myp magazine #11
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myp MAGAZINE Ausgabe #11, Thema "Mein Souvenir" myp MAGAZINE issue #11, topic "My Souvenir"TRANSCRIPT
M Y P M A G A Z I N E
SANDE R
leuchtet das Lebenhindurch.
Monde und Jahre vergehen, aber ein schöner Moment
FRANZ GRILLPARZER
leuchtet das Lebenhindurch.
Monde und Jahre vergehen, aber ein schöner Moment
MeinSouvenir
AUSGABE #11
Wenn meine Erinnerung verblassen will und Gedanken vergehen, muss ich mein Herz nur in deine schützenden Hände legen.
Denn dort hilfst du ihm, nicht zu vergessen.
Du bist mein Souvenir.
Wenn meine Erinnerung verblassen will und Gedanken vergehen, muss ich mein Herz nur in deine schützenden Hände legen.
Denn dort hilfst du ihm, nicht zu vergessen.
Du bist mein Souvenir.
ELISA SCHLOTT
JONATHAN KLUTH
WINCENT WEISS
TIEMO HAUER
JASMIN LIEBETRAU
NIRAV SOLANKI
JOA HERRENKNECHT
KAKKMADDAFAKKA
ANJA BALSSAT
ISABELLA PIKART
INA & SANDER JAIN
JULIAN HEUN
SARAH NEUENDORF
JANNIK SCHÜMANN
SOPHIE EULER
PHILIPP BLOCH
NATAŠA VUČKOVIĆ
FÁBIO MIGUEL ROQUE
ROBIN KATER
TANJA FREUDENTHALER
HENRIKE OTT
JULIAN SCHIEVELKAMP
JONAS MEYER
LUKAS LEISTER
DANKE
IMPRESSUM
INSPIRATION
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Inhalt
Inhalt
Gewidmet allem,das uns erinnern lässt.
Gewidmet allem,das uns erinnern lässt.
SchlottElisa
ELISA SCHLOTT IST 19 JAHRE ALT,
SCHAUSPIELERIN UND LEBT IN LONDON.
WWW.DIE-AGENTEN.DE
SchlottElisa
INTERVIEW & TEXT: JONAS MEYER
FOTOS: DAVID PAPROCKI
Das Schönste, was man von Berlin mitnehmen
kann, ist der Sommer. Jahr für Jahr aufs Neue
flutet er die Straßen mit einem Meer aus Sonnen-
strahlen und gibt allen Wärmehungrigen jenes
unbeschwerte Lächeln zurück, das man im ewig
dunklen und unerbittlichen Berliner Winter für
immer verloren geglaubt hatte.
Der Kalender zeigt den achtzehnten Juni, also
wird der Sommer offiziell erst in ein paar Tagen
in der Hauptstadt erwartet. Doch er ist jetzt
schon da – er konnte einfach nicht länger warten:
Zu karg und eisig waren die letzten Monate, zu
groß die Sehnsucht der Menschen nach Licht und
Leichtigkeit.
Und so sitzen wir gemeinsam mit dem Sommer
und der jungen Schauspielerin Elisa Schlott im
verwunschenen Garten von Clärchens Ballhaus.
Genau 100 Jahre ist es nun her, als Fritz Bühler
und seine Frau Clara Habermann das Tanzlokal
in der Auguststraße in Berlin-Mitte eröffneten. In
guten wie in schlechten Tagen feierte man hier
und tanzte, entfloh dem grauen Alltag und genoss
sein Leben – damals wie heute, ein ganzes Jahr-
hundert lang.
Es gibt also einiges, was die alten Mauern zu
erzählen hätten. Bis zum Rand sind sie gefüllt
mit unzähligen Erinnerungen, die sich Jahr für
Jahr wie unsichtbare Baumringe in ihr steiner-
nes Gedächtnis schreiben. Und so lauschen sie
auch heute aufmerksam der jungen Schauspiele-
rin, die mit dem Sommer gerade fröhlich um die
Wette strahlt.
Elisa Schlott ist eigentlich Berlinerin durch und
durch. Im Märkischen Viertel geboren und in
Pankow aufgewachsen, hat sie im Oktober 2012
für ein Jahr der deutschen Metropole den Rücken
gekehrt und ist nach London gezogen.
Heute ist sie trotzdem in Berlin, denn am Abend
stehen einige Nachsynchronisationen in einem
Studio in der Chausseestraße an. Die 19-jährige
Schauspielerin ist also auf Kurzbesuch in ihrer
Heimatstadt. Und weil ein Tag nicht wirklich viel
ist, werden in Clärchens Ballhaus prompt Wiener
mit Kartoffelsalat geordert – ein Stück Zuhause,
das es in London nicht gibt.
Sommerspiel
Jonas:
Du bist im Herbst letzten Jahres nach London ge-
zogen. Gab es dafür einen bestimmten Grund?
Elisa (grinst):
Naja, nach dem Abi sind plötzlich alle meine
Freunde ins Ausland gegangen und haben sich
auf der ganzen Welt verteilt. Nach Costa Rica,
Südafrika oder Frankreich hat es sie verschlagen.
Da habe ich mich gefragt, was ich selbst eigent-
lich noch hier mache.
Nein, ganz im Ernst: Ich bin nach London ge-
gangen, weil ich dort einige Schauspielkurse
absolvieren wollte – es gibt dort einfach so viele
Möglichkeiten.
Jonas:
Und diese Möglichkeiten gibt es in Berlin bzw.
Deutschland nicht?
Elisa:
Nein, nicht wirklich. In London ist man viel näher
dran am internationalen Markt. Außerdem ist es
cool, so etwas mal in einer anderen Sprache zu
machen – eine wirklich neue Erfahrung!
Ich bin mir auch noch gar nicht so ganz sicher,
ob ich in Zukunft die Schauspielerei überhaupt
professionell betreiben will. Wenn es so kommen
sollte, will ich auf jeden Fall in der Lage sein, in-
ternational arbeiten zu können. Daher bin ich
auch froh, so viel gemacht zu haben in London.
Jonas:
Welches Programm hast du denn in den letzten
Monaten absolviert?
Elisa:
Als ich nach London kam, bin ich zu einer Gast-
familie gezogen und habe zwei Monate eine
Sprachschule besucht, um ein halbwegs gefes-
tigtes Englisch zu haben. Danach habe ich mich
am Actors Center beworben – eine von Schau-
spielern, Regisseuren und Produzenten gegrün-
dete Institution für Ihresgleichen, wo man diverse
Kurse belegen und sich weiterbilden kann. Man
zahlt eine Jahresgebühr von etwa 50 Pfund und
zusätzlich je nach Kurs einen entsprechenden
Betrag, der aber extrem niedrig ist.
Nachdem ich am Actors Center angenommen
wurde, habe ich im Laufe der Monate verschie-
dene Kurse belegt. So war ich beispielsweise in
einem „Method Acting“-Workshop, der von einem
sehr imposanten amerikanischen Schauspieler
namens Sam Douglas geleitet wurde. Und ich
habe einen Kurs von Scott Williams belegt, in
dem ich mir die sogenannte „Meisner-Technik“
aneignen konnte: Dabei geht es darum, beim
Spielen seine Aufmerksamkeit nicht auf die
eigene Person zu richten, sondern voll und ganz
auf sein Gegenüber. So soll erreicht werden, dass
man Spielsituationen emotional besser begreifen
und erfassen kann, weil man als Schauspieler
immer der Gefahr ausgesetzt ist, zu sehr in den
eigenen Gedanken gefangen und dadurch in ge-
wisser Weise blockiert zu sein.
Ich habe in den letzten Monaten viel gelernt und
bin daher gespannt, ob ich dieses Wissen mal
praktizieren kann. Das hängt ja davon ab, ob ich
tatsächlich hauptberufliche Schauspielerin werde
oder nicht.
Jonas:
Welcher Beruf käme denn neben der Schauspie-
lerei noch für dich in Frage?
Elisa:
Ich habe total Lust, irgendetwas zu studieren.
Daher habe ich mich auch für das kommende Win-
tersemester an der HU und FU für Theaterwis-
senschaften und Kunstgeschichte beworben. Im
September komme ich ja eh zurück aus London.
Mal sehen, ob ich angenommen werde.
Vorher freue ich mich aber total auf den Juli, weil
ich dann an der Guildhall School einen vierwö-
chigen Schauspiel-Sommerkurs belegen werde.
Ich glaube, dass mir dieser Kurs extrem dabei
helfen wird, mich zu entscheiden, welche Rich-
tung ich in meinem Leben einschlagen werde.
Es gibt ja nur zwei Möglichkeiten: Entweder
komme ich komplett verzaubert aus dem Kurs
heraus und weiß, dass ich Schauspielerei noch
intensivieren und studieren will, oder ich merke,
dass es nur ein Hobby ist und ich beruflich noch
etwas anderes tun muss.
Jonas:
Dabei kannst du bereits jetzt eine gewisse Berufs-
erfahrung vorweisen, schließlich hast du schon in
jungen Jahren mit der Schauspielerei begonnen.
Erinnerst du dich noch an dein erstes Projekt?
Elisa:
Ja, das war ein Werbespot für „Kellogg’s Frosties“
auf Teneriffa. Da war ich ungefähr zehn oder elf
Jahre alt. Ich hatte auch mal ein Musical-Casting,
durch das ich aber ziemlich schnell gemerkt habe,
dass Singen gar nichts für mich ist – obwohl ich
es liebe, selbst Musik zu machen.
Nach dem Musical-Casting war ich ziemlich ent-
täuscht und habe mich deshalb ohne Wissen
meiner Eltern im Internet bei einer Schau-
spielagentur beworben, die Kindercastings für
junge Rollen durchführen. Die Leute von der
Agentur haben sich auch tatsächlich gemeldet –
und so bin ich dann irgendwie in die Schauspie-
lerei reingerutscht.
Jonas:
Und welcher war der erste Film, in dem du mit-
gewirkt hast?
Elisa:
Das war „Das Geheimnis von St. Ambrose“, in
dem ich mit Ulrich Mühe spielen durfte. Wir haben
damals insgesamt sechs Wochen in Schottland
gedreht, das habe ich total genossen.
Jonas:
Wusstest du nach diesem ersten Film bereits,
dass du so etwas öfter machen willst?
Elisa:
Eigentlich war ich ja immer jemand, der ziemlich
schüchtern ist und sich nicht gerne in den Vor-
dergrund drängt. Aber als damals zum ersten
Mal die Kamera auf mich gerichtet war, war diese
Schüchternheit komplett vergessen. Ich hatte das
Gefühl, plötzlich in einer anderen Welt zu sein.
Richtig klick gemacht hat es aber erst bei dem
zweiten Film, in dem ich mitspielen durfte: „Die
Frau vom Checkpoint Charlie“ mit Veronica Ferres
in der Hauptrolle. Das war eine coole Zeit! Wir
haben in Rumänien, Helsinki und Leipzig gedreht,
das hat damals alles so viel Spaß gemacht. Durch
dieses Projekt hat es mich gepackt und ich wusste,
dass ich das unbedingt weitermachen will.
Eigentlich war ich ja immerjemand, der ziemlich schüchtern ist undsich nicht gerne in den Vordergrund drängt.
Jonas:
Und das hat alles einfach so neben der Schule
funktioniert?
Elisa:
Irgendwie schon. Bei meinen ersten Projekten
war ich ja auch noch in der Grundschule, da war
das nicht so wild. Außerdem hatte ich dort zum
Glück supertolle Lehrer, die mich sehr unterstützt
haben.
Als ich aufs Gymnasium kam, wurde es aller-
dings etwas komplizierter. Die Lehrer hatten eine
sehr strenge Haltung und gaben mir klar zu ver-
stehen: „Wenn du fehlst, fehlst du. Dann musst
du schauen, wie du dir den Stoff aneignest. Wenn
du zurückkommst, erwarten wir, dass du auf
dem gleichen Stand bist wie die anderen.“ Das
war im ersten Moment hart, aber ich hatte auch
diesmal wieder Glück: Meine Klassenkameraden
haben für mich mitgeschrieben, mir das Material
zukommen lassen und mich total unterstützt. Im
Endeffekt habe ich gar nicht so viel verpasst, denn
gedreht habe ich meistens während der Ferien.
Dabei war nicht nur meine Mutter sehr darauf be-
dacht, dass ich nicht zu viele Fehltage habe: Mir
selbst war es mindestens genau so wichtig, nicht
abgehängt zu werden. Und wenn ich ehrlich bin,
bin ich auch gerne zur Schule gegangen.
Jonas:
Als du auf dem Gymnasium warst, hast du auch
deinen ersten Kinofilm gedreht.
Elisa:
Genau, das war der Debutfilm „Draußen am See“
von Felix Fuchssteiner. Wir haben damals im Jahr
2009 in meinen Sommerferien gedreht, insge-
samt gab es 35 Drehtage.
Ich habe ein 14-jähriges Mädchen gespielt, das
zusehen musste, wie seine Mutter ein kleines
Baby umbringt. Diese Tat hat das Mädchen inner-
lich total zusammenbrechen lassen.
Der Dreh damals war hart. So habe ich zum ersten
Mal gemerkt, dass Schauspielerei wirklich rich-
tige Arbeit ist. Vorher war das für mich ja alles
mehr oder weniger nur ein Spaß.
Nach den 35 Drehtagen war ich daher auch ziem-
lich erschöpft und hatte einige Zeit daran zu knab-
bern. Aber im Endeffekt hat sich die Arbeit total
gelohnt: Als ich den fertigen Film gesehen habe,
war ich total glücklich.
Elisa lächelt. Ihr freundliches und offenes Wesen
wirkt gerade so unerschütterlich wie die alten
Gemäuer des Ballhauses, die seit einem Jahr-
hundert allen Widrigkeiten trotzen und damit ein
klares Bekenntnis zum Optimismus ablegen.
Der Sommer sitzt nach wie vor mit uns am Tisch
und verfolgt gespannt, was Elisa zu erzählen
hat. Als hätten sie sich vorher abgesprochen,
werfen sie sich gegenseitig die Bälle zu: Lächelt
sie ihn an, kontert er mit Sonnenstrahlen. Taucht
er den Himmel in sein leuchtendes Blau, funkeln
ihre Augen in derselben Farbe zurück – wie zwei
Schauspieler, die gerade auf der Bühne stehen
und auf das Spiel des jeweils anderen reagieren.
Ich finde es immer komisch, wenn Schauspieler erzählen, wie viel sie sich bei anderen abgeschaut haben.
Jonas:
Fällt es dir leicht, dich von solchen komplexen und
intensiven Rollen wieder zu lösen?
Elisa:
Ich glaube, dass ich das recht gut kann. Trotzdem
nehmen einen manche Rollen natürlich mehr mit
als andere. Als ich zum Beispiel vor drei Jahren
„Fliegende Fische müssen ins Meer zurück“ ge-
dreht habe, hatte ich eine Regisseurin, die mich
emotional sehr gefordert hat.
Außerdem war ich damals erst 16 Jahre alt
und zum ersten Mal in meinem Leben für sechs
Wochen komplett von zuhause weg – ohne Fa-
milie und Freunde allein in einem kleinen Dorf
in der Schweiz, wo wir gedreht haben. Wenn ich
abends endlich in meinem Bett lag, war ich ziem-
lich fertig. Die intensive Rolle und das Alleinsein
waren in gewisser Weise eine doppelte Heraus-
forderung für mich.
Jonas:
Vor kurzem feierte der Kinofilm „Das Wochen-
ende“ Premiere, in dem du die Rolle der Doro
spielst. War es für dich eine besondere Erfahrung,
neben Größen wie Katja Riemann, Barbara Auer
oder Sebastian Koch zu spielen?
Elisa:
Lustigerweise wusste ich in der ersten von ins-
gesamt drei Castingrunden noch gar nicht, dass
dieser Film ein so großes Ding wird. Umso größer
war dann natürlich die Überraschung, welche
großen Namen für den Streifen besetzt sind. Es
war toll, mit diesen Schauspielern drehen zu
dürfen.
Jonas:
Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman
von Bernhard Schlink und thematisiert die RAF-
Vergangenheit von vier Personen, die nach knapp
zwanzig Jahren wieder aufeinandertreffen und
ein gemeinsames Wochenende in einem Land-
haus verbringen. Wie hast du dich auf dieses
politisch wie gesellschaftlich immer noch heikle
Thema RAF vorbereitet?
Elisa:
Ich hatte aus der Schule eine gewisse Grund-
kenntnis. Darüber hinaus habe mich aber
natürlich auch ein wenig eingelesen und mir bei-
spielsweise den Film „Der Baader-Meinhof-Kom-
plex“ angeschaut.
Allerdings ist „Das Wochenende“ in erster Linie
kein politischer Film, sondern stellt die zwi-
schenmenschlichen Beziehungen und Proble-
matiken der Akteure in den Vordergrund. Das
unterscheidet das Drehbuch auch im Wesentli-
chen vom Roman, wo die politische Komponente
viel stärker im Fokus steht. So ging es der Regis-
seurin und Autorin Nina Grosse im Wesentlichen
um die Charaktere an sich: Sie wollte zeigen, was
sich in deren Köpfen im Laufe der Zeit verändert
hat – und was nicht.
So haben wir uns im Rahmen der Vorbereitung
auch alle in dem Haus getroffen, in dem wir
später gedreht haben, und dort tatsächlich vorab
ein gemeinsames Wochenende verbracht.
Wir haben in den zwei Tagen viel gelesen, wich-
tige Szenen durchgenommen und auch schon mit
den Proben begonnen. Das war enorm hilfreich,
weil wir uns dadurch alle kennenlernen konnten,
bevor der Dreh überhaupt losging.
Jonas:
Man hat das Gefühl, in den 98 Filmminuten alle
zwischenmenschlichen Konflikte zu erleben, die
man so aus dem wahren Leben kennt. Macht das
die Vorbereitung auf die Rolle in solch einem Film
einfacher? Man muss ja eigentlich nur wahres
Leben spielen...
Elisa:
Ja, vielleicht. Für mich war es aber eher wichtig,
sich den Kopf nicht so sehr über die Materie an
sich zu zerbrechen, sondern einfach zu spielen
und zu sehen, wie es sich entwickelt.
In dem Zusammenhang war es gut, vorher schon
mit allen Darstellern zusammengesessen zu
haben. So konnten wir darüber reden, welche
Intention eine Szene hat, wo sie uns hinführt, wo
wir vor der Szene waren und wo wir als Figur hin-
wollen. Dadurch hat sich dann in der Szene selbst
einfach sehr viel ergeben, das Spiel wirkte wahr-
haftig und sehr authentisch.
Jonas:
Hast du von deinen Kollegen schauspielerisch
etwas mitgenommen?
Elisa:
Ich finde es immer komisch, wenn Schauspieler
erzählen, wie viel sie sich bei anderen abgeschaut
haben und dadurch jetzt wissen, wie die das so
machen. Ich finde, jeder sollte seine ganz eigene
Art und Weise entwickeln, wie er spielt und an
seine Rolle herantritt.
Insgesamt war es aber natürlich toll, mit diesen
außergewöhnlichen Schauspielern in „Das Wo-
chenende“ zusammenzuarbeiten, weil alle so
glaubwürdige Darsteller waren.
Wir unterbrechen unsere Unterhaltung für einige
Minuten und machen uns langsam auf den Weg in
Richtung Naturkundemuseum, wo wir Elisa foto-
grafieren wollen.
Von den alten Mauern des Ballhauses verab-
schieden wir uns mit dem Versprechen, recht
bald wiederzukommen, um ihre unsichtbaren
Baumringe der Erinnerung wieder ein kleines
Stückchen wachsen zu lassen.
Gemütlich schlendern wir die Auguststraße ent-
lang, stets begleitet vom Berliner Sommer, der
uns nicht aus den Augen lässt. Schließlich biegen
wir in die Oranienburger Straße ein, kaufen Eis
und bleiben für eine Weile stehen. Der kühle
Nachtisch will schnell verzehrt werden, schließ-
lich schaut uns der Sommer gerade direkt über
die Schulter und bringt das Eis zum Schmelzen.
Jonas:
Im September kommst du zurück nach Berlin. Wie
war es, fast ein Jahr von seiner Heimatstadt ge-
trennt zu sein?
Elisa:
Komisch. London ist ja vollkommen anders als
Berlin und doppelt so vollgepackt mit Menschen.
Die Stadt ist irgendwie viel geschäftiger, alle Leute
sind total konsumorientiert und shoppen rund um
die Uhr. Zudem ist London viel internationaler –
wenn man will, kann man innerhalb der Stadt in
seinem eigenen Land wohnen.
Das war zwar am Anfang alles recht spannend,
aber mittlerweile bin ich richtig müde von dem
Leben dort. Nichts ist von Dauer in London, man
erlebt ein ständiges Kommen und Gehen. Ich war
so froh, als ich mir einen gewissen Freundeskreis
aufgebaut habe, der aber leider nicht lange hielt:
Nach drei Monaten waren alle Leute wieder weg.
Die Zeit in London habe ich schon sehr genossen,
aber ich freue mich auch, wenn ich wieder zurück
nach Berlin komme – und viele schöne Erinne-
rungen im Gepäck habe.
Jonas:
Was an Berlin hast du denn in London am meisten
vermisst?
Elisa:
Meine Familie und meine Freunde. Ich bin ein
Mensch, der einfach von vielen Freunden um-
geben sein muss. Ansonsten werde ich sehr
schnell einsam.
Jonas:
Du findest also dein Zuhause eher in bestimmten
Personen als an bestimmten Orten?
Elisa (schweigt für einen Moment):
Ja, das könnte man so sagen.
Jonas:
Dann kannst du ja überall auf der Welt zuhause
sein...
Elisa (lacht):
Ja, aber nur, wenn dort alle meine Lieben bei mir
wären. Aber eigentlich fühle ich mich in Berlin
am ehesten zuhause. Die Stadt hat einfach einen
gewissen Flair, den ich sehr mag: Auf der einen
Seite ist Berlin eine Metropole, auf der anderen
Seite gibt es Viertel, die wie kleine Dörfer wirken.
Ich liebe es daher total, in meinem Kiez in Pankow
unterwegs zu sein. Ich treffe da einfach so viele
Menschen, die ich mag. Und dieses Miteinander
dort ist viel schöner als die Anonymität Londons.
Jonas:
Dein persönliches Berliner Souvenir sind also
deine Erinnerungen an den Pankow-Kiez...
Elisa:
Ganz genau, das ist mein Andenken.
Dicht gefolgt vom Sommer spazieren wir über
die Chausseestraße und biegen in die Invaliden-
straße ein. Nach wenigen Metern erhebt sich vor
unseren Augen ein imposanter Komplex aus his-
torischen Gebäuden. Wo im 19. Jahrhundert noch
die Königliche Eisengießerei zu Berlin angesiedelt
war und massive Schätze für die Ewigkeit gefer-
tigt wurden, stellen heute Naturkundemuseum
und Institut für Biologie der Öffentlichkeit ihr
kostbares Wissen zur Verfügung.
Gerade unterziehen sich die ehrwürdigen Ge-
mäuer einer kleinen Schönheitskur: Ihre Fassade
wird behutsam renoviert, denn sie soll gewappnet
sein für das, was sich Zukunft nennt – und die Er-
innerung lebendig halten an eine andere Zeit.
Elisa Schlott und der Berliner Sommer betreten
die Bühne – und erneut beginnt das Spiel der
beiden gut gelaunten Protagonisten:
Auf Elisas Lächeln und funkelnde Augen reagiert
der Sommer mit einem Meer aus Sonnenstrahlen
und absoluter Wolkenlosigkeit.
Was würde man nur darum geben, einige der
Sonnenstrahlen einzufangen und in den unerbitt-
lichen Winter zu tragen, der in wenigen Monaten
das frische Blau zu tristem Grau verwandeln wird.
Wie ein kleines Souvenir müsste man die Strahlen
einfach in die Tasche stecken können. So hätte
man immer ein Andenken an die wundervolle Ju-
niwärme bei sich, wenn es draußen wieder nass
ist und kalt.
Elisa hält für einen Moment inne, schließt die
Augen und lächelt. Sanft breitet sich die Nachmit-
tagssonne auf ihrem Gesicht aus.
Das Schönste, was man von Berlin mitnehmen
kann, ist der Sommer.
Man muss ihn nur im Herzen tragen.
Dann bleibt er auch im Winter.
Ich bin ein Mensch, der einfach von vielen Freunden
umgeben sein muss. Ansonsten werde ich sehr schnell einsam.
KluthJonathan
JONATHAN KLUTH IST 25 JAHRE ALT,
SINGER-SONGWRITER UND LEBT IN BERLIN.
WWW.JONATHAN-KLUTH.DE
KluthJonathan
Schöner
Die Stadt ist wie ein Spiegel, in den man jeden
Tag schauen muss. So lange ich da bin, erzählen
mir die quadratischen Backsteine abgekühlte und
brennende Geschichten über meine Seele.
Einmal im Jahr, wenn der Jungbusch blüht,
kriecht die Hitze guter Freunde, der Schweiß und
der Geruch von Bier und Zigaretten in die Klamot-
ten und setzt sich fest.
Lieb mich und akzeptier mich. Eine Selbstaufgabe
hat immer die Folge der noch höheren Unzufrie-
denheit mit der Gesamtsituation.
Wenn ich an die Zeit in Mannheim denke, werde
ich kühl und unruhig, gleichzeitig emotional und
nostalgisch. All die Jahre haben meine Geigensai-
ten gehalten, das raue Pferdehaar und Kolopho-
nium haben sie überstanden, Sonne und Regen,
viele Winter und Sommer. Ein Jahr ist es her, dass
ich nach Berlin gezogen bin. Ich öffne den Koffer
meiner Violine und stelle fest, dass eine Saite
gerissen ist. Wenn Dinge sich auflösen, werden
sie woanders zu etwas Neuem.
Ich höre „Starwars“ von Pohlmann und trällere
„Train yourself to let go...“. Es ist ein schöner
Morgen.
TEXT: JONATHAN KLUTH
FOTO: ROBERTO BRUNDO
Morgen
WeissWincent
WINCENT WEISS IST 20 JAHRE ALT,
MUSIKER UND LEBT IN MÜNCHEN.
WWW.WINCENTWEISS.DE
WeissWincent
Ich bin nie alleine. Denn überall wo ich bin, ist sie
bei mir: Meine Gitarre! Seit 16 Monaten ist sie
chronisch an meiner Seite. Zusammengefunden
haben wir im Internet, in einem Online-Shop.
Als ich ihr kleines Foto sah, wusste ich: Die
muss ich haben - sofort! Denn sie sah nicht nur
unglaublich schön aus, sondern war auch ein
echtes Schnäppchen: Nur 500 Euro hat sie gekos-
tet. Das Geld dafür habe ich mir trotzdem hart
zusammengespart und dafür Dinge wie meine
Playstation verkauft.
Ja, so war das damals. Und heute erinnert sie
mich an alles, was ich in der letzten Zeit erlebt
habe: Reisen in die Karibik, Ausflüge nach Berlin,
Köln, Hamburg. Und Ans Meer.
Wenn ich auf ihr spiele, habe ich Bilder in meinem
Kopf. Meistens sehr schöne. Von Freunden, die ich
gerade nicht sehen kann. Ich sehe sogar Lieder.
Lieder, die ich liebe, oder solche, die ich längst
nicht mehr hören kann.
Sie erinnert mich auch an Zuhause, denn da
wohne ich jetzt nicht mehr. Um Musik zu machen,
habe ich gerade meine Heimat Eutin in Schleswig-
Holstein verlassen.
Mit einem Koffer in der Hand. Und meiner Gitarre
auf dem Rücken.
München ist jetzt meine neue Stadt. Eigentlich ist
das ist ein sehr schöner Ort - aber leider einer
ohne Meer. Das hatte ich früher direkt vor der
Tür. Und jetzt trennen mich und das viele salzige
Wasser der Ostsee mehrere hundert Kilometer.
Das gleiche gilt für meine Familie. Sie ist jetzt
ebenfalls ganz weit weg von mir.
Aber meine Gitarre ist ja noch da. Und wenn ich
auf ihren sechs Saiten spiele, sehe ich das Meer
und meine Familie vor mir. Ich schmecke die sal-
zige Luft. Und sehe die Gesichter der Menschen,
die ich mag.
Auf den Gitarren-Hals habe ich mir übrigens den
Namen meiner kleinen Schwester geschrieben.
Aber die Gitarre selbst hat keinen Namen!
Warum? Ich habe schon oft überlegt, wie ich sie
nennen könnte. Otto, Claudia, Johnny?
Nein - kein Name dieser Welt kann sagen, was sie
für mich ist...
TEXT: WINCENT WEISS
FOTO: SASCHA WERNICKE
SalzigeLuft
HauerTiemo
HauerTiemo
TIEMO HAUER IST 23 JAHRE ALT,
MUSIKER UND LEBT IN STUTTGART.
WWW.TIEMO-HAUER.DE
Im ewigen Kalender der Jahreszeiten gibt es
wohl kaum etwas Entspannteres zwischen zwei
Berliner Wintern als die ersten Tage im Juni:
Die ungemütlichen Eisheiligen hat man aus dem
Haus komplimentiert und kann nun ungestört
eintauchen in das Meer warmer Sonnenstrah-
len, das sich erfahrungsgemäß in nur wenigen
Wochen zu einem zähen Brei aus Gluthitze ver-
wandeln wird.
Doch so weit ist es noch nicht. Dieser freundliche
und unaufgeregte Mittwochnachmittag ist wie
geschaffen dafür, die Seele baumeln zu lassen.
Und Kaffee zu trinken. Aber wo?
Das Areal um den Hackeschen Markt im Herzen
Berlins gehört im Allgemeinen nicht unbedingt zu
den ersten Adressen, wenn es darum geht, fried-
lich und fernab jeder Hektik zusammenzusitzen.
Im Allgemeinen.
Denn die Gleise der S-Bahn scheinen hier eine
unsichtbare Trennwand zu errichten, die den
breiten Menschenstrom nach Norden lenkt und
die Südseite dafür zu so etwas wie einer Ruhe-
zone erklärt. Dort am Litfaßplatz lässt es sich
entspannt aushalten.
Nur wenige Menschen verlaufen sich zu diesem
Ort, der eigentlich zu den zentralsten der Haupt-
stadt gehört.
Es ist kurz vor 17 Uhr. Wir haben also noch ein
wenig Zeit, bis wir Tiemo Hauer treffen. Der
23-jährige Musiker wird übermorgen sein Live-
Album „Zweihundertvierzigtausend“ veröffentli-
chen und ist daher für einige Tage von Stuttgart
nach Berlin gereist.
Während wir uns in einem kleinen Café auf einer
gemütlichen Sitzecke niederlassen mit und uns
mit Wasser, Kaffee und Kuchen eindecken, lassen
wir unseren Blick über den Litfaßplatz schweifen.
Einige Meter entfernt von uns sitzt ein junger
Mann, der mit seiner dunklen Sonnenbrille und
Gitarre neben sich so unaufgeregt wirkt wie
dieser sonnige Junitag.
Ein freundliches Lächeln breitet sich auf dem
Gesicht des Mannes aus, der nach seiner Gitarre
greift und zielgerichtet auf uns zukommt. Das ist
er also. Nach einem kräftigen Händedruck nimmt
der Musiker auf unserer kleinen Sitzecke Platz
und greift zu seiner Sonnenbrille, hinter der zwei
strahlend blaue Augen zum Vorschein kommen.
Herzlich willkommen, Tiemo Hauer!
INTERVIEW & TEXT: JONAS MEYER
FOTOS: MAXIMILIAN LEDERER
Junitag
Jonas:
Die Gelegenheiten, sich mal in aller Ruhe mit
deinen Freunden hinzusetzen und gemütlich
einen Kaffee zu trinken, sind bestimmt selten
geworden in deinem Leben – immerhin warst du
in den letzten Monaten ziemlich viel unterwegs...
Tiemo:
Ach, eigentlich gar nicht. Ich finde diese Frei-
räume im Alltag immer noch recht oft. Bei mir
läuft ja auch alles eher nach Phasen ab: Mal ist
mein Terminkalender über längere Zeit komplett
vollgepackt, mal gibt es wieder Zeiten, wo wenig
oder gar nichts ansteht. Und dadurch, dass ich
noch in Stuttgart wohne, wo auch die meisten
meiner Freunde leben, können wir uns doch recht
häufig sehen und etwas unternehmen.
Jonas:
Sollte man dieses „noch“ besonders hervorhe-
ben? Planst du, deine Heimatstadt Stuttgart zu
verlassen?
Tiemo:
Ich weiß noch nicht so recht. Ich mag Stuttgart
wirklich total gerne und freue mich sehr, hier
diesen Fixpunkt zu haben, an den ich nach dem
vielen Unterwegssein immer wieder zurückkeh-
ren und in mein gewohntes Umfeld eintauchen
kann.
Aber so ein wenig zieht es mich auch weg. Ich
weiß zwar nicht, was in den nächsten Jahren in
meinem Leben so passiert, aber auf Dauer werde
ich wahrscheinlich nicht in Stuttgart bleiben.
Jonas:
Was würdest du dir denn von einem Tapeten-
wechsel erhoffen?
Tiemo:
Ich muss ja immer irgendetwas erleben. Mir ist in
den letzten Jahren ganz massiv aufgefallen, dass
es zwar cool ist, ständig auf Tour zu sein und in
diesem Rhythmus „Musik produzieren – vor Publi-
kum spielen – wieder Musik produzieren – wieder
vor Publikum spielen“ zu leben. Dabei erlebe ich
aber immer wieder mehr oder weniger dieselben
Thematiken und daher auf Dauer nichts wirklich
Neues mehr.
Wenn ich merke, dass ich ganz viele Songs über
ein und dieselbe Situation schreiben könnte, weiß
ich, dass es Zeit ist, etwas zu verändern. Und ein
Tapetenwechsel kann durchaus hilfreich sein,
mal ganz neue Dinge zu erleben, andere Men-
schen kennenzulernen und nicht im gewohnten
Trott zu verharren.
Jonas:
Du hast im Jahr 2006 begonnen, selbst zu kom-
ponieren und eigene Texte zu schreiben. War dies
ein besonderer Punkt in deinem Leben, der dir in
Erinnerung bleibt?
Tiemo:
2006 war für mich tatsächlich ein besonderes
Jahr und in gewisser Weise auch ein Wende-
punkt. Ich hatte bis dahin nur in einer englisch-
sprachigen Band gespielt, wo ich mit den Texten
nicht wirklich viel zu tun hatte. Dann bin ich aber
zu einer deutschsprachigen Band gewechselt
und hatte plötzlich die Möglichkeit, selbst an den
Texten mitzuschreiben und mich überhaupt mit
der Sprache auseinanderzusetzen. Dadurch habe
ich gemerkt, dass mir das irgendwie total liegt
und ich mir viele Dinge von der Seele schreiben
kann, die mich beschäftigen. Außerdem hat es
auch richtig viel Spaß gemacht.
Dass ich dann in der Konsequenz auch meine
eigenen Songs geschrieben und am Klavier ver-
tont habe, lag einfach daran, dass ich irgendwann
nicht mehr in dieser Band gespielt habe, sondern
erst einmal alleine unterwegs war.
Jonas:
Die deutsche Sprache hat also für dich eine ganz
besondere Bedeutung?
Tiemo:
In den Anfängen noch nicht wirklich, da habe ich
gar nicht darüber nachgedacht, wozu Sprache in
Songtexten fähig ist. Ich habe einfach nur aufge-
schrieben, was mich bewegt. Das hat sich aber
über die letzten Jahre sehr verändert.
Inzwischen sehe ich das Schreiben als eine echte
Herausforderung, weil mir aufgefallen ist, wie kri-
tisch die Leute bei deutschen Texten sind – viel
kritischer übrigens als bei englischen. Im Allge-
meinen sind zwar die deutschen Mainstream-
pop-Texte auch nicht wirklich toll, aber sobald
man nicht diese Schiene fährt und für sich den
Anspruch entwickelt hat, mit seiner Musik die
Menschen auch in gewisser Weise zum Nachden-
ken zu bringen, wird man ganz besonders kritisch
beäugt und auf Qualität geprüft.
Jonas:
Würdest du die These unterstützen, dass man mit
der deutschen Sprache tatsächlich auf den Punkt
genau jedes Gefühl und jede emotionale Situation
ausdrücken kann, wenn man nur tief genug in
diesem riesigen Wortschatz sucht?
Tiemo:
Ich bin sicher, dass es Menschen gibt, die das
können. Ich würde mir allerdings nicht anma-
ßen, das von mir selbst zu behaupten – aber ich
habe ja auch meine Musik als Stütze: Meine Songs
schreibe ich eigentlich meistens über Themen,
über die ich so von Person zu Person gar nicht
reden würde. Ob es jetzt beispielsweise ganz all-
gemein um Dinge wie Trennungen geht oder eher
um zutiefst private und persönliche Thematiken,
ich könnte mich nie vor jemanden hinsetzen und
anfangen, mir das einfach so von der Seele zu
reden. Wenn ich das alles in einen Songtext verar-
beite und über den Sound transportiere, fällt das
wesentlich leichter.
Und mittlerweile glaube ich, dass ich mit meiner
Musik die Botschaft und das Gefühl dahinter eher
noch intensivieren kann. Einfach nur jemandem
zu erzählen, wie es mir geht, hätte da nicht den-
selben Effekt.
Jonas:
Das hört sich so ähnlich an wie bei Schauspielern,
die zu jemand anderem werden, sobald sie in ihr
Kostüm schlüpfen. Ist deine Musik in gewisser
Weise das, was für Schauspieler das Kostüm ist?
Tiemo:
Nein, nicht ganz. Im Gegensatz zu einem Schau-
spieler, der ja versucht, durch die Rolle ein ande-
rer zu werden, will ich in meiner Musik ganz ich
selbst sein. Ich glaube allerdings, dass ich in der
Musik vielleicht einen anderen Mut aufbaue, der
es mir ermöglicht, jene Dinge auszusprechen, die
ich ohne Musik nicht mitteilen würde.
Meine Songs schreibe ich eigentlichmeistens über Themen, über die ich so
von Person zu Person gar nicht reden würde.
Jonas:
Mut war in den letzten Jahren auch in anderer
Hinsicht ein wichtiges Thema in deinem Leben
– schließlich erfordert es eine gewisse Portion
davon, wenn man beabsichtigt, sich von einem
Majorlabel zu trennen und etwas Eigenes auf die
Beine zu stellen.
Tiemo:
Für mich war dieser Schritt sehr wichtig. Mein
damaliges Label hatte mich zwar nicht wirk-
lich eingeschränkt und insgesamt finde ich auch
nicht, dass Majorlabels für Künstler schlecht sind,
trotzdem war mir persönlich dieses klitzekleine
Bisschen an Eingriff schon zu viel. Und da ich
mich nun wohler fühle als vorher, weiß ich, dass
es der richtige Weg war.
Zwar ist es jetzt natürlich auf der einen Seite
immer so, dass ich ganz alleine dafür verantwort-
lich bin, wenn ich mal auf die Schnauze falle. Auf
der anderen Seite habe ich aber die Gewissheit,
dass meine Musik von innen heraus funktioniert,
wenn ich erfolgreich bin. Und das ist ein tolles
Gefühl.
Jonas:
Bist du außerhalb der Musik auch so pragma-
tisch?
Tiemo:
Ja, ich glaube schon. Ich bin jemand, der sich von
bestimmten Dingen relativ schnell distanziert,
wenn er merkt, dass sie nicht so richtig passen.
Das ist zwar nicht unbedingt immer hilfreich, aber
es fühlt sich besser an.
Tiemo schweigt für einen Moment und lässt
seinen Blick über den Litfaßlatz wandern. Dabei
wirkt es, als würde sich seine innere Haltung
auf den ganzen Körper übertragen und ihm eine
gewisse physische Aufrichtigkeit verleihen, mit
der er die Bedeutung seiner Botschaft unter-
streicht.
Die wunderbare Nachmittagssonne schenkt uns
gerade ihr schönstes Licht, also beschließen
wir, ein wenig die Umgebung zu erkunden. Wir
verlassen das kleine Café und laufen Richtung
Museumsinsel.
Am Säulengang vor der Alten Nationalgalerie
machen wir Halt und nutzen die Kulisse der erha-
benen Gemäuer, um einige Fotos zu schießen.
Tiemo lässt sich zwischen zwei Säulen nieder
und stellt seine Gitarre ab. Wie ein stiller Beglei-
ter wartet sie geduldig und lauscht den Worten
ihres Besitzers.
Jonas:
War Musikmachen in Deiner Familie eigentlich ein
großes Thema?
Tiemo:
Nein, irgendwie gar nicht. Mein Vater hat nie ein
Musikinstrument gespielt, lediglich meine Mutter
vor etlichen Jahren mal ein wenig Gitarre.
Tatsächlich Musik gehört haben wir nur, wenn
wir mit dem Auto in Urlaub gefahren sind oder
so. Dieses hundertprozentige Interesse für Musik
gab es in meiner Familie daher nur bei mir.
Jonas:
Gibt es Musik, die dich gerade besonders inspi-
riert?
Tiemo:
Ja, zur Zeit ist das die isländische Band „Sigur
Rós“. Die machen unfassbar geile Musik, ich ver-
ehre sie sehr. Sie transportieren durch ihre Musik
eine unglaubliche Melancholie, erzeugen einer-
seits viele ruhige Momente und sind andererseits
total dynamisch – dann lassen sie es krachen bis
zum Gehtnichtmehr.
Ich höre aber auch gerne deutsche Musik, die in
die Richtung „Element of Crime“ geht. Und ich
mag Gisbert zu Knyphausen, seine Texte schätze
ich wirklich sehr.
Wir ziehen weiter zum Lustgarten und wandern
am Kupfergraben vorbei bis zur Monbijoubrü-
cke. Tiemo lehnt sich an die Brüstung und richtet
seinen Blick auf das Wasser des Kanals.
Einige Ausflugsschiffe schleichen dort so lang-
sam den Seitenarm der Spree entlang, als
würden sie ihren Passagieren den jungen Stutt-
garter Musiker als Berliner Attraktion präsen-
tieren. Einige Leute knipsen Erinnerungsfotos,
andere winken.
Tiemo lächelt und grüßt freundlich zurück. Dann
greift er seine Gitarre und wir spazieren weiter.
Jonas:
Die Klickzahlen einiger deiner Videos bei YouTube
kratzen an der Millionengrenze. Siehst du die Ver-
breitung deiner Musik über soziale Netzwerke als
wichtige Komponente deiner Arbeit, oder spielt
das für dich gar keine so große Rolle? Immerhin
wäre es noch vor zehn Jahren nicht so ohne Wei-
teres möglich gewesen, in so kurzer Zeit ein so
breites Publikum zu erreichen.
Tiemo:
Ich nehme das schon wahr, was da passiert, und
finde es immer wieder beeindruckend, welche
Macht so etwas entwickeln kann. Aber es gibt
natürlich auch negative Seiten daran: Durch die
Tatsache, dass Musik immer, überall und für
jeden verfügbar ist, geht in gewissem Maße auch
die Wertigkeit verloren. Man denkt ja einfach
nicht mehr darüber nach, wie viel Arbeit eigent-
lich dahinter steckt, wenn man so einen Song
schreibt, produziert und eventuell noch ein schö-
nes Video dazu macht.
Früher habe ich total gerne eine Schalplatte
genommen und von vorne bis hinten durchgehört.
Heute klickt man einfach nach einigen Sekunden
weiter, wenn’s nicht gefällt. Das finde ich irgend-
wie schade.
Heute klickt man einfach nach einigen Sekunden weiter, wenn’s nicht gefällt.
Das finde ich irgendwie schade.
Jonas:
Trotzdem muss deine Musik ja eine gewisse
Relevanz für etliche Menschen haben und sie an
einem bestimmten Punkt abholen, sonst wären
die Klickzahlen nicht so hoch.
Tiemo:
Das ist ja wiederum ein Aspekt, den ich daran
sehr mag: Ich kann in gewisser Weise in Klickzah-
len messen, wie gut oder schlecht meine Musik
ankommt. Allerdings ist das nicht vergleichbar
mit dem Feedback, das ich während eines Live-
Auftritts erhalte: Wenn ich während eines Kon-
zerts in die Gesichter der Menschen blicke und
dort genau ablesen kann, was meine Musik in
ihnen bewirkt und was sie gerade fühlen, ist das
etwas ganz Anderes.
Ab und zu passiert es, dass man im Publikum ein
Schniefen hört oder jemandem die Tränen run-
terkullern, weil ihn einer meiner Songs in seinem
tiefsten Inneren berührt hat. Eigentlich will ich
ja niemanden zum Weinen bringen - aber dieses
Feedback auf meine Musik ist dann so intensiv,
unmittelbar und authentisch, dass ich das in der
Form auf YouTube auch mit einer Million Klicks
nie erhalten könnte.
Jonas:
Sind diese intensiven Momente und Reaktionen
des Publikums auch mit ein Grund, warum du dich
dazu entschieden hast, ein Live-Album herauszu-
bringen?
Tiemo:
Ja, auf jeden Fall. Diese Momente, die man
gemeinsam mit dem Publikum erlebt, sind ein-
fach einmalig.
Bei Live-Alben spürt man die besondere Atmo-
sphäre beim Auftritt, das macht diese Platten ein-
fach magischer und auch ein Stückchen cooler als
Studioalben.
Jonas:
Wann ist die Entscheidung gefallen, ein Live-
Album zu produzieren?
Tiemo:
Als wir im Herbst 2012 unsere letzte Tour gespielt
haben, gab es irgendwann die Idee, eine Live-DVD
zu produzieren. Da so eine DVD aber wahnsin-
nig kostenintensiv ist und wir so etwas in dem
Moment gar nicht stemmen konnten, haben wir
uns als Alternative für ein Live-Album entschie-
den und schließlich das Konzert in Stuttgart mit-
geschnitten.
Jonas:
Das Album trägt den Titel „Zweihundertvierzig-
tausend“. Wie kam es zu diesem Namen?
Tiemo:
Wir waren in den letzten vier Jahren wirklich viel
unterwegs und hatten in der Zeit unzählige Miet-
wagen genutzt. Bei den Abrechnungen kann man
ja genau sehen, wie viele Kilometer man mit dem
jeweiligen Auto zurückgelegt hat.
Also haben wir uns mal den Spaß gegönnt, alle
Strecken zu addieren, und heraus kam diese ver-
rückte Zahl. Als wir uns dann irgendwann später
mal im Tourbus über diese riesige Summe unter-
halten hatten, kam plötzlich die Idee auf, dass
man dem Live-Album diesen Titel geben könnte.
Wenn meine Songs andere Menschen aufbauen, ist das die schönste Bestätigung, die ich mir vorstellen kann.
Jonas:
Du sagst von dir selbst, dass du ein Mensch bist,
der emotional Achterbahn fährt und diese extre-
men Gefühlshöhen und –tiefen irgendwie ausdrü-
cken muss. Gibt es einen Song von dir, der diese
Achterbahnfahrt in besonderer Weise beschreibt?
Tiemo:
Ich glaube, dass man meine Achterbahnfahrt der
Gefühle weniger an einem einzelnen Song ablesen
kann. Wenn man aber alle meine Stücke zusam-
men betrachtet, erkennt man sie schon eher. Die
meisten meiner Songs habe ich geschrieben,
wenn ich gerade ein Tief hatte und besonders gut
reflektieren konnte. Bei emotionalen Hochs war
ich eigentlich eher mit Freunden unterwegs und
hatte weniger das Bedürfnis, einen neuen Song zu
kreieren.
Interessanterweise hat das Schreiben aber
immer geholfen, von einem Tief wieder in ein
Hoch zu kommen, und hat so gewissermaßen die
Achterbahn nach oben getrieben.
Jonas:
Erfährst du von deinen Fans ähnliche Feedbacks?
Haben deine Stücke das Potenzial, Menschen von
einem Tief in ein Hoch zu schießen?
Tiemo:
Derartige Feedbacks erhalte ich immer wieder,
vor allem über das Internet. Dafür ist dieses
Medium ja wiederum ideal, weil es eine unmit-
telbare und spontane Reaktion auf meine Musik
erlaubt. Wenn meine Songs andere Menschen
aufbauen, ist das die schönste Bestätigung, die
ich mir vorstellen kann.
Gerade in Momenten, wo ich mir mal wieder nicht
sicher bin, ob ich das alles nur für mich mache,
oder ob auch andere irgendetwas davon haben,
treiben mich solche Feedbacks an, immer weiter-
zumachen mit meiner Musik. Und das macht mich
glücklich.
Wieder halten wir an und genießen mit Blick
auf den Kanal die letzten warmen Sonnenstrah-
len. Unbeirrbar fließt das Wasser an uns vorbei,
immer nach vorne, immer geradeaus.
Es kann gar nicht anders.
Tiemo lehnt an einem Geländer und schweigt. Für
einen Moment scheint er eins zu werden mit den
Jahrhunderte alten Bauwerken um ihn herum,
die unzählige Geschichten vom Leben erzählen
könnten. Man müsste ihnen nur aufmerksam
zuhören.
Ein zufriedenes Lächeln breitet sich auf dem
Gesicht des jungen Musikers aus, seine hell-
blauen Augen funkeln im Licht der Nachmittags-
sonne.
Manchmal braucht es nur einen entspannten Tag
zwischen zwei Wintern, um glücklich zu sein.
Mit einem Meer warmer Sonnenstrahlen.
Und guter Musik.
LiebetrauJasmin
JASMIN LIEBETRAU IST 32 JAHRE ALT,
INTERIOR DESIGNERIN UND LEBT IN BERLIN.
WWW.MUSKAT18.DE
BE BERLIN DESIGN-SOUVENIR AWARD
LiebetrauJasmin
Souvenir
Ein Menschenleben stelle ich mir als eine große
Collage von Momenten vor. Besondere Momente
passieren einfach und werden irgendwann zu
Erinnerungen. Zeit spielt dabei eine große Rolle.
Es kann ein Jahr, ein Monat, ein Tag oder nur
ein einziger Augenblick sein, den ich als bloße,
gedankliche Erinnerung in meinem Kopf fest-
halten kann.
Mit kleinen Objekten und Dingen jedoch gebe ich
persönlichen Erlebnissen eine sichtbare Form.
Steine, Holzstücke, Miniaturen oder Figuren,
bewahren für mich symbolisch das Andenken an
einen bestimmten Ort, ein wichtiges Ereignis und
diese Zeit.
Jedes Souvenir ist zugleich auch ein wertvolles
Fundstück, das in selbstgebauten Holzkästchen
seinen Platz findet und meinen Erinnerungen zu
einer besonderen Kollektion werden lässt.
TEXT: JASMIN LIEBETRAU
FOTO: MAXIMILIAN KÖNIG
Sammlung
SolankiNirav
NIRAV SOLANKI IS A 31-YEAR-OLD PHOTOGRAPHER
LIVING IN LONG BEACH, CALIFORNIA.
WWW.NIRAVSOLANKI.COM
SolankiNirav
The Colors
I recently visited Flagstaff, Arizona to shoot a
wedding for a client of mine and since Flagstaff is
well over 8 hours from where I reside, I decided to
go exploring while I was there.
Arizona is truly a magnificent state that has so
much natural beauty that one can appreciate,
especially for a photographer.
This particular photo was taken at the Sunset
Crater Volcano National Monument Park. I was
moved by the texture and the colors of earth.
In the background, the mountains add depth to the
entire image. I stood for a few minutes embracing
this magnificent sight that is not seen everyday.
This sight was only one of many I had witnessed
on my journey.
TEXT & PHOTO: NIRAV SOLANKI
of Earth
HerrenknechtJoa
JOA HERRENKNECHT IST 30 JAHRE ALT,
PRODUKT- UND GRAFIKDESIGNERIN UND LEBT IN BERLIN
WWW.JOA-HERRENKNECHT.COM
BE BERLIN DESIGN-SOUVENIR AWARD
HerrenknechtJoa
Entdeckungs-
INTERVIEW & TEXT: JONAS MEYER
FOTOS: MAXIMILIAN KÖNIG
reise
Wer offen ist für fremde Städte, Länder und
Kulturen, der weiß, dass die wahren Schätze
meist abseits allgemeiner Trampelpfade liegen.
Es bedarf nur etwas Mut und Neugier, um die
gewohnten Wege zu verlassen und einzutauchen
in die unbekannte Welt der Seitenstraßen und
Hinterhöfe. Hier verstecken sich die spannend-
sten Geschichten, die nur darauf warten, gefun-
den und gehört zu werden.
Doch um wirklich Neues zu entdecken, muss man
gar nicht in die Ferne reisen: Oft genügt bereits
ein kurzer Abstecher in die Nachbarschaft. Oder
in den Berliner Stadtteil Friedrichshain.
Hier, wo sich die Frankfurter Allee wie eine pul-
sierende Hauptschlagader durch die Häuserrei-
hen gräbt, scheint die Geburtsstätte aller
geheimnishütenden Hinterhöfe zu sein. Nur
wenige Schritte braucht es von der U-Bahnsta-
tion Samariterstraße, um den Lärm der großen
Straße abzuschütteln und eine Oase der Ruhe zu
betreten.
In dieser Hinterhofoase hat sich vor einem Jahr
Joa Herrenknecht eingerichtet. Ihr Studio für
Grafik- und Produktdesign liegt im ersten Stock
eines stimmungsvollen Backsteinbaus. Hohe
Decken und große Fenster schaffen hier großzü-
gig Platz und Licht, um Gedanken fliegen und
Ideen wachsen zu lassen.
Mit einem freundlichen Lächeln empfängt uns
die junge Designerin an der Tür und gewährt
uns Einlass in ihr Reich. Wie kleine Kinder in
einem Süßwarenladen wissen wir gar nicht, wo
wir zuerst hinschauen sollen: In jeder Ecke des
hellen und großzügigen Studios türmen sich
Kleinode aus Entwürfen, Mustern, Skizzen, Pro-
totypen und Produkten. Man könnte hier Stunden
verbringen und Tage – und hätte immer noch
nicht alle Schätze entdeckt.
Auf einem Tisch in der Mitte des Raums ist gerade
ein überdimensionaler Berliner Stadtplan ausge-
breitet – eine Tischdecke, die Joa entworfen und
gemeinsam mit ihrem Praktikanten Sep umge-
setzt hat, um sie beim beBerlin Design-Souvenir
Award einzureichen. Es wird ein neues Andenken
für Berlin gesucht, das mehr Charakter hat als
die üblichen Kitschprodukte der zahllosen Sou-
venirläden der Stadt. Die junge Designerin gehört
zu den 20 Nominierten, die es mit ihren Ideen in
die letzte Wettbewerbsrunde geschafft haben.
Jonas:
Du bist in Kanada geboren und hast bereits in
Städten wie Mailand, New York oder Sydney
gelebt – deine Vita liest sich wie eine kleine Wel-
treise.
Joa (lächelt):
Ja, das stimmt. Schon als Kind durfte ich viele
verschiedene Ecken der Welt kennenlernen, weil
meine Eltern oft und gerne gereist sind. Dieses
Gen habe ich wohl geerbt. Die meiste Zeit meines
Lebens habe ich aber tatsächlich in Süddeutsch-
land verbracht: Ich bin in unmittelbarer Nähe zur
französischen und schweizer Grenze aufgewach-
sen und habe später dann an der HfG in Karlsruhe
Produktdesign studiert.
Jonas:
Erinnerst du dich noch, warum du dich gerade für
Produktdesign entschieden hast?
Joa:
Eigentlich wollte ich zuerst Architektur studie-
ren und habe deshalb auch vor dem Studium ein
Praktikum bei einem Architekten gemacht. Der
hat mir aber dringend davon abgeraten, weil man
als selbständiger Architekt nicht wirklich viel
bauen kann, und meinte, dass Design viel interes-
santer und kreativer wäre.
Ich wollte immer etwas erschaffen, daher habe ich
mich für Produktdesign entschieden. Im Endef-
fekt war diese Entscheidung auch super, weil mir
das Studium total Spaß gemacht hat und es an
der HfG auch viele Freiheiten, eine tolle Werkstatt
und gute Profs gab.
Nur bleibt nach dem Studium natürlich fast nie-
mand dort, die meisten ziehen weg in größere
Städte.
Jonas:
Dich selbst hat es ja auch nicht in Karlsruhe
gehalten: Nach deinem Abschluss bist du direkt in
die USA gegangen.
Joa:
Ich wollte einfach ins Ausland und bin daher für
einige Zeit nach New York gezogen. Von dort ging
es dann weiter nach Sydney, wo ich noch ein
Grafikstudium drangehängt habe – und wo ich
eigentlich auch bleiben wollte.
Jonas:
Aber?
Joa:
Ein Freund von mir wollte sich gemeinsam mit
mir in Berlin selbständig machen, also bin ich
letztes Jahr zurück nach Deutschland gekommen.
Die Idee mit der Selbständigkeit war immer da:
Mit 30 ist man für so einen Schritt im besten Alter.
Und so langsam sollte man eh mal in die Puschen
kommen, wenn man später eine eigene Family
will.
Aber aus unserem gemeinsamen Plan wurde
nichts. Und ich habe mir gedacht: Wenn ich ja eh
schon hier bin, kann ich das auch einfach alleine
machen.
Ich versuche schöne Dinge zu erschaffen, andenen sich andere Menschen erfreuen oder etwas damit anfangen können.
Jonas:
Das hört sich alles sehr nach „easy going“ an.
Joa (lacht):
Ist ja auch alles nicht so schwer: Man besorgt sich
ein Ticket und fliegt einfach.
Aber im Ernst: So „easy going“ ist der Schritt
in die Selbständigkeit natürlich nicht, ganz im
Gegenteil: Das ist eine wirklich große und wich-
tige Entscheidung im Leben. Letztendlich bin ich
diesen Weg gegangen, weil ich nach wie vor etwas
erschaffen wollte und es dazu für mich keine
bessere Möglichkeit gab. Nach meinem ersten
Jahr in der Selbständigkeit kann ich guten Gewis-
sens sagen: richtige Entscheidung, super Job!
Jonas:
Zu deinem Team gehören mittlerweile zwei Prak-
tikanten und ein Freelancer. War es schwierig, für
dein Studio gute Leute zu finden?
Joa:
Nein, ganz im Gegenteil. Ich erhalte richtig viele
Anfragen für Praktika. Und so blöd es sich auch
anhören mag: Die momentane Wirtschaftskrise
in vielen europäischen Ländern treibt die talen-
tiertesten und motiviertesten jungen Leute nach
Berlin. Die Stadt zieht einfach magisch an – wäre
ich in Karlsruhe ansässig, wären die Anfragen
wohl nicht so zahlreich.
Jonas:
Dieser Berlin-Faktor ist also für dein Studio ein
Bonus?
Joa:
Absolut. Das Gute an Berlin ist, dass es einem
eine so immense Freiheit lässt – alleine durch
die Tatsache, dass das Leben hier günstig ist und
man nicht im Verkehrschaos versinkt. Das wäre in
New York oder London so nicht denkbar. Ich kann
hier entspannt arbeiten und dabei trotzdem den
internationalen Markt bedienen, meine Kunden
kommen aus aller Welt.
In Berlin findet man diese besondere Kombination
aus neu-deutscher Lässigkeit und urdeutscher
Verlässlichkeit, das funktioniert ziemlich gut.
Insgesamt steckt eine unglaubliche Kraft und
Energie in der Stadt, das ist echt toll.
Jonas:
Wer sich selbständig macht, sieht ja irgendwo
einen Bedarf, auf den er mit seinem Angebot
reagieren will. Wie sieht das bei dir aus?
Joa:
Es ist nicht so, dass die Welt unbedingt noch
einen weiteren Stuhl bräuchte – das ist mir dur-
chaus bewusst. Aber darum geht es mir auch gar
nicht. Meinen Beruf verstehe ich mehr als ein
Geben und weniger als ein Nehmen. Ich versuche
schöne Dinge zu erschaffen, an denen sich andere
Menschen erfreuen oder etwas damit anfangen
können. Meine Leuchten sind dafür ein gutes
Beispiel, so etwas mache ich echt gerne – und
bisher klappt es.
Wir unterbrechen für einen Moment, denn Joa
hat vorgeschlagen, unser Gespräch im Freien
fortzusetzen. Wir greifen unser Equipment und
begleiten die Designerin durch eine Tür zu einer
Treppe, die in die oberen Etagen des Backstein-
baus führt. Joas Kollegen fahren ihre Rechner
runter und folgen uns mit Gläsern und Geträn-
ken. Es ist 18:00 Uhr, sozusagen Feierabend.
Oben angekommen öffnet man uns die Pforte ins
Freie: Wir betreten eine kleine Dachterrasse, die
uns einen wundervollen Blick über die Haupt-
stadt schenkt.
Jonas:
Du warst schon an so vielen Orten auf der Welt.
Wie beeinflussen diese Reisen dein Design?
Joa:
Alles, was du gestern, heute oder morgen erlebst,
geht in irgendeiner Art und Weise in deine Ent-
würfe ein. Denn überall, wo du auf der Welt
unterwegs bist, siehst du Dinge, die du richtig gut
findest und bei denen du dich fragst, wie du sie
am besten in einer neuen Idee verarbeiten kannst.
Das Problem ist eigentlich nur, dass die ganzen
Eindrücke und Erlebnisse eine riesige Bildersam-
mlung in deinem Kopf erzeugen, die du erst einmal
ordnen musst. Am Anfang eines neuen Projekts
steht nämlich immer ein großes Fragezeichen –
und du brauchst das passende Bild aus deiner
Erinnerung, um dich inspirieren zu lassen das
Fragezeichen aufzulösen.
Jonas:
Deine Kreativität wird also aus einer Vielzahl von
Erinnerungen befeuert...
Joa:
Ja, in gewisser Weise schon. Deshalb mag ich
auch unsere Idee mit dem Berliner Stadtplan in
Form einer Tischdecke so, mit dem wir uns beim
Design-Souvenir Award beworben haben. Es ist
einfach eine schöne Vorstellung, gemeinsam am
Küchentisch zu sitzen und sich gegenseitig die
vielen Orte der Stadt zu zeigen, an die man ganz
bestimmte Erinnerungen und Erlebnisse knüpft –
das ist wie eine kleine Entdeckungsreise!
Wir haben die Tischdecke übrigens ganz bewusst
von Hand gezeichnet und sie nicht klinisch rein
gehalten, damit man darauf rumkritzeln oder eine
Stelle einkringeln kann. In Berlin wird ja auch an
jeder Ecke getagged und gesprüht.
Jonas:
Du hast die Stadt in den letzten Monaten sicher
auch ausführlich erkundet. Stößt du hier auf viele
Orte oder Dinge, bei denen du das Gefühl hast,
dass sie dringend verbessert oder verschönert
werden müssten?
Joa:
Ja, das passiert tatsächlich öfter. Man glaubt ja
nicht, wie sehr ein Charakter von seiner Form
beeinflusst wird – und welche Stimmungen diese
Form erzeugen kann.
Man muss sich nur folgende drei Situationen vor-
stellen: Man steht in einer Bruchbude, im Super-
markt oder in einem Spa. Wenn man sich jetzt zu
allen drei Orten eine Stimmung überlegen müsste,
wäre dies bei jedem Ort total verschieden.
Wenn draußen auf der Straße so viel los ist, braucht man einfach einen Rückzugsort, an dem man sich wohlfühlt.
Die Stimmung lässt sich variieren, indem man
die Atmosphäre eines Raums verändert. Und das
passiert im Wesentlichen über Formen, Farben
und Licht.
Das ist übrigens dasselbe wie bei Kleidung, im
Prinzip ist es alles eins. Man muss dabei nur auf-
passen, dass man selbst nicht zu oberflächlich
wird und beispielsweise darüber richtet, wie
gut oder schlecht jemand zu Hause eingerichtet
oder gekleidet ist, denn der Mensch dahinter ist
natürlich immer wichtiger als die Fassade. Schön-
heit schützt nicht vor einem schlechten Charakter,
aber das ist ja klar.
Bei meiner Arbeit geht es mir auch nicht darum,
unbedingt die teuersten Gegenstände in einem
Raum zusammenbringen zu müssen. Mir ist ein-
fach wichtig, das Umfeld positiv zu beeinflussen:
Wenn ich jemandem dabei helfen kann, seine
Wohnung ein Stückchen schöner zu machen,
freue ich mich total.
Denn wenn draußen auf der Straße so viel los ist,
braucht man einfach einen Rückzugsort, an dem
man sich wohlfühlt. Ästhetik kann man auch mit
geringen finanziellen Mitteln schaffen - aber das
Interesse dafür ist wichtig.
Jonas:
Hast du eine Vision, in welche Richtung sich dein
Studio entwickeln soll?
Joa:
Ich will in Zukunft auf jeden Fall mehr selbst pro-
duzieren. Oft stehen wir vor dem Problem, dass
wir einen Prototypen haben, der erfolgreich in
der Presse ist, aber den wir nicht schnell genug
als Endprodukt raushauen können, weil entweder
ein vernünftiger Produzent fehlt oder die Einzel-
produktion zu teuer ist.
Daher will ich in Zukunft mehr mit Produktion-
spartnern und an Wegen zur direkten Vermark-
tung arbeiten. Wenn jemand mich anruft und sagt,
das und das will ich haben, dann will ich in der
Lage sein zu sagen ‘Ja, hier gibt es das... und der
Preis ist auch okay’ - Außerdem will ich gerne ein
Café oder Restaurant einrichten, überhaupt wird
Inneneinrichtung immer wichtiger.
Jonas:
Hast du selbst eigentlich ein Lieblingsstück?
Joa:
Als Kind hatte ich immer eine Decke, die ich so
geliebt habe, dass ich mir sicher war, später mal
mit ihr begraben zu werden. Und wer weiß, viel-
leicht interpretiere ich irgendwann mal diese
Decke neu und produziere sie - es wäre über-
haupt ein sehr schönes Ziel, ein Lieblingsstück für
jemanden zu entwerfen.
Wir stoppen das Aufnahmegerät. Für einige
Minuten lassen wir unseren Blick über die zahl-
losen Dächer Berlins wandern.
Wie viele Seitenstraßen und Hinterhöfe mag es
noch geben in dieser Stadt? Und wie viele Schä-
tze mögen dort wohl darauf warten, endlich ent-
deckt und gehoben zu werden?
Joa dreht ihr Gesicht in die Abendsonne und
lächelt zufrieden. Ihre Entdeckungsreise hat
gerade erst begonnen.
Dazu braucht sie keinen Stadtplan.
Aber vielleicht eine Tischdecke.
maddafakkaKakk
AXEL UND PÅL VINDENES SIND MITGLIEDER DER BAND
KAKKMADDAFAKKA UND LEBEN IN BERGEN, NORWEGEN.
WWW.KAKKMADDAFAKKA.COM
maddafakkaKakk
Alle
Die Orte, an denen man die Zeit vergessen kann,
sind rar geworden in Berlin. Aus allen Ritzen des
jungen Hauptstadtbetons drückt sich mittler-
weile ein klebriges Höherschnellerweiter, das
wie Baumharz an Fingern und Kleidung haftet.
Unterlegt von einem ewig-wummernden Beat
kriecht es langsam die zahllosen neuen Glasfas-
saden herab, um sich wie ein Klebefilm über die
Straßen zu legen und auch die letzten Bastionen
der Zeitlosigkeit zu erobern.
Ein Entkommen scheint kaum möglich – es sei
denn, man ist mobil. Und so treibt es Rosmarie
Köckenberger mit ihrem „Kjosk“ von Saison zu
Saison in eine andere Ecke Berlins, die noch nicht
von dem klebrigen Höherschnellerweiter erfasst
wurde. Der „Kjosk“, das ist eigentlich ein Doppel-
decker-Bus, gebaut im Jahr 1965 und die meiste
Zeit seines Lebens im Dienste der Berliner Ver-
kehrsbetriebe unterwegs.
Doch das war einmal. Mittlerweile genießt der
Best Ager in vollen Zügen seinen Ruhestand. Und
erlebt gleichzeitig seinen zweiten Frühling. Vor
kurzem hat das rollende Hierdarfstduglücklich-
sein einen neuen Standort erobert und bietet in
der Cuvrystraße im Nordosten Kreuzbergs alles,
was das Herz begehrt: Kaffee, Bier, Eis am Stiel,
Nintendo-Games aus den Neunzigern und lecker
Kuchen mit Sahne oder ohne. Alles liebevoll. Und
unaufgeregt.
Hier wollen wir heute Nachmittag Axel und Pål
Vindenes treffen, die quasi als Repräsentanten
ihrer Band Kakkmaddafakka aus dem schönen
Bergen nach Berlin gereist sind.
Gott sei Dank, will man fast sagen, denn es wäre
mit dem kompletten Aufgebot der insgesamt fünf
Musiker und drei Backgroundtänzer wohl etwas
eng geworden in dem kleinen Bus.
Wir sind eine halbe Stunde zu früh. Unser Foto-
graf Maximilian König hat also alle Zeit der Welt,
um das Equipment aufzubauen und die Location
zu inspizieren. Als wir uns wenig später im Erd-
geschoss des „Kjosk“ einen kleinen Vorabkaffee
gönnen wollen, schallt aus der ersten Busetage
plötzliches Gelächter. Neugierig steigen wir die
schmale Treppe nach oben und entdecken Axel
und Pål, die ausgelassen an den alten Nintendo-
Konsolen rumdaddeln.
Vorbildlich, die Beiden sind schon da! Herzlich
willkommen in Berlin. Und herzlich willkommen
im „Kjosk“.
INTERVIEW & TEXT: JONAS MEYER
FOTOS: MAXIMILIAN KÖNIG
Zeit der Welt
Jonas:
Seit heute ist euer neues Album „Six months is
a long time“ offiziell erhältlich. Wie geht’s euch
damit, dass euer drittes Baby nun endlich das
Licht der Welt erblickt hat?
Axel:
Das fühlt sich absolut großartig an! Wir haben
ziemlich lange an dieser Platte gearbeitet und
sind daher total froh, dass wir den Leuten wieder
viele neue Kakkmaddafakka-Songs vorstellen
können.
Jonas:
Erinnert ihr euch, wann die allererste Idee zu
diesem Album entstanden ist?
Pål:
Wir haben eigentlich schon direkt mit dem Release
unseres zweiten Albums „Hest“ damit begonnen,
neue Songs zu schreiben – und das auch seitdem
kontinuierlich getan.
Jonas:
Ihr habt in den letzten zwei Jahren so viele
Konzerte und Festivals gespielt, dass ihr quasi
„always on the road“ gewesen seid. Wie ist es
euch gelungen, da noch das Songschreiben
dazwischenzuschieben?
Pål:
Wir gönnen uns selbst nicht wirklich viel Frei-
zeit und arbeiten hart, egal ob wir gerade unter-
wegs sind oder zuhause in Bergen sitzen. Es gibt
Leute, die uns das gar nicht abnehmen. Wenn sie
unsere ausgelassenen Shows sehen, glauben sie,
dass alles so easy ist, wie es auf der Bühne wirkt.
Welche Kraftanstrengung hinter dem Ganzen
steht, davon haben sie leider keine Ahnung.
Jonas:
Ihr setzt in eure Auftritte ein enormes Maß an
Kraft und Energie, die ihr auf das Publikum über-
tragt. Woher nehmt ihr eure Power?
Axel:
Wenn du nicht wirklich liebst, was du da tust,
funktioniert es nicht. Dann wärst du nach wenigen
Tagen einfach total fertig. Uns macht diese Arbeit
richtig Spaß und wir haben uns vor langer Zeit
dazu entschieden, unsere gesamte Aufmerksam-
keit auf die Musik zu richten. Wir wissen, dass wir
für eine gute Sache arbeiten, und das treibt uns
an. Außerdem könnten wir eh nicht lange stillsit-
zen, ohne irgendetwas zu tun.
Jonas:
Wie würdet ihr den Sound eures neuen Albums
beschreiben? Was hat sich verändert?
Pål:
Insgesamt gibt es gar keine so großen Verände-
rungen im Kakkmaddafakka-Sound, die Songs
sind einfach nur etwas ruhiger. Der größte Unter-
schied zu „Hest“ ist wohl, dass wir diesmal die
Platte in einem wesentlich besseren Studio auf-
nehmen konnten.
Axel:
Ich würde es mal so formulieren: Während wir
durch „Hest“ erst nach und nach gelernt haben,
wie man gute Songs schreibt, konnten wir das bei
„Six months is a long time“ von Anfang an prak-
tizieren. Alle Tracks auf der neuen Platte sind
mit der gleichen Technik entstanden wie nur die
besten auf „Hest“.
Jonas:
Hilft es euch beim Songschreiben, dass ihr alle
eine klassische Musikausbildung habt?
Pål:
Für mich persönlich spielt das keine große Rolle.
Ich schreibe Songs eher instinktiv und überlege
nicht wirklich, wie ich systematisch die Sache am
besten angehen könnte.
Axel:
Das stimmt. Sie hilft uns auch nicht bei der Art
und Weise, wie wir unsere Instrumente spielen.
Aber trotzdem hat diese klassische Musikausbil-
dung einen entscheidenden Vorteil:
Wir sind bereits in sehr jungen Jahren mit Musik
in Berührung gekommen, die dadurch schon recht
früh ein wichtiger Teil unseres Lebens wurde.
Man entwickelt so eine ganz bestimmte Art und
Weise, mit Musik umzugehen, und lernt viel über
die Bedeutung und Wirkung z.B. von Melodien.
Trotzdem machen wir immer noch Popmusik
und verfolgen daher einen ganz anderen Ansatz:
Es geht uns nicht in erster Linie darum, die Ins-
trumente perfekt zu beherrschen. Wir wollen
vielmehr eine Geschichte erzählen. Ich würde
übrigens auch nie von uns selbst behaupten, dass
wir die allerbesten Sänger oder Gitarrenspieler
sind – obwohl uns viele Leute sagen, dass wir gut
seien. Das schätze ich wirklich sehr.
Pål (lacht):
Die haben wahrscheinlich auch noch nie einen
richtig guten Sänger oder Gitarrenspieler gehört.
Unser Vater beispielsweise hat eine klassische
Gitarrenausbildung, der ist wirklich extrem gut.
Aber er übt auch jeden Tag zwei bis drei Stunden,
und das mit seinen 45 Jahren.
Aber ganz im Ernst: Natürlich ist es ein Kom-
pliment, wenn einem die Leute sagen, man sei
gut. Ich selbst würde dieses Kompliment aber in
erster Linie auf unseren Pianisten Jonas Nielsen
beziehen, der beherrscht sein Instrument näm-
lich absolut großartig.
Es geht uns nicht in erster Linie darum, die Instrumente perfekt zu beherrschen.
Wir wollen vielmehr eine Geschichte erzählen.
Bei uns ist alles mehr oder weniger wie am ersten Tag, es gibt nur eine einzige Regel: die „rule of being cool“.
Jonas:
Gibt es auf dem neuen Album einen Song, der
euch besonders beschäftigt hat?
Axel:
Oh ja, das ist der Song „Saviour“. Ich habe echt
seit vielen Jahren versucht, ein Stück wie dieses
zu schreiben, aber ich habe es nie hinbekommen.
Ich hatte eigentlich schon aufgegeben – aber
zack! Plötzlich war der Song da. Ich dachte: Das
kann doch nicht wahr sein! Warum klappt das mit
einem Mal so einfach, was seit Ewigkeiten nicht
klappen wollte?
Vielleicht lag es daran, dass wir wild gefeiert
hatten und am Tag darauf total im Off waren.
Jedenfalls war der Song danach von jetzt auf
gleich in meinem Kopf.
Jonas:
Bringen sich alle Bandmitglieder in ähnlicher Art
und Weise ein, wenn es darum geht, neue Songs
zu schreiben? Oder habt ihr da eine gewisse Hie-
rarchie?
Pål:
Jeder bringt sich ein und trägt Ideen vor. Wenn
eine Idee gut ist und funktioniert, ist es egal, von
wem sie kam. Es zählt dann nur das Ergebnis,
einzig und allein der Song entscheidet.
Wir entscheiden uns, die Treppen nach unten zu
steigen und im Freien einige Fotos zu schießen.
Vor dem Bus sind liebevoll einige Holzbänke auf-
gebaut, auf denen man stundenlang verweilen
könnte.
Axel und Pål machen es sich gemütlich und
lassen sich geduldig von Max fotografieren. Auch
wenn ihr Terminkalender heute randvoll ist mit
Interviews und Promo-Terminen, wirken sie
gerade, als hätten sie alle Zeit der Welt.
Jonas:
Ihr habt mit „Restless“ vor wenigen Jahren einen
Song geschaffen, der mittlerweile fester Bestand-
teil der Indie-Kultur ist und dort bereits jetzt als
Klassiker gelten kann. Dementsprechend verbin-
den unzählige Menschen diesen Track mit ganz
bestimmten Situationen oder Gefühlen. Gibt es in
eurem Leben auch derartige, besondere Songs?
Axel:
Dass du „Restless“ als Klassiker bezeichnest, ist
echt schön zu hören. Vielen Dank dafür! Es ist ja
auch tatsächlich unser Bestreben, zeitlose Musik
zu machen. Und wenn dadurch wirklich ein oder
mehrere Klassiker entstehen sollten, ist das
natürlich toll.
Richtige Klassiker sind übrigens auch unsere
wichtigste Inspirationsquelle, man nehme nur so
großartige Songs wie „Africa“ von Toto oder „Dan-
cing Queen“ von Abba. Und natürlich gibt es auch
für uns ganz bestimmte Lieder, die mit besonde-
ren Stimmungen und Gefühlen verknüpft sind.
Jede Stimmung hat quasi ihren eigenen Song.
Jonas:
Und für welche Stimmung ist die Kakkmaddaf-
akka-Musik gemacht?
Jonas:
Und für welche Stimmung ist die Kakkmadda-
fakka-Musik gemacht?
Pål:
Wir versuchen, in unserer Musik in erster Linie
diejenigen Lebenssituationen zu beschreiben und
zu verarbeiten, die wir selbst erlebt haben – und
die sind sehr, sehr unterschiedlich. Ich glaube
daher, dass wir für sehr viele Stimmungen den
jeweiligen Song parat haben.
Jonas:
Ihr habt euch bereits im Jahr 2004 gegründet. Hat
sich seitdem etwas innerhalb eurer Freundschaft
verändert?
Axel:
Nein, überhaupt nicht. Ich erkenne keinen Unter-
schied zwischen damals und heute. Aber eigent-
lich denken wir auch nicht wirklich über so etwas
wie Zeit nach. Bei uns ist alles mehr oder weniger
wie am ersten Tag, es gibt nur eine einzige Regel:
die „rule of being cool“.
An einer Häuserwand im Hintergrund prangt ein
überdimensionales 198 Streetart-Painting, das
wie ein Mahnmal wirkt gegen jenes ewige Höher-
schnellerweiter, das diese wunderschöne Ecke
Berlins bisher Gott sei Dank verschont hat. Ein
Geschäftsmann ist dort dargestellt, gesichts- und
namenlos. An beiden Händen trägt er schwere
Uhren aus Gold, die ihn in Ketten legen und für
immer die Zeit ketten.
Jonas:
Hattet ihr auch von Anfang an das Gefühl, musika-
lisch gut zueinander zu passen?
Pål:
Wir haben alle eine sehr, sehr ähnliche Einstel-
lung, was die Musik aber auch den Spaß angeht.
Es liegt auch irgendwie etwas ganz Besonderes
in der Luft, wenn wir zusammen auf der Bühne
stehen und spielen – und diese Energie spüren
auch die Leute im Publikum.
Axel:
Wir haben in unserem Leben ja auch noch nie
mit jemand anderem gespielt und kennen daher
gar nichts anderes. Für uns ist dieses Besondere
eigentlich total normal.
Jonas:
Wie und wo habt ihr eigentlich eure drei männli-
chen Backgroundsänger aufgegabelt? Die Jungs
sind ja mittlerweile ein echtes Markenzeichen
eurer Band.
Axel:
Ach, die waren plötzlich einfach da, das muss
wohl um das Jahr 2006 gewesen sein.
Wir wollten ursprünglich nur mit mehr Leuten
abhängen, wenn wir unterwegs oder auf Tour
waren, und dadurch die Band etwas größer
machen. Die Jungs standen irgendwann einfach
mit auf der Bühne und sind quasi dort geblieben.
Das ist die ganze Story. Unglücklicherweise hat
sich vor kurzem einer der Drei verletzt, aber er
spielt jetzt unsere Percussions und die anderen
beiden tanzen weiter.
Bei Musik geht es nicht darum,ein guter Musiker zu sein. Bei Musik geht esdarum, dass sie echt ist. Und von Herzen kommt.
Jonas:
Ihr lebt alle nach wie vor in Bergen. Ist das ein
guter Ort, um kreativ arbeiten zu können?
Pål (grinst):
Ja, absolut! Es regnet einfach so viel, dass einem
gar nichts anderes übrig bleibt, als zuhause zu
sitzen und irgendetwas zu machen.
Aber im Ernst: Bergen ist richtig toll. Die Land-
schaft ist unglaublich schön, man kann alles zu
Fuß erreichen und wir haben ein tolles Studio
dort. Auch viele andere Bands tummeln sich in
der Stadt.
Jonas:
Und welches Andenken an eure Heimatstadt tragt
ihr mit euch, wenn ihr gerade irgendwo auf der
Welt unterwegs seid? Welche Bilder habt ihr im
Kopf?
Pål:
Ich würde auf jeden Fall sagen, dass ich an das
Meer und die Berge denke – absolut spektakulär!
Axel:
Das stimmt, Bergen ist untrennbar mit dieser
schönen Naturkulisse verbunden. Ich mag es
außerdem, dass es da so hanseatisch und inter-
national zugeht. Es macht mich total stolz, diese
offene Stadt in der Welt repräsentieren zu dürfen.
Und ich hoffe, dass Bergen auch ein wenig stolz
auf uns ist – auch wenn wir nicht überragend sind
in dem, was wir tun.
Wir lieben es einfach, Musik zu machen, und
freuen uns riesig, wenn uns die Leute sagen, dass
wir tolle Songs schreiben.
Und darauf kommt es doch eigentlich an, oder?
Bei Musik geht es nicht darum, ein guter Musiker
zu sein. Bei Musik geht es darum, dass sie echt ist.
Und von Herzen kommt.
Langsam müssen wir uns verabschieden, denn
in wenigen Stunden fliegen die beiden Musiker
zurück nach Bergen.
Für einen kurzen Moment wirkt es, als hätte man
aus der bemalten Häuserwand im Hintergrund
ein lautes Seufzen gehört. Vielleicht wäre er ja
gerne mitkommen, der große Gefangene der Zeit.
Aber er kann einfach nicht, denn er ist gefesselt
an die Uhr. Und das zähe Höherschnellerweiter
klebt schon viel zu lange an ihm.
Axel und Pål lässt das gänzlich unbeeindruckt,
auf ihren Gesichtern breitet sich das zufrie-
denste aller Lächeln aus. Und dabei scheint es,
als ob auch dem „Kjosk“ gerade ein leichtes Grin-
sen über die Motorhaube fahren würde.
Alle sind sich einig: Wer ein Rezept braucht
gegen das klebrige Harz des Höherschnellerwei-
ter, muss einfach zeitlos sein. Und einen Klassi-
ker erschaffen.
Bei den einen ist das ein Bus. Und bei den ande-
ren ein Song.
Dann hat man alle Zeit der Welt.
BalssatAnja
ANJA BALSSAT IST 36 JAHRE ALT,
KOMMUNIKATIONSDESIGNERIN UND LEBT IN KÖLN.
WWW.TECHTICK.DE
BalssatAnja
Die
TEXT & FOTO: ANJA BALSSAT
Sekunde
Ich weiß nicht.Wer alles bestimmt.
Wem was gehört.Was mir gehört.
Aber ich habe einen Platz.Einen Platz.
Auf dem ich sitzen darf.Ein Stein.
Ein Stein unter einem Baum.Ein Baum.
Dessen Geäst grüngesiebte Lichter bricht.Von wohlwollenden Wolken umsäumt.
In diesem Moment gehört mir eine Sekunde.Eine Sekunde.
Voll Licht.Eine Sekunde.
Für mich.
Nun gehört mir ein Stein.Er ist mein Thron.
Mir gehört ein Baum.Der mir ein Sombrero sein will.
Er dient mir.In der Sekunde meines Besitzes.
Die wohlwollenden Wolkentupfen.Akzentuieren den Moment.
Der mir gehört.Mir Sitzenden.
Unter einem Baum.
Umgeben von schillernden Lichtern.Bin ich unendlich reich.
Für immer gehört sie mir.Die Sekunde.
Isabella
ISABELLA PIKART IST DESIGNERIN
UND LEBT IN BERLIN.
WWW.VAPORETTA.ORG
PikartIsabella
Mariana Magtaz, Kuratorin und Galeristin der
„Escola de Arte e Metal“ in São Paulo, bat mich zur
Eröffnung meiner Ausstellung, etwas auf Deutsch
auf eine grosse Wand mit Kreide zu schreiben. So
entstand über meine Arbeit mein Andenken an
diesen Moment:
Eine Reise in den Süden - „L‘Histoire de Mimi Cri“
São Paulo, 23.8.2012
Ein paar Steine auf der Straße, Sand der aus
Meiner Tasche rieselt, das Blau der Kacheln eines
Schwimmbads.
Erinnerungen an einen Sommertag, ein flüchti-
ger Moment, der ein Gefühl lässt, das bleibt. Es
klopft ein paar Jahre später an und ist wieder da.
So wird aus einem Kieselstein, einer Welle, einem
Sandkorn eine Zeichnung, ein Bild, eine Skulptur.
Meine Skulpturen wurden kleiner und tragbarer.
Sie wurden zu Schmuck, den wir an uns tragen
können.
Kleine Kreaturen, Lebewesen, ihre Namen sind
„Ouro Branco“, „Pool Blue“ und „Bicho“.
TEXT: ISABELLA PIKART
FOTO: ROBERTO BRUNDO
KleineKreaturen
JainSander
Ina &
INA JAIN IST 28 JAHRE ALT, SCHRIFTSTELLERIN UND
FREIE JOURNALISTIN UND LEBT IN BONN
SANDER JAIN IST 27 JAHRE ALT, FOTOGRAF UND
FOTOJOURNALIST UND LEBT IN BONN UND IN TOFINO, CANADA.
WWW.SANDERJAINPORTFOLIO.COM
wir bringen fischen das fliegen bei
pinsel aus sternscherben rahmen wir welt
gebrannte kinder spucken kein feuer
wir schmelzen gleichzeit im werdewachs
warum wir
lichttropfen halten am feuerglas
wenn es dunkel bleibt
falte die nacht
wandler verglühen im werdegang
du bist nicht allein
im flachland keimt licht
alle farben weiß knüpfen die netzhaut
es schneit auf der lichtung aus glas
lichter irren nicht
wir sehen uns wieder
fliege mit fischen
sie kennen den weg
TEXT: INA JAIN
FOTO: SANDER JAIN
FliegendeFische
Andenkengegenüber
S: :-)
I: :-) Was bringt Dich zum Lachen?
S: Die Realität ist lustig an sich. Wenn ich es
schaffe, die Dinge für das zu sehen, was sie sind,
dann muss ich einfach schmunzeln.
I: Und jetzt?
S: Frage oder Antwort?
I: Frage.
S: Antwort?
I: Wohin gehst Du?
S: Ich gehe immer weiter zu mir selbst.
I: Woran orientierst Du Dich?
S: Ich folge bewusst und unbewusst meinem
Herzen, indem ich mich von meinen Träumen
leiten lasse und dem stelle oder ausweiche, was
mich quält. Ich laufe mir selbst entgegen.
Ich brauche das Gefühl zu wachsen und niemals
damit aufzuhören. Mich inspiriert unendliches
Werden.
I: Im Fluss oder auf der Flucht?
S: Mein Ideal ist, mit dem Weg zu fließen, mein
Weg zu sein, in und mit jedem Moment. Aber oft
bleibe ich hängen und habe das Gefühl, alles
rauscht vorbei. Es ist ein Wechselspiel, durch das
ich mir immer bewusster werde. Mein Weg ist die
einzige Zuflucht, die einzige Orientierung.
I: Was bedeutet Ruhe für Dich?
S: Wenn ich es schaffe, zu sein und keine Gedan-
ken und Erwartungen zu kreieren, die mich vom
Wesentlichen ablenken würden. Zu viele Gedan-
ken und Erwartungen verstellen die klare Sicht.
Im inneren Frieden fühle ich mich lebendig,
erfahre mich als liebender Mensch - bin im Fluss.
I: Momente der Ruhe?
S: Ich habe selten Ruhe. Aber ein Moment der
Ruhe ist, wenn ich in der Präsenz eines Menschen
bin, den ich liebe und einfach nur sein kann. Oder
wenn ich draußen in der Wildnis von Natur umge-
ben bin und die Elemente spüre, mich selbst
erfahre. Das inspiriert und heilt mich. Und Medi-
tation ist ein Werkzeug für mich, um auch ganz
bewusst zu mir zu kommen, wenn ich mich mal
verlassen habe. Und für Dich?
TEXT: INA & SANDER JAIN
I: Ich glaube, ich habe gar keine so große Sehn-
sucht nach Ruhe.
Mir macht Ruhe oft Angst. Sie ist für mich mit
Stillstand verbunden. Momente der inneren Ruhe
sind oft Momente, die außen gar nicht ruhig sind.
Ein schöner Moment mit jemandem, in dem ich
ausgelassen bin, lache, spiele, dann fühle ich
mich innerlich ruhig, weil er erfüllt ist. Neben
einem Pferd herzugehen und zu merken, dass der
Takt stimmt, das Meer anzusehen... Auch da stellt
sich Ruhe ein.
S: Ruhe ist wohl oft mehr Sein als Denken.
I: Was ist ein Andenken für Dich?
S: Es ist etwas, das mich an mich selbst erin-
nern kann, an bewusst erlebte Momente meines
Weges; an Elemente, die Teil von mir gewor-
den sind. Es ist sozusagen ein Tool, mit dem ich
Zugang Momenten finde, die mit Sinn gefüllt sind/
waren. Ein Andenken soll mich fühlen lassen.
Man nimmt aus vielen wahren Momenten Souve-
nirs mit, aus der Angst heraus, dass die Momente
vergehen oder vielleicht auch weil man sie nicht
ganz bewusst erlebt hat. Dabei sind wir eigent-
lich unser eigenes Andenken, denn die Erfahrung
selbst ist das Souvenir. Sie ist Teil von einem, hat
einen zu dem gemacht, was man gerade ist.
Auch wenn ich die Idee von materiellen Anden-
ken romantisch finde, fällt es mir selber manch-
mal schwer, sie anzunehmen, weil ich weiß, dass
eigentlich das Selbst sein bestes Andenken ist.
Dem sollte man vertrauen. Andenken an ange-
nehme Erlebnisse können mir Hoffnung und Vor-
freude auf weitere bewusste Momente machen.
Menschen können einander Andenken an sich
selbst sein. Bestenfalls erinnert man jemanden
durch sein eigenes Sein an sich selbst und umge-
kehrt.
I: Andenken sind eine Erinnerung an die Zukunft...
Zukunft oder Vergangenheit?
S: Zukunft. Und die Zukunft ist das Jetzt. Zeit ist
eine Illusion für mich, die nur Relevanz hat, wenn
ich nicht im Moment bin. Alles was ich mir wün-
sche zu finden, liegt Hier und Jetzt. Meine Zukunft
ist das Jetzt. Mich an Träumen zu orientieren, mir
der vollen Realität des Jetzt bewusst zu werden.
I: Was träumst Du?
S: Alles. Momente. Ich glaube, man kann nur
Momente träumen.
I: Das ist die Schönheit von Träumen.
S: Konkrete Träume sind aber auch der Hinter-
grund, auf dem ich im Jetzt bleibe, um genau dort
anzukommen. Und wenn ich es schaffe, einen
Moment hier und jetzt zu träumen, dann wird
er auch real werden, weil ich schon den ersten
Schritt damit getan habe. Irgendwann finde ich
mich dann in meinem eigenen Traumbild wieder
und erkenne, dass ich sehend dahin gereist bin.
I: Kann man Träume abbilden?
S: Ich schöpfe Träume aus dem Hier und Jetzt und
versuche sie in Momentaufnahmen einzufangen.
Deshalb fotografiere ich. Diese sind dann meine
Andenken an mich selbst und können mich und
hoffentlich auch viele andere wiederum inspi-
rieren und zum Träumen anregen. Hast Du einen
konkreten Traum?
I: Der Traum wandelt sich mit mir in jedem
Moment.
Ich habe ein Gefühl dafür, wie sich Träume anfüh-
len aber selten eine konkrete Vision. Vielleicht
mal mit einem Auto einfach nur unterwegs sein
und da anhalten können, wo ich möchte, mal
mit den wichtigsten Menschen zusammen in
einer Community leben. Mal auch einfach nur in
meinem Bett liegen, geborgen sein. Die Träume
sind ganz abhängig vom Moment... Träume sind
alles für mich, und meine Antwort darauf wirkt so
banal. Eigentlich kann die Antwort auf die Frage
gar nicht spektakulär genug sein. So wichtig fühlt
es sich für mich an, zu träumen.
S: Du fühlst also, dass die Realität ein Traum ist...
I: Realität und Traum gehören für mich untrenn-
bar zusammen und inspirieren sich.
Was inspiriert Dich?
S: Wahre Momente. Etwas ganz Neues, etwas
wirklich Authentisches und Zauberhaftes kann
für mich nur aus dem puren Moment entstehen.
Im Moment liegt die magische Möglichkeit alles
durch nichts und nichts durch alles zu finden, weil
ich dort die größte Freiheit und Unvoreingenom-
menheit habe. Wollte ich beispielsweise ein Fisch
werden, dann dürfte ich mich noch nicht einmal
über meinen Körper definieren :-)
Bestenfalls schafft man es, das pure Bewusstsein
zu sein. Nichts zu versuchen und alles zuzulas-
sen. Dann zeigt sich die Magie im Moment. Und
wenn nicht, dann ist man gerade in Gedanken.
Woran denkst Du?
I: Meistens an den nächsten Schritt.
Ich gehe mit den Gedanken nicht zu weit in die
Zukunft, weil ich nicht glaube, dass man den
Weg durch Denken alleine finden kann. Und ein
Stück weit sind meine Gedanken immer bei den
Menschen, die mir wichtig sind. Schön sind die
Momente, in denen ich träume, abschweife - in
die Welten in mir. Das sind die Welten, aus denen
heraus ich schreibe. In ihnen fühle ich mich zu
Hause.
S: Oft sind wir uns nicht bewusst, dass wir selber
unser größtes Rätsel sind. Das mag ich am kreati-
ven Arbeiten. Du erkundest Dich selbst und kom-
munizierst mit anderen.
I: Deshalb ist es so faszinierend,
wenn ich mich in einem Kunstwerk wiederfinde,
weil ich dadurch an mich selbst erinnert werde.
Das ist oft ganz unerwartet. Es ist genauso
besonders, mich in dem zu sehen, was ich selber
schreibe, wie mich in Kunst anderer wiederzuse-
hen. Das finde ich oft sogar noch magischer.
S: Für mich ist eine künstlerische Arbeit dann
besonders, wenn sie die Offenheit besitzt, als
Schlüssel zum Träumen zu dienen. Erst der
Betrachter macht sie vollkommen, real, zu einem
lebendigen Andenken, indem er sie mit sich selbst
füllt.
Forts.
HeunJulian
JULIAN HEUN IST 24 JAHRE ALT, SLAM POET
UND AUTOR UND LEBT IN BERLIN.
WWW.JULIANHEUN.DE
Eine indische Rupie
TEXT: JULIAN HEUN
FOTO: ROBERTO BRUNDO
in einer Dose
Ich weiß nicht mehr, wie es genau geschah, aber
ich stand in Bangalore neben einem Straßenstand
für gebratene Eingeweide und hatte kein Geld
mehr. Eine unglückliche Mischung aus gestrich-
enen Flügen und fehlgeschlagenen Überweisun-
gen trug Schuld.
Also ging ich tagelang immer wieder zum Geld-
automaten durch die Slums und hasste die Stadt
mit ihrem Smog und der fettigen Luft, die einen
Schmierfilm auf die Haut legte. In Indien kann man
Essen für Kleinstbeträge kaufen, aber irgend-
wann war die letzte Münze weg und sogar die
verbrannten Schafsinnereien unerschwinglich.
Das Blickfeld quoll über vor blauer Plastikplanen
der sich aneinanderdrängenden Behausungen
aus Altmetallstücken, Pappfronten, Paletten-
kisten und immer wieder jenen blauen Plastik-
planenfetzen. Hügel aus Müll wie Vorgärten. Aber
alles Interesse für die Fremde war überdeckt von
meiner Kraftlosigkeit und Aggressivität. Nichts
essen können, nichts tun können, nur warten und
schwitzen. Dann die unwirklichen Shoppingcen-
ter voll geleckter Bars und Läden für IT-Yuppies,
an deren Fassaden der Blick ausrutschte und
gegen reiche Inder prallte, die in den unterkühlten
Glasgängen ihre seltsame Neigung für Schlagho-
sen befriedigten.
Bankautomat für Bankautomat, doch es gab kein
Geld. Meist war ich zu schwach, die Bettler anzus-
chauen. Bis irgendwann auf halbem Weg zu den
Bankautomaten in einem Slum ein kleiner Junge
vor mir stand in einer Wand aus Geruch. Er war
von seinen Eltern zum Betteln verkleidet worden
als der Affengott Hanuman. Mit der einen Hand
formte er eine Essgeste und mit der anderen hielt
er seinen lila Affenschwanz. Aber diesmal konnte
ich nicht weggucken und was blieb mir, außer zu
sagen, dass ich nichts habe, gar nichts.
Da lächelte er, fasste in ein Beutelchen und reichte
mir daraus eine Rupie. Die Rupie hat wie jede
einen Wert von 1,7 Cent und ich bewahre sie in der
abgebildeten Dose auf. Sie ist mir heilig. Deshalb
möchte ich sie auch nicht fotografieren. Wenn
man es versuchte, entstünde eine digitale Rück-
kopplung, die Linse splitterte. Sicherlich käme ein
lila beschwanzter Trockennasenaffe herbeigeeilt,
der - bevor das Glaskonfetti zu Boden gefallen
wäre - dem Photograph die Kamera entrisse und
sie kreischend am Sockel einer großen Hanuman-
Skulptur opferte.
NeuendorfSarah
SARAH NEUENDORF IST 23 JAHRE ALT,
GRAFIKDESIGNERIN UND LEBT IN BERLIN.
WWW.SARAH-NEUENDORF.DE
NeuendorfSarah
WWW.SARAH-NEUENDORF.TUMBLR.COM
Ein Stück
Kunst ist mein Souvenir
Wenn ich zeichne, reise ich. Der erste Strich bringt
mich auf den Weg in die Welt. Ich reise nicht mit
Bahn und Bus - ich reise schneller. Tusche bringt
mich zu den Walen, Fineliner in den Schnee der
Arktis und das raue Aquarellpapier ist die Haut der
Inuit. Aufnehmen und Erleben, hören und sehen,
tasten und schmecken und ich kann zurück ohne
jedes Souvenir. Aschenbecher in Walfischform,
Schlüsselanhänger mit Babyrobbenfell und die
Tüte getrockneter Narwalhaut bleiben zurück.
Ich habe andere Andenken.
Illustrationen spiegeln einen Teil des Künstlers
wieder, etwas, das tief im Verborgenen liegt.
Hat sich in der Arbeit nun Schmerz, Freude,
Trauer oder Glück manifestiert, oft bleibt es dem
Betrachter auf den ersten Blick verborgen. Öffnet
sich der Beobachter, ist er bereit, einzutauchen in
das Werk, spürt er die Gefühle, so wird er die Welt
des Künstlers bereisen. Oder er erlebt sein eige-
nes Entdecken und nimmt seinen Teil des Anden-
kens mit, dass nur ihm gehört.
Für mich enthält jede Arbeit ein Stück von mir
und wird als visuelles Andenken an das jeweilige
Gefühl bleiben.
TEXT & ILLUSTRATION: SARAH NEUENDORF
von mir
SchümannJannik
JANNIK SCHÜMANN IST 20 JAHRE ALT,
SCHAUSPIELER UND LEBT IN BERLIN.
WWW.JANNIKSCHUEMANN.COM
SchümannJannik
INTERVIEW & TEXT: JONAS MEYER
FOTOS: STEPHEN GWALTNEY
Damals regnete es, das weiß man noch. Zwar
erst etwas mehr, dann wieder weniger. Aber es
regnete.
Und draußen war es grau, nichtssagend grau:
Man musste Schutz suchen in einem Café im
Prenzlauer Berg und sich mit dem leuchtenden
Orange vieler kleiner Lampen verbünden, um
gegen dieses elende Grau anzukämpfen - und
um eine interviewwürdige Atmosphäre für einen
jungen Schauspieler zu erschaffen.
Damals, das war im Mai 2011. Und der junge
Schauspieler, das war Jannik Schümann. Erst
wenige Monate vorher war der gebürtige Ham-
burger nach Berlin gezogen, um sich ganz und
gar seinem Beruf zu widmen. Um sich freizu-
schwimmen und zu wachsen. An der Stadt, am
Leben und an sich selbst.
Als Kind wurde Jannik von seiner heutigen Agen-
tin entdeckt – in einer Tankstelle beim Süßigkei-
ten kaufen. Aus purem Zufall. Und so kam es,
dass er Schauspieler wurde und wir an jenem
Nachmittag im Mai 2011 zum Interview verabre-
det waren. Damals flüchteten wir vor dem Grau
in das Café mit dem orangenen Licht. Wir rede-
ten über sein Leben, seine Wünsche, Träume und
Sehnsüchte. Und über seine große Leidenschaft
für die Schauspielerei.
Zwei Jahre ist es also her, dass wir uns zum
ersten Mal gegenübersaßen. Und wie damals
treffen wir Jannik auch heute an irgendeinem
Tag im Mai zum Interview. Nur dass es diesmal
nicht Berlin ist. Sondern New York.
Der 21-jährige ist für einige Wochen in der großen
Stadt, weil er sich eine kleine Auszeit nimmt und
für einen Moment verschnaufen will. Er hat viel
gearbeitet in den letzten Monaten, in den letzten
Jahren.
Unser heutiger Treffpunkt heißt Ecke 8th Avenue
/ West 40th Street, Jannik wartet bereits. Es ist
gerade einmal 9:30 Uhr, doch während das hei-
matliche Berlin um diese Uhrzeit erst zöger-
lich erwacht, ist New York schon längst auf den
Beinen - oder vielleicht immer noch? Wer weiß
das schon.
Wir beginnen den Tag eher unamerikanisch mit
Kaffee und Croissant und lassen uns von dem
geschäftigen Menschenstrom aufsaugen, der
entlang der 8th Avenue fließt.. Der Strom treibt
uns nach Norden Richtung Times Square – jenem
Ort, der wohl wie kein zweiter als Sinnbild für
das niemals schlafende, aufgeregte und exzes-
sive New York steht.
Lichterder Stadt
Jonas:
Du bist bereits zum zweiten Mal innerhalb eines
Jahres zu Besuch in New York. Wird die Stadt ir-
gendwann zur Routine?
Jannik:
Ganz und gar nicht! Als ich vor drei Wochen
nach New York reingefahren bin und die Skyline
wieder vor Augen hatte, war die Aufregung genau
so groß wie beim ersten Besuch vor einem Jahr
- mein Herz ist quasi aus dem Körper herausge-
sprungen. Irgendwie ist es jedes Mal wieder ein
total beeindruckendes Gefühl, weil die Stadt einen
magisch anzieht.
Jonas:
Gibt es denn eine Ecke in New York, die dich be-
sonders reizt?
Jannik:
Ja, tatsächlich hat der zentrale Theaterdistrikt
rund um den Times Square eine absolute Mag-
netfunktion für mich. Letztes Jahr habe ich es
erst nach vier Tagen geschafft, mich von dieser
Gegend zu lösen und mal weiter downtown zu
fahren, wo es diese typischen Straßenraster nicht
mehr gibt.
Ich fand es im Nachhinein total schade, dass
ich nicht früher auf größere Entdeckungsreise
im East und Village gegangen bin, weil ich die
Gegend dort ebenfalls total mag. In den kleinen
und beschaulichen Straßen kann man sich total
verlieren, weil New York einen auch gerade dort
in seinen Bann zieht. Da ich die Stadt aber noch
besser kennenlernen wollte, habe ich diesmal
meine Fühler weiter ausgestreckt und mir auch
andere Ecken genauer angesehen.
Trotzdem war auch bei diesem zweiten New York-
Aufenthalt wieder der Theaterdistrikt die erste
Anlaufstelle.
Jonas:
Bereits vor zwei Jahren hattest Du uns mit glän-
zenden Augen verraten, wie sehr dein Herz für
Musicals schlägt. Diese Leidenschaft scheint also
ungebrochen...
Jannik:
Oh ja - in New York verging bisher kein Abend, an
dem ich nicht in einer Broadway-Show war! Meine
große Leidenschaft ist und bleibt einfach das Mu-
sical, daran hat sich nichts geändert.
Jonas:
Leider wird in Deutschland das Genre des Musi-
cals im Gegensatz zu den USA eher stiefmütter-
lich behandelt.
Jannik:
Das stimmt. In den Staaten haben die Menschen
ein ganz anderes Gefühl für diese Kunstform. Und
überhaupt hat das Musical hier einfach ein viel hö-
heres gesellschaftliches Standing. Als Darsteller
kann man einfach nicht weiter aufsteigen als am
Broadway zu spielen. Das ist das Höchste der Ge-
fühle, denn der Broadway ist weltweit Nummer
eins.
Es ist unglaublich, wie hoch die Qualität ist, die
einem hier auf den Bühnen geboten wird.
Wer einmal erlebt hat, wie die Stars hier in den Musicals gefeiert werden, der versteht, warum der Broadway das Nonplusultra ist.
Alles ist auf den Punkt genau: Jede Bewegung
sitzt, jede Stimme ist perfekt, jeder Ton wird ge-
troffen und sogar die Tonmischung ist genial.
Daher war für mich bisher jeder Abend in New
York ein Highlight.
Und auch das Publikum ist ein ganz anderes als
in Deutschland: Im Theater und in den Shows
sieht man wesentlich mehr junge Menschen als
bei uns. Das liegt wahrscheinlich daran, dass hier
für die meisten Vorstellungen wenige Stunden
vor Beginn Tickets zum Discountpreis verkauft
werden. Das macht die oft sehr teuren Karten für
Schüler und Studenten erschwinglich.
Vielleicht sollten die deutschen Theater und Mu-
sicals auch mal überlegen, ob sie nicht verstärkt
solche Last-Minute-Tickets anbieten wollen. Dann
wären die Häuser bestimmt nicht so leer.
Es gibt übrigens noch einen weiteren Unterschied
zu Deutschland: Während bei uns hauptsächlich
mit den Stücken selbst geworben wird, stehen in
den USA vor allem die Stars im Vordergrund, mit
deren Gesichtern und Namen man die Show ver-
kauft. Dementsprechend reagiert auch das Pub-
likum ganz anders, wenn bekannte Darsteller die
Bühne betreten.
Sobald beispielsweise am Broadway im Musical
„Phantom der Oper“ das Phantom zum ersten Mal
in Erscheinung tritt, wird frenetisch applaudiert
und gejubelt.
Das passiert bei uns eher selten. Wer einmal
erlebt hat, wie die Stars hier in den Musicals ge-
feiert werden, der versteht, warum der Broadway
das Nonplusultra ist - und warum jeder Darstel-
lers auf das Ziel hinarbeitet, hier irgendwann
einmal aufzutreten.
Vor dem Port Authority Bus Terminal machen
wir Halt und drehen unsere Köpfe nach rechts:
Blitzartig springt uns die Stein, Glas und Farbe
gewordene Reizüberflutung des Times Square
ins Gesicht - ein permanentes Zuviel, das sich
aus jeder Wandpore drückt.
Fasziniert von dieser übermächtigen Imposanz
werfen wir uns in den bunten Ameisenhaufen.
Gigantische Broadway-Werbeplakate hängen
wie Ikonenbilder an den Fassaden der Häuser-
schluchten und präsentieren die Antlitze der
Musical-Stars.
Ziemlich große Bühne für die große Bühne.
Jannik strahlt über beide Ohren, in seinen Augen
spiegeln sich die Lichter der großen Stadt. Links
und rechts von uns reiht sich ein Theater an das
andere, ständig buhlend um die Gunst des Zu-
schauers und um die Krone der besten Show.
Hier liegen sie also, die Bretter, die die Welt be-
deuten.
Jonas:
Als wir uns im Mai 2011 zum ersten Mal trafen,
hattest Du gerade „Homevideo“ abgedreht.
Danach hat sich bei dir ziemlich viel getan...
Jannik:
Ja, dieses Projekt hat mir beruflich einen kräf-
tigen Schub gegeben: Nach „Homevideo“ habe ich
richtig viel gearbeitet und tolle Rollen gespielt. Ich
bin total glücklich darüber, wie sich alles entwi-
ckelt hat.
Rückblickend kann ich sagen: Es gab für mich noch nie eine so große Herausforderung wie „Spieltrieb“.
Jonas:
Eines der bemerkenswertesten Projekte ist dabei
zweifelsohne der Film „Spieltrieb“, in dem du für
eine der Hauptrollen besetzt wurdest.
Jannik:
Absolut! Zwar gab es die Anfrage für den Film
sowie die erste Castingrunde bereits, bevor wir
uns im Mai 2011 zum Interview trafen, allerdings
wurde das Projekt aufgrund diverser Finanzie-
rungsfragen erst einmal wieder auf Eis gelegt.
Nachdem ich lange Zeit nichts mehr davon gehört
hatte, gab es Ende 2011 plötzlich grünes Licht
und es ging weiter.
Ich wurde zur zweiten und dritten Castingrunde
Anfang Januar 2012 eingeladen, weil dort ver-
schiedene Darsteller-Konstellationen ausprobiert
wurden. Danach habe ich zwei qualvolle Wochen
mit Warten verbracht, bis endlich der erlösende
Anruf kam und ich die Zusage hatte, für die Rolle
des Alev besetzt zu sein. Ich bin in die Luft ge-
sprungen und habe geschrien vor Glück! Und im
Mai 2012 haben wir dann in München angefangen
zu drehen.
Jonas:
Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman
von Juli Zeh – ein wundervolles und fesselndes
Buch, das sich den Theorien Nietzsches ver-
schreibt und durch das man sich im wahrsten
Sinne des Wortes durcharbeiten muss. Man stößt
in dem Buch auf so viele wichtige Sätze, die sehr
viel Zeit und Raum brauchen. Wie bringt man
diese Informationsgewalt in einem Film unter?
Jannik:
Das Buch ist eigentlich nicht verfilmbar, nicht nur
wegen der besonderen Sprache und der vielen
schwerwiegenden Nietzsche-Sätze. Das Thema
ist einfach ziemlich heikel, schließlich geht es um
das Ziel des 18jährigen Alev, Macht über andere
Menschen auszuüben und sie zu kontrollieren.
Er ist fest davon überzeugt, dass alle Menschen
manipulierbar sind, wenn man nur die entspre-
chenden Weichen stellt und an den entschei-
denden Rädchen dreht. Es geht ihm nicht um Gut
oder Böse, sondern um die Logik der Dinge - das
ist seine sogenannte Spieltheorie.
Alev ist gerade erst auf eine neue Schule ge-
wechselt, wo er sich prompt neue Opfer sucht:
So stiftet er seine Mitschülerin Ada dazu an, den
Sportlehrer Smutek zu verführen – und Ada gibt
sich aus Liebe zu Alev diesem perfiden Plan hin.
Als ich das Buch im Rahmen der Castingvorbe-
reitungen zum ersten Mal gelesen hatte, dachte
ich nur: Ach du heilige Nuss, wie soll ich das
bloß spielen, wenn ich die Rolle bekomme? Und
wie bringe ich das meinen Eltern bei, was ich da
mache? Ich habe im echten Leben noch nie einen
Menschen kennengelernt, der ansatzweise so
wäre wie Alev.
Jonas:
Die Frage ist ja, ob es überhaupt einen Menschen
gibt, der so ist wie Alev.
Jannik:
Ich weiß es nicht. Jedenfalls kann ich es mir nicht
vorstellen. Selbst einer so fiesen Figur wie der
des Henry aus „Homevideo“ ist man ja irgend-
wann schon einmal in seinem Leben begegnet
oder hat von ihr gehört.
Alev unterscheidet sich dagegen von allem, was
ich bisher kannte – alleine schon durch seine
Sprache. Eigentlich redet er nie „normal“, sondern
nur in bedeutungsschweren Sätzen und Zitaten.
Das zieht sich konstant durch das gesamte Dreh-
buch und somit auch durch den kompletten Film.
Bevor die Dreharbeiten losgingen, hatte ich ab-
solut keine Ahnung, wie ich um Himmels Willen
diese Texte über die Lippen bekommen soll,
sodass es für das Publikum glaubhaft ist.
Und selbst während der Dreharbeiten haben wir
uns manchmal gedacht: Ob das alles in allem
so funktioniert? Ich hatte anfangs echt ziemlich
Muffensausen, aber letztendlich hat es doch ge-
klappt. Rückblickend kann ich sagen: Es gab für
mich noch nie eine so große Herausforderung wie
„Spieltrieb“.
Jonas:
Wie ist es euch gelungen, die 600 Seiten und rund
zwei Jahre erzählte Zeit des Romans in 90 Mi-
nuten Film zu packen?
Jannik:
Man muss den Film als ein eigenes Werk be-
trachten: Um das Wesentliche dieses 600-Seiten-
Buchs in einem 90-Minuten-Film unterbringen zu
können, ließ man beispielsweise Alev direkt in der
ersten Filmszene auftreten, obwohl er im Roman
erst viel später und nach einer erzählten Zeit von
etwa einem Jahr die Bühne betritt. Man wollte die
Handlung der 90 Filmminuten konsequent auf das
Dreieck Alev, Ada und Smutek maßschneidern.
Daher wurde etwa die Hälfte aller Roman-Figuren
gestrichen. Und während man beispielsweise auf
der einen Seite Personen wie Alevs Eltern oder
seine Zimmergenossen im Internat stärker be-
leuchten musste, fielen dafür auf der anderen
Seite Rollen raus, die im Buch hauptsächlich die
Figur der Ada berühren und somit für die Drei-
ecksbeziehung Alev-Ada-Smutek keine unmittel-
bare Bedeutung haben.
Jonas:
Wie hast du dich dem Drehbuch genähert und dich
auf diese komplexe Rolle vorbereitet?
Jannik:
Ich habe das Drehbuch schlicht und einfach aus-
wendig gelernt, weil es mir sonst nicht möglich
gewesen wäre, diese schwerwiegenden Sätze
so zu sprechen, als wären sie normale Alltags-
sprache.
Außerdem war es sehr hilfreich, dass im Dreh-
buch die einzelnen Seiten nur auf der Vorderseite
bedruckt waren. Wenn ich es also aufgeschlagen
habe, gab es zwei Hälften: Der rechte Teil war be-
schriftet, der linke dagegen frei. Dort konnte ich
meine Anmerkungen und Analysen zu jedem ein-
zelnen Satz meiner Rolle aufkritzeln.
Davor musste ich aber erst einmal Nietzsche
verstehen und mich mit seinen Theorien ausein-
andersetzen, sonst wäre es mir wahrscheinlich
nicht gelungen, Alevs Sätze so umfangreich zu
analysieren und für mich persönlich zu deuten.
Ohne Nietzsche hätte ich Alev nicht verstanden.
Das ist ja auch überhaupt das Abgefahrene an der
Schauspielerei: Dass man sich durch die Vorbe-
reitung auf Rollen mit Themen auseinandersetzt,
mit denen zumindest ich mich eher nicht mal so
eben auseinandergesetzt hätte oder mich in ab-
sehbarer Zeit detailliert befassen würde.
Jonas:
Ist Nietzsche etwas, das sich in dir manifestiert
hat und über die Rolle hinaus präsent geblieben
ist?
Jannik:
Natürlich entwickelt man sich durch die Ausein-
andersetzung mit einer solchen Problematik auch
intellektuell ein Stückchen weiter und nimmt das
über die Rolle hinaus für sein Leben mit, trotzdem
muss man zu den Gedanken und Vorstellungen
Alevs eine klare Grenze ziehen. Alev und ich, wir
beide haben nichts gemeinsam.
Jonas:
Hattest du denn mit Alev etwas gemeinsam, als
du die Rolle gespielt hast?
Jannik:
Ich würde sagen, dass ich Alev war.
Jonas:
War es für dich schwierig, dich von dieser Rolle
wieder zu trennen, mit der du so verwachsen
warst?
Jannik:
Ehrlich gesagt hat mir das Kostüm ziemlich dabei
geholfen, die Rolle wieder loszuwerden. Wie im
Buch fällt Alev auch im Film durch seine teure
und exzentrische Kleidung auf, durch die er sich
von seinen Klassenkameraden in krasser Weise
unterscheidet: Er trägt Designeranzug, spitze Le-
derschuhe und Burberry-Mantel.
Wenn ich morgens in den Anzug geschlüpft bin,
war ich plötzlich nicht mehr Jannik. Als wäre
plötzlich ein Hebel umgelegt worden, dachte ich
wie Alev, bewegte mich wie Alev, redete wie Alev.
Und umgekehrt konnte ich abends wieder Jannik
sein, wenn ich den Anzug abgestreift habe.
Jonas:
Hattest du nicht die Befürchtung, dass das tiefe
Eintauchen in diese Rolle dein eigenes Werte-
system beeinflussen könnte?
Jannik:
Nein, ganz im Gegenteil. Ich würde sagen, dass ich
durch „Spieltrieb“ eine gewisse Wachsamkeit ent-
wickelt habe. Es werden einem viele Dinge klarer,
vor allem in Bezug auf das menschliche Handeln
und die Gefahr der Manipulierbarkeit.
Jonas:
Hast Du bei der Analyse deiner Rolle versucht
herauszufinden, wie Alev überhaupt zu dem Men-
schen werden konnte, der er ist?
Jannik:
Naja, Alev ist ein eiskalter Mensch, der nichts für
die Gefühle anderer übrig hat und selbst auch
keine Emotionen zulässt – bis auf wenige Mo-
mente. Und in genau diesen wenigen Momenten
scheint er mit seinen Gefühlen total überfordert
zu sein. Ich kann mir gut vorstellen, dass in seiner
Kindheit irgendetwas Schlimmes passiert sein
muss, das dafür verantwortlich ist.
Im Buch wie im Film bleibt dieser Aspekt aber
absolut offen. Daher muss sich jeder Zuschauer
ein eigenes Bild machen und für sich selbst eine
mögliche Erklärung finden. Mir jedenfalls hat es
sehr geholfen, zu Alev eine fiktive Biographie an-
zulegen, durch die ich halbwegs nachvollziehen
konnte, warum dieser Mensch so ist, wie er ist.
Jonas:
Wie werden deiner Meinung nach die Zuschauer
auf „Spieltrieb“ reagieren?
Wenn ich morgens in den Anzug geschlüpftbin, war ich plötzlich nicht mehr Jannik.
Jannik:
Ich glaube, dass dieser Film sehr provozieren
wird. Es gibt viele beklemmende, traurige und
teils schockierende Szenen, bei denen ich mir vor-
stellen kann, dass die Zuschauer großen Schmerz
empfinden werden.
Wenn das passieren würde, wäre ich sehr zu-
frieden – denn dann wüsste ich, dass ich als
Schauspieler funktioniert hätte. Einige der Szenen
sind so sogar so abstoßend, dass den Zuschauern
gar nichts anderes übrig bleiben wird als mich zu
hassen. Das wäre großartig, denn dann hätte ich
als Schauspieler wirklich gewonnen.
Überwältigt vom Farb- und Lichtermeer des
Times Square setzen wir unsere kleine Reise
durch Manhattan fort und laufen einige Zeit den
Broadway entlang Richtung Süden. Irgendwie
brauchen wir mehr Luft, mehr Freiheit, mehr
Sonne: Hier in den tiefen Häuserschluchten ver-
irrt sich einfach zu wenig natürliches Licht auf
den Boden. Am Herald Square entscheiden wir
uns daher kurzerhand, in die U-Bahn zu steigen
und downtown zu fahren. Und so geht es im F-
Train ruppig, aber zügig unter dem East River
hindurch nach Brooklyn.
In der U-Bahn sitzen wir uns schweigend gegen-
über, schauen einander an, beobachten andere.
Während Janniks hellblauen Augen durch den
Wagon wandern und unauffällig die nähere
Umgebung abtasten, hüllen die schummrigen
Deckenleuchten und das matte Metall der Wand-
verkleidung den Innenraum in zartes Gold.
Der F-Train hat mittlerweile den East River pas-
siert und ruckelt an der York Street ein. Wir
finden, dass wir genug Zeit im Untergrund ver-
bracht haben, verlassen die U-Bahn und streben
Richtung Ausgang.
Kaum sind wir die Treppen hinaufgestiegen,
begrüßt uns die hohe Mittagssonne mit ihrem
grellsten Weiß.
Wir schauen uns um: Das also ist Brooklyn. Ir-
gendwie schön hier, alles wirkt so ruhig und
beschaulich. Zufrieden schlendern wir zum
Brooklyn Bridge Park, lassen uns auf einer
großen Wiese nieder und bestaunen die Skyline
von Manhattan, die direkt vor unseren Füßen
liegt.
Jonas:
Am 15. September wirst du im Berliner Tatort zu
sehen sein, wo Du einen jugendlichen U-Bahn-
Schläger spielst, der verdächtigt wird, eine Person
zu Tode geprügelt zu haben – ebenfalls eine Rolle,
die die Zuschauer eher hassen als lieben werden.
Jannik:
Ja, das stimmt. Dieser Tatort basiert auf einer
wahren Begebenheit aus dem Jahr 2009. Am
Münchener S-Bahnhof Solln wurde der 50-jäh-
rige Familienvater Dominik Brunner ermordet,
weil er einige Schüler vor jugendlichen Schlägern
beschützen wollte. Im Berliner Tatort, den wir vor
kurzem abgedreht haben, ist die Handlung aber
etwas abgewandelt. Trotzdem geht es um Zivil-
courage und die Tatsache, dass die Leute eher
wegsehen als eingreifen.
Ich bin total dankbar, dass ich diese Rolle spielen
durfte. Ich mag es einfach, wenn ich Charaktere
darstellen kann, die meilenweit entfernt sind von
meiner eigenen Persönlichkeit. Ich übernehme
zwar auch ganz gerne mal eine Rolle, in der ich
der Schwarm der Schule bin und mich alle lieben,
aber das andere ist für mich doch irgendwie eine
größere Herausforderung.
Jonas:
Wie verlief der Dreh?
Jannik:
Der Dreh war in zweierlei Hinsicht eine außerge-
wöhnliche Erfahrung. Zum einen hatte ich wäh-
rend der gesamten Produktion mit einem richtig
starken grippalen Infekt zu kämpfen, weshalb ich
mich immer noch wundere, wie ich diesen Dreh
überstehen konnte. Zum anderen war es aber
natürlich trotzdem toll, mit Dominic Raacke und
Boris Aljinovic zu drehen. Der Tatort ist ja eine
solche Institution im deutschen Fernsehen, dass
man anfangs dachte, man würde tatsächlich vor
den Kommissaren Ritter und Stark stehen.
Daher war ich im ersten Moment schon ein wenig
eingeschüchtert, was sich aber nach kurzer Zeit
gelegt hat. Es macht sehr viel Spaß, mit den
beiden zu drehen und zu arbeiten.
Jonas:
Du beginnst gerade mit den Vorbereitungen
für deine Rolle im Film „LENALOVE“, bei dem
Grimme-Preisträger Florian Gaag Regie führen
wird. Dieser Film stellt ebenfalls einen starken
Bezug zur Realität her - worum geht es genau?
Jannik:
Der Titel „LENALOVE“ bezieht sich auf den Nick-
name der jugendlichen Lena, die im Chat gemobbt
wird und daraufhin flieht. Ich spiele den 18-jäh-
rigen Tim, der der große Schwarm von Lena ist
und sie am Ende rettet.
„LENALOVE“ ist interessanterweise der erste
Kinofilm, der sich dem Thema Cybermobbing
widmet. Die Dreharbeiten dazu beginnen im Ok-
tober.
Jonas:
Da spielst du aber ausnahmsweise mal keinen
Bösewicht...
Jannik:
Nein. Tim ist zwar auch nicht der nette Junge
von nebenan, immerhin vertickt er Drogen und
wohnt im Heim. Aber er ist auch keine Figur, die
irgendwelche Menschen umbringt. Diese Rolle
ist wieder etwas komplett anderes, auch was die
Vorbereitung angeht. Zwar werde ich auch wie
sonst auf die Straßen gehen und nach bestimmten
Menschentypen schauen, aber diesmal wohl nach
ganz anderen Charakteren. Darauf freue ich mich
sehr.
Der Mittag ist ein gutes Stück älter geworden, die
Sonne steht tiefer. Wir machen uns wieder auf
den Weg zurück nach Manhattan, denn es zieht
uns ins Greenwich Village – jener Gegend, in der
Jannik sich so gerne verliert und fallen lässt.
Wir wandern also die Promenade der Brooklyn
Heights entlang und steigen an der High Street
in den A-Train, der uns an der 14 Street auspuckt.
Es Zeit ist für einen großen Americano. Und so be-
treten wir einen kleinen Coffeeshop am Jackson
Square Park, wo wir uns an den großen Fenstern
des Cafés niederlassen.
Mich begleiten immer die Gedanken an meine Freunde und die Gewissheit, sie alle wiederzusehen, wenn ich nachhause komme.
Janniks Augen tasten schon wieder ihre Um-
gebung ab, unauffällig wandern sie durch das
kleine Café. Für einen Moment verharren sie bei
einem Gast, ziehen nach wenigen Sekunden zum
nächsten weiter und verlieren sich irgendwann
im bunten Treiben auf der anderen Fensterseite
des Coffeeshops.
Jonas:
Ist das Beobachten von Menschen grundsätzlich
Teil deiner Vorbereitung auf Rollen?
Jannik:
Ja, allerdings ist es mir als Schauspieler wichtig,
nicht einfach das Verhalten anderer Menschen zu
kopieren, sondern eher ihre Gestik und Mimik in
bestimmten Situationen zu studieren. Vor allem
wenn sie sich unbeobachtet fühlen, offenbaren
sich die interessantesten Details, z.B. wenn
jemand im Café sitzt, liest und sich am Kopf kratzt.
Und diese Details sind es, nach denen ich suche.
Jonas:
Sind diese Details in New York andere als in
Berlin?
Jannik:
Ne, in New York ist alles nur etwas schneller und
wirkt wie vorgespult. Alles ist irgendwie wie mal
zwei. Aber davon abgesehen funktionieren Men-
schen in bestimmten Dingen auf der ganzen Welt
mehr oder weniger gleich.
Jonas:
Welche Erkenntnisse bringst du außerdem aus
New York mit, wenn du in wenigen Tagen wieder
nach Berlin zurückfliegst?
Jannik:
Ich war jetzt vier Wochen hier, das ist eine irr-
sinnig lange Zeit. Ich habe das Gefühl, in diesen
Wochen wieder ein Stückchen gewachsen zu sein
in meinem Leben und finde es total schön, dass
mein Reise-Stickeralbum um einige Andenken
reicher geworden ist.
Letztes Jahr war ich noch als Tourist hier und bin
in acht Tagen von Freiheitsstatue zu Empire State
Building gehetzt. Jetzt jogge ich morgens durch
den Central Park, schlendere durch die Gassen im
Village und sauge die Häuserschluchten in mich
auf - wie ein echter New Yorker. So fühlt es sich
zumindest an. Und dabei ist der „places to be
before you die“-Schatz in meinem Kopf wieder ein
Stück größer geworden.
Jonas:
Gab es ein Andenken an Berlin, das du mit nach
New York gebracht hast?
Jannik:
Es ist eigentlich egal, wohin ich reise: Mich be-
gleiten immer die Gedanken an meine Freunde
und die Gewissheit, sie alle wiederzusehen, wenn
ich nachhause komme.
Ich glaube nicht an Zufälle. Alles, was im Leben passiert, hat irgendeinen Sinn und Zweck. Sogar die kleinsten Kleinigkeiten haben eine Bedeutung und lassen einen wachsen – und darauf kommt es an.
Jonas:
Erinnerst du dich noch an den Moment, als deine
Agentin dich vor vielen Jahren durch Zufall in
einer Tankstelle entdeckt und angesprochen hat?
Jannik:
Ja, das habe ich noch sehr deutlich vor Augen.
Jonas:
Hast du dich jemals gefragt, wie dein Leben wohl
verlaufen wäre, wenn es diesen Zufall nicht gegen
hätte?
Jannik:
Ich glaube nicht an Zufälle. Alles, was im Leben
passiert, hat irgendeinen Sinn und Zweck. Sogar
die kleinsten Kleinigkeiten haben eine Bedeutung
und lassen einen wachsen – und darauf kommt
es an.
Wir verlassen das kleine Café und steuern den
Jackson Square Park auf der anderen Seite der
Straße an. Nachdem wir dort einige Portraits ge-
schossen haben, packen wir unser Equipment
zusammen und winken ein vorbeifahrendes Taxi
herbei.
Wir wollen den Tag im Central Park ausklingen
lassen, jener grünen Lunge, die New York vor
dem Ersticken bewahrt.
Und so liegen wir irgendwann einfach da und
atmen tief die Luft der großen Stadt ein, die so
friedlich vor uns liegt. Oder wir vor ihr.
Wir beobachten, wie das sanfte Licht des New
Yorker Abends allmählich den Central Park in
das gleiche zarte Gold hüllt, das uns mittags in
der U-Bahn begegnet ist.
Jannik schweigt und richtet seinen Blick auf
die imposante Skyline. Vergnügt lässt er seine
strahlend blauen Augen von Wolkenkratzer zu
Wolkenkratzer tanzen. Als sie den höchsten
Punkt erreichen, ziehen sich die Mundwinkel des
jungen Schauspielers weit nach oben – genau
wie damals an jenem Nachmittag im Mai 2011.
Als es regnete und er das Grau besiegt hat.
Nur mit einem Lächeln.
EulerSophie
SOPHIE EULER IST 31 JAHRE ALT, TEXTILDESIGNERIN
UND SIEBDRUCKERIN UND LEBT IN BERLIN.
WWW.DAWANDA.COM/SHOP/KRAMURIKISTE
EulerSophie
BE BERLIN DESIGN-SOUVENIR AWARD
SantaMonica
Ein Andenken verbinde ich immer mit plastischen
Souvenirs aus dem Ausland, die, zurück in der
Heimat, meistens ihre Funktion als Staubfänger
einwandfrei erfüllen oder ziemlich schnell in der
Altkleidersammlung landen, weil sie doch nicht
so tragbar und cool sind, wie sie es am Strand
von _____ waren. Wäre ich nicht in Los Angeles
gewesen, könnte ich diesen Text bereits wieder
beenden...
Im März 2009 flogen meine beste Freundin und
ich nach Santa Monica, eine Stadt in L.A. County,
deren Strand-Pier man vor allem in diversen ame-
rikanischen Fernsehsendungen sehr oft zu sehen
bekommt. Anfangs kam mir vieles künstlich vor
und ich war irritiert von den vielen Unbekannten,
die alle sehr überschwänglich wissen wollten,
wie es mir geht. Für mich waren das Gute-Laune-
Terroristen, die alle gleichzeitig mit den Waffen
der „daily happiness“ Amok liefen. Eine Überfor-
derung für eine grantige Österreicherin wie mich.
An einem sonnigen Tag beschlossen wir, uns
Räder auszuborgen und am Strand entlang zu
fahren. Für 10 Dollar die Stunde erhielt ich ein
amerikanisches Cruiser Bike. Im Nachhinein
hätte ich für dieses Vergnügen auch das Dop-
pelte bezahlt: So wie ich mich gefühlt habe, als
ich mit ca 10 km/h auf der Strandpromenade
entlang gecruist bin, müssen sich Harley David-
son Fahrer mit 200 Sachen auf der Landstraße
fühlen (assoziierte ich wahrscheinlich aufgrund
des tiefliegenden, großen Sitzes und der breiten
Lenkstange, denn außer dem Mitfahrgefühl einer
Vespa 50 Speciale, hatte ich keinen Vergleich).
Genau dieses Gefühl wollte ich zu Hause in Berlin
auch haben! Unbeschwert, lässig, entspannt. Es
war für mich ganz klar, ich musste ein Cruiser
Bike kaufen, aber eines, das kalifornischen Sand
im Reifenprofil hat, eines mit Charakter!
In der 3rd Promenade klapperte ich alle Fahrrad-
geschäfte ab. Alle hatten nur Neuware für einige
100 Dollar. Niemand wusste von einem „Second
Hand Cruiser“ Shop. Niemand außer Dave! Dave
arbeitete bei einer amerikanischen Version von
Intersport in der Radabteilung und gab mir den
entscheidenden Tipp. Gleich in der Nähe des Piers
sei ein Fahrradverleih. Offiziell würden dort keine
Räder verkauft, aber ich solle danach fragen und
„Grüße von Dave“ bestellen.
TEXT & FOTO: SOPHIE EULER
Eine Stunde später war ich Besitzerin eines
gebrauchten schwarzen Cruiser Bikes mit rosa
Felgen und einem Fahrradkörbchen. Kosten: 40
Dollar! Ob Dave was davon abbekam, blieb ein
Geheimnis.
Für meinen Rückflug nach Berlin musste ich laut
Air New Zealand nur noch eine spezielle „Fahr-
radtasche“ kaufen. Zurück zu Dave. Er verkaufte
mir nicht nur die Spezialtasche, sondern zerlegte
mein Fahrrad dafür auch noch in seine Einzelteile.
Die Tasche kostete übrigens 54,99 Dollar.
Alles einfacher als ich dachte, aber die Gedanken
an die Heimfahrt mit dem Bus vom Berliner Flug-
hafen in meine Wohnung lösten inneren Stress
aus. Die Tasche war extrem schwer, sperrig, und
ich hatte ja auch noch meinen Koffer dabei...
Ankunft in Berlin-Tegel: Keine schwarze Tasche
weit und breit! Alles umsonst? Nach 15 Minu-
ten aufgeregten Nachfragens entpuppte sich die
Situation als Glücksfall. Mein Fahrrad steckte in
London fest und wurde mir dann einen Tag später
von einem Kurier direkt in meine Wohnung im
ersten Stock geliefert.
Der Kurier fluchte bei jedem Schritt im Stiegen-
haus über die schwere Riesentasche und ich
konnte erahnen, was mir erspart geblieben ist!
Ich bin stolz auf mein Andenken, und wenn die
Sonne über Berlin scheint, cruise ich los, erin-
nere mich an den Strand von Santa Monica, frage
Fremde im Vorbeifahren nach ihrem Befinden,
grüße mit einer lässigen Handbewegung meine
langhaarigen, bärtigen Kollegen auf ihren Harleys
und fühle mich unbeschreiblich gut!
In eine polizeiliche Fahrradkontrolle sollte ich
aber lieber nicht geraten, denn mein Cruiser hat
keine Handbremsen. Die würden nur den rosa
Lack von den Felgen wetzen. Ich bremse mit
Rücktritt, wenn die Kette zur Abwechslung mal
nicht rausspringt! Die Lenkstange wackelt etwas
und der Sitz quietscht von Jahr zu Jahr mehr,
weil die Federn rosten. Bergauf zu fahren fordert
sportliche Höchstleistungen, weil es keine Gang-
schaltung gibt.
Ach ja und bei Regen werde ich extrem nass.
Bei Cruisern hat man keine Schutzbleche, weil
uncool...
PHILIPP BLOCH IST 23 JAHRE ALT, STUDENT UND
KREATIVSCHAFFENDER UND LEBT IN WILHELMSHAVEN.
WWW.HUMMELMORS.DE
BlochPhilipp
WWW.HUMMELMORS.DE
BlochPhilipp
Das
Der Anblick eines Andenkens lässt uns alle an
etwas denken. Viele Menschen kaufen, verschen-
ken oder erben Andenken, die an einen besonde-
ren Moment oder eine geliebte Person erinnern
sollen.
Ich dagegen bin anders. Ich bin gut im Weg-
schmeißen. Im Wegschmeißen von Dingen, die
mich ständig dazu bringen, an das Vergangene zu
denken. An schöne Momente, die - genau so - nie-
mals wiederkommen werden. An Menschen, die
es so nie wieder in meiner Gegenwart geben wird.
Ich kann mich nicht an alte Tage klammern. Das
wäre falsch gegenüber meiner inneren Zuver-
sicht. Es wäre Melancholie. Dieser anlastende
Zustand macht mich nicht glücklich. Nein, er
erdrückt mich.
Der Anblick eines Andenkens macht mich
schwach. Er sagt meiner Seele: „Das war schön
damals. Das wird so nie wieder passieren.“
An alte Zeiten denken, um sich darin verlieren
zu können, lässt meine Seele leiden. Aber ich bin
Optimist, ich will leben. In meinem Fokus steht
die Hoffnung. Ich will sagen: „Es kommt wie es
kommt. Lass es kommen.“ Das macht mich neu-
gierig. Das macht mein Leben so lebenswert. Wie
eine rasante Autofahrt, bei der hinter jeder Kurve
etwas anderes auf mich wartet - eine Heraus-
forderung, ein nicht vorhersehbares Hindernis.
Genau an das möchte ich denken. Das ist mein
Andenken. Der Gedanke an eine wunderbare
Zukunft, der Gedanke an das Leben.
Und trotz meiner Lust am Wegschmeißen besitze
ich Andenken. Vielleicht weil ich ein ganz norma-
ler Mensch bin, vielleicht weil ich die Melancholie
doch brauche.
Ich besitze aber nichts Großes. Vielmehr Bilder,
Fotos, Motive. Das sind meine Andenken. Ein Aus-
schnitt aus einer vergangen Zeit, die so zwar nie
mehr wieder kommt, aber die ein Fenster wider-
spiegelt, durch das ich kurz einmal durchschauen
kann, um mich zu erinnern.
Falls ich jemals vergessen werde, wie es war, was
dort war, wo ich war.
TEXT & FOTO: PHILIPP BLOCH
Fenster
NatašaVuckovic
NATAŠA VUČKOVIĆ IST 25 JAHRE ALT, STUDIERT
GRAFIKDESIGN UND LEBT IN HAMBURG.
WWW.NAVUCKO.COM
NatašaVuckovic
WWW.FACEBOOK.COM/NAVUCKO
Der Eiffelturm. Auf meinem Tisch, dem dunkel-
braunen Holztisch aus Mahagoni im Wohnzimmer.
Da steht er. Natürlich nicht der echte. Der wäre
auch etwas zu groß gewesen. Aber eine maß-
stabsgetreue Miniaturausgabe davon. Wenn ich
ihn ansehe, dann die Augen schließe und einen
kurzen Moment abwarte, dann passiert etwas
Wunderbares:
Auf einmal bin ich wieder mitten in Paris. Ich laufe
an den vielen kleinen Ständen der Künstler und
Buchverkäufer am Ufer der Seine vorbei. Laufe
ich wirklich? Nein. Ich schlendere. Langsam. Ohne
jede Eile. Hin und wieder bleibe ich stehen. Zum
Beispiel bei Pierre. Pierre ist ein kleiner, hagerer
Mann, der früher einmal sehr gut ausgesehen
haben muss. Heute, mit seinen 83 Jahren steht er
noch immer hier hinter seinem kleinen Stand. Er
verschwindet fast hinter den hohen Stapeln von
alten, gebundenen Büchern, die er dort feil bietet.
Ein kurzes Lächeln, verschmitzt und freundlich,
so wie Pierre gerne lächelt, wenn er ein bekann-
tes Gesicht entdeckt, huscht über seinen großen,
breiten Mund, als ich an seinen Stand trete.
„Bonjour, Mademoiselle“, sagt er und schaut mich
dabei mit seinen braunen, nicht zu eng zusammen
liegenden Augen freundlich an. Pierre steht hier
am Seine-Ufer seit mittlerweile 52 Jahren, wie
ich bei meinem letzten Besuch einige Tage zuvor
erfahren durfte. Es können auch schon 53 Jahre
sein. Das ist ihm nicht so wichtig. Überhaupt hat
Pierre ein sehr liebevolles Verhältnis zur Zeit.
Alles, was er macht, ob er morgens seinen hell-
grünen Holztisch aufbaut, auf dem die vielen mitt-
lerweile ganz gelb gewordenen Bücher liegen,
oder ob er einen neuen Kunden begrüßt, der wie
zufällig an seinem Stand stehen bleibt; all das tut
er mit Bedacht und ohne auch nur einen Anflug
von Hektik.
Einmal habe ich ihn gefragt, was denn sein
Geheimnis sei. Ich bewunderte seine unerschüt-
terliche Ruhe und wohltuende Gelassenheit und
hatte mir fest vorgenommen, dahinter zu kommen.
Pierre zeigte sein schönstes Lächeln und sagte
nur: „Geheimnis, Mademoiselle? Ich kämpfe nicht
gegen die Sekunden, Minuten und Stunden, wie so
viele andere Menschen. Die Zeit ist mein Freund.
Ich komme gut mit ihr aus. Warum also sollte ich
versuchen, sie zu besiegen?“
Dann öffne ich wieder die Augen und schaue
noch eine ganze Weile den Eiffelturm auf meinem
Holztisch an. Pierre hat Recht, denke ich dann und
muss nun selber lächeln.
TEXT & FOTO: NATAŠA VUČKOVIĆ
GeheimnisPierres
RoqueFábio Miguel
FÁBIO MIGUEL ROQUE IS A 28-YEAR-OLD
PHOTOGRAPHER LIVING IN LISBON, PORTUGAL .
WWW.CARGOCOLLECTIVE.COM/FABIOROQUE
RoqueFábio Miguel
Having this opportunity to describe something
through text and image as “My Souvenir,” I decided
to dedicate this project to my two year old son,
Tomé.
I, unlike most people, always doubted that I would
one day become a father. Not that I didn’t want to
be one, but I always imagined that fate, for some
reason, would not give me this opportunity. We
have such doubtful and enduring feelings towards
several ideas or situations, but I was mistaken.
With great anticipation I waited eight months,
although he was born prematurely. I don’t have
any experience and knowledge in this field, but
like with many situations and experiences, we
slowly learned.
There were very many good moments, but some
bad ones as well: many feelings of frustration
were had, my career stagnated due to shifting
priorities and fatigue, which rendered my unable
to visit the cinema, or do anything for that matter.
My project could be entirely different, but it is not.
The project is my souvenir, representing a won-
derful balance that has been maintained over two
years. As a father, I have experienced unimagi-
nable and indescribable sensations and emotions
during this period of time. And, of course, all that
has been temporarily cast aside, such as trips to
the cinema and involvement with my career, has
been reestablished with a new sense of normalcy
and a desire to improve greatly and significantly.
TEXT & PHOTO: FÁBIO MIGUEL ROQUE
WonderfulBalance
ROBIN KATER IST 21 JAHRE ALT, STUDIERT
FOTODESIGN UND LEBT IN BERLIN.
WWW.ROBINKATER.DE
KaterRobin
Für immer
TEXT & FOTO: ROBIN KATER
wach
Als Kind brachte ich von all’ meinen Reisen irgen-
dein Andenken mit nach Hause, sei es ein Kus-
cheltier, eine Postkarte oder “irgendetwas zum
Hinstellen”.
Diese Gegenstände sind daraufhin leider häufig
in allen möglichen Ecken meines Zimmers ver-
schollen oder verstaubten in Regalen.
Wenn ich sie ansah, wusste ich zwar noch unge-
fähr, wo dieser Gegenstand herkam, aber oft gab
es dazu keine bestimmte Geschichte, die mir
wieder einfallen würde.
Seitdem ich eine Kamera besitze und diese aktiv
nutze, stelle ich fest, dass mein Andenken an
alles, was mir besonders erscheint, durch meine
Bilder gewährleistet wird. Dies sind nicht unbed-
ingt Momente, die mit der Kamera festgehalten
wurden, sondern vor allem Orte und Stimmun-
gen an denselben, die sich irgendwo in meinem
Gedächtnis eingenistet haben.
Diese Andenken sind nun nicht mehr materiell,
sondern eigentlich weder greifbar und leicht mit
Anderen teilbar.
So erinnere ich mich beispielsweise oft an
einen einzelnen Tag, den ich mit meiner Familie
während eines Schottlandurlaubs erlebt habe.
Sonne, Meer, Wald, Berge, Klippen, Wind, Wald-
wege, eine Bucht... All das sind die einzelnen
Andenken, die mir diesen Tag immer noch nahezu
lebhaft vor Augen führen.
An diesem Tag habe ich auch fotografiert. Ich
hoffe, dass die Bilder, die ich dort gemacht habe,
mein Andenken an die Stimmung an diesem Tag
für immer wach halten.
FreudenthalerTanja
TANJA FREUDENTHALER IST 24 JAHRE ALT,
KOMMUNIKATIONSDESIGNERIN UND LEBT IN STUTTGART.
WWW.TANJAFREUDENTHALER.DE
FreudenthalerTanja
TEXT: TANJA FREUDENTHALER
FOTO: SANDRINE MAUSE UND TANJA FREUDENTHALER
Der wahreGenuss
Se souvenir de...
Jäger und Sammler,
durchstreifen Metropolen,
jagend nach Erinnerungen,
dem einzigartigen Stück.
Sprinten durch Massen,
Menschen, die bummeln,
aus verschiedenen Welten,
sind schon vorbei.
Fokussiert auf die Highlights,
von einem zu nächsten,
blitzend und zoomend,
blenden sie aus.
Tausend Bilder im Chip,
keines im Kopf
hinter der Linse,
verfliegt der Moment.
Verpassen das Wichtige,
der wahre Genuss.
Die Erinnerung bleibt,
zumindest im Bild.
HENRIKE OTT IST 31 JAHRE ALT,
KOMMUNIKATIONSDESIGNERIN UND LEBT IN BERLIN.
WWW.DESIGN-OTT.DE
OttHenrike
BE BERLIN DESIGN-SOUVENIR AWARD
OttHenrike
Es begann damit, dazugehören zu wollen.
Einige Jahre später war es der Wunsch, einen Gedanken mit mir zu tragen.
Einen Gedanken, der Hoffnung gibt.
Später wurde daraus eine große Liebe. Seitdem ist es ein allumfassender Plan.
Manchmal ein spontaner Moment – ein Witz.
Was es bleibt:
Ein Souvenir, das mich an jeden dieser Momente erinnert.
TEXT: HENRIKE OTT
FOTO: MARK HALBSTARK
GroßeLiebe
SchievelkampJulian
JULIAN SCHIEVELKAMP IST 19 JAHRE ALT,
FOTOKÜNSTLER UND LEBT IN KÖLN.
WWW.JULIANSCHIEVELKAMP.COM
SchievelkampJulian
Die lange
Eden Calling: Inmitten einer Frühlingslichtung
wache ich unter einem raschelnden Meer dicht
bewachsener Baumkronen auf, als ein leichter
Hauch die farbenprächtige Wildflora um mich
herum erzittern lässt. Während ich versuche,
den Duft von feuchtem Eichenholz zu erhaschen,
bringt mich ein fernes Raunen aus der Fassung.
Ich habe das seltsame Gefühl, die vernarbten Ast-
löcher einiger Bäume flüstern meinen Namen.
Klingt fast wie Herbstlaub im Auslauf des Windes,
hat dabei jedoch seinen ganz eigenen Charakter.
Einen tiefen Atemzug lang halte ich still, bis ich
pollenartige Körnchen bemerke, die von oben hin-
unter fallen und in den Boden sickern. Die Erde
leuchtet auf und weitet sich, lässt Wurzeln um
meinen Körper ranken, um mich zu halten.
Bevor ein solch utopischer Waldzauber die Fan-
tasien des einen oder anderen beflügelt, muss
ich anmerken: Das Ganze ist gar nicht so mär-
chenhaft wie es klingt, denn das Kitzeln überdi-
mensionaler Mikrosporen in der Nase ist wirklich
unerträglich.
Wenn ich heute daran zurückdenke, genieße ich
den Moment häufig mit einer Zigarette und einem
Notizblock, auf dem ich einfach die Gedanken ein-
fange, die mir in Form von goldglühendem Blü-
tenstaub in der Luft erschienen.
Ich fiel nur einen kurzen Moment in die Hänge des
Waldes, aber wenn ich guten Kitsch nicht so lieben
würde, wäre ich dort wahrscheinlich nie gelandet.
Es war jedoch ausgeschlossen, mich bloß auf eine
verschwommene Traumvorstellung zu beschrän-
ken, die irgendwann in den Winkeln meiner
Gedankenkonstruktionen dahinvegetiert. Ich war
zu Hause.
TEXT & FOTO:
JULIAN SCHIEVELKAMP
Nacht der Musen
MeyerJonas
JONAS MEYER IST DESIGNER UND
HERAUSGEBER UND LEBT IN BERLIN.
WWW.JMVC.DE
MeyerJonas
About
TEXT: JONAS MEYER
FOTO: ROBERTO BRUNDO
Sharing
Dass dieser Moment kommen würde, das wuss-
ten wir beide nur zu gut. Dabei lag er noch vor
einer Stunde so unendlich weit im Irgendwann,
dass er einfach nicht präsent sein wollte in unse-
ren Köpfen, nicht existent sein durfte in unseren
Herzen. Und so sahen wir auch gar nicht ein, nur
einen einzigen Gedanken an das zu verschwen-
den, was uns jetzt so plötzlich und brutal den
Boden unter den Füßen wegriss.
Dabei standen wir gar nicht. Sondern saßen.
Nebeneinander. Schweigend, früh morgens am
Brunnen. Irgendwie schien sich gerade der ganze
Schmutz der Stadt in diesem trüben Wasser auf-
zulösen – jener großen Stadt, die noch schlief,
obwohl es bereits hell war.
Wir waren wach, immer noch. In zwei Stunden
würdest du aufbrechen zum anderen Ende der
Welt, würdest zurückkehren in dein Leben und
mich zurücklassen in meinem.
Und so sahen wir hilflos dabei zu, wie die Zeit
unsere letzten gemeinsamen Minuten fraß. Eine
nach der anderen, rasend schnell und doch so
quälend langsam, dass der Schmerz uns zu zer-
reißen drohte.
Reden ging nicht, Tränen blockierten den Hals.
Trotzdem nahmst du dieses Buch, das ein stän-
diger Begleiter war auf deiner langen Reise und
braune Flecken hatte vom schmutzigen Brunnen.
Ich solle es behalten, sagtest du, denn ich könne
damit deine Sprache lernen.
Wie sie klingen würde, würdest du mir demonst-
rieren, und last mir die laut ersten Zeilen vor:
Miércoles, 17 de marzo. HISTORIA DE DIOS.
Descubrir que no se es inmortal, que hay más
dioses, cuya vida tampoco es eterna. El drama de
saberse absoluto, pero sólo para sus criaturas.
„Nein“, fuhr ich dich an, „hör auf! Merkst du denn
nicht, dass du es dadurch nur noch schlimmer
machst?“
Wir standen auf und liefen einige Schritte mit
Beinen aus Blei. Der Moment des Abschieds, der
eben noch irgendwo im Irgendwann lag, stand uns
nun Auge in Auge gegenüber – und nahm dich mit.
Nur das Buch lies er da. Und deine letzten Worte.
„Life’s about sharing, Jonas!“
LeisterLukas
LUKAS LEISTER IST 23 JAHRE ALT, FOTOGRAF
UND STUDENT UND LEBT IN FURTWANGEN.
WWW.LUKASLEISTER.DE
LeisterLukas
Ein
TEXT: LUKAS LEISTER
FOTO: BEAT EISELE
halbes Jahr
Der schwarze Fleck, da wolle er keine beschöni-
gende Umschweife machen, sei ein haselnuss-
großer Tumor mitten im Stammhirn. Dr. Larsson
tippte mit seinem Mittelfinger unerträglich sou-
verän auf dem Ausdruck der Röntgenaufnahme
herum. Es hatte mich schon immer gestört, wenn
Leute anstatt des Zeigefingers, der seine zei-
gende Funktion ja nicht offensichtlicher im Namen
tragen könnte, den Mittelfinger zum Deuten
benutzten. Dass es dann letzten Endes Larssons
souveräner Mittelfinger sein musste, der mir das
attestierte, was ich die letzten Tage befürchtete,
war wie ein finaler Tritt in sowieso schon ange-
brochene Rippen.
Überhaupt wirkte alles an Larsson so unan-
genehm gefestigt und sicher. Seine klare, tiefe
Stimme, seine kerzengerade Haltung und das
markante Gesicht machten ihn zu dem, was man
im Groben und Ganzen als genaues Gegenteil von
mir bezeichnen kann.
Es täte ihm leid sagte er, während er wie ein-
studiert seine Hand mit tröstender Absicht auf
meiner knorrigen Schulter parkte.
Doch trösten konnte er mich nicht und wollte ich
mich auch nicht lassen.
Stattdessen schien mir seine Hand wie ein heißes
Bügeleisen, das sich langsam seinen Weg durch
meine Jacke, meinen Pullover und meine Haut
brannte. Erschrocken von der Hitze, die sich
plötzlich in meinem Körper ausbreitete, schubste
ich seine Hand ungewollt grob von mir.
Davon unbeeindruckt schaute mir Dr. Larsson,
der wohl auf eine Reaktion von mir wartete, mit
einem starrem Blick in die Augen. Genau wie ich
rechnete er wohl damit, dass ich jeden Moment in
Tränen aus- und dann zusammenbrechen würde.
Doch irgendwie schaffte ich es ruhig zu bleiben,
nichts zu sagen und regungslos dazustehen, für
eine - vielleicht auch zwei - Minuten.
Meine vermeintliche Gefasstheit ließ augen-
scheinlich auch den Arzt zumindest für einen
kurzen Moment stutzen und verstummen, was
mir für einen noch viel kürzen Moment ein bei-
nahe befriedigendes Gefühl gab, mein Gegenüber
aus seiner Routine gerissen zu haben.
Dass ich schon die letzten zwei Tage abwechselnd
geweint, geschrien, nichts gegessen und wenig
geschlafen hatte, konnte er nicht wissen und ich
hätte den Teufel getan und es ihm erzählt.
„Wie lange?“, war das Erste was ich dann mit doch
peinlich zittriger Stimme über die Lippen brachte
– das hatte ich mir zurechtgelegt. In Arztserien
schafft das Stellen dieser Frage für gewöhnlich
einen dramatisch anmutenden Pathos. In meiner
Situation war es nicht pathetisch und wenn über-
haupt mutete es erbärmlich an. Indessen bot es
der Souveränität Larssons Gelegenheit, sich in
voller Pracht zurückzumelden.
Das könne er nicht sagen, da müsse man erst
genauere Tests durchführen, es wäre mir nur
nahezulegen, auch wenn er sicherlich leicht reden
hätte, nicht den Kopf in den Sand zu ste... „Wie
lange?“, unterbrach ich ihn. Larsson hielt inne.
Drei, vier Monate, wenn man sofort mit der
Behandlung beginne und die Medikamente
anschlügen, vielleicht auch ein halbes Jahr. Man
könne mich heute noch aufnehmen, er würde sich
persönlich darum kümmern.
Ob ich schon gepackt hätte, fragte er mich. „Nein.“,
sagte ich und nickte trotzdem zustimmend, dass
das wohl das Nächste sei, was zu tun wäre.
Draußen vor der Klinik schien die Sonne. Ich
schaute auf meine Uhr. Es war März, der zweiund-
zwanzigste, Mittagszeit. Larsson hatte recht, ich
musste packen. In drei Stunden ging mein Flieger.
Ich nahm mein Notizbuch aus der Tasche und
schlug den Jahreskalender auf der dritten Seite
auf.
Ein halbes Jahr im besten Fall, dann wäre es Sep-
tember und bald Herbst.
Wir danken allen von ganzem Herzen, die uns seit
über zwei Jahren auf unserem Weg begleiten und uns
jeden tag in dem bestärken, was wir tun.
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Inspiriertdurch Kalifornien
im Frühling.
Inspiriertdurch Kalifornien
im Frühling.DEDICATED TO CRISTIANO QUEIROZ JR. AND REMINGTON RIEHL .
W W W. M Y P - M A G A Z I N E . C O M© G E R M A N Y 2 0 1 3