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Nachbarn Nr. 1 / 2013 Graubünden Grischun Grigioni Bildung gegen Armut Fünf Porträts von Menschen, die dank Caritas-Projekten in der Schweiz mehr wissen.

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Bildung gegen Armut

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Page 1: Nachbarn 1/2013 Graubünden

NachbarnNr. 1 / 2013

Graubünden Grischun Grigioni

Bildung gegen ArmutFünf Porträts von Menschen, die dank Caritas-Projekten in der Schweiz mehr wissen.

Page 2: Nachbarn 1/2013 Graubünden

Inhalt

Schwerpunkt

Bildung gegen Armut

Bildung ist die wirksamste Hilfe für Men-schen, die von Armut betroffen sind. Gleich-zeitig ist Bildung die beste Armutspräventi-on. Denn wer über eine hohe Bildung verfügt, findet schneller eine Stelle, verdient mehr und ist weniger gefährdet, arbeitslos zu wer-den. Fünf Porträts von Menschen, die dank Caritas-Projekten mehr wissen. Und Lö-sungsansätze, um allen einen fairen Zugang zu Bildung zu gewähren. ab Seite 6

Inhalt

Ronaldo macht eine Attestausbildung im Caritas-Markt.

2 Nachbarn 1 / 13

Editorial

3 von Bruno TschollGeschäftsleiter Caritas Graubünden

Kurz & bündig

4 News aus dem Caritas-Netz

1977

12 Schulsport Bewegung dazumals

Persönlich

13 «Welche Ausbildung würden Sie heute gerne machen, wenn Sie nochmals von vorne beginnen könnten?»

Sechs Antworten.

Caritas Graubünden

14 Schreibdienst Über 10 000 Mitmenschen leiden in unserem Kanton an einer Lese- und Schreibschwäche. Der Schreibdienst un-terstützt diese Menschen im Alltag.

16 «Wohnen in der Schweiz» Anerkannte Flüchtlinge und vorläufig aufgenommene Ausländer lernen im Kurs «Wohnen in der Schweiz», wie bei uns «gelebt» wird.

Kiosk

18 Ihre Frage an uns

Gedankenstrich

19 Kolumne von Paul Steinmann

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Editorial

3

«Nachbarn», das Magazin der regionalen Caritas-Organisationen, erscheint zweimal jährlich. Gesamtauflage: 40 130 Ex.

Auflage GR: 2 000 Ex.

Redaktion: Bruno Tscholl (Caritas Graubünden)Ariel Leuenberger (national)

Gestaltung und Produktion: Daniela Mathis, Urs Odermatt

Druck: Stämpfli Publikationen AG, Bern

Caritas Graubünden Regierungsplatz 30 7000 Chur Tel: 081 258 32 58 www.caritasgr.chPC 70-5372-2

Das Recht auf Bildung ist ein Menschenrecht. Unser Bildungs-system mit neun obligatorischen Schuljahren, Lehren, höheren Fachschulen, Fachhochschulen und Universitäten, die allen of-fenstehen, stellt dies ja auch sicher. – Diesen Aussagen werden Sie sicher zustimmen.

Trotzdem geht der Schweizer Dachverband Lesen und Schrei-ben davon aus, dass über 360 000 Schweizer Bürgerinnen und Bürger oder rund fünf bis sieben Prozent aller Altersklassen

unter schwerem Illettrismus (Lese- und Schreibschwäche) leiden. Bei ausländischen Mit-menschen wird von noch hö-heren Zahlen ausgegangen. Das bedeutet, dass jedes Jahr 4000 bis 5000 Schülerinnen und Schüler die obligatorische Schulzeit mit so ungenügen-

den Fähigkeiten verlassen, dass es ihnen schwerfällt, eine er-folgreiche Berufslehre zu absolvieren.

Aufgrund verschiedener Indizien ist davon auszugehen, dass diese Zahlen in den letzten 20 bis 30 Jahren stabil geblieben sind. Verändert haben sich aber die ökonomischen Anforderun-gen. Es existieren immer weniger Arbeitsplätze, die für Men-schen mit schwachen Schreibkenntnissen zugänglich sind.

Da nicht damit zu rechnen ist, dass im Hochpreisland Schweiz viele wenig qualifizierte Arbeitsstellen geschaffen werden kön-nen, müssen wir vermehrte Anstrengungen unternehmen, den Illettrismus zu bekämpfen. Zum einen im Interesse der Be-troffenen, zum andern im Interesse der Gesellschaft. Denn be-kanntlich werden auch Sozialhilfeausgaben über Steuergelder finanziert.

Herzlichst

Liebe Leserin, lieber Leser

Bruno Tscholl Geschäftsleiter Caritas Grau- bünden

«Bildung wird als le-bensbegleitender Ent-wicklungsprozess eines Menschen angese-hen.»

Nachbarn 1 / 13

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Kurz & bündig

4 Nachbarn 1 / 13

Caritas-Netz

Mit verein-ten KräftenDie Schweizer Caritas-Or-ganisationen arbeiten im Caritas-Netz eng zusam-men. Hier suchen sie nach Lösungen für sozialpoliti-sche Probleme und tau-schen Projekte aus.

In der Schweiz bestehen 16 regiona-le unabhängige Caritas-Organisa-tionen, die soziale Projekte direkt vor Ort realisieren. Gemeinsam mit Caritas Schweiz engagieren sie sich unter anderem in der Aktion «Armut halbieren», in der Schul-denberatung, den Caritas-Märkten, bei der KulturLegi und im Caritas-Netz. So können kleinere Organisa-tionen vom Know-how der grösse-ren profitieren.

Soziale Projekte können in neuen Regionen angeboten werden, die Kosten für Kampagnen werden unter den Mitgliedern des Caritas-Netzes aufgeteilt – auch dieses Ma-gazin ist ein Gemeinschaftsprojekt.Obwohl es grosse Unterschiede gibt, verfolgen doch alle Caritas-Organisationen dasselbe Ziel: Ar-mutsbetroffenen und ausgegrenz-ten Menschen zu helfen und sich für ihre Anliegen einzusetzen.

Soziale Aufgaben im ländlichen Raum

«Luege, lose, handle!» Die Welt verändert sich, auch im ländlichen Raum: Neue Lebensformen, hohe Mobilität, versteckte Armut und der wirtschaftliche Wandel sind Stich-worte dazu.

Die Caritas Luzern hat deshalb bei der Hochschule Luzern - Soziale Arbeit eine Studie in Auftrag gegeben unter dem Titel «Soziale Aufgaben im ländlichen Raum». In der Folge lud sie zu-sammen mit den Landeskirchen an drei Orten zu Diskussionsfo-ren ein. Hier wurden die Resultate der Studie diskutiert und an den eigenen Erfahrungen gemessen.Man stellte etwa fest, dass es die Nachbarschaftshilfe immer noch gibt, dass aber die sozialen Netze kleiner geworden sind. Viele junge Familien wohnen nicht mehr im direkten Umfeld ihrer Ursprungsfamilien. Allzu oft liegen Arbeits- und Wohnort weit auseinander. Zudem arbeiten meist beide Elternteile. So wird die ausserfamiliäre Kinderbetreuung auch in ländlichen Gebieten immer wichtiger, und es braucht Hilfsangebote für Fa-milien in Überlastungssituationen. Für die Zukunft wurden verschiedene Handlungsansätze festge-halten: Armut in ländlichen Gebieten ist oft versteckt, Betroffene suchen meist erst im letzten Moment um Hilfe. Hier gilt «Luege, lose, handle» beiderseits, für Betroffene wie das Umfeld. Man war sich einig, dass es zwar viele Initiativen und Angebote gibt, dass es aber auch zunehmend wichtiger wird, Netzwerke zu stär-ken und zu koordinieren. Zur besseren Integration von Migran-tinnen und Migranten wünscht man sich vermehrt gegenseitige Kulturvermittlung sowie Sprachförderung. Nicht zuletzt gilt es den wirtschaftlichen Wandel kritisch zu hinterfragen und auch politisch Partei zu nehmen für Benachteiligte.

eigenständige Caritas-Organisationen

In der Schweiz gibt es

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Kurz & bündig

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Regionale Caritas-Organisation

Solothurn startet neu Mit einem Caritas-Markt, einer Beratungsstelle und der KulturLegi startet Caritas Solothurn neu, nachdem sie vor zehn Jahren die Tätigkeit einstel-len musste.

Mit dem Wiederaufbau wurde Caritas Aargau beauftragt. So können Erfahrung und Wissen optimal genutzt werden. Als Geschäftsführerin verantwortet Regula Kuhn-Somm die neuen Projekte. Eine ihrer grossen Herausforderungen ist das Knüp-fen eines lokalen Netzwerks. Neben dem Caritas-Markt in Olten wird im September in Solothurn eine Beratungsstelle für Hilfe-suchende eröffnet. Geplant ist weiter, die KulturLegi im ganzen Kanton einzuführen. Am 8. Mai 2012 hatte die Mitgliederversammlung den Wieder-aufbau von Caritas Solothurn beschlossen; schon am 1. Juni nahm die Geschäftsstelle der regionalen Caritas-Organisation den Betrieb auf. Caritas Solothurn blickt auf eine bewegte Ge-schichte zurück. Nach einem breiten Engagement in den 1990er-Jahren musste sie jedoch 2003 ihre Tätigkeiten einstellen – ein grosser Leistungsauftrag ging verloren, was zu finanziellen Problemen führte. Ehrenamtlich engagierte sich der Vorstand weiter und eröffnete 2009 den Caritas-Markt in Olten. Dadurch stiess das ehrenamtliche Engagement an Grenzen. Ein intensi-ver Strategieprozess führte zum Entscheid, den Neustart einer regionalen Caritas-Organisation zu wagen. www.caritas-solothurn.ch

NEWS In guten Händen

30 000 Betreuerinnen arbeiten illegal und schlecht bezahlt in Schweizer Haus-halten. Darum bietet Caritas Schweiz neu das Projekt «In guten Händen» an: Ausgebildete Rumäninnen und Rumänen helfen älteren, gebrechlichen Menschen. Die Partnerorganisation vor Ort wählt Betreuungspersonen aus, bereitet sie vor und beschäftigt sie nach dem Schweiz-Einsatz weiter. Die Einsatzleiterin von Caritas Schweiz klärt den Bedarf mit den Betroffenen ab, führt die Betreuungsper-sonen im Haushalt ein und begleitet sie während ihres Einsatzes.

Internetzugang im Caritas-Markt Chur

Neu bietet der Caritas-Markt Chur ein In-ternet-Café für alle an. Zwei Computer ste-hen dafür zur Verfügung. Der Preis ist mit einem Franken für 30 Minuten Nutzung günstig. Das Angebot richtet sich vor allem an Armutsbetroffene, die sich zuhause kei-nen Internetanschluss leisten können.

Weihnachtsessen für Alleinstehende

Für alleinstehende, armutsbetroffene und einsame Menschen organisiert Cari-tas Zürich seit 1932 die Caritas-Weih-nacht: ein feines Essen mit einem Ge-schenk für alle Anwesenden. Auch 2012 kamen über 350 Personen ins Volkshaus. Sie liessen sich von der festlichen Atmo-sphäre und den Weihnachtsliedern, ge-sungen von Alina Amuri, verzaubern. Und konnten so einige glückliche Stunden in einer schwierigen Zeit verbringen.

Rorschach startet «FemmesTISCHE»

Caritas St. Gallen-Appenzell führt in der Ostschweiz mit Erfolg «FemmesTISCHE», das Elternbildungsprogramm mit Mig-rantinnen, durch. 2012 fanden 179 Veran-staltungen in 14 verschiedenen Sprachen statt. An den Gesprächsrunden nahmen insgesamt 1116 Frauen teil. Im Januar 2013 hat nun auch die Stadt Rorschach das Projekt gestartet. Im Mai sollen die ersten Gesprächsrunden in mehreren Sprachen durchgeführt werden.Auch in Solothurn können Menschen mit knappem Budget bald von den

Vergünstigungen der KulturLegi profitieren.

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Rubrik

Nachbarn 1 / 13

Malice B.: «Dank ‹schulstart+› kann ich die Zukunft meiner Kinder – und auch meine eigene – besser planen.»

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Schwerpunkt

alice B. und ihr Mann stammen aus kosovo-al-

banischen Familien. Die Bürokauf-frau und der Projektleiter Metallbau haben zwei kleine Söhne (3 und 5). Malice B.: «Ich bin in München auf-gewachsen. Meine Erinnerungen an die eigene Schulzeit sind schön. Auch wenn wir daheim Albanisch redeten – so wie ich es jetzt auch mit den eigenen Kindern halte –, hatte ich von Anfang an nie Probleme, dem Unterricht zu folgen. Ich war eine gute Schülerin. Dass ich eine Einführung ins Schweizer Schul-system sinnvoll fand, mag auf den ersten Blick erstaunen. Aber die Un-terschiede zwischen dem deutschen und dem schweizerischen Bildungs-wesen sind grösser, als man denkt, und so war ich dankbar, als eine Kollegin mich auf <schulstart+> aufmerksam machte. Der Kurs war toll. Stufe um Stufe lernte ich dort, wie das Schulwesen funktioniert. Nun werde ich meine Söhne besser unterstützen können, und ich habe auch für mich selber sehr profitiert. Im Kurs haben wir unter anderem Besuch aus dem BIZ bekommen; ich werde mich nun dort über den be-ruflichen Wiedereinstieg und die Weiterbildungsmöglichkeiten in-formieren. Und mit den Söhnen werde ich in der Waldspielgruppe, die ich bei <schulstart+> kennen-lernte, schnuppern gehen!»

«schulstart+»: Elternbildungs-kurs, der Familien ausländischer

Herkunft auf den Schuleintritt der Kinder vorbereitet. Der 8-wöchige Kurs vermittelt Informationen zum Schweizer Schulsystem und Tipps für die Unterstützung und Begleitung der Kinder.

Ronaldo M. und Milenko S. absolvieren im Caritas-Lebens-mittelladen die zweijährige Aus-bildung zum Detailhandelsassis-tenten. Die Eltern von Ronaldo M. stammen aus Angola. Dass er nicht

der einzige Lernende im Betrieb ist, sondern mit Milenko S., dessen Familie bosnischer Herkunft ist, einen Kollegen hat, freut ihn sehr. Ronaldo M.: «Ich gehe die Dinge positiv an. Freizeit heisst für mich: Spass haben, tanzen, Musik hören. Als ich mich 2011 für die Lehrstelle bewarb, hat man mir erzählt, dass

arbeitslose Leute oder Asylsuchen-de im Lebensmittelladen einen Arbeitseinsatz machen und dass es deshalb immer wieder Wechsel gibt. Man muss flexibel sein und Freude an neuen Leuten haben, damit es einem hier gefällt. Für mich ist das bestens. Es läuft mir gut in der Lehre. Wir haben gute Chefs, die uns auch genügend Zeit gewähren, um für die Schule zu ler-nen.» Milenko S.: «Eigentlich habe ich Logistiker werden wollen. Aber meine Schulnoten lagen zu tief. Im zehnten Schuljahr hat mich der Berufscoach dann auf die Attest-lehren bei der Caritas aufmerksam gemacht. Mir gefällt es hier. Ich lerne viel – über die Lebensmittel, über ihre richtige Lagerung, über Hygiene. Und jetzt beginnen Ro-naldo und ich uns bereits auf die Lehrabschlussprüfung vorzube-reiten. Wenn unsere Vorgesetzten mal unterwegs sind, haben nun wir die Verantwortung im Laden. Was ich nach dem Lehrabschluss ma-chen möchte, weiss ich noch nicht genau. Auf jeden Fall will ich eine Vollzeitstelle.»

Attestlehre Die Caritas bietet Ausbildungsmöglichkeiten in unterschiedlichen Bereichen an, unter anderem Attestlehren im Caritas-Markt. Diese zwei Jahre dauernden Ausbildungsgänge eröffnen Jugendlichen mit Migrati-onshintergrund berufliche Zu-kunftsperspektiven.

Bildung macht stark Bildung ist Selbstverwirklichung und führt zu mehr Selbstbestimmung. Fünf Menschen, die dank Caritas-Projekten neue Ideen, neue Möglichkeiten, neue Freunde gefunden haben, erzählen.

Text: Ursula Binggeli Bilder: Urs Siegenthaler

M

Ronaldo M. und Milenko S.: «Unser Lehr-betrieb ist speziell, weil der Caritas-Markt sozial ist.»

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Schwerpunkt

Regina B.Seit langer Zeit kämpft Regina B. mit Depressionen. Dennoch hat sie als alleinerziehende Mutter viele Jah-re alle Herausforderungen bewältigen können. Als ihre Tochter in die Pubertät kam, fürchtete Regina B. dann aber, dem Mädchen nicht ausreichend Grenzen setzen zu können. Deshalb lebt dieses heute in einem Schulheim. Regina B.: «Seit fünf Jahren sind meine De-pressionen so stark, dass ich grosse Mühe habe, alleine unterwegs zu sein. Ohne meinen Hund Bubi, der mich überallhin begleitet und sehr kontaktfreudig ist, hätte ich mich auch nicht in den Italienischkurs getraut, den ich letztes Jahr besuchen konnte. Mit der KulturLegi der Caritas gab es 50 Prozent Rabatt, und der Sozial-dienst hat den Restbetrag übernommen. Den Kursbe-such habe ich sehr genossen. Ich lernte dort gute Leute kennen, und es machte mir Spass, mich mit der italie-nischen Sprache auseinanderzusetzen. Seit drei Jahren habe ich einen lieben Partner, mit ihm kann ich auch Ausflüge unternehmen. Er hat Bekannte in Italien,

Regina B.: «Der von der KulturLegi ermöglichte Italienischkurs hilft mir, auf Leute zuzugehen.»

und letztes Jahr sind wir zu diesen in die Ferien ge-gangen. Es freut mich, zu wissen, dass ich mich beim nächsten Mal besser mit ihnen werde verständigen können. Bubi ist mittlerweile 10 Jahre alt. Aber dass sein braunes Fell auf dem Rücken weiss geworden ist, hat sicher nicht mit dem Alter zu tun, sondern damit, dass ich ihn so oft streichle!»

KulturLegi: Ein Angebot für Personen, die nachweis-lich am oder unter dem Existenzminimum leben. Mit der KulturLegi gibt es in den Bereichen Bildung, Kultur, Sport und Freizeit einen Rabatt von mindes-tens 30 Prozent auf über 1300 Angeboten in der ganzen Schweiz.

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Schwerpunkt

nahen Verwandten, die im Iran getötet worden sind, und die Wände sind noch fast kahl. Ich traue mich nicht, sie zu schmücken, weil ich nach wie vor Angst habe, alles wieder zu verlieren. Das Gefühl von Sicher-heit ist noch nicht zurückgekehrt. Aber ich will meinen Weg gehen. Aktuell arbeite ich als Pflegehelferin. Mein Ziel ist es, Fachfrau Gesundheit zu werden.»

Kompass: Ein Deutsch- und Integrationskurs für erwerbslose anerkannte Flüchtlinge mit B- oder F-Bewilligung sowie vorläufig Aufgenommene nach Abschluss des ersten Deutschkurses. Der Kurs umfasst 15 Lektionen pro Woche und dauert acht Monate.

Bahar E.Mahabad heisst die kurdische Stadt im Nordwesten des Irans, in der Bahar E. lebte, bevor sie mit ihrem Mann und den Kindern (heute 12 und 17) wegen ihres politi-schen Engagements via Irak und Türkei in die Schweiz fliehen musste. Bahar E.: «Als ich vor fünf Jahren in die Schweiz kam, erschrak ich ob der Distanz, mit der man hier Fremden begegnet. Wir Kurdinnen und Kur-den haben ein heisses Herz, wie man bei uns sagt. Ich habe dann begonnen, aktiv auf Menschen zuzugehen. So trat ich dem Frauenturnverein der Ortschaft bei, in welcher meine Familie und ich nach fast zwei Jahren in Asylunterkünften nun unsere eigene Wohnung haben. Seit wir die B-Bewilligung besitzen, stehen uns viel mehr Möglichkeiten offen. Ich konnte auch den Kom-pass-Kurs der Caritas besuchen und mich dort gut auf den Einstieg in die Arbeitswelt vorbereiten. Das war sehr hilfreich. Der Übergang ins neue Leben ist nicht einfach für mich. Ich trage viele schmerzliche Erinne-rungen in mir. In unserer Wohnung stehen Fotos von

Bahar E.: «Der Kompass-Kurs erleichtert mir den schwierigen Übergang ins neue Leben.»

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Schwerpunkt

igentlich ist die Schule für alle da. Doch nur wenn der Zugang zu Schule und Bil-dung für alle gleich ist, haben alle die gleichen Chancen. Dem ist heute nicht so. Obwohl in der Schweiz die Investitionen in

das Bildungswesen knapp im Durchschnitt der OECD-Länder liegen, bestehen bei uns nach wie vor Lücken im Zugang zur Bildung. Diese treffen vor allem Perso-nen, die wegen ihrer Herkunft sowie wegen fehlender finanzieller Ressourcen ohnehin schon benachteiligt sind. Damit festigt das schweizerische Bildungssys-tem die bestehenden sozialen Ungleichheiten.

Zahlen sprechen eine deutliche SpracheDabei ist es offensichtlich, dass fehlende Bildung in einer Wissensgesellschaft wie jener der Schweiz das Armutsrisiko massiv erhöht. So belegen Zahlen, dass zwei Drittel der Sozialhilfeempfängerinnen und -emp-fänger über keine nachobligatorische Ausbildung ver-fügen – bei den jugendlichen Sozialhilfeempfängern sind es fast 70 Prozent. Vor diesem Hintergrund wirkt die Tatsache stossend, dass 17 Prozent der 15-Jährigen nur mangelhafte Lesekompetenzen aufweisen, sodass ihre weiter Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten eingeschränkt sind.

Mit Bildung gegen ArmutFehlende Bildung ist in der Schweiz das Armutsrisiko Nummer eins – wer keinen Berufsabschluss hat, findet kaum einen Job. Caritas fordert einen nationalen Bildungsplan.

Text: Iwona Swietlik Illustration: Patric Sandri

E

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Schwerpunkt

Ein nationaler BildungsplanDie bestehenden Lücken und Hindernisse im Zugang zu Bildungsaktivitäten sind zu einem grossen Teil Resultat des schweizerischen Föderalismus. Sie sind durch das Fehlen eines allgemeinen Bildungsplans er-klärbar, wie ihn bereits die OECD oder schweizerische Institutionen wie die Arbeitsgruppe «Zukunft Bil-dung Schweiz» empfehlen. Auch Caritas kommt zum Schluss: Ein nationaler Bildungsplan muss das Kon-zept des lebenslangen Lernens auf politischer Ebene verankern. Er soll den Kantonen klare Rahmenbedin-gungen für die Umsetzung aufzeigen. Zentral ist ein besserer Zugang zu Bildungsaktivitäten für benachtei-ligte Personen.Mit der KulturLegi, dem Patenschaftsprojekt «mit mir» und dem Elternbildungsprojekt «schulstart+» erleichtert Caritas armutsbetroffenen Menschen den Zugang zu Bildung bereits heute.

Links und Publikationen

Kampagne «eigentlich». Die regionalen Caritas-Organisationen machen auf Probleme im Bildungsbereich aufmerksam und zeigen Lösungsansätze auf. Details unter www.gegen-armut.ch

Sozialalmanach 2013. Das Caritas-Jahrbuch zur sozialen Lage der Schweiz mit dem Schwerpunkt «Bildung gegen Armut». Zu bestellen unter www.caritas.ch/sozialalmanach

LösungsansätzeCaritas fordert, dass alle Zugang zu Bildung haben, unabhängig von Alter, Herkunft und finanziellen Ressourcen.

Konkret empfehlen wir:– die Frühförderung zu verbessern – denn

zurzeit ist es eher zufällig, ob ein Kind von einem familienergänzenden Angebot pro-fitiert oder nicht. Dabei werden die Wei-chen für die Bildungslaufbahn bereits im frühen Alter gestellt.

– die Elternarbeit zu stärken – denn gerade benachteiligte Familien leiden unter sozi-aler Isolation und mangelhaften Informa-tionen. Elternarbeit soll als Teil der Interg-rationsförderung und des Bildungswesens verstanden werden – durch Bildungsange-bote für Eltern sowie Einsatz von kulturel-len Übersetzerinnen und Übersetzern.

– den Illettrismus zu bekämpfen – 800 000 Menschen im Alter zwischen 16 und 65 Jahren in der Schweiz können kaum le-sen. Es müssen Bildungsstrukturen ge-schaffen werden, welche die Integration benachteiligter Personen fördern (z. B. Tagesstrukturen) und informelle Angebo-te gestärkt werden (z. B. offene Jugendar-beit).

– die Berufsbildung zu sichern – denn über 15 Prozent der Menschen im Erwerbsalter haben keinen Berufsabschluss. Ihre Er-werbslosenquote ist doppelt so hoch wie jene von Personen mit Abschluss. Auch die Working-Poor-Quote ist fast dreimal so hoch. Die Berufsbildung kann durch Sti-pendien, Berufsbildungsfonds und Steuer-abzüge für Lehrbetriebe gefördert werden.

– Nachhol- und Weiterbildung für Armuts-betroffene zu ermöglichen – denn der Wei-terbildungsmarkt festigt die bestehenden Ungleichheiten. 80 Prozent der am besten ausgebildeten Personen besuchen Wei-terbildungen – im Vergleich zu lediglich 20 Prozent der Personen ohne nachobliga-torische Ausbildung. Finanzielle Hürden abbauen und informelle Bildungsleistun-gen anerkennen hilft, damit sich auch be-nachteiligte Personen weiterbilden kön-nen.

0 10 20 30 40 50 60

Anteil gesamte Bevölkerung in %

Anteil Sozialhilfebezüger in %

Ausbildung

Berufsausbildung oderMaturitätsschule

Universität oderhöhere Fachausbildung

Sozialhilfebezüger haben besonders oft keine berufliche Ausbildung (Quelle: Bundesamt für Statistik BFS).

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Schulsport

Körperlicher Ausgleich war seit je Teil der Schulprogramms. 1970 sagte das Schweizer Stimmvolk Ja zur Förderung von Turnen und Sport auf allen Alter-stufen, was zu einer Ausweitung des Sportunterrichts auf die Berufsschulen führte. Heute finden Bewegungspro-gramme auch im Arbeitsalltag, auf der Baustelle, in Beschäftigungsprogram-men Einzug.

Bild: Bodenübungen im Turnunterricht © Emanuel Ammon. In seinem im Buch «70ER» sind weitere Fotografien aus den 1970er Jahren zu sehen. www.aura.ch

1977

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Persönlich

Marieli Gerber, Rezeptionis-tin im Spital, Schiers:Da ich ein sehr offener Mensch bin und gerne auf fremde Men-schen zugehe und mich mit Ihnen unterhalte, würde ich eine Ausbil-

dung wählen, bei der ich mit vielen Leuten auch aus anderen Ländern und Kulturen in Kontakt komme, wie zum Beispiel im Hotelfach, Reiseleiterin oder in einem Reisebüro. Auch würde ich unbedingt Spra-chen lernen, damit ich mit den heutigen Möglichkei-ten die Welt bereisen könnte.

Lobsang Zatul, Sachbear- beiter und Tibetischlehrer, Horgen:In meiner Freizeit unterrichte ich die tibetische Sprache und Schrift. Das ist meine Passion und mein

bescheidener Beitrag, unsere Kultur am Leben zu erhalten. Wenn ich heute nochmals neu beginnen könnte, würde ich eine Ausbildung machen, die mit der tibetischen Kultur zu tun hat. Dann könnte ich mein Hobby zum Beruf machen.

Florian Studer, Arbeitsuchen-der, Luzern:Ich würde Agronom werden wol-len. Es gibt vielseitige Tätigkei-ten in der Landwirtschaft. Das Entwickeln und Erforschen neuer

Methoden gefällt mir. Am liebsten möchte ich einen landwirtschaftlichen Betrieb führen. Ich möchte in der Forschung aktiv sein und selbst Pflanzen züchten und eine artgerechte Haltung von Nutztieren führen. Seit kurzem habe ich ein Studium abgeschlossen und bin zurzeit auf Arbeitsuche.

Tsega Bahta Desta, Flücht-lingsfrau, Ennetturgi:In meiner Heimat Eritrea bin ich nur drei Jahre zur Schule gegan-gen. Mit 13 musste ich die Schule verlassen und in einer Textilfa-

brik arbeiten, um unsere Familie zu unterstützen. Wenn ich noch einmal die Chance hätte, dann würde ich weiter die Schule besuchen und dann eine Ausbil-dung als Kauffrau in einer Bank machen. Das wäre mein Traum gewesen.

Catrina Mugglin, Ärztin, Bern:Ich würde die Piratenakademie besuchen, Weltumseglerin wer-den, als Doppelagentin in gehei-mer Mission Verschwörungen

aufdecken und Geschichtenerzähler am Ende der Welt aufspüren, um mich als professionelle Zuhöre-rin ausbilden zu lassen. Aber in der Realität würde ich doch nicht viel anders machen. Mein Alltag als Ärztin ist voller Abenteuer, Rätsel, Geschichten und Wunder.

«Welche Ausbildung würden Sie heute gerne machen, wenn Sie nochmals von vorne beginnen könnten?»

Markus Hiltebrand, eidg. dipl. Maurer, Basel:Ursprünglich bin ich Maurer und habe auch drei Jahre auf dem Be-ruf gearbeitet. Dann wechselte ich zu einer Temporärfirma, wo ich

Abteilungsleiter wurde. Schliesslich übernahm ich die Betriebsleitung in der Reinigungsbranche. Heu-te würde ich direkt die Ausbildung zum technischen Kaufmann anstreben und mich berufsbegleitend zum Betriebsleiter weiterbilden, da mir der Umgang mit Menschen sehr zusagt.

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Caritas Graubünden

SchreibdienstÜber 10 000 Mitmenschen leiden in unserem Kanton an einer Lese- und Schreibschwäche. Ihnen fällt deshalb unter anderem auch das Verstehen von offiziellen Schreiben und das Ausfüllen von Formularen schwer.

Text: Bruno Tscholl Bild: Urs Siegenthaler

s ist wohl schon vielen schwergefallen, ein amt-liches Schreiben zu verstehen oder ein Formu-lar korrekt, ohne mehrmaliges, konzentriertes

Durchlesen, auszufüllen. Kurz, viele Formulare und Texte kommen einem «spanisch» vor. Menschen, die unter Illettrismus (Lese- und Schreibschwäche) leiden oder fremdsprachig sind, gelingt dies mitunter über-haupt nicht.Um Betroffenen zu helfen, bietet Caritas Graubünden seit 2012 den Schreibdienst an. Er wird durch die Lei-

terin der Sozialen Kontaktstelle, Suzanne Zahner, ge-führt. Dank der Leiterin der Diakoniestelle, Cristina Bondolfi, wird der Dienst auch in italienischer Sprache angeboten.Den Hilfesuchenden werden Korrespondenzen von Be-hörden und Ämtern entweder vorgelesen oder in einfa-chen Worten erklärt, notwendige Antworten geschrie-ben und Formulare ausgefüllt. Ebenso wird ihnen bei der Beschaffung von angeforderten Unterlagen und Belegen geholfen.

((Bildlegende))

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Caritas Graubünden

Bewerbungsdossiers aktualisierenFür Bewerbungen werden saubere und moderne Le-bensläufe sowie schlichte Bewerbungsschreiben er-stellt. Ebenfalls werden weitere Tipps für das Erstellen eines sorgfältigen Bewerbungsdossiers gegeben.So wie Franziska Meier (Name geändert), die im Rah-men ihres Einsatzes als Arbeitslose im Caritas- Center vom Angebot des Schreibdienstes Gebrauch gemacht hat. Nach langem erfolglosem Suchen hat sie nun end-lich eine neue Arbeitsstelle gefunden.«Immer wieder habe ich Bewerbungen versandt und mich auf viele offene Stellen beworben, aber jedes Mal bekam ich eine Absage. Caritas Graubünden hat mein Bewerbungsdossier geprüft und mit mir mein Bewer-bungsschreiben sowie meinen Lebenslauf angepasst. Zusätzlich erhielt ich notwendige Tipps, wie ich mich in einem Vorstellungsgespräch präsentieren muss. Nun habe ich nach langem Suchen endlich eine Ar-beitsstelle gefunden. Für die Hilfe von Caritas Grau-bünden bin ich sehr dankbar!»

Vom Mietgesuch bis zur SteuererklärungUnterstützung wird aber auch beim Ausfüllen von Mietgesuchen, allfälligen Kündigungen oder andern privaten Schreiben lang geboten.Da oft auch das Rechnen ungenügend beherrscht wird, werden auch Steuererklärungen erstellt, Veranla-gungsverfügungen kontrolliert und allfällige Einspra-chen verfasst.Wie das Beispiel von Giachen Deflorin (Name geändert) zeigt, konnte auch ihm der Schreibdienst eine grosse Hilfe sein. Da er nicht wusste, wie Steuererklärungen auszufüllen sind, reichte er diese einfach nicht ein. Er erhielt Mahnungen, wurde gebüsst und veranlagt. Da er die Steuerrechnungen und Bussen nicht zahlen konnte, wurde er sogar betrieben. Es kam zu Lohn-pfändungen. Nachdem er sich an den Schreibdienst von Caritas Graubünden gewandt hatte, wurde festge-stellt, dass sein Einkommen aus seiner 50-Prozent-An-stellung als Hilfsarbeiter sowie der IV-Rente inklusive Ergänzungsleistungen unter dem steuerbaren Min-desteinkommen liegt. Seit 2012 muss er keine Steuern mehr bezahlen. «Da ich mit dem Ausfüllen der Steuer-erklärung überfordert war, habe ich diese einfach nicht ausgefüllt und auch nicht eingereicht. Ich erhielt Mah-nungen, Bussen und Steuerrechnungen, die ich nicht bezahlen konnte. Schliesslich habe ich Hilfe bei Ca-ritas Graubünden gesucht. Zusammen haben wir die Steuererklärung ausgefüllt und eingereicht. Es stellte sich heraus, dass ich keine Steuern bezahlen muss. Mir ist eine grosse Last von den Schultern gefallen und ich danke Caritas Graubünden von Herzen für ihre Hilfe!»www.caritasgr.ch/hilfe

Schreibhilfe

Caritas Graubünden bietet neu Hilfe beim Erstellen von Bewerbungsdossiers, einfachen Übersetzungen, dem Ausfüllen von Formularen und Steuererklärungen, Zu-sammenstellen von diversen Unterlagen für die Behör-den und beim Schreiben von einfacher Korrespondenz in deutscher und italienischer Sprache an.

Kontakt: Caritas GraubündenRegierungsplatz 30, 7000 ChurSuzanne ZahnerTel: 081 258 32 58E-Mail: [email protected]

Öffnungszeiten: Montag bis Freitag, von 9.00 bis 11.00 Uhr und von 14.00 bis 17.00 Uhr

GloSSAr uNd PuBlikAtioNEN Analphabetismus

Situation einer Person, die keine oder fast keine Schulbil-dung besitzt und somit weder schreiben noch lesen ge-lernt hat.

Illettrismus

Situation einer Person, welche die obligatorische Schule besucht hat, jedoch Lesen, Schreiben und Rechnen nur ungenügend beherrscht. Dadurch können diese Perso-nen nicht aktiv am sozialen, familiären und beruflichen Leben teilhaben. In der Schweiz sind die Personen, wel-che von Illettrismus betroffen sind, in der Regel keine An-alphabeten.

Mehr zu Illettrismus

Lesen und Rechnen im Alltag. Grundkompetenzen von Erwachsenen in der Schweiz, Bericht BFS, 2006 (pdf)

PISA 2000. Synthese und Empfehlungen, BFS, 2003

Bildungsmosaik Schweiz. Bildungsindikatoren, BFS, 2007

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Caritas Graubünden

«Wohnen in der Schweiz»Seit November des vergangenen Jahres vermittelt Caritas Graubünden im Auftrag des kantonalen Sozialamtes Erstwohnungen für anerkannte Flüchtlinge und vorläufig aufgenommene Ausländer. Um die Chancen bei der Wohnungssuche zu verbessern, lernen die Betroffenen im internen Kurs «Wohnen in der Schweiz», wie bei uns «gelebt» wird.

Text: Bruno Tscholl Bild: Daniel Eberhard

Den Wohn-Alltag bewältigen: Am Kurs herrscht eine entspannte Atmosphäre.

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Caritas Graubünden

ie angespannte Situation auf dem Immobilienmarkt mit wenig preiswertem

Wohnraum erschwert es vielen Menschen eine bezahlbare Miet-wohnung zu finden. Am stärksten betroffen sind dabei anerkannte Flüchtlinge und vorläufig aufge-nommene Ausländer (VA7+). Die Gründe sind vielfältig; sie beziehen Sozialhilfe, kommen aus anderen Kulturkreisen, Vorurteile, schlech-te Erfahrungen von Vermietern in der Vergangenheit und so weiter. Dank der Kompetenz bei der Prä-vention und Bekämpfung von Ar-mutsbetroffenen, unabhängig von Religion und Herkunft, hat das kantonale Sozialamt Caritas Grau-bünden mit der Erstvermittlung von Wohnungen für anerkannte Flüchtlinge und vorläufig aufge-nommene Ausländer beauftragt.Das selbständige Wohnen wirkt in-tegrativ und fördert die angestrebte wirtschaftliche Selbständigkeit der Betroffenen. Erfolgreiche Integrati-on ist wie ein Mosaik: Viele kleine Elemente ergeben das grosse Gan-ze. Nebst der lokalen Sprache, einer Arbeitsstelle und aktiver Teilnah-me in der Gemeinschaft ist auch das Wissen über «Wie wird hier ge-lebt?» sehr wichtig. Wieso dies so wichtig ist? – Nun denn:

Könnten Sie sich problemlos in einem Wohnquartier, einem Wohnhaus in Eritrea einleben? Sind Sie mit den kulturellen Gepflogenheiten vertraut?

Deswegen vermittelt Caritas Grau-bünden den Wohnungssuchenden das Basiswissen für ein möglichst reibungsloses Zusammenleben mit den übrigen Mieterinnen und Mietern. Ebenso werden die Be-dürfnisse und Anforderungen der Vermieterschaft aufgezeigt. Zentral ist dabei, wie bei allen Projekten der Caritas Graubünden, die Eigenver-antwortung jeder einzelnen Person aktiv zu fördern. Durch die Sensi-bilisierung für wichtige Themen

in den Mietverhältnissen wird eine möglichst reibungslose Integration angestrebt.Der Kurs «Wohnen in der Schweiz» ist in vier Teile zu je drei Lektio-nen aufgeteilt. Damit die Schulung eine möglichst optimale Wirkung erzielt, wird mit diversen Unterla-gen, Fotos und Beispielen gearbei-tet. Ebenso wird die Kursleiterin bei Bedarf durch eine interkulturell dolmetschende Person unterstützt. Der Kurs ist proaktiv gestaltet, die einzelnen Kursthemen werden ge-meinsam erarbeitet und vertieft.Im Einführungsteil werden die un-terschiedlichen Wohnformen im Heimatland und in der Schweiz miteinander verglichen. Wichtig ist dabei, dass Befürchtungen und Ängste bezüglich des Zusammen-lebens abgebaut werden können. Im zweiten Kursteil lernen die Teilnehmenden die Bedeutung der Hausordnung, die Aufgaben des Hauswartes, den Umgang mit den Nachbarn sowie unser Kehricht- entsorgungssystem, inklusive Recycling und Sortieren der Abfälle zu Materialgruppen, kennen.Der dritte Teil ist der Hygiene und der Reinigung gewidmet. Grosser Wert wird dabei auf die Verwen-dung der richtigen Reinigungsme-thoden und -mittel gelegt. Anhand von Praxisbeispielen wird die Rei-nigung von Küchen, Fenstern, Bo-denbelägen und sanitären Einrich-tungen gezeigt.Im letzten Kursteil werden das Raumklima mit dem korrekten Lüften und Heizen, das System der Nebenkostenabrechnungen, der Mietvertrag und die nötigen Versi-cherungen thematisiert.Der grössere öffentliche Cafébe-reich ermöglicht es nun auch, nebst duftenden Kaffeespezialitäten, Tees und Softdrinks auch hausge-machtes Birchermüesli, Sandwi-ches und kleine Snacks anzubieten. Das Café soll ein Treffpunkt für alle sein. Ganz im Sinne eines nieder-schwelligen und ungezwungenen Integrationsortes.

D GloSSAr Aufgenommene Flüchtlinge

Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer be-stimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschau-ungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden. Sie werden dauerhaft aufgenommen.

Vorläufig aufgenommene Flüchtlinge und VA7+

Asylsuchende, deren Gesuch ab-gelehnt worden ist, die jedoch nicht in ihr Heimatland zurückkeh-ren können, erhalten eine vorläufi-ge Aufnahme. Dies aus folgenden drei Gründen.

Die Wegweisung aus der Schweiz ist:– nicht zumutbar, z.B. wegen

Krieg oder schwerwiegender persönlicher Notlage,

– nicht zulässig (Verstösse gegen die Europäische Menschen-rechtskonvention),

– nicht möglich (die Durchfüh-rung der Reise ist zum Zeit-punkt der Rückschaffung tech-nisch nicht möglich).

Menschen mit dem Aufenthalts-status VA7+ sind seit über sieben Jahren in der Schweiz, wobei sie bis zum siebten Jahr in Durch-gangszentren gelebt haben.

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Kiosk

divErSESSoziale Kontaktstelle

Wir bieten notleidenden Personen und Familien in Form von Information und Beratung individuelle Hilfe an. Die Sozialbegleitung/-beratung steht unter Schweigepflicht, ist unentgeltlich und neutral. Unsere Dienste stehen allen Menschen im Kanton Graubünden zur Verfügung. Die soziale Kontaktstelle ist geöffnet von Montag bis Freitag von 9 bis 11 Uhr und 14 bis 17 Uhr.Kontakt:Frau S. Zahner, Tel: 081 258 3 258, E-Mail: [email protected]

Marktkarte/KulturLegi Chur

Mit der Marktkarte/KulturLegi kann im Caritas-Markt zu stark vergünstigten Preisen eingekauft werden. Ebenso er-möglicht die KulturLegi armutsbetroffe-nen Menschen in Chur einen preiswerten Zugang zu vielfältigen Kultur-, Bildungs- und Sportangeboten.Die Abklärungen und die Ausgabe von Marktkarten und der KulturLegi Chur werden von Montag bis Freitag jeweils von 9 bis 11.30 Uhr vorgenommen. Anmeldung am Empfang im Caritas- Center, Regierungsplatz 30, 7000 Chur.

Armutsbetroffene Kleintierhalterinnen und -halter

Wir unterstützen armutsbetroffene Klein-tierhalterinnen und -halter.Die Kontaktstelle ist jeweils Montag bis Freitag von 9 bis 11 Uhr und 14 bis 17 Uhr offen.Kontakt: E-Mail: [email protected]

Caritas-Café

Neu stehen Ihnen im Caritas-Café beim Caritas-Markt an der Tittwiesenstrasse 29 in Chur zwei Computer mit Internet-zugang zur Verfügung. Sie sind für alle zugänglich. Sie benötigen dazu keine Caritas-Markt-Einkaufskarte.Öffnungszeiten: Montag bis Freitag durchgehend von 9 bis 18.30 UhrSamstag durchgehend von 9 bis 12 Uhr.

Preiswerte kleine Mahlzeiten im Caritas - Center

Das Caritas - Center am Regierungsplatz in Chur bietet preiswerte kleine Mahlzeiten an:• Suppen mit Brot Fr. 5.00• Schinken-Käse-Toast Fr. 4.90• Toast Hawaii Fr. 4.90• Hausgemachtes Birchermüesli mit Brot Fr. 6.50• Kleine Sandwiches Fr. 3.00

Öffnungszeiten: Montag bis Freitag durchgehend von 08.30 bis 18.00 UhrSamstag von 09.30 bis 13.00 Uhr

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Ihre Frage an uns

Die Zahl der Working Poor geht zurück. Löst sich also das Problem der Armut von selbst?

Marianne Hochuli, Leiterin Bereich Grundlagen bei Caritas Schweiz: «Zwischen 2008 und 2010 ist die Armutsquote der er-werbstätigen Bevölkerung laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) etwas gesunken. Dazu mag die verbesserte Arbeitsmarkt-lage der Jahre zuvor beigetragen haben. Denkbar ist aber auch, dass ein Teil der Working Poor ausgesteuert wurde und darum gar nicht mehr in der Statistik erscheint. Im Jahr 2010 waren nach BFS 120 000 Personen im Erwerbsalter arm, obwohl sie ar-beiteten. Da diese Working Poor grösstenteils in Mehrpersonen-haushalten leben, sind auch ihre Kinder von dieser Art von Ar-mut betroffen – das ergibt eine Summe von mindestens 270 000 Personen, was für die reiche Schweiz viel zu viel ist.Um diese Zahl zu senken, fordert Caritas faire Löhne, die Verein-barkeit von Beruf und Familie sowie Aus- und Weiterbildungen

für alle. Mit Frühförderprojekten oder Mentoring von jungen Menschen in der Ausbildung setzen wir uns auch konkret dafür ein, dass armutsbetroffene Men-schen die Chance erhalten, ihr Leben selbstbewusst in die Hand nehmen zu können.»

Haben Sie auch eine Frage an uns? Gerne beantworten wir diese in der nächsten Ausgabe von «Nachbarn». Senden Sie Ihre Frage per E-Mail an [email protected] oder per Post an:

Redaktion NachbarnCaritas Zürich Beckenhofstrasse 16, Postfach8021 Zürich

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Gedankenstrich

Engel

Paul Steinmann wohnt in Rikon. Nach einem Theologiestudium war er im Theater tätig, zuerst als Schauspieler, dann als Regisseur, er arbeitet jetzt vor allem als Autor. Er pendelt zwischen Freilichttheater und Kabarett, Musical und Kinderstücken. Aktuelles unter www.paulsteinmann.ch

Illustration: Patric Sandri

ie erwachte in ihrem Bett. Noch liegend versuchte sie sich an ein Gesicht von ges-

tern zu erinnern. Dann stand sie auf und wunderte sich, dass sie die Kleider schon anhatte. Die Schuhe musste sie suchen. Sie standen auf dem Fernsehkasten. Beide akkurat nebeneinander. Mit einer Bürste fuhr sie sich durch die graublonden Haare. Sie hatte Kopfschmerzen. Mit jedem Bürstenstrich wurden sie grösser. Sie blickte nicht in den Spiegel, als sie auf die Toilette ging. Sie setzte sich auf die Schüssel, pinkelte und zog dann den Man-tel an, den sie einst in einem Klei-dersack gefunden hatte. Man sah, dass er einmal hell gewesen war. Jetzt schimmerte er in einem leicht speckigen Graubraun. Für sie war er aber noch immer «mein weisser Mantel». Dann ging sie die Treppe hinun-ter, schaute in ihren Briefkasten, nahm die Gratiszeitung heraus und schaute schnell die Bilder an. Manchmal buchstabierte sie sich ein Wort zusammen. Vor allem, wenn sie wissen wollte, wie der Mensch hiess, der sie aus der Zei-tung heraus freundlich anlächelte. Sie speicherte den Namen. Sie spei-cherte das Gesicht. Dann ging sie los. Ihre Sachen erledigen.Wenn sie gefragt wurde, was sie hier mache, am Bahnhof oder auf dem Marktplatz, dann dachte sie nach und sagte schliesslich immer: «Ich muss schauen, dass nichts passiert.» Wenn man nachfragte, fügte sie manchmal leise hinzu: «Ich bin ein Engel. Aber du darfst

es nicht weitersagen.» Dazu nick-te sie nachdrücklich mit dem Kopf und suchte in einem ihrer Plastik-säcke eine Zigarette.Sie kannte viele Leute vom Sehen. Sie hatte eine Menge Gesichter und Namen gespeichert. Am liebsten waren ihr jene Leute, die ihr ab und zu eine Zigarette vorbeibrachten. «Ich bin ein Engel, der sich seine Wolke selber macht», lachte sie beim Rauchen. Und dann sah man, dass sie nicht mehr so viele Zähne hatte. Sie war einfach immer dort in ihrem graubraunen Mantel, mit ihren Plastiksäcken und schau-te, dass nichts passierte. Sie war dort und doch nicht ganz dort. Sie erledigte ihre Sache. Sie war nicht dumm. Aber sie teilte sich nicht mit. Sie sah alles und hörte alles und tat nichts und wollte nichts. Ausser ab und zu eine Zigarette. Niemand fragte sie nach ihrer Mei-nung. Niemand wollte ihr etwas verkaufen.

Wenn es dunkel wurde, kaufte sie sich einen Liter Rotwein und manchmal etwas Brot und ging dann wieder zurück in ihre Woh-nung. Dort zog sie die Schuhe aus, hängte ihren Mantel an einen Na-gel, öffnete die Flasche und trank einen Schluck. Und noch einen. Und noch einen.

S

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www.gegen-armut.ch

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Armut 5

an 227

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eigentlich wissen wir alle, was richtig ist. Tun wir es.

Bildungschancen verbessern: Teil unserer Arbeit gegen Armut.

eigentlich ist die Schule für alle da.