmustern vielen Jungen
ein Lernen in der Schule erschweren kann, in
der Bildungsdebatte wenig Beachtung findet.
„Ein strebsamer Schüler zu sein, dem Schul-
noten und Schulabschluss wichtig sind und der
dafür auch lernt, entspricht nicht dem klassi
schen Jungenbild. Jungen sind zum Teil stärker
als Mädchen in traditionellen Rollenvorstellun
gen verhaftet. Das geht durch alle sozialen
Schichten hindurch." Zugleich werde in der
Realität der Typus des Mannes als Alleinver
diener und Ernährer der Familie immer mehr
zurückgedrängt und viele typische Männerbe
rufe seien nicht mehr unbedingt zukunfts
trächtig, etwa im produzierenden Gewerbe.
Nachholbedarf in der Jungenpädagogik
Im Gegensatz zu der seit den 70er Jahren
sich etablierenden Mädchenarbeit habe die
Jungenpädagogik erst in den letzten Jahren
an Bedeutung gewonnen. Eine geschlechter
bewusste Förderung von Jungen müsse auch
die Erweiterung einengender Rollenvorstel
lung einschließen und neue Wege jenseits
trad ierter Männlichkeitsvorstellungen gehen.
M iguel Diaz p lädiert fü r eine deutlich stärke
re Auseinandersetzung m it dem Thema Ge
schlecht im Bildungsbereich, und zwar so,
dass sie allen zugute kommt. Bisher herrsche
eher eine „Geschlechterblindheit". Der sei ein
„geschärfter Blick gerade fü r die Sozialisation
und Lebenslagen von Jungen und Mädchen"
entgegenzusetzen.
In der Ö ffentlichkeit werden Jungen, die
Probleme haben, häufig als defizitär be
schrieben. Negative Schlagzeilen verschlech
tern weiter ihr Image. Verallgemeinernde Zu
schreibungen üben zudem einen bedenkli
chen Einfluss au f das Selbstbild dieser Jun
gen aus und stigmatisieren sie als Verlierer
und ihre Lebenslagen als katastrophal.
Diaz p lädiert dafür, die große Binnendiffe
renz innerhalb der Jungen und die vielen Ge
meinsamkeiten m it den Mädchen wahrzuneh
men, geschlechtsstereotypisierende Maßnah
men zu vermeiden. In der Benachteiligungs
debatte werde die große Streuung bei den
Schulleistungen der Jungen zu wenig beach
tet. Die kompetenzstarken Schüler würden zu
stark ausgeblendet und die Lebenslagen der
Mädchen bagatellisiert. Diaz: „Nach wie vor
ist die Jungenförderung ein viel thematisier
tes, aber wenig bearbeitetes Feld. Die Her
ausforderung besteht in der zunehmenden
Professionalisierung, ohne die weiterhin not
wendige Mädchenförderung ablösen zu w o l
len. Das Vernetzungsprojekt 'Neue Wege für
Jungs' organisiert gendersensible Jungenan
gebote, dam it sich das Berufswahlspektrum
von Jungen erweitert, ihre Rollenvorstellun
gen flexibler und ihre sozialen Kompetenzen
ausgebaut werden." Hanne Seiltgen
Hanne Seiltgen
nds-Redakteurin
Infos zu den Projektangeboten:
www.neue-wege-fuer-jungs.de
Angebote fü r Jungen auch bei der LAC Jungen
arbe it NRW: www.lagjungenarbeit.de