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Musiktherapie David Aldridge, Gudrun Aldridge & Lutz Neugebauer

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A German language collection of articles about music therapy

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MusiktherapieDavid Aldridge, Gudrun Aldridge & Lutz Neugebauer

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2 Musiktherapie David Aldridge, Gudrun Aldridge and Lutz Neugebauer 2010

Kapitel1.LebenalsJazz DavidAldridge 3

Kapitel2.MusiktherapieinKrankenhäusern DavidAldridge 12

Kapitel3.Kommunikation,HerztätigkeitundmusikalischerDialog DavidAldridge&LutzNeugebauer 24

Kapitel4.SpontaneAusdrucksmöglichkeiteninderMusiktherapiemiteiner Brustkrebspatientin GudrunAldridge 37

Kapitel5.MusiktherapieunddieAlzheimer-Krankheit DavidAldridge&GudrunAldridge 44

Kapitel6.HIV&AIDS-betroffeneMenschen LutzNeugebauer 57

Kapitel7.SchöpfersicheMusiktherapiebeiPatienten mitchronischemTinnitus LutzNeugebauer 65

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In diesem Kapitel wird ein Überblick über die Musiktherapie und ih-re Leistungen bei der Rehabilitation gegeben.

Eine geläufige Metapher für Heilung in der modernen Kultur setztden Körper mit einer Maschine gleich. Ist jemand krank, wird dieserKörper zur Reparatur gebracht, und nach entsprechender Behandlungist der Defekt behoben. Ich setze diesem mechanistischen Bild entge-gen, daß der Mensch gleich einem Musikstück komponiert ist.Wir sindin der Welt als biologische, psychologische und soziale Organismen,welche in einem ständigen Ereignisfluß improvisierend auf innere undäußere Anforderungen des täglichen Daseins treffen. Jeder von uns hatein kompositorisches The-ma - seine Identität - unddiese stellt ein Repertoirean Möglichkeiten desSeins dar. Mit diesem Re-pertoire gehen wir in dieWelt und passen es im-mer wieder improvisie-rend den augenblicklichenErfordernissen des Le-bens an. Unsere Aufgabeals Musiktherapeuten istes nun, diese Anpassungs-prozesse dadurch zu er-leichtern, daß wir - imübertragenen und wörtli-chen Sinne - dieses ‘Im-provisations’-Repertoire erweitern, um so auf umwälzende Verände-rungen zu reagieren, oder auch ein neues Repertoire zu entwickeln,wenn das Leben durch einen unglücklichen Umstand erheblich gestörtwird.

LEBEN ALS JAZZDavid Aldridge

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Leben als Jazz, als Improvisation,meint diesen immer wieder neu ausdem Augenblick heraus schöpfenden und gestaltenden Menschen, derauf die Themen des alltäglichen Lebens in spon-taner Weise reagiert. Es bietet sich der Vergleichmit Jazz-Musikern an, sie hören auf Ihre Mitmusi-ker und können auf deren Einfälle improvisierendreagieren. Zudem tun sie es auf ihre ganz eigene,charakteristische Art und Weise. Bei Musikpro-duktion und Musikrezeption ist nicht nur von Be-deutung, daß für jemanden musiziert wird, son-dern Musik erhält darüber hinaus dadurch einezusätzliche Dimension, daß diese Person mit je-mandem zusammen musiziert. Es kommt geradeauf diese aktive Teilnahme an, die auf einer weite-ren vernachlässigten menschlichen Fähigkeit ba-siert: dem aktiven Zuhören. Dabei sind Zuhörenund Teilnehmen eng miteinander verbunden.

Das menschliche Dasein gleicht einer Sym-phonie. Es ist nicht wie ein Mechanismus, sondernwie ein Kammermusikstück organisiert, bei demdie Stimmen der einzelnen Instrumente zusam-mengefügt sind und miteinander harmonisieren.Es lassen sich zwar un-terschiedliche, einzelne Stimmen heraushören, diese müssen aber alsGanzes organisiert werden, und eben in dieser Organisation desGanzen begründet sich die Identität der Musik.Man weiß nicht,wo die-se Koordination stattfindet, aber sie existiert als Organisation.Weiter-gehend läßt sich sagen, daß die Leistungen der Musiktherapie für diekognitive Entwicklung von Kindern, die Entwicklung der kindlichenKommunikationsfähigkeit, die Erhaltung von Fähigkeiten bei Patientenmit Dementia, die Genesung post-komatöser Patienten sowie die Er-mutigung Sterbender da liegen, wo es um die Ebene der Organisationund Koordination verschiedener Teile geht (Aldridge 1993a, 1993b).

Wie aus den folgenden Beispielen ersichtlich wird, gehen wir vonder Frage aus, über welche Fähigkeiten die Person verfügt und wie die-se gefördert werden können,anstatt nach den Einschränkungen zu fra-gen und die Person dann entsprechend zu klassifizieren. Die Grund-idee bei dieser Form der Musiktherapie liegt darin, die potentiellenFähigkeiten des Patienten zu erkennen und zu fördern. Durch Impro-

visation läßt sich auch der kleinste musikalische Ansatz in ein Lied odersogar eine Symphonie verwandeln.

Ich plädiere daher auch für die Entwicklung ei-ner Disziplin in der klinischen Forschung, die sichbemüht herauszufinden, mit welchen Medien wirklinisch beobachtbare Veränderungen dokumen-tieren und zum Ausdruck bringen können.

Diese Mittel können sowohl ästhetischer alsauch wissenschaftlicher Natur sein, wodurch dieParallelen der Kunst des Heilens zur Wissenschaftdes Heilens deutlich werden würden.

Wenn man anderen Menschen den Nutzender Musiktherapie erklären will, ist es wichtig zuwissen was passiert, wenn Menschen zusammenmusikalisch improvisieren. Durch die Beschäfti-gung mit der Wissenschaft und auch mit derKunst lassen sich jeweilig bestimmte Erkenntnis-se über die Welt gewinnen. Beim Studium desmenschlichen Verhaltens, insbesondere der Be-deutung von Kranksein, Gesundung und dem

Durchleben des Sterbensprozesses, sind beide Formen der Annähe-rung, ob künstlerisch oder wissenschaftlich, notwendig, um klinischeVeränderungen einschätzen zu können. In unserer Kultur sind sowohlMusik als auch die Medizin als Wissenschaften anerkannt, unsere Auf-gabe besteht nun darin, diese beiden Ansätze zusammenzubringen.

Ich möchte auch zu bedenken geben, daß es sich bei der Wissen-schaft, d.h. dem Schaffen von Wissen, um eine Tätigkeit handelt, so wieauch beim Musizieren, der Gesundung und dem Prozeß des Heilens.Dies wird jedoch nicht nur von denen geleistet, die wir Wissenschaft-ler nennen, auch die Künste stellen einen Weg zur Erkenntnis dar.

In diesem Sinne sollte es nicht heißen „Ich denke, also bin ich“, son-dern „Ich gestalte, also bin ich“. Eine grundlegende Tätigkeit sowohl inder Wissenschaft als auch in der Musik besteht darin, einer Idee durcheine Form Ausdruck zu verleihen. Einem Gefühl Ausdruck zu verlei-hen ist eine grundlegende Tätigkeit in unserem Leben. Ein Kind zu er-ziehen heißt, es ‘zu formen’ und ist grundlegend für die Fortpflanzungdes Menschen. Das Formulieren eines Wortes stellt für einen Men-

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Ein weiterer Aspekt bei der Musiktherapie ist die wechselseitige Ge-staltung eines Dialogs durch die Teilnehmenden.„Der Körper des Sprechenden tanzt im Takt zu seiner Rede. Auch der Kör-per des Zuhörenden tanzt im Rhythmus zu dem Sprechenden!“ (Condonund Ogston 1966, S. 338).

Diese Situation finden wir auch in einem Gespräch. Im Gegensatzzur Mehrheit der Kommunikationstheoretiker, die sich mit dem Ver-stehen des Gesprächsinhaltes beschäftigen, bemühen wir uns um eintiefergehendes, grundlegendes Verstehen, z.B. darum, wie ein Dialogaufgebaut ist. Der Inhalt ist zwar von Bedeutung, jedoch stellt der Auf-bau einer dialogischen Struktur, durch die eine inhaltliche Bedeutungerst möglich wird, den ersten wichtigen Schritt zur Kommunikationdar; ‘Klang ohne Worte.’ Nach Fais (1994) bedeutet Konversation ei-ne simultan stattfindende, gemeinschaftliche Leistung der Teilnehmen-den, und nicht nur die Schaffung von Inhalt durch abwechselnde Ein-zelbeiträge. Es wird später noch näher darauf eingegangen, wie auf-bauend musikalisches Improvisieren für Kinder ist. Das simultane, ge-meinschaftliche Hervorbringen von Klängen oder musikalischen

Äußerungen bildet eine wichtige Stufe bei der Entwicklung ei-ner differenzierteren Kommunikation.

Die wichtigste Feststellung ist also die, daß die Grund-lagen der Kommunikation von musikalischen Kompo-nenten gebildet werden. Der vorrangige Aspekt bei

Kommunikation ist der Rhythmus, in welchem wirmit uns und mit anderen in Beziehung treten.Kommunikation versteht sich in diesem Sinnenicht nur als Informationsübermittlung, sondernals Aufbau und Gestaltung von Beziehungen

(Penn 1983).

Unter diesem Aspekt stellt sich Musik als wirkungsvolles unddabei subtiles Kommunikationsmittel dar, das isomorph dem Lebens-

prozeß ist (Aldridge 1989a, 1991;lPenn 1983).

In den Arbeiten von Condon (1966, 1975, 1980) wird die Integra-tion von Verbalverhalten und Gestik deutlich. Sprache und Bewegung

weisen eine selbstsynchrone Organisationsform auf, die im we-sentlichen rhythmisch ist. Rhythmus stellt die Mittel zur Verfü-gung, mit denen Verhalten organisiert wird.

schen, der unter Aphasie leidet, einen entscheidenden Schritt in dieWelt der Konversation dar.

Die Gestaltung einer Geste stellt einen wichtigen Schritt in die Weltdes Bewußtseins dar.iDie Gestaltung eines Klangs und einer Geste wirdzu Musik.

Im Zusammenhang mit Kommunikation gibt es ein Paradoxon:Kommunikation existiert auch ohne Worte.Als Akademiker benötigeich Worte,um zu kommunizieren.Wir gebrauchen die Medien,um mitWorten zu kommunizieren.Wir bedienen uns der Worte, um zu sa-gen,wie gern wir jemanden haben.Wir bedienen uns ebenso der Wor-te, um zu lügen.Viele unserer Patienten jedoch kommunizieren ohneWorte.Der Gebrauch von Worten stellt für sie einen ständigen Kampfdar. Bei dem Versuch, den ‘Sprachlosen’ Sprache zu verleihen, solltenwir uns zuerst einmal vor Augen führen, daß die Grundlage für Kom-munikation nicht die Worte selbst bilden.

Musik und Form

Es ist bekannt, daß sowohl bei derbiologischen als auch der musikalischen

Form wichtige Merkmale zu finden sind:Zeit,Phrasierung, Tonhöhe, Rhythmus und melodischeForm (Aldridge 1989b). Ähnliches gilt für Studienzur Kommunikation. Die präverbalen Grundlagender menschlichen Kommunikation werden Supra-segmente genannt; dies sind Zeit, Phrasierung,Rhythmus,Tonhöhe und Stimmfärbung (genauergesagt,Timbre).Diese Merkmale werden vonden Musiktherapeuten herangezogen,wenn es um die Bewertung von im-provisierter Musik aus Therapiesit-zungen geht, die auf Tonkassettenaufgenommen werden.

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Kindliche Entwicklung und rhythmischeInteraktion

Die Entwicklung von Sprache und Sozialisation ist bei einem Säug-ling abhängig vom Erlernen des rhythmischen Musters der Syn-

chronisierung (Kempton 1980). Ein Säugling verfügt von Geburt anüber eine genetische Grundlage für die Entwicklung einer individuellabgestimmten Physiologie, d.h. einer Eigensynchronisation. Der Sozia-lisationsprozess und der Gebrauch der Sprache sind jedoch abhängigvon einer Anpassung dieser Rhythmen an die anderer Menschen, d. h.von einer interaktionalen Synchronisation des ‘Chronos’. Diese inter-aktionale Synchronisation spiegelt jene neuralen Zeitabstimmungsme-chanismen wieder, die eine Grundlage der Kommunikation darstellen.Interaktionale Kreisläufe von Aufmerksamkeit und Affekt werden mitden Gleichgewichtsmechanismen des Nervensystems abgestimmt(Linden 1987).

Lester et al. (1985) untersuchten die Synchronisierung der Bewe-gungen Neugeborener mit den sprachlichen Lauten, wenn ein Er-wachsener mit ihnen sprach. Nach ihrer Auffassung beruht die Fähig-keit des Kleinkindes, soziale Stimuli zu erkennen, auf seinem Vermögenzur Selbstregulation. Kreisläufe rhythmischer Interaktion zwischenKleinkindern und Ihren Müttern spiegeln die zunehmende Fähigkeit desKindes wieder, kognitive und affektive Erfahrungen innerhalb der vonden Eltern vorgegebenen rhythmischen Struktur zu organisieren.

Hierbei handelt es sich jedoch nicht um ein einseitiges Phänomen.Säuglinge zeigen Äußerungen und Gesten, bei denen es sich nicht umeine Imitation mütterlicher Verhaltensweisen handelt (Murray und Tre-varthen 1986;Trevarthen 1985). Sowohl das Baby als auch die Mutterlernen die rhythmische Struktur des anderen kennen und modifizie-ren ihre eigene Verhaltensweise, um sie dieser Struktur anzupassen.Er-regung,iAffekt und Aufmerksamkeit werden im Rhythmus einer Be-ziehung gelernt.

Eben diese Methode wird in der Musiktherapie eingesetzt.Der The-rapeut lernt die rhythmische Struktur des Patienten kennen und be-gegnet ihm dann innerhalb dieser Struktur.

Stern et al. (1975) untersuchten das nonverbale Verhalten von Müt-tern und Kindern. Sie stellten dabei zwei parallele Kommunikations-modi fest.

Condon (1980) schreibt weiter, daß alle menschlichen Wesen auchmit anderen kommunizieren.Er bezeichnet dies als ‘interaktionale’ Syn-chronisation. Wir sind aktiv an der Kommunikation beteiligt. BeimZuhören bewegen wir uns synchron zu der Artikulationsstruktur desSprechenden. Bewegt sich der Sprechende zu seiner Rede, so bewegtsich der Zuhörende entsprechend. In einem so geordneten Kommu-nikationsablauf lassen sich ‘Senden’ und ‘Empfangen’ nicht voneinandertrennen. Dies unterstreicht die Vorstellung, daß Therapeut und Patient‘in der Musik vereint’ sind, wie sie von einigen Musiktherapeuten ver-treten wird. Dazu Condon (1980):„Was sie durchfließt entspricht jedoch einer ähnlichen Ordnung; das Ge-sendete und das Empfangene werden von Sprechendem und Zuhören-dem verstanden und geteilt.Bei allen Aspekten dieses Prozesses finden sichdie Verbreitung und Annahme einer Ordnung. In einer kontinuierlichen Ab-folge gibt es kein ‘dazwischen’ “ (S. 56).

Jeder synchronisiert die Rhythmen erst für sich, dann geht derZuhörer auf die rhythmische Struktur des Sprechenden, Singendenbzw. Spielenden ein. Beobachtet man die Körperbewegungen desZuhörenden und dielArt,wie dieser spielt, kann man eine gewisse Vor-stellung davon entwickeln, wie sie mit ihrer Wahrnehmung involviertsind.

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Eine Art der Kommunikation bildet die Co-Aktion. Hierbei spre-chen oder singen die Mutter und das Kind gemeinsam. Die Autorensehen hierin ein frühes Verhaltensmuster, das von Struktur und Funk-tion her vergleichbar ist mit gegenseitigemlAnschauen,lAngleichungder Körperhaltung und Aufnahme des Rhythmus des anderen.Man fin-det die Co-Aktion bei Zuständen starker Erregung, die von Emotio-nen bestimmt sind. Bei Erwachsenen findet man diesen Kommunikati-onsmodus auf der zwischenmenschlichen Ebene in Erregungssituatio-nen wie Wut,Traurigkeit, Freude oder in der Sexualität.

Die andere Form der Kommunikation ist die alternierende. DieserKommunikationsmodus findet sich in einem Gespräch,wobei Sprecherund Zuhörer abwechselnd diese Rollen einnehmen.Es handelt sich umeine dialogische Struktur, die für den Austausch symbolischer Infor-mation von Bedeutung ist.Der alternierende Modus dient dem Erwerbvon Sprache.Von einer Person werden Informationen gesandt, die vonder anderen verarbeitet werden. Die Struktur unterscheidet sich vonder Co-Aktion insofern, als hier nicht der Vorgang der Kommunikati-on an sich, sondern der kommunikative Gehalt im Vordergrund steht.Simultanes Sprechen oder Singen fördert gegenseitige Erfahrung undkönnte für die Entwicklung von Bindungen und das Erleben eines Zu-gehörigkeitsgefühls von entscheidender Bedeutung sein.Diese beiden,strukturell unterschiedlichen Kommunikationsformen finden sich in derimprovisierten Musik wieder.

Musiktherapie und Intensivpflege

„...unabhängig vom Ausmaß der organischen Beeinträchtigung ... bestehtgleichermaßen die Möglichkeit der Reintegration durch die Kunst, durchGemeinschaft, durch Öffnen der menschlichen Seele, selbst in einem Fall,

der vom neurologischen Standpunkt aus hoffnungslos erschien.“ (Sacks 1986)

Der Neurologe Oliver Sacks mahnt uns, die notwendige Balancebei der medizinischen Arbeit mit Patienten zu halten. Nur zu oft

sind wir damit beschäftigt, den Patienten auf seine Defizite zu testen.Wir suchen nach Möglichkeiten, diese beheben, messen und einschät-zen zu können.

Wir sollten daher die narrative und symbolische Organisation desPatienten betrachten, um so seine Möglichkeiten und Fähigkeiten zuerkennen. Durch diese Sichtweise erscheint dann das, was vorher be-einträchtigt, unorganisiert oder chaotisch zu sein schien, als kompo-niert und fließend.Genau dies ist die Leistung der schöpferischen Kün-ste: durch Kunst und Spiel erkennen wir das Selbst des anderen, ohnedaß wir auf Messungen oder Einschätzungen zurückgreifen müs-sen.lAußerdem wird bei künstlerischen Aktivitäten der Zeit eine be-sondere Qualität abgewonnen, die ‘intentional’ ist, die vom Wollen desPatienten abhängig ist und geistige und seelische Kraft freisetzt. Ange-sichts der schwierigen Situation eines Intensivpatienten, der beein-trächtigt, verwirrt, intubiert, an eine Maschine angeschlossen, dabei oftbewußtlos und nicht in der Lage ist zu kommunizieren, müssen Mittelund Wege gefunden werden, mit diesen Patienten Kontakt aufzuneh-men.

In diesem Abschnitt gehen wir davon aus,daß das Bewußtsein in derZeit existiert,wobei die subjektive Gegenwart die verschiedenen Pul-se des Körpers organisiert. Dabei ergeben sich bei komatösen Pati-enten Fragen nach der Lokalisierung des Selbst,nach der Art von Kom-munikation und Fragen, die die Medizin herausfordern, den menschli-chen Körper als einen ‘wissenden Körper’ anzuerkennen.

Die aktive, schöpferische Musiktherapie basiert auf dem bereits ge-nannten Prinzip, daß der Mensch nicht wie ein Mechanismus organi-siert ist, sondern wie eine musikalische Form, d.h. er ist ein harmoni-sches Gebilde aus interaktiven Rhythmen und melodischen Formen.Um unsere Kohärenz als lebendige Wesen in der Welt aufrechtzuer-halten, müssen wir auf kreative Weise unsere Identität anpassen. An-statt nach einer ‘Zentraluhr’, die unsere Chronobiologie regelt, zu su-chen, sollten wir uns an dem nicht-mechanistischen Konzept der Vor-stellung einer musikalischen Organisation orientieren.Musiktherapie istein Medium, durch welches eine kohärente Organisation wiederge-wonnen wird, d. h. Gehirn, Körper und Geist werden miteinander ver-bunden. Sacks (1986) schreibt dazu:„die Stärke von Musik oder einer erzählenden Form liegt darin, eine Or-ganisation zu schaffen“ (S. 177).

Durch Musik oder eine Erzählform wird das Erkennen von Bezie-hungen zwischen verschiedenen Elementen organisiert,und zwar nichtintellektuell, sondern direkt und unmittelbar.Bei Patienten im Koma las-

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sen sich Anzeichen für Aktivitäten,oft maschinell unterstützt, erkennen,wobei diese jedoch vollkommen unorganisiert sind. Die Person exi-stiert in einem, auch vegetativ genannten, Zustand, der kaum als ‘Le-ben’ bezeichnet werden kann.

Parncutt (1987) nennt die Klänge,die durch den mütterlichen Herz-schlag und ihre Schritte vermittelt werden, als die wichtigsten zur Kon-ditionierung der Wahrnehmung von Rhythmus. Durch die Wahrneh-mung solcher Pulsschläge als Ereignisse wird die Grundlage gebildet,auf der eine rhythmische Struktur entsteht.Dabei, so Parncutt, handeltes sich nicht um eine strukturelle Eigenschaft des Ge-hirns, sondern um einen Ausdruck dafür, wie wir mitunserer Umgebung interagieren. Ein Puls wird durchzwei Faktoren bestimmt. Der eine ist die Perioden-dauer, d. h. das Zeitintervall zwischen zwei aufeinan-derfolgenden Ereignissen. Der andere Faktor ist diePhase, d.h. die Zeit, die tatsächlich während eines Er-eignisses vergeht, bezogen auf eine Referenzzeit.

Periodizität stellt einen wichtigen Schlüssel zumVerstehen von Patienten im Koma dar.Um einen mu-sikalischen Puls als solchen wahrzunehmen,muß er in-nerhalb einer bestimmten Zeitspanne liegen.Die zeit-liche Dauer, die vom Kurzzeitgedächtnis noch als psy-chologische Gegenwart erlebt wird, ist auf Sekundenbeschränkt. Gerstner (1994) hat an Säugetieren ge-zeigt, daß die Zeitspanne etwa drei Sekunden beträgt, in der aufein-anderfolgende Ereignisse noch in eine ‘subjektive Gegenwart’ integriertwerden können. Für das komplexe motorische Verhalten und Bewe-gungsmuster des Menschen ist eine koordinierende Tätigkeit auf derBasis von Pulsen erforderlich, da durch diese eine rhythmische Struk-tur aufgebaut wird.Um komplexe Bewegungsmuster aufbauen zu kön-nen, müssen komatöse Patienten erst wieder eine rhythmische Struk-tur aufbauen.Dies ist auch die Grundlage jeder musikalischen Aktivität,wobei es sich,wie bereits erwähnt,nicht nur um eine Hirnaktivität, son-dern um eine Interaktion zwischen der Person und ihrer Umgebunghandelt.Weiterhin müssen Pulsschläge, damit sie als rhythmische Ab-folge wahrgenommen werden können, in ungleichmäßigen Abständenaufeinanderfolgen. Daher können ‘Maschinengeräusche’ auch keinenrhythmischen Kontext bilden, in dem sich Menschen als gegenwärtigerleben und ihre Bewegungen dadurch koordinieren. Indem man mitdem Patienten singt oder musiziert, erhält man eine Zeitstruktur, die

einen solchen Kontext bietet.Durch einen grundlegenden Zeitkontextlassen sich die Bewegungsmuster koordinieren. Und eben diese Mu-ster sind erste sichtbare Anzeichen dafür, daß ein Patient, mit dem ge-sungen wird, aus dem Koma erwacht.

Auf einer anderen Ebene dagegen finden sich die chronologischfestgelegten Pulse von Maschinen. Geht man davon aus, daß mensch-liche Aktivitäten auf Pulsen basieren, so zeichnen sich diese durch ei-nen variablen Reaktivitätsbereich aus. Diese Pulse sind lebendig undwerden im Zusammenspiel mit anderen Pulsen zu Rhythmen. Bei Ma-

schinen ist dies nicht möglich,da sie nicht über eine Re-aktivitätsbreite verfügen. So wird das, was bei mensch-lichen Aktivitäten variabel ist (das Tempo variierenderPulse), bei diesen Patienten zu einer Konstante. DieAufgabe besteht nun darin, durch eine koordinierteAbwechslung Heilung zu erreichen; eine Aufgabe, dieMaschinen bis jetzt noch nicht leisten können.Vielleichtliegt der Schlüssel zur Heilung darin, daß das Bewußt-sein des Patienten durch das Bewußtsein des Thera-peuten stimuliert wird, und dieses Bewußtsein läßtsich nicht von der lebendigen, rhythmischen Realitätunserer Physiologie trennen.

Wenn man Körpersysteme sowohl als proaktiv alsauch als reaktiv versteht, ist für absichtsvolles Verhaltenund Bewußtsein vielleicht der Kontext menschlicher

Kommunikation erforderlich. Nehmen wir an, daß die verschiedenenKörperrhythmen durch einen komatösen Zustand oder nach einemgrößeren chirurgischen Eingriff gestört sind.Dabei stellt sich wieder dieFrage, wie sich diese Verhaltensweisen integrieren lassen, und wo die-se Integration stattfindet. Integration erscheint so als ein Merkmal dergesamten Organisation im Verhältnis zur Umwelt und nicht stofflich aneine Zelle oder ein Organ gebunden. Innerhalb der Umgebung des Pa-tienten bildet der menschliche Kontakt eine wesentliche Komponen-te, und es besteht Grund zu der Annahme, daß auch dieser Kontaktauf Rhythmus basiert.

Die Frage, die sich uns als Ärzten und Wissenschaftlern bei der Be-handlung von Patienten im Koma oder einem andauernden vegetati-ven Zustand immer wieder stellt, lautet:„Wo befindet sich die Person und wie kann ich mit ihr Kontakt aufnehmen?“ Daraus ergibt sich für uns als (Mit)Menschen die Frage:„Wo bin ich?“

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Welcher Teil des Therapeuten tritt mit dem bewußtlosen Patienten inKontakt? Wenn es möglich ist, daß wir durch unsere musikalische Aus-drucksform,z.B.durch Singen,dem Patienten näherkommen,können wirdann nicht auch darauf achten, wie wir mit dem Patienten in seinem At-mungsmuster sprechen und wie wir ihm dann bei der Pflege mit der ei-gentlichen Form unserer Körper entgegentreten? Die Möglichkeit, mitbewußtlosen Patienten zu kommunizieren, wirft auch die ethische Fragenach der Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen auf, wenn das Ge-hirn und die Person nicht länger als ein und dasselbe betrachtet werden(Mindell 1989). Wenn Patienten keine Reaktionen zeigen, so kann dasdaran liegen, daß wir Ihnen nicht die menschlichen Bedingungen bieten,unter denen bzw. mit denen sie reagieren können.Wir als Therapeutenstellen die Rahmenbedingungen dar, die eine Heilung ermöglichen.

Diskussion

Die grundlegenden Elemente menschlicher Kommunikation sind mu-sikalischer Natur. Physiologische, psychologische und soziale Akti-

vitäten finden in einem zeitlichen Kontext statt, der dynamisch und vonmusikalischer Struktur ist. Menschliche Aktivitäten sind grundlegend alsHierarchie rhythmischer Anpassungsprozesse organisiert, und zwar in-nerhalb des Individuums als Selbstsynchronisation und in Beziehungen alsinteraktionale Synchronisation.

Wie wir bereits im Zusammenhang mit komatösen Patienten gese-hen haben, ist es die Koordination von Pulsen zu einer musikalischen Ge-stalt, die der Heilung zugrunde liegt, und die vielleicht sogar die Grund-lage zu höherer Erkenntnis bildet.Während bei einem physikalisch-me-dizinischen Ansatz nach einem materiellen Zeitgeber oder einem Ort,an dem eine solche Koordination stattfindet, geforscht wird, sollten wirvielleicht einer musikalischen Metapher den Vorzug geben, die auf Pro-zeßstabilität ausgerichtet ist. Eine solche Prozeßstabilität ist nicht-materi-ell; sie geschieht.Wir können das Ergebnis von Organisation sehen, aberder Ort,wo sie stattfindet, läßt sich nicht lokalisieren. Es bedarf eines der-artigen Verständnisses von Phänomenen wie Prozessen und Organisati-on, als in die Zeit eingebundene Strukturen, will man die Heilkräfte derMusik verstehen.

Bei einem Zusammenbruch der Synchronisation des Verhaltens, trittdas Pathologische hervor. Die Einschränkung bezüglich musikalischerAspekte der Kommunikation, also Tonhöhe, Betonung, Artikulation,Timbre und Flüssigkeit, scheint auf einen psychopathologischen Zu-stand zu deuten.Verbessern sich diese Qualitäten, scheint dies auf ei-ne Gesundung, aber auch auf den Fortbestand einer kohärenten Iden-tität zu deuten.

Man kann annehmen, daß eine Therapie mit improvisierter Musik(Nordoff/Robbins 1977) ein wirksames Mittel darstellt, um Kommuni-kation im Sinne einer personellen und interpersonellen Integration zufördern. Es könnten alternative, kreative Dialoge innerhalb der einzel-nen Person gefördert werden, damit sie nicht von sich selbst oder vonanderen Personen entfremdet werden. Zudem sollten Kliniker unab-hängig davon, aus welchem Fachbereich sie kommen, dazu angeregtwerden, den musikalischen Komponenten der Kommunikation Beach-tung zu schenken. Auf diesem Wege könnten die Künste wie auch dieWissenschaft die medizinische Praxis bereichern.

Eine kreativ gestaltende Musiktherapie bietet die Möglichkeit, auf dy-namische Weise das Individuum als ganzheitliches Selbst, auch in Be-ziehung zu einer anderen Person, zu hören.Wir können hören, wie diePerson in ihrem Dasein zutage tritt, indem er oder sie eine Beziehungin der Zeit aufbaut. Durch die Musiktherapie erhalten die beteiligtenPersonen außerdem die Möglichkeit, sich konkret als Selbst in der Zeitzu erfahren; sie hören, im wahrsten Sinne des Wortes, ihr Selbst im Sein.Wenn das Überleben des Menschen bestimmt wird von dem Reper-toire an flexiblen Reaktionen, um innere Bedürfnisse und äußere An-forderungen zu bewältigen,dann wird vielleicht beim musikalischen Im-provisieren auf akustischem Weg die Kreativität vermittelt, mit der ei-ne Person diese Anforderungen bewältigt.Vielleicht kann man Krank-heit als einen Zustand beschreiben, bei dem die Person in ihrenMöglichkeiten eingeschränkt ist, kreativ zu improvisieren (d.h. neue Lö-sungen für ein Problem zu entwickeln) oder nur ein begrenztes Re-pertoire an Bewältigungsformen besteht.

Durch die Förderung der Entwicklung von kreativen Reaktionsfor-men ließen sich dann die Möglichkeiten für eine Genesung schaffen. Siebasieren auf den kreativen Fähigkeiten der gesamten Person und för-dern ihre Autonomie.Die Katalysierung der Selbstheilungskräfte ist einzentraler Punkt in der medizinischen Heilkunst, die im ‘Konzert’mit dermedizinischen Wissenschaft gelingen kann.

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Literatur

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„Der Körper desSprechenden tanzt imTakt zu seiner Rede.Auch der Körper desZuhörenden tanzt im

Rhythmus zu demSprechenden!“

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In der Medizini-schen und in der

Pflegepresse hat esin Form von Briefenoder ganzen Arti-keln eine Reihe vonÜberblicken zur Mu-siktherapie gegeben.

Die Hauptbetonung liegt auf der beruhigen-den Wirkung von Musik und ihrer Notwen-digkeit als Gegenmittel zum übermäßig tech-nologischen medizinischen Kurs (Bailey1985; Brody 1988; Carlisle 1990; Frampton1986; Frampton 1989; Jacob 1986; Morris1985; Olivier 1986; Parent-Bender 1986;Pouget 1986; Rowden 1984; Schei 1989;Stern 1989;lThiebaud 1986;lWein 1987).Die meisten Berichte beschäftigen sich mitpassiver Musiktherapie und dem Vorspielvon Musikaufnahmen für die Patienten.

Ornstein und Sobel (1989) betonen dieNotwendigkeit gesunder Vergnügen wieMusik, Aroma und schöne Anblicke, umStreß zu reduzieren und das Wohlbefindenzu steigern. Ihr Anliegen ist, darauf hinzuwei-sen wie wichtig es ist, einen Mindestbedarfan sinnlichem Vergnügen zu erhalten. DiesesArgument für das Vergnügen ist nicht hedo-nisch gedacht, sondern um herauszustellen,daß das moderne Leben unsere sinnlicheUmgebung aus der Bahn wirft. Aus dieserPerspektive ist unsere sinnliche Umgebung

verseucht und Aktivitäten wie Musikhörenhaben eine wohltuende Wirkung auf unse-ren Körper. Die Verbindung zwischen musi-kalischen Formen, humaner Physiologie undBiologie wird als eine Erweiterung des Nor-doff-Robbins Ansatzes (Nordoff und Rob-bins 1977) auch an anderer medizinisch-literarischer Stelle betont (Aldridge 1996).

Musik im Krankenhaus

Nach dem zweiten Weltkrieg wurde dieMusiktherapie intensiv in amerikani-

schen Krankenhäusern entwickelt (Schullianund Schoen 1948). Seitdem haben einigeeuropäische Krankenhäuser, insbesondereauf dem Kontinent, die Musiktherapie in ih-re Praxis aufgenommen (Goloff 1981;Jedlicka und Kocourek 1986; McCluskey1983) und die europäische Tradition derForschung und Praxis in Krankenhäusernweitergeführt (Leonidas 1981).

Der Pflegeberuf, besonders in den USA,hat den Wert der Musiktherapie erkanntund sich für ihren Einsatz als eine wichtigepflegerische Intervention engagiert (Cook1986; Fletcher 1986; Frandsen 1989; Frank1985; Glynn 1986; Grimm und Pefley 1990;Keegan 1987, 1989; Marchette, Main und

Redick 1989; McCaffery 1990; McCluskey1983; McLellan 1988; Moss 1987; Mullooly,Levin und Feldman 1988; Prinsley 1986;Sammons 1984; Updike 1990a; Walter1983), selbst wenn keine MusiktherapeutenzurlVerfügung stehen (Cook 1981).Obwohlwenig zu den Vorteilen der Musiktherapie inder Allgemeinmedizin veröffentlicht wordenist, wird durchgehend davon ausgegangen,daß die emotionale und physiologische Ge-sundheit des Patienten verbessert wird (Go-loff 1981). Diese Erwartung einer allgemei-nen Gesundheitsbesserung ist noch nichtdurch eine breite Basis von Forschungsstu-dien bestätigt worden, obwohl McCluskey(1983) eine überzeugende Rechtfertigungfür den Einsatz rezeptiver Musik als Anästhe-siehilfe bei chirurgischen Eingriffen hervor-bringt, die er der medizinischen Literaturund eigener Erfahrung zugrundelegt.

Psychiatrie

Die veröffentlichte Literatur zum ThemaPsychiatrie beruht auf der stationären

Behandlung im Krankenhaus (Benjamin1983; Brasseur 1986; Devisch und Vervaeck1986; Meschede, Bender und Pfeiffer 1983;Schwabe 1978) und spiegelt den psycho-

LITERATUR ZUR MUSIKTHERAPIE IN KRANKENHÄUSERN

David Aldridge

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therapeutischen Ansatz im Zeichen des Psy-chiaters Altshuler (1948) wieder. In einerStudie chronisch psychiatrisch kranker Pati-enten, die bei den Mahlzeiten störendes undgewalttätiges Verhalten zeigten, konnte dieMusik auf Kassette, die im Hintergrund ge-spielt wurde, um eine entspannte Atmos-phäre zu stimulieren, das Störverhalten ver-ringern. In Kontrast dazu, haben Meschedeund seine Kollegen (Meschede et al. 1983)das Verhalten einer Gruppe chronisch psy-chiatrisch kranker Patienten acht Wochenlang während aktiv musizierender Sitzungenbeobachtet.Diese Studie war unschlüssig, je-doch fand sie heraus, daß die subjektivenGefühle der Patienten keine Korrelation mitden Beobachtungen der Gruppenleiter überden extrovertierten Ausdruck dieser Ge-fühle aufwiesen.

Psychotherapie

Kontinentaleuropa hat zum Einsatz derMusik, insbesondere in bezug auf Einzel-

und Gruppentherapien ermutigt (Behrends1983; Brasseur 1986; Gross und Swartz1982;Heyde und von Langsdorff 1983;Kauf-mann 1983, 1985; Lengdobler und Kiessling1989; Pfeiffer,lWunderlich, Bender et al.1987; Reinhardt, Rohrborn und Schwabe1986; Schmuttermayer 1983; Schwabe1978), um die Patienten zum Erwecken ihrerEmotionen aufzumuntern und um ihnen beider Bewältigung unbewußter intrapsychi-scher Konflikte zu helfen. Diese Situationüberrascht nicht angesichts der Tatsache,daßdie Wurzeln der Psychoanalyse in Mitteleu-

ropa zu finden sind.Gruppenpsychotherapieist in der ehemaligen DDR von Kaufmann(1983, 1985) sowohl stationär als auch am-bulant eingesetzt worden. Seine Arbeit be-ruht auf den psychodynamischen Musikthe-rapiemethoden von Schwabe (1978). AuchReinhardt (Reinhardt und Ficker 1983a;Reinhardt et al. 1986) entwickelte SchwabesMethode in der Arbeit mit depressiven Pa-tienten, wobei beabsichtigt war, diese Pati-enten durch Musikhören zu einer Gegen-überstellung mit sich selbst und ihrer Um-gebung zu lotsen, um ihnen die Gelegenheitzu geben, vergangene Konflikte aufzuarbei-ten.Schmuttermayer (1983),der auch in derfrüheren DDR tätig war,lbenutzte vier Artender Musiktherapie (Zuhören, Singen,Tanzenund Instrumentalspiel) mit einer Gruppepsychotischer Patienten. Die verschiedenenTherapieformen brachten unterschiedlicheReaktionen auf die Variablen ‘anxiety’ und‘activity’.Die Therapie beeinflußt diese Varia-blen während gruppenzentrierter Therapieund steuerte die Gruppe zu mehr realitäts-bezogenen Kommunikations- und Verhal-tensformen, obgleich die Gründe für dieseBehauptung des Autors nicht augenschein-lich sind.

Schizophrenie

Schizophrenie ist das Thema verschiede-ner Studien zur angewandten Musikthe-

rapie (Pavlicevic und Trevarthen 1989; Pfeif-fer et al. 1987; Schmuttermayer 1983; Stein-berg und Raith 1985a; Steinberg und Raith1985b; Steinberg, Raith, Rossnagl et al. 1985;Wengel, Burke und Holemon 1989).lAusder zuvor erwähnten Arbeit von Altshulergeht interessanterweise hervor, daß vor 40Jahren psychotische Patienten mit kaltenUmschlägen in einem Wasserbecken thera-piert wurden und dabei Musik hörten, weilman davon ausging, daß das allgemeine Vor-handensein der Musik im Hydrotherapie-raum wohltuend sei.

Während moderne Musiktherapietech-niken in ihrer Anwendung weniger drastischerscheinen, bleibt es dennoch schwierig, dieBehandlung schizophrener und psychiatri-scher Patienten zu untersuchen. PfeiffersStudie (Pfeiffer et al. 1987) demonstriert dieProblematik:

1. Es war schwierig, homogene Gruppenakut psychotischer Patienten mit den Para-metern Alter, Syndrom und Diagnose zu fin-den, bei denen nicht auch noch andere Pro-bleme (z.B. durch Alkohol oder Drogen) er-schwerend hinzukamen.

2. Die Behandlung dieser Patienten erfor-derte auch andere Psychopharmaka, die zu-sätzliche Variabilität verursachten.

3. Die Patienten neigten zu Krisen, die eineVeränderung im Umgang mit ihnen erfor-derte, die wiederum eine Veränderung derMedikation notwendig machen konnte. Da

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15 schizophrenen Patienten, 15 depressivenPatienten und 15 klinisch normalen Kon-trollpersonen miteinander verglichen. Signi-fikante Differenzen in der musikalischen In-teraktion zwischen Therapeut und Patientwurden mit Hilfe einer eigens dafür ent-wickelten Skala zwischen den Gruppen fest-gestellt. Diese Musik-Interaktionsskala mitsechs Interaktionsebenen - vom gänzlichfehlenden Kontakt (Level 1) bis zum eta-blierten gegenseitigen Kontakt (Level 6) -wurde entwickelt, um den emotionalen Kon-takt zwischen Therapeut und Partner eva-luieren zu können. Ein kritisches Element inder musikalischen Interaktion ist die Einstel-lung eines gemeinsamen musikalischen Pul-ses, der als eine Reihe regelmäßiger Takt-schläge definiert wird.

In der obengenannten Studie schienenschizophrene Patienten musikalisch kaumansprechbar und idiosynchratisch in ihremSpiel, was ein Korrelat mit anderen Studienzur Schizophrenie darstellt (Fraser,King,Tho-mas et al. 1986; Lindsay 1980). Die depres-siven Patienten schienen seltener die musi-kalische Initiative ergreifen zu wollen, ob-wohl es dem Therapeuten gelang, mit ihnenKontakt aufzunehmen. Die Kontrollperso-nen konnten sowohl mit dem Therapeuteneine musikalische Partnerschaft eingehen alsauch selbst die musikalische Initiative ergrei-fen. Fehlende Reziprozität von den schizo-phrenen Patienten schien der dominanteFaktor zu sein,der die Kontaktaufnahme ver-hinderte und dadurch die Interkommunika-tion anhaltend störte. Jedoch steht dieserBefund bei individuellen Patienten im Ge-gensatz zu den oben erwähnten Gruppen-studien, die von ‘offener’ Kommunikation in-nerhalb der Gruppe sprechen. Die Stärke

Kommunikation durch die Entwicklung einesgemeinsamen Rhythmus innerhalb derGruppe insgesamt zu verbessern.lAktivitätwurde durch Instrumentalspiel erhöht, aberdurch Tanz und Musikhören gemindert. DerAnstieg von Angst während des Instrumen-talspiels und Tanzens konnte innerhalb destherapeutischen Kontextes der Gruppe ver-arbeitet werden. Singen reduzierte Angst.Was die Ermittlung eineriVoraussagbarkeitin dieser Studie betrifft, ist es möglich, daßder rhythmische Kontext der Aktivitäten dieEmotionskontrolle förderte.

Innerhalb der letzten Jahre haben For-scher versucht, das Verhältnis zwischen dermusikalischen Leistung und der emotionalenReaktion schizophrener Patienten zu verste-hen (Steinberg und Raith 1985a, 1985b;Steinberg et al. 1985). Das zugrundeliegen-de Argument dieser Arbeit ist: (i) daß dieProduktion von Musik abhängig ist von derKontrolle über tieferliegende Emotionenund (ii) daß bei psychiatrischen Patientender musikalische Ausdruck durch die Krank-heit negativ beeinflußt wird. Steinberg undseine Kollegen entdeckten, daß in dem mu-sikalischen Spiel der endogen-depressivenPatienten Stabilität und Rhythmik durch ihreabgeschwächten motorischen Fähigkeitenbeeinflußt wurden, während die manischenPatienten auch Schwierigkeiten hatten, diemusikalischen Phrasen zu beenden. DasZeitmaß der Musik schien von Depressio-nen unbeeinflußt, aber von der Wirkung derMedikamente abhängig zu sein. Schizophre-ne Patienten zeigten Veränderungen in denDimensionen musikalischer Logik und Ord-nung.

In neuerer Zeit haben Pavlicevic und Tre-varthen (1989) das musikalische Spiel von

aber die Patienten über einen Zeitraum von27 Wochen in Behandlung blieben, hätteman vielleicht voraussehen können,daß der-artig akute Formen der Psychose zwangs-weise zu Krisen führen mußten.

4. Der Zustand aller Patienten, auch derer,die auf der Kontrollwarteliste standen, ver-besserte sich, weil die psychotherapeuti-schen Hilfeleistungen in der Umgebung vonMünchen auf solche Patienten ausgerichtetwaren. Bei insgesamt nur 14 Patienten wares aber schwierig Schlüsse über die Wirk-samkeit der Musiktherapie zu ziehen, da sichwährend des ‘Follow-up’ (Nachbehand-lungsphase) die Werte bei den behandeltenPatienten allmählich abbauten und den Aus-gangswerten näherten. Offensichtlich ist dieGesundheit psychotischer Patienten denAnforderungen des Alltags und denVerlockungen eines normalen Lebens auchnach einer scheinbar erfolgreichen Musik-therapiebehandlung nicht gewachsen. EinePatientin, der es angeblich schon besser ging,fiel durch den Empfang eines Briefes vonihrem geschiedenen Ehegatten in eine Krise.Ein anderer Patient begab sich übers Wo-chenende auf eine Zechtour.

Schmuttermayers Ansatz (1983) ver-suchte durch kombinierte Musikaktivitätenbei einer Gruppe schizophrener Patientenihre Angst zu mildern und die Interkommu-

nikation zu verbes-sern. Gemessen ander Beobachtungdes Patientenverhal-tens und deren mitHilfe einer Adjekti-ven-Checkliste ver-faßten Selbstberich-te, schien sich die

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der Arbeit von Pavlicevic liegt darin, daß ih-re Ergebnisse eine solide Basis empirischerDaten hat und im Gegensatz zu vielen Ar-beiten zur Gruppentherapie diese Ergebnis-se in aller Klarheit begründet werden.

Die Spracheigenarten, die manche For-men der Schizophrenie begleiten, habenzwangsweise zu einer Verknüpfung zwischenSprachstörungen und musikalischen Sprach-komponenten (Fraser et al. 1986) und zwi-schen der Verarbeitung von Sprache undmusikalischer Information (Green 1986) ge-führt. Frasers Studie (1986) ergab, daß dieSprache von Schizophrenen weniger wohl-geformte Sätze mit häufigen Versprechernund Fehlstarts enthielt und einfacher war alsdie fließende, fehlerfreie und komplexeSprache der Kontrollpersonen. Lindsay(1980) vertritt den Standpunkt, daß sozialesVerhalten von der Fähigkeit zur sozialenSprachkommunikation abhängig ist. In sichgekehrte Patienten reden mit weniger spon-tanen Sprachäußerungen und ihre Sprachekann durch eine Anpassung ihrer Aus-drucksweisen und den Aufbau von Dialogenvon einfachen Interaktionen bis zu kompli-zierten Sequenzen verbessert werden: diesist zugleich ein Merkmal des Dialogspiels beiimprovisierter Musiktherapie.

Condon (1975, 1980) verfaßte eine Rei-he Arbeiten zum Thema rhythmischer Inter-aktion und Kommunikation,die sich mit demVergleich gefilmter Abschnitte vom norma-len und pathologischen Verhalten beschäfti-gen.Während bei normaler KommunikationSprache und Körperbewegungen nach ei-nem harmonischen und geordneten Musterkoordiniert waren, wobei es möglich war,Kontakt mit dem Patienten aufzunehmen(was auch Pavlicevic feststellte) und ein ge-

meinsames Muster verknüpfter Parameteretabliert werden konnte, das die Musikthe-rapeuten als musikalisch erkennen konnten(Klangfarbe,Tonhöhe,Phrasierung,Zeitmaß),zeigt eine Filmanalyse der Interaktion zwi-schen einem schizophrenen Patienten unddem Therapeuten deutliche Unterschiede inKörperbewegung und Sprachmuster. DieserPatient hatte im Gegensatz zum normalsprechenden ‘halbgefrorene’ Körperbewe-gungen ohne Variation der Kopf- und Kör-perhaltung. Sein Blick war über längere Zeitauf einen Punkt jenseits des Therapeuten fi-xiert und seine Sprache war monoton unddurch tiefe Seufzer unterbrochen (Condonund Ogston 1966). Im weiteren Verlauf sei-ner Untersuchung stellt Condon die zumeistmusikalischen suprasegmentalen Sprachfak-toren heraus, die die Sprache eines norma-len Menschen von der eines depressiven Pa-tienten unterscheiden.

Gruppenmusiktherapie ist der Hauptan-satz zur musiktherapeutischen Behandlungvon Jugendproblemen (Behrends 1983;Friedmann 1982; Mark 1986, 1988; Phillips1988). Friedmann (1982) empfiehlt die ge-nerelle Anwendung kreativer Therapien inder Behandlung drogenabhängiger Heran-wachsender, weil dadurch spontane Hand-lungen angeregt werden, die Reaktionsfähig-keit des Patienten motiviert und eine At-mosphäre freier Ausdrucksmöglichkeitenbegünstigt wird.

Behrends (1983) verwendet Popmusik,um eine Partystimmung für die Jugendlichenzu schaffen,mit der Absicht, die ‘kommunika-tive Bewegungstherapie’ zu ermöglichen. Ei-ne solche Stimmung, so der Autor, motiviertproblematische Jugendliche, an der für dieLösung ihrer Identitätskrisen notwendigen

Psychotherapie teil-zunehmen, was dieseArbeit mit denen ver-bindet, die Musik alsWegbereiter zur ei-gentlichen Psycho-therapie einsetzen.Mark (Behrends1983; Mark 1986, 1988) setzt auch Rock-musik, insbesondere Rocklyrik, als eine Über-brückung zu ‘hochresistenten’ Jugendlichenein, um es ihnen zu ermöglichen, ihre Ge-fühle bezüglich ihrer Rolle in der Gesellschaftmitzuteilen, ihre Meinungen ohne Aggressi-vität auszudrücken und anderen zuzuhören.In dieser Form unterstützt die Musik die Ar-tikulations-, Selbstdarstellungs- und Kommu-nikationsfähigkeit im Kontext der Psycho-therapie. Um einen Autor zu zitieren (Saari1986): „Jugendliche sind zu alt für Spieltherapie“.

Phillips (1988),Psychotherapeut und Jazz-anhänger, gibt einen Überblick über die Im-provisation in der Psychotherapie und derenVerbindung mit jugendlichen Patienten. Eridentifiziert vier wichtige Eigenschaften alseine Basis für den therapeutischen Einsatzvon Improvisation in der klinischen Praxis:

(i) um den Zugang zu seiner/ihrer Vergan-genheit zu erlangen;

(ii) um die Aufmerksamkeit auf die Gegen-wart zu lenken und zu konzentrieren;

(iii) um sich wohl genug zu fühlen und auf dieKontrolle über den Ausgang der Aufgabedes Experiments während der Therapie-stunde verzichten zu können und

(iv) um die Signifikanz des rein zufälligenAusdrucks zu erkennen.

Er verbindet die Improvisationsfähigkeitmit der therapeutischen Aufgabe, Jugendli-

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tomorientierte Medikation oder Physiothe-rapie kaum beseitigt werden. Lengdoblerund Kiessling (1989) behandelten an einerKlinik, über einen Zeitraum von zwei Jahren,225 Patienten mit Multiple Sklerose musik-therapeutisch. Jede Behandlungsphase dau-erte ca. 4 bis 6 Wochen. Ein weiterer Teil ih-rer Arbeit bestand darin, die musikalischenParameter dieser Patienten herauszufinden,wobei sie Methoden einbezogen, die auf ak-tive Improvisation: Instrumentalspiel inGruppen,Gesang,Musikhören und freie Ma-lerei mit Musikbegleitung basierten. DieGröße der Gruppen wurde leider nicht no-tiert, die jeweilige Patientenverteilung inner-halb der jeweiligen Gruppe blieb unkontrol-liert und die persönlichen Berichte der Pati-enten waren unstrukturiert.

Die Berichte, die an die Öffentlichkeit ge-langen, sind vage und demonstrieren diedringende Notwendigkeit eines präzisen Re-search-Designs mit einer zugrundeliegendenStruktur, um wertvolle Arbeiten am vorteil-haftesten zu präsentieren.

Die Musiktherapie wurde schon in derAntike zur Linderung rheumatischer Schmer-zen eingesetzt (Evers 1990) und in letzterZeit mit der Betonung auf emotionale Er-leichterung und Rehabilitation (Siniachenko,Leshchenko und Melekhin 1990). Quellen,die den spezifischen Einsatz von Musik beiRheumatismus zitieren, sind rar.lTerminolo-gien wie Gicht oder Gelenkschmerz sindeher zu finden als Rheuma; dies spiegelt dieschon erwähnte Problematik, historischeVergleiche zu ziehen, da Terminologien undderen Bedeutungen sich ständig wandeln.

1988), bekommen regressive psychotischePatienten aktive Musiktherapie währendweniger gestörte Patienten, die in der Lagesind, sich mit ihren emotionalen Problemenauseinander zu setzen, passive Musikthera-pie erhalten.

PsychosomatischeErkrankungen

Dort, wo sich innerhalb der Medizinphysiologische und mentale Prozesse

überschneiden, z.B. im psychosomatischenBereich, scheinen individuelle und Grup-pentherapien eine wichtige Rolle zu spielen(Lengdobler und Kiessling 1989).

Multiple Sklerose ist eine chronischeneurologische Erkrankung unbekannterHerkunft, die schwerwiegende neurophy-siologische Symptome verursacht. Die fürdiese Krankheit typischen Schwierigkeiten:Angst, Resignation, Isolation und schwin-dende Selbstachtung können durch symp-

che zu behandeln,die eine breite Palette Re-aktionen hervorrufen können, die auch inbezug zu den vergangenen Erfahrungen desTherapeuten stehen und möglicherweiseganz neue Lösungen erlangen.

Rehabilitation

Strategien für die Rehabilitation psychia-trischer Patienten mit Hilfe einer Grup-

pen- und Familienbeteiligung sind nicht nurinnerhalb afrikanischer Traditionen zu finden(Ba 1988; Jochims 1990; Reinhardt undFicker 1983b). Die Musiktherapie hat einebreite Basis innerhalb der Tradition psychia-trischer und allgemeiner Rehabilitation (Ba-son und Celler 1972; Gilbert 1977a; Heydeund von Langsdorff 1983; Lengdobler undKiessling 1989; Morgan und Tilluckdharry1982; Naeser und Helm-Estabrooks 1985;Pfeiffer et al. 1987;Porchet-Munro 1988;Up-dike 1990a;Wolfe 1978).

Haag (Haag und Lucius 1984) besprichtTheorien, die psychosoziale Faktoren be-züglich des Umganges mit und der Entwick-lung von Behinderungen berücksichtigen.Psychologisch intervenierende Ansätze wer-den mit Rücksicht auf ihre besondere Rele-vanz in der Rehabilitation dargestellt. DieMusiktherapie wird auch für Patienten emp-fohlen, die sowohl mit ihren Gefühlsäuße-rungen als auch mit der Interkommunikati-on Schwierigkeiten haben. In einem italieni-schen Krankenhaus für Psychiatrie, wo auchFamilienberatung durchgeführt wird (Ba

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Gynäkologie

Musik vom Tonband ist bei der Geburtals therapeutisches Mittel während

der Wehen und der Entbindung eingesetztworden (Clark, McCorkle und Williams1981). Musiktherapie mag wohl Angstwährend der Geburt reduzieren, aber ins-gesamt sind die Ergebnisse nicht schlüssig.

Koronarpflege

Mehrere Autoren haben diesen Bereichin bezug auf die Krankenhauspflege

(Bolwerk 1990; Davis-Rollans und Cun-ningham 1987; Gross und Swartz 1982;Guzzetta 1989; Philip 1989; Wein 1987)und die Zahnmedizin hin (Lehnen 1988)untersucht. Häufige Untersuchungen gabes im Hinblick der Reduzierung von Angstbei chronisch kranken Patienten oder derallgemeinen Behandlung von Angst (Chet-ta 1981; Daub und Kirschner-Hermanns1988; Fagen 1982;Gross und Swartz 1982;Lengdobler und Kiessling 1989; Schmutter-mayer 1983; Standley 1986).

Die Intensivstation ist für Kranken-hauspatienten ein besonders beängstigen-der Ort. Für Patienten nach einem Herzin-farkt, wenn die Herzrhythmen potentiellinstabil sind, ist dieser Pflegezustand be-drohlich, weil er physiologische und psy-chologische Reaktionen rekursiv beeinflus-sen kann. Mehrere Autoren haben in ver-

schiedenen Intensiv- und Koronarpflegekli-niken den Einsatz von Musikaufnahmen, die,um Angst und Streß zu reduzieren, überKopfhörer vorgespielt wurden, untersucht(Updike 1990b). Bonny (Bonny 1983;Bonnyund McCarron 1984) hat eine Reihe vonKassettenaufnahmen mit musikalischen Pot-pourris vorgeschlagen, die unterschiedlichausgewählt werden können, nach Stim-mungskriterien, assoziativer Metaphorik,Ent-spannungspotential und beruhigender Wir-kung (Bonny 1978). Hierfür gibt es keineempirische Bestätigung, wenn auch Updike(1990a) in einer Beobachtungsstudie denEindruck Bonnys, beim Vorspiel von Ent-spannungsmusik werde der systolische Blut-druck gesenkt und Angstzustände in ent-spannte Ruhe verwandelt, bestätigt.

Rider (1985a, 1985b) argumentiert, daßkrankheitsbedingter Streß durch die Desyn-chronisation der zirkadischen Oszillatorenverursacht wird und daß das Hören beruhi-gender Musik mit kontrolliert induzierterMetaphorik die Wiederherstellung der zir-kadischen Rhythmen (gemessen an Körper-temperatur und Kortikosteroidwerten) för-dern könnte.Diese Studie brachte keine de-finitiven Ergebnisse, insbesondere weil eskeine Kontrollgruppe gab und das Studien-design verwirrend war,twas den grundsätzli-chen Unterschied zwischen Musik im Rah-men der Musiktherapie und Musik als Zusatzzur Psychotherapie oder zum Biofeedbackhervorhebt.

Atmung

Das Verhältnis zwischen Musikhörenund Atmungsveränderungen wurde

auch unter anderen Voraussetzungen als inder Koronarpflege untersucht (Brody 1988;Formby et al. 1987; Fried 1990; Gross undSwartz 1982).

Fried (1990) präsentiert einen globalenÜberblick der Integration von Musik in At-mungstraining und Entspannung. Dem At-mungstraining wird ein physikalischer Nut-zen durch die Erhöhung des Luftvolumensohne übermäßigen Verlust an CO2 zuge-sprochen.Typisch verängstigte Patienten ha-ben eine relativ flache Brustatmung und ei-ne Neigung zur Hyperventilation. Jedochscheint die Wirkung von Musik paradox:während die Patienten Musik als tief ent-spannend, beruhigend und besänftigendbeschreiben, deuten ihre physiologischenReaktionen das Gegenteil an. Musik und At-mung sind eingesetzt worden, um alterna-tive Bewußtseinszustände hervorzurufen.Frieds Ansatz korreliert die Bewußtseins-charakteristika und die Funktion der Musikin einer Veränderung dieser Werte als auchdie musikalischen Qualitäten,welche zur In-duktion von Ruhe und innerem Friedenbeitragen können.

Pflegeansätze haben auch von der an-xiolytischen Wirkung von Musik in Verbin-dung mit Massage und Atemübungen zurPatientenberuhigung Gebrauch gemacht(Keegan 1987, 1989).

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der Lebensqualität einen Einfluß hat. Ob-wohl in den letzten Jahren Lebensqualität ei-ne zunehmend wichtige Rolle in der Krebs-behandlung gespielt hat (Aaronson 1989;Clark und Fallowfield 1986; Gilbert 1977b;Gilbert und Stuart 1977; Gold 1986; Heydeund von Langsdorff 1983; Oleske, Heinzeund Otte 1990; Spitzer 1987) und zuzüglichder Musiktherapie auch andere Kunstthera-pien als wichtig geschätzt werden, ist derNachweis für diese Überzeugung weitge-hend anekdotisch. Bailey (Burch, Clegg undBailey 1987) entdeckte eine signifikante Bes-serung der Gemütsverfassung von Krebspa-tienten während des gemeinsamen Musizie-rens im Gegensatz zum Einsatz von Musik-konserven, was die Autorin auf das mensch-liche Element zurückführt.

Gründlicher untersucht wurde der Ein-satz von Musik in der Kontrolle chronischerKrebsschmerzen,obwohl solche Studien dasmenschliche Element der ‘Live’-Vorstellungzugunsten aufgezeichneter Interventionenvernachlässigen. Kombinationen von phar-makologischer und nicht pharmakologischerSchmerzkontrolle werden von der moder-nen Medizin akzeptiert (McCaffery 1990),wobei die nicht-pharmakologische Interven-tion als eine Art Ablenkung betrachtet wird.

Solche Ablenkung von der Konzentrationauf Schmerzen wurde in einer Studie vonZimmermann (Zimmerman,Pozehl,Duncanet al. 1989) untersucht. In seinem klinischkontrollierten Versuch mit Patienten, die anchronischen Schmerzen litten, spielte er ih-re Lieblingsmusik vom Tonträger vor und gabSuggestionen. Das Ziel der Studie war, dieselbstberichtete Schmerzlinderung der Pati-enten, die unter Kontrolle des analgesischen

Krebstherapie, Schmerz-kontrolle und Hospizpflege

Krebs und chronische Schmerzen benöti-igen komplexe koordinierte Ressourcen

nicht nur medizinischer sondern auch psy-chologischer, sozialer und kommunaler Art(Aldridge 1996; Coyle 1987; Fagen 1982;Frampton 1986; Frampton 1989; Gilbert1977a; Heyde und von Langsdorff 1983;Walter 1983). Die Hospizpflege in den USAund England hat versucht, diesen Bedarf anpalliativen und unterstützenden Leistungenin Form von physischer, psychologischer undseelischer Hilfe für Sterbende und ihre Fa-milien zu befriedigen (Aldridge 1996; Coyle1987; Frampton 1986,1989; Heyde und vonLangsdorff 1983; Jacob 1986). Diese Lei-stungen werden von einem interdiszi-plinären Team von Berufsmedizinern, -pfle-gern und Freiwilligen erbracht und schließensowohl ambulante als auch stationäre Pflegeein.

Im Support-Pflegeprogramm des Schmerz-zentrums der neurologischen Abteilung amSloan-Kettering Cancer Center in New York,gehört ein Musiktherapeut wie auch ein Psy-chiater, ein Pfleger, ein Neuroonkologe, einSeelsorger und ein Sozialarbeiter zu diesemTeam (Bailey 1983; Coyle 1987). Musikthe-rapie wird zur Beruhigung eingesetzt, umAngst zu reduzieren, um andere Schmerz-kontrollmethoden zu unterstützen und umdie Kommunikation zwischen Patient undFamilie zu verbessern (Bailey 1983, 1984,1985). Da Depressionen eine häufige Er-scheinung bei Patienten dieser Gruppierungsind, ist es denkbar,daß die Musiktherapie aufdiese Parameter und bei der Aufbesserung

Anästhesie

Die Eigenschaft von Musik, Ruhe undWohlbefinden induzieren zu können,

hat ihren Nutzen auch in der allgemeinenAnästhesie gefunden (Keegan 1987, 1989).Patienten freuten sich, wenn sie im Operati-onsbereich durch Musik wach wurden(Bonny und McCarron 1984), wobei Musikzuerst im Raum und anschließend überKopfhörer während des chirurgischen Ein-griffes gespielt wurde. In einer Studie Leh-manns (Lehmann, Horrichs und Hoeckle1985) bekamen in einem randomisiertenDoppelblindverfahren Patienten, bei denenelektiv-orthopädische oder Unterleibsein-griffe vorgenommen wurden,entweder einePlaceboinfusion (0,9% NaCl) statt Tramadol,um die Wirksamkeit von Tramadol als eineKomponente ausgewogener Anästhesieauszuwerten. Dazu wurde der postoperati-ve analgesische Bedarf und die Wahrneh-mung intraoperativer Vorkommnisse (Mu-sikbeschallung über Kopfhörer) in der Eva-luation der Tramadolwirkung berücksichtigt.Obwohl die Anästhesie bei beiden Gruppenkomparabel war, zeigten die Gruppen frap-pierende Unterschiede, was die intraopera-tive Wahrnehmung betraf: während sich diemit Placebos behandelten Patienten annichts erinnern konnten, war die intraope-rative Musik bei 65% der mit Tramadol

behandelten Patien-ten bewußt.Über dieFähigkeit, währendeiner Operation Mu-sik hören zu können,wird auch von Bonny(Bonny und McCar-ron 1984) berichtet.

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Gehalts des Blutes Schmerzmittel einnah-men, zu ermitteln. Es stellte sich heraus, daßdie allgemeine Schmerzempfindung von Pa-tienten, die randomisiert zur Musikthera-piegruppe zugeteilt wurden, reduziert war.Ferner wurde nicht nur der affektive, son-dern auch noch die sensorische Kompo-nente des Schmerzes,wie durch die im ‘Mc-gill Music Questionnaire’ (Melzack 1975) beiPatienten, die Musik hörten, deutlich redu-ziert. Nicht nur das Leiden konnte als emo-tionale Erfahrung reduziert werden, son-dern auch die Schmerzen wurden als weni-ger empfunden. Dieser Befund scheint derallgemeinen Überzeugung zu widerspre-chen, Musiktherapie sei primär eine Inter-vention auf der Basis qualitativer emotiona-ler Erfahrungsmerkmale und die Behaup-tung zu unterstützen,daß die Musiktherapieauch eine unmittelbare Wirkung auf senso-rische Parameter hat.

Zusätzlich zur Schmerzbewältigung, ins-besondere in Schmerzzentren (Foley 1986;Godley 1987; Locsin 1988;Wolfe 1978), istMusik als Entspannung und Ablenkungwährend der Chemotherapie (Kammrath1989) zur allgemeinen Erleichterung undum Übelkeit und Erbrechen zu reduzieren(Frank 1985) ausprobiert worden. Bei demEinsatz von Musikkassetten und ‘Guidedimagery’ im Zusammenhang mit pharmako-logischen Mitteln gegen Erbrechen hatFrank (1985) herausgefunden, daß die ‘Sta-te anxiety’eindeutig reduziert wurde,mit ei-ner anschließenden deutlichen Abnahmevon Erbrechen, obwohl Übelkeit nicht re-duziert wurde.Weil diese Studie nicht kon-trolliert wurde, wäre es möglich, daß dieAngstreduzierung das Ergebnis einer nor-

malen Angstreduktion nach Beendigung derChemotherapie sei. Jedoch nahmen an die-ser Studie Patienten teil, die zuvor schonChemotherapie bekommen hatten und mitden Begleiterscheinungen der Übelkeitoder des Erbrechens vertraut waren. DieTatsache, daß die Versuchspersonen Er-leichterung empfanden, wurde als ermuti-gend für den Einsatz der Musiktherapie alstherapeutische Methode angesehen.

Neurologische Probleme

In vielen Fällen werden neurologische Er-krankungen wegen ihrer plötzlichen Er-

scheinung mit resultierenden physischenund/oder mentalen Beeinträchtigungentraumatisch (Jochims 1990). Im Hinblick aufdas, was zunächst als hoffnungslose neuro-logische Zerstörung aussieht (Aldridge1996; Jones 1990; Sacks 1986), scheint Mu-sik eine Schlüsselfunktion in der Wieder-herstellung früherer Fähigkeiten zu haben.

Für manche Patienten mit Kopftrauma-bedingten Hirnschäden, kann das Problemein vorübergehender Sprachverlust (Apha-sie) sein. Musiktherapie kann eine bedeu-tende Rolle in der Aphasierehabilitationspielen (Lucia 1987). Melodische Intonati-onstherapie (Naeser und Helm-Eastabro-oks 1985; O'Boyle und Sanford 1988) wur-de entwickelt, um eine solche rehabilitativeFunktion zu übernehmen,wobei kurze Aus-sagesätze in einfache, sich häufig wiederho-lende Melodiemuster eingebettet und vonFingerklopfen begleitet werden. Die Beu-

gungsmuster von Ton-höheveränderungenund Sprachrhythmenwerden für ihre Paral-lele zum normalenSprachgebrauch aus-gewählt. Das Singenfrüher bekannter Lie-der wird auch gefördert, um Artikulation,Fluß und Musterbildung von Sprache anzu-regen,die mit musikalischer Phrasierung we-sensverwandt sind. Die zusätzliche Stimula-tion durch das Singen innerhalb eines Kom-munikationskontextes motiviert die Pa-tienten, sich mitzuteilen und es wird ange-nommen, daß das bewußte verbale Verhal-ten hierdurch aktiviert wird.Bei Kleinkindernist die Fähigkeit, eine kommunikative Mittei-lung des Partners zu erwidern oder zu kom-pensieren, ein wichtiges Element in der Ent-wicklung kommunikativer Kompetenz (Mur-ray und Trevarthen 1986; Street und Cap-pella 1989) und unerläßlich in der Aneignungvon Sprache (Glenn und Cunningham1984). Solche musiktherapeutischen Strate-gien können auch bei Erwachsenen einge-setzt werden, in der Erwartung, daß sie dieHirnfunktionen stimulieren werden, die derWiederherstellung der Sprachfähigkeitenvorausgehen. Diese Hirnfunktionen, die imwesentlichen musikalisch-prosodischer Na-tur sind und auf die Plastizität des Gehirnesangewiesen sind, werden auch durch Mu-siktherapie unterstützt und erweitert. In Ver-bindung mit der Fähigkeit, die Rückgewin-nung der Sprache zu unterstützen, kannMusik sinnvoll eingesetzt werden: um dasLuftvolumen zu steigern, um respirativ-pho-native Muster zu fördern, um rhythmisch-oder tempobedingte Artikulationsfehler

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durchschnittlich intelligenten zweijährigenJungen, der Anfälle bekam, die sich als ‘Tick’-artige Kopfverdrehungen bemerkbar mach-ten und die immer wieder durch seineigenes Singen induziert wurden, jedochnicht durch Musikhören oder Musikphan-tasieren. Diese Anfälle bekam er auch,wenn er rezitierte und alberne oder witzigeWortwendungen und -spiele herausbrach-te.Währenddessen registrierte das EEG dieAnfallsaktivität in beiden temporal-zentralenRegionen, aber insbesondere in der rechtenRegion, die mit den klinischen Anfällen kor-relierte (Herskowitz, Rosman und Ge-schwind 1984).

Auch ältere Menschen werden nach ei-nem Schlaganfall von Aphasie befallen. WieFallstudien berichten, ist Musiktherapie inVerbindung mit Sprachtherapie hier erfolg-reich eingesetzt worden (Aldridge 1997).

Gustorff (Aldridge, Gustorff und Hannich1990) hat kreative Musiktherapie bei ko-matösen Patienten, die ansonsten nicht rea-gierend waren, erfolgreich eingesetzt. Indemsie ihren Gesang nach den Atmungsmusterndes Patienten richtete, konnte sie Verände-rungen im Bewußtsein stimulieren,die auf ei-ner Koma-Meßskala meßbar und für denPfleger sichtbar waren.

Aphasiefällen (Morgan und Tilluckdharry1982) wurde Gesang als eine willkommeneBefreiung aus der Hilflosigkeit des Patien-tendaseins angesehen. Der Autor vermutet,daß Gesang ein Mittel zur Kommunikationvon Gedanken nach außen darstellt. Ob-wohl der ‘neuere Aspekt’ von Sprache ver-lorengegangen war, blieb die ältere Funktionder Musik erhalten, weil Musik möglicher-weise eine Funktion beider Hirnhemis-phären ist. Berman (1981) meint, daß dieGenesung nach Aphasie nicht durch neuesLernen in der nicht dominanten Hirnhälfte,sondern durch deren Übernahme der Ver-antwortung für die Sprache bewerkstelligtwird. Die nicht dominante Hirnhälfte könn-te für den Fall eines regionalen Versagens miteinem Vorrat an Funktionen ausgestattetsein.Dies deutet auf eine allgemeine Flexibi-lität des Hirns hin (Naeser und Helm-Estabrooks 1985),die zu einer Umverteilungder Sprachfunktionen bei Mehrsprachigenim Vergleich zu Einsprachigen führen (Ka-ranth und Rangamani 1988) oder das Er-gebnis von Lern- und Kultureinflüssen seinkönnte, wobei Musik und Sprache die glei-chen Merkmale aufweisen (Tsunoda 1983).

Ein Beweis dafür, daß Musikalität mit ge-wissen kreativ-produktiven Sprachvorgän-gen korreliert, brachte der Fall eines über-

auszubügeln und um den Patienten auf arti-kulatorische Bewegungen vorzubereiten. Sogesehen, bietet Musik ein nicht chronologi-sches Zeitgefühl, das sich jeglicher Maßrege-lung entzieht und für die Koordination vonmenschlicher Interkommunikation lebens-wichtig ist (Aldridge 1996).

Jacome (1984) berichtet von einem Pati-enten, der nach einem Schlaganfall sprach-behindert war und Probleme mit der Wort-findung hatte. Trotzdem „pfiff er häufig, an-statt den Versuch zu unternehmen, mit Phone-men zu erwidern.....er sang spanische Liederspontan und ohne Hilfe, wobei Stimmlage,Rhythmus,Text und emotionale Intonation her-vorragend waren. Er konnte nach Beliebenklopfen, summen, pfeifen und singen.....(emo-tionale Intonation der Sprache), spontaneemotionsgeladene Gesichtsausdrücke, Gestikund Pantomime waren überschwenglich“(S. 309).

Jacome ergänzt seine Studie mit der Emp-fehlung, Gesang und Musikalität bei apha-sischen Patienten von Klinikern untersuchenzu lassen,was auch Morgan vorschlägt (Mor-gan und Tilluckdharry 1982).

Beweismaterial für die globale StrategiederlVerarbeitung von Musik im Hirn ist inder klinischen Fachliteratur zu finden. In zwei

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das seelisch/geistige Befinden hat, sondern auch solche, die bei einemPatienten auf der körperlichen Ebene auftreten.lAber selbst wenn ge-zeigt werden kann, daß Musik direkte Auswirkungen auf den Körperhat, ist es die gesamtkörperliche Organisation, der nicht-materielleAspekt, der entscheidend für die Kommunikation ist, sowohl innerhalbeiner Person als auch zwischen mehreren Personen (Aldridge 1996).Wie dem auch sei, unsere Sichtweise fußt auf der Überzeugung, daßMusik in der Lage ist, physiologische Veränderungen im Körper her-vorzurufen. Ein Verständnis, das in unserer Kultur schon seit der An-tike besteht (Aldridge 1993).

Herztätigkeit und Kommunikation

Um die Veränderungen, die in der Musiktherapie auftreten, zeigenzu können, suchten wir nach einem einfachen physiologischen In-

dikator. Aus einer vorausgegangenen Literaturrecherche und Durch-sicht zum Thema Kommunikation boten sich angemessene Parameteraus Studien zur Veränderung der Kreislauf- und Herztätigkeit an. Diewesentlichen Untersuchungen bei diesen Arbeiten waren solche, diesich mit der Veränderung des Blutdrucks und der Pulsfrequenz be-faßten. Für die vorliegende Untersuchung entschieden wir uns für diePulsfrequenz, da sie als Parameter relativ leicht zu beobachten und zuerfassen ist.Wie die Musik entwickelt diese sich im zeitlichen Verlaufund läßt sich als solcher darstellen.Was aber vielleicht noch wichtigerfür diese Entscheidung ist: sie ist ein Parameter, der für die medizini-sche Wissenschaft akzeptabel ist, mit der wir als therapeutische Diszi-plin in einen Dialog treten wollen.

Dieser Artikel befaßt sich mit einer phy-siologischen Untersuchung während

einer musikalischen Improvisations-Situati-on, die der Musiktherapie nachgestellt ist.Im Mittelpunkt des Interesses steht dabeidas physiologische Geschehen bei zweiMenschen, während sie miteinander musi-zieren.Aktive Musiktherapie ist ein dialogi-scher Prozeß, bei dem sowohl Therapeutals auch Patient Teil eines musikalischenProzesses sind. In der Auswertung musikt-herapeutischer Situationen wird die Be-deutung dieses musikalischen Prozesses

häufig in den Vordergrund gestellt..Es bleibt aber auch die Frage be-stehen,welche physiologischen Auswirkungen dieser musikalische Dia-log auf den Körper des Patienten hat. In der vorliegenden Untersu-chung gehen wir einen Schritt weiter, indem wir die Frage stellen, wel-che Auswirkungen (während der musikalischen Vorgänge) auf beidePartner des Dialoges zu beobachten sind,während Sie gemeinsam im-provisieren. Eine solche Untersuchungsperspektive ist keineswegs sonaheliegend wie es scheint. Unsere Erwartung ist, daß eine therapeu-tische Beziehung sowohl den Patienten als auch den Therapeuten be-einflußt.lAm Ende unserer Ausführungen werden wir auch auf diemögliche Bedeutung unserer Ergebnisse für andere Arbeitsfelder ein-gehen.

Um darstellen zu können, weshalb Musiktherapie sinnvoll und hilf-reich ist, ist es entscheidend zu wissen, was sich während einer musi-kalischen Improvisation ereignet. Unsere Intention ist deshalb, eineMöglichkeit aufzuzeigen, körperliche Veränderungen beim Patientenwährend der Musiktherapie darzustellen. Hieraus könnte man ablei-ten, nicht nur jene Auswirkungen anzuerkennen, die Musiktherapie auf

KOMMUNIKATION, HERZTÄTIGKEIT UND MUSIKALISCHER DIALOG

David Aldridge & Lutz Neugebauer

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Die wesentlichen präverbalen Grundla-gen menschlicher Kommunikation - Supra-segmentale genannt - sind:lZeit, Phrasierung,Rhythmus,Tonhöhe und der Klang der Stim-me. Eben diese genannten Qualitäten wer-den auch von Musiktherapeuten betrachtet,wenn sie die Auswertung von Improvisatio-nen in der Musiktherapie anhand der Ton-banddokumentationen vornehmen.

Auf diese genannten Faktoren der Kom-munikation wurden wir zunächst aufmerk-sam, als wir uns mit der Literatur zu korona-ren Herzerkrankungen und der sogenann-ten Typ A-Persönlichkeit befaßt haben (Ald-ridge 1989; Dielmann et al. 1987; Dimsdaleund Stern 1988; Friedmann et al. 1982; Lin-den 1987; Lynch et al. 1981; Smith und Rho-dewalt 1986). Menschen, die an Herzkrank-heiten litten, wurden in Terminologien be-schrieben, die sich auf eine musikalische,ebenso wie auf eine physiologische Sicht-weise beziehen ließ. Laute, schnelle Sprachemit einer begrenzten Bandbreite an Klang-modulation sowie Sprachmuster, welche dieErwiderungen des Gesprächspartners un-terbrachen, schienen etwas wiederzugeben,was Musiktherapeuten in ihren Beschrei-bungen von musikalisch schöpferischen Im-provisationen ebenfalls hörten und ausführ-ten.

In der Musiktherapie stehen wir in einerSituation, die durch die gleichzeitige Entste-hung eines Dialoges zwischen zwei Partnerngekennzeichnet ist.Diese Situation trifft auchauf ein Gespräch zu.Während der überwie-gende Teil der Kommunikationstheorien imwesentlichen fokussiert, wie wir die Bedeu-tung des Gesagten in einem Gespräch her-leiten und verstehen können, steht für unse-

re Betrachtungen die Frage im Mittelpunkt,wie ein Dialog gestaltet wird, damit er Ver-ständnis ermöglicht. Zugegebenermaßen istdie Bedeutung wichtig. Das Entstehen einerDialogstruktur, die es ja erst ermöglicht, eineBedeutung zu vermitteln, ist aber der erstewichtige Schritt jeder Kommunikation. Fais(1994) schreibt dazu, Kommunikation sei ei-ne simultane Koproduktion der beteiligtenPersonen, nicht nur eine Konstruktion vonBedeutungen durch alternierende Beiträge.

Zeit

Ein zentrales, aber umstrittenes Feld in derForschung zu koronaren Herzerkran-

kungen ist das der zuvor bereits erwähntenTyp A-Persönlichkeitsstrukturen. Diese las-sen sich dadurch charakteristisch beschrei-ben, wie die jeweilige Person auf Umfeldan-forderungen reagiert bzw. diese hervorruft.Helmann (1987) bezieht sich in seiner Be-gründung koronarer Herzerkrankungen aufkulturelle Zusammenhänge, in die auch die„einzigartigen und symbolischen Charakteristi-ken eines westlichen Zeitverständnisses“ (S.969) eingewoben sind.Diese Sichtweise ver-

steht uns als „die Verkörperung (im wörtlichenund übertragenen Sinne) der Wertvorstellungender Gesellschaft“ (S. 971). Jeder einzelne ste-he in einem Konflikt von Selbstanforderungund gesellschaftlichen Anforderungen, ei-nem Widerspruch, der für manche Men-schen sogar pathogen wirken kann.

Im Mittelpunkt dieser kulturellen Ge-samtkonstruktion (Helmann 1985) steht dieAuffassung von Zeit. Der westliche Zeitbe-griff ist im wesentlichen linear und mono-chron geprägt. Eine Zeitauffassung, die jedeneinzelnen in eine von außen gegebene Ord-nung einbindet und ihm eine äußere Struk-tur aufprägt. Dieses chronologische Zeitver-ständnis hat sich aus den Notwendigkeiteneiner modernen Industriegesellschaft ent-wickelt, in der eine allgemeingültige öffentli-che Ordnung existiert, aus der heraus Pro-duktionsmittel ebenso koordiniert werdenkönnen, wie die Handlungen vieler Einzel-personen. In diesem Zeitverständnis müssenTermine eingehalten werden, die Entwick-lung verläuft linear und ihre Messung istquantitativ. Ein solches Zeitverständnis wirdals ‘Chronos’ bezeichnet.

Es existieren aber durchaus andere Kon-zepte von Zeit. Solche, die eher als persön-lich, denn als öffentlich bezeichnet werdenkönnten:Zeit als ‘Kairos’.Dieses Zeitkonzeptist polychron und näher am wachsendenbiologischen Verständnis der physiologi-schen Zeiten orientiert, welche sich rhyth-misch koordinieren und einfügen (Johnsonund Woodland-Hastings 1986), ein Konzept,das sich nicht an einer äußeren Uhr,lsondernan der einzelnen Person als Gesamtorga-nismus ausrichtet. Zeit ist in dieser Konzep-tion in einem Zustand ständigen Fließens;

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Kommunikationund kardiovasculäre

Veränderungen

Lynch (Friedmann et al. 1982; Lynch 1977et al. 1981) hat sorgfältig die Beziehung

zwischen menschlicher Kommunikation - imwesentlichen des Sprechens - und Verände-rungen des Blutdrucks und der Pulsfrequenzuntersucht. Lautes Lesen oder das Sprechenzu einer anderen Person ruft rasche und sig-nifikante Anstiege der Pulsfrequenz hervor.Ausgehend von diesen Untersuchungser-gebnissen stellt er die Hypothese auf, daßbestimmte Personen mit BluthochdruckKommunikationsschwierigkeiten erlebenund daß ein erhöhter Blutdruck als mani-festes Symptom solcher Probleme verstan-den werden kann.

Derar tige Kommunikationsproblemewurden dann von ihm in bezug zu Persön-lichkeitsstrukturen gesetzt,den sogenanntenTyp A-Persönlichkeiten,die koronaren Herz-krankheiten zugeordnet werden. Als Typ A-Persönlichkeit eingestufte Patienten - sowurde beobachtet - sprächen laut, schnell,hätten die Tendenz, zu unterbrechen undnutzten unterstützende Gesten. Friedmannund andere (1982) stellen heraus, daß dasTempo und die Lautstärke wesentliche Cha-rakteristika für Kommunikation seien. Auchwenn Tempo und Lautstärke mit den kar-diovasculären Veränderungen korrelierten,wäre diese Korrelation nicht abhängig vondem affektiven Gehalt der Kommunikationund - so läßt sich folgern - deshalb unab-hängig von kognitiven Prozessen. Dieses Er-gebnis ist bedeutsam für die Musikthera-peuten, die nach den von Nordoff und Rob-

siologie zu erzwingen - zwischen den Abläufender Bewegung, Sprache, Gestik., Herzschlagund Atmung - und kleinen Maschinen, die wiruns ans Handgelenk binden oder an Wändenaufhängen. Rush-hour,lAbgabefristen, Termin-kalender,Verabredungen und Stundenpläne, alldies wirkt sich auf die Physiologie des moder-nen Menschen aus und es gibt ihm Hilfen fürseine Weltanschauung und sein Selbstver-ständnis“ (Helman 1987, S. 974). Es könnenSpannungen zwischen der eigenen und deröffentlichen Zeit auftreten, als Resultat kön-nen Streß und Angst entstehen.

In der Musik ist es möglich, diese ver-schiedenen Aspekte der Zeit zu erfahren,wenn sie in ihrer Verschiedenartigkeit naht-los ineinandergreifen. Die Spannung zwi-schen persönlicher und öffentlicher Zeit tre-ten uns in der Musik vielleicht sogar hörbarentgegen; einmal abgesehen davon, daß Mu-sik die Möglichkeit bietet, diesen Unter-schied zu erleben und daraus die oben ge-nannte konzeptionelle Dimension zugäng-lich zu machen, kann in der Musiktherapieauch die Erfahrung einer zeitlosen und qua-litativen Realität ermöglicht werden.

sie richtet sich nach der Flexibilität undKonvergenz multipler Aufgaben.Diese Kon-zepte sehen Zeit als etwas, das aus dem‘Selbst’ heraus entsteht. Sie verstehen denkairologischen Moment als einen Augen-blick der Entscheidung und des Auswählens.Hierin liegt der Bezug zu unseren Ideen zurImprovisation innerhalb der Musiktherapie- gemeinsam zu improvisieren bedeutet fürdie beteiligten Personen immer, sich inner-halb der Therapiesituation musikalisch zuentscheiden und diese Entscheidungenauch umzusetzen. Diese Sichtweise ent-spricht einer Konzeption, die man auch hin-sichtlich von Krisensituationen haben kann.Krisen als Zeiten, in denen man sich ent-scheiden muß. Ein solches Zeitkonzept, ei-nes der richtigen Entscheidung zur richtigenZeit, das den Entscheidungsprozeß beinhal-tet, paßt besser zur Musiktherapie als das-jenige, das eine mechanische von außenvorgegebene Zeit widerspiegelt.

Abgesehen von diesen Anmerkungenbegegnet uns Zeit in verschiedenen quali-tativen Zuständen, je nachdem, ob wir be-ten, meditieren, lieben oder tanzen. Denmeisten Menschen ist der Gegensatz einerStunde, die man mit einem geliebten Men-schen verbringt und die nur Minuten zudauern scheint und einer Stunde, z.B. in ei-nem Verwaltungstreffen, das sich wie Tagedahinzieht, aus eigener Erfahrung bekannt.

Einige Autoren (Dossey 1982 und Hel-man 1987) vermuten eine physiologischeBeteiligung, wenn man versucht, die äußer-lich vorgegebene mit der inneren Zeit inEinklang zu bringen. „Es ist ein einzigartigerVersuch der westlichen Gesellschaft, eine Ver-bindung von Uhrzeit und der individuellen Phy-

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bins (1977) entwickelten Grundlagen arbei-ten und die behaupten, daß es auch körper-liche Veränderungen während der Musik-therapie gibt. Sie vertreten den Standpunkt,daß Veränderungen in der Musiktherapienicht notwendigerweise ausschließlich mitpsychotherapeutischen Konzepten zu er-klären seien.

Aufgrund der erwähnten Untersuchun-gen gab man Patienten mit Bluthochdruckdie Empfehlung, ihre Sprachgewohnheitenund ihre Lautstärke durch gezielte Atem-techniken und eine Kontrolle des Kommuni-kationsstils zu ändern. Wenn - wie ausge-führt - kardiovasculäre Auswirkungen aberProzesse außerhalb des bewußten Einflussessind, werden kognitive Ansätze vermutlichnur teilweise erfolgreich sein.Musiktherapie,mit den der Musik innewohnenden FaktorenTempo und Lautstärke, könnte sich in der di-rekten musikalischen Ausübung als geeigne-ter erweisen, diesen Kommunikationsstil zubeeinflussen, als sogenannte verbale Thera-pien.

Weitere Methoden für die Erfassung derTyp A-Persönlichkeit und deren physiologi-scher Reaktionen wurden aus der Auswer-tung strukturierter Interviews hergeleitet(Dimsdale und Stern 1988). Unglücklicher-weise ist hierbei ein eher negatives Persön-lichkeitsprofil, das diese Menschen als wett-bewerbsorientiert, ehrgeizig,durchsetzungs-fähig, ungeduldig und häufig als feindselig be-schrieb, abgeleitet worden. Auch in diesenBeschreibungen finden wir Klassifikationska-tegorien, die sich auf den Sprachstil bezie-hen. Diese Spracheigenheiten lassen sicheher objektivieren und wirken weniger wiepersönliche Wertungen. Für unser Anliegen

lassen sie sich in die musikalischen BegriffeTempo, Phrasierung und Dynamik überset-zen.

Einige Wissenschaftler (Dielmann et al.1987;Linden 1987;Siegmann et al. 1987) be-schrieben folgende Charakteristika für einallgemeines Typ A-Persönlichkeitsverhalten:

Lautstärke der Stimme

Sprachtempo

Temposteigerung am Ende von Aussagen

Länge der Pausen mit Stille

Länge der Erwiderung auf etwas Gesagtes

Unterbrechendes und nichtunterbrechendesgleichzeitiges Sprechen

Latenzzeit bis zur Erwiderung

Stimmklang

Stimmqualität

Sie untersuchten auch die Muster für dieInteraktion, die sie dann als Feindlichkeit undverbalen Ehrgeiz beschrieben. Diesersprachliche Ehrgeiz zeigt sich als „Tendenz,den Gesprächsverlauf zu bestimmen, die Lei-tung vom Interviewer zu übernehmen, indemder Proband unterbricht, unnötige Zwi-schenfragen stellt, indem er selber lauterspricht, um die Einwürfe des Interviewers zuübertönen“ (Dielmann et al. 1987).

Diese stilistischen Qualitäten und Inter-aktionsmuster lassen sich auch in musikali-schen Improvisationen finden, ohne daß sie

notwendigerweise eine negative sozialeWertung erfahren.Auch muß man sich ver-gegenwärtigen, daß in einem sprachlichenInterview der Inhalt einiger Fragen tatsäch-lich konfrontativ oder herausfordernd seinkann. Sprechtempo und Lautstärke kannman genau erfassen;Feindseligkeit,Ungeduldund Ehrgeiz sind hingegen subjektive Ein-schätzungen, deren Beurteilung immer einegeringe Interrater-Reliabilität aufweisen wird.

Aus den beschriebenen Forschungs-ansätzen scheinen sich zwei generelle Kate-gorien von Wahrnehmungstypologien her-auszubilden:

- Zunächst die der feldunabhängigen Per-sönlichkeit, die scheinbar eigene körperlicheSignale eher wahrnimmt als andere Perso-nen und die in der Lage ist, genaue Urteileüber die Umwelt aus ihrer Wahrnehmungherzuleiten; selbst dann,wenn die Wahrneh-mungsinhalte Ablenkungen beinhalten. Fürdiese Personen gibt es eine hohe Überein-stimmung zwischen dem, was sie sagen, wassie fühlen und ihren körperlichen Reaktio-nen.

- Die zweite Gruppe ist die der feldabhängi-gen Personen, die eher dazu tendieren, ihreUrteilsbildungen auf die ablenkenden Infor-mationen zu gründen. Diese Gruppe ziehtauch in hohem Maße die von außen an sieherantretenden Informationen heran, umsich über ihre eigene Situation ein Urteil bil-den zu können.

Die Bedeutung dieser Ergebnisse für dieMusiktherapie besteht darin, daß man dieCharakteristik dieser Feldabhängigkeit bzw.Feldunabhängigkeit in dem musikalischenAusdruck der Patienten hören wird. Einige

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Dieses Wachsein für die Umgebung wirdzum Teil durch das Zusammenspiel von Herzund Hirnfunktion reguliert. War die Herz-frequenz niedrig, nahmen VersuchspersonenReize signifikant besser wahr, als wenn siehoch war. Diese Ansicht wurde durch Hin-weise darauf unterstützt, daß eine vermehr-te Hirndurchblutung stattfindet, wenn dieHerzfrequenz absinkt. Es schien eine „glück-liche oder absichtsvolle Synchronisation zwi-schen physiologischen Systemen“ (Sandman1984 b, S. 118) vorzuliegen und darüber hin-aus erschien es so,daß die Hemisphären desGehirns durch das kardiovasculäre System‘eingestimmt’werden (Sandman 1984 a;lWal-ker und Sandman 1979,1982).

Diese Ergebnisse stellten das herkömm-liche Verständnis in Frage, daß intellektuelleFähigkeiten ausschließlich dem Gehirn zuzu-ordnen seien und lösten weitere Untersu-chungen zur Verbindung von Psyche undKörper und den Einflüssen des kardiovas-culären Systems auf das Gehirn und das Ver-

halten aus. So bestehe bei manchen Patien-ten „eine unerschütterliche Beziehung zwi-schen dem Gehirn und dem kardiovasculärenSystem, die als biologischer Marker für psychi-sche Zustände herangezogen werden könnte“(Safranek, Koshland und Raymond 1982).

Eben diese Forscher stellten die Hypo-these auf, daß die Herztätigkeit einen direk-ten Einfluß auf das Bewußtsein und dasWachsein hat. Diese Auswirkungen derHerztätigkeit sind dynamisch und bewegensich zwischen Aktivierung und Abdämpfungder rechten und der linken Hemisphäre desGehirns. Steige die Pulsfrequenz an, so seidies ein Hinweis auf kognitive Verarbeitungund die Unterdrückung von Umweltreizen.Sinke sie ab, so zeige diese Veränderung einUmschalten hin zur umweltorientierten Auf-merksamkeit. Das kardiovasculäre Systembildet also die Intention eines Menschen ab,Informationen aufzunehmen. Wenn dieseAnnahme richtig ist, so erweist sich Musik-therapie als ein sensibles Wahrnehmungsin-strument für den physiologischen Status ei-ner Person als Gesamtheit. Dieses Instru-ment wird nicht durch die Notwendigkeittechnischer Meßeinrichtungen fragmentiert,die zwischen Beobachter und Beobachtetenstehen und die Möglichkeit der Reaktion aufein mechanisches Spektrum einengt.

Wir gehen davon aus, daß es hörbar ist,wie sich Veränderungen in musikalischen Im-provisationen in der Herzfrequenz von Pati-enten widerspiegeln.Ob ein Patient nur sichselbst gegenüber aufmerksam ist und dieBezüge zu anderen in seiner Improvisationnicht wahrnimmt,kann sich in dessen schnel-ler Herztätigkeit oder der Beschleunigungder Herzfrequenz zeigen.

Patienten werden beispielsweise über einausgedehntes Repertoire verschiedenerSpielweisen verfügen, werden in der Lagesein, melodisch oder rhythmisch zu gestal-ten, während sie sich selbst, dem Therapeu-ten und der Musik in ihrem Gesamtzusam-menhang zuhören. Andere verfügen viel-leicht nur über ein begrenztes Spektrum anAusdrucksmöglichkeiten und werden im Be-zug zur Musik nur einzelne Parameter (z. B.die Lautstärke oder das Tempo) verändernkönnen.

Unsere Hypothese ist, daß man das Re-pertoire der Bewältigungsstrategien im mu-sikalischen Ausdruck hören kann - und dasdieses hörbare Phänomen qualitativ diffe-renzierte physiologische Response abbildetund widerspiegelt. Diese Beziehung wollenwir mit unseren physiologischen Untersu-chungen aufzeigen.Uns ist dabei wichtig,dar-auf hinzuweisen, daß man die beobachtba-ren Strukturen sowohl physiologisch alsauch musikalisch betrachten kann. Wir be-absichtigen weder, zu belegen, daß man see-lische Zustände auf diese Weise abbildenund beschreiben kann,noch Wege dafür auf-zuzeigen.

Sandman interessierte sich besonders fürein paradoxes Phänomen in der Gruppe derfeldunabhängigen Menschen:als Antwort aufStreßsituationen reagieren diese mit einemdeutlichen Abfallen der Herzfrequenz. Erkonnte nachweisen, daß eine erlernte Fre-quenzabsenkung eine Verbesserung der Auf-merksamkeit und der Wahrnehmung für dieUmwelt zur Folge hatte. Daraus folgerte er,daß die Wahrnehmung durch die Möglich-keit, die Herzfrequenz aktiv zu beeinflussen,verändert werden kann.

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Wenn, wie in den zuvor genannten Ar-beiten ausgeführt, die intellektuellen Fähig-keiten nicht ausschließlich im Gehirn initiiertund ausgeführt werden, sondern ein ge-samtkörperlicher Vorgang sind, dann ist dasaktive Musizieren von Patienten in der Mu-siktherapie von eminenter Bedeutung. DerPatient ist ganzkörperlich (wahrnehmend,verarbeitend und handelnd) in diese Thera-pie einbezogen, er sitzt nicht lediglich ruhigvor einem Fragebogen oder verharrtwährend eines Untersuchungsvorgangsweitgehend unbeweglich. Er oder sie sollspielen. Die Gestaltung der Musik in der Im-provisation bezieht also Soma und Psycheein. Musik z. B. rhythmisch zu gestalten, ist ei-ne Aktivität der gesamten Person und Per-sönlichkeit. Mit jemandem zeitweise diesemusikalische Gestaltung zusammen auszu-führen, ist eine Erweiterung, welche dieseAktivität um den vitalen und lebenswichti-gen Aspekt der Beziehung bereichert.

Wie schon früher angemerkt, sindSprachvariablen signifikant mit koronarenProblemen bei Typ A-Persönlichkeiten ver-knüpft. Diese Variablen müssen aber nicht ineiner provokanten oder herausforderndenArt und Weise aufgedeckt werden (Sieg-mann et al. 1987). Kurze Respons- und La-tenzzeiten bzw. ein beschleunigtes Sprach-tempo können auch schlicht der Ausdruckvon Angst und Unsicherheit sein.

Musiktherapie bietet einen Kontext derKommunikation.Sie ist nicht provokativ in ei-nem negativen Sinne und birgt die Möglich-keit, alle der Sprache innewohnenden Ele-mente ohne die affektiven Komponentendes Gesprächsinhaltes zu beobachten. Die-se Elemente werden selbst dann hörbar,wenn man musikalische Äußerungen abseits

vokaler Aktivitäten untersucht. So ist ja auchsprachliche Kommunikation nicht aus-schließlich auf die sprachlichen Elemente re-duziert; sie bezieht vielmehr auch gestischeund mimische Elemente ein, welche dieSprache begleiten. Condon (1975) nenntdiese koordinierten sprachlich-gestischenÄußerungen die Quanten des Verhaltensoder auch ‘linguistic-kinesics’.

Musiktherapie, in dem hier verstandenenaktiven und schöpferischen Sinne, hängtauch von der Beziehung zwischen Patientund Therapeut - einer intentionalen Syn-chronität - ab. Vielleicht ist gerade dies einentscheidender Aspekt der Kommunikation,den viele Untersuchungen vernachlässigen:es geht nicht nur um die Fähigkeit, sich klang-lich mitzuteilen, sondern in gleichem Maßeum die Fähigkeit,Klängen zuzuhören und an-gemessen darauf reagieren zu können.Smithund Rhodewalt (1986) untersuchen in ihrenArbeiten genau diesen zirkulären Prozeßvon Hören und (Re-)Agieren. Sie schlageneine interaktionelle Sichtweise vor,lin der TypA-Persönlichkeiten nicht nur auf bestimmteWeisen reagieren, sondern auch Situationenschaffen, die es ihnen erlauben, ihre charak-teristische Art einzubringen.

Gemeinsam Spielen

Für unsere Untersuchung wollten wireinen Zustand schaffen,die der klinischen

Situation einer musiktherapeutischen Be-handlung so weitgehend wie möglich ent-spricht.Unsere eigenen wesentlichen Anfor-derungen bestanden darin, daß unsere Un-tersuchungen nicht in unzulässiger Weise diePartner der Improvisation beeinflussen odergar physisch in ihrer Spielmöglichkeit ein-schränken sollten.iAußerdem sollte eine mu-sikalische Auswertung der Improvisationmöglich bleiben.Wir haben uns für die Auf-zeichnung der Herzfrequenz entschlossen,weil dies ein Parameter ist, der einerseits ei-nen unmittelbaren Bezug zum zeitlichen Ele-ment der Musik hat, andererseits innerhalbvieler verschiedener klinischer Disziplinenanerkannt ist und eine diagnostische oderanamnestische Bedeutung hat.lAußerdemist die Herzfrequenz - wie zuvor deutlichwurde - schon vielfach als Faktor für Kom-munikationsuntersuchungen herangezogenworden.

Innerhalb der beschriebenen Studie im-provisierte ein Musiktherapeut mit 11 gesun-den Versuchspersonen als Serie von Einzel-falluntersuchungen (Aldridge 1996). Jede Sit-zung war hinsichtlich verschiedener Kommu-nikationsphasen eindeutig strukturiert. Ineiner Ruhephase und einer darauffolgendenverbalen Konversation wurden Basisdaten er-hoben. Auf diese Ruhe- bzw. Gesprächs-phase folgten eine Phase der Instrumen-talimprovisation, in denen der Therapeut Kla-vier spielte,während die Versuchsperson Per-cussions-Instrumente spielte und eine Ge-sangsphase, in denen der Therapeut die Ver-suchsperson nur begleitete oder mit ihr sang.

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b) Physiologische Auswertung

Für die physiologische Auswertung wur-de für beide improvisierenden Personen ausden Aufzeichnungen der r-r-Intervalle dieHerzfrequenz errechnet. Diese Berechnun-gen wurden dann in einer grafischen Dar-stellung auf einer Zeitachse abgebildet (s.Abb. 1). Um die Komplexität der Informati-on übersichtlicher zu gestalten, wurden die-se Kurven mit Hilfe von ‘moving averages’über 5 Herzschläge geglättet, wobei die we-sentlichen Informationen, welche auflVerän-derungen in der Zeit hindeuten, erhaltenblieben.

Die musikalisch-kommunikativen und diephysiologischen Ergebnisse wurden unab-hängig voneinander bewertet. Jeder Aus-

wertungsschritt war dabei hinsichtlich derSignifikanz von Ereignissen im anderen Aus-wertungsschritt unabhängig. Ein Physiologebetrachtete zunächst die physiologischenDaten, um zu entscheiden, welche Vorgängeihn innerhalb des Zeitverlaufes interessierenwürden. Gleichzeitig führte ein Musikthera-peut die musikalischen Auswertungen durchund markierte auf einem Indexblatt die mu-sikalischen Ereignisse, die ihm interessant er-schienen.Durch eine grafische Überlagerungwurde es möglich,beide Auswertungsschrit-te miteinander zu vergleichen und heraus-zufinden, ob sich irgendwelche Überlage-rungen signifikanter Ereignisse von beidenDatenauswertungen ergeben würden. InAbb. 2 werden gemeinsame Interaktions-muster,die häufiger auftauchten, schematischdargestellt.

Jede Versuchssituation wurde sowohl ineiner Audio- als auch in einer Videodoku-mentation festgehalten. Gleichzeitig wurdeeine zweite Videoaufzeichnung gemacht, beider mit Hilfe der Mehrspurtechnik des Re-corders die Pulsfrequenzen beider in derImprovisation beteiligten Personen auf demBand festgehalten wurden.Hierdurch wurdees möglich, die physiologischen und musik-therapeutischen Prozesse in Relation zurrealen Zeitentwicklung sowie zueinander inbezug zu setzen, ohne daß diese sich gegen-seitig beeinflußten. In beiden Videoaufzeich-nungen war eine Uhr eingeblendet, um dasBildmaterial im nachherein mit den physio-logischen Messungen korrelieren zu können.

Auswertung

a) Die musiktherapeutischeAuswertung

Die Betrachtung der musikalischen As-pekte dieser Improvisationen wurde unab-hängig von den physiologischen Auswertun-gen der Herzfrequenzen vorgenommen.Kri-terien für die Beurteilung der musikthera-peutischen Bedeutung wurden entwederaus der kommunikativen Interaktion oderaus musikalischen Ereignissen, wie z. B. Ent-wicklung der musikalischen Beziehung, Initia-tiven für musikalische Veränderungen, ge-meinsame Änderungen bei beiden Spielen-den,Veränderungen des Tempos, der Dyna-mik oder der Stimmung hergeleitet.

Therapeut

Proband

50 bpm

100 bpm

50 bpm

100 bpm

Zeit in Min5 10

Herzfrequenz

Abb.1: Darstellung der Herzfrequenz von Therapeut und Patient über einen Zeitraum von 15 Minuten

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Musiktherapie David Aldridge, Gudrun Aldridge and Lutz Neugebauer 2010 31

Das Zusammenspielzweier Herzen

Betrachtet man den strukturellen Aufbauder Untersuchung, ergibt sich daraus

die offensichtliche Evidenz, daß der physio-logische Prozeß sich in Abhängigkeit zu derBeziehungs- oder Kommunikationsweise än-dert. Die Pulsfrequenzkurven beider Perso-nen verändern sich mit den unterschiedli-chen Aktivitäten, Ruhe, Sprechen, Spielen

Partners immer dann ab, wenn er sich ein-deutig auf das, was gespielt wird, einstelltund die Aufmerksamkeit sich dem anderenzuwendet (s.lAbb.l2c). Gelegentlich tretenMomente auf, in denen beide Personengleichzeitig auflVeränderungen in der Musikmit einem Spitzenwert in ihrer Pulsfrequenzreagieren, der bei beiden durch einen rapi-den Abfall der Frequenz gefolgt wird (s.lAbb.2d). Selbstverständlich treten während allerUntersuchungen auch Zeiten auf, in denendie Herzfrequenzen nicht koordiniert sind.

Im musikalischen Instrumentalspiel sindbeide Pulsfrequenzen synchronisiert (s.lAbb.2a). Diese Synchronisation besteht manch-mal in einer genauen Spiegelung der Puls-verläufe, zu den Zeiten, in denen musikalischsignifikante Veränderungen stattfinden (s.Abb. 2b). Die Spitzenwerte, die in der Herz-frequenz eines Teilnehmers sichtbar werden,treten immer zu den Zeitpunkten auf, wenndiese Person eine Initiative im musikalischenDialog übernimmt. In Fortsetzung diesesPhänomens sinkt die Pulsfrequenz eines

Abb. 2a

Beide Herzschläge sindparallel, deuten aufSynchronizität

Abb. 2b

Beide Herzschläge insynchron gespiegelterGegenbewegung. EineSpitze zeigt sich aufeiner Linie, währendein Tal simultan auf deranderen Linie er-scheint

Abb. 2d

In beiden Linien zeigensich Spitzen innerhalbdes gleichen Zeit-rahmens

Abb. 2c

In einer der beidenLinien erscheint eineSpitze nach einemkurzen Anwachsen derPulsrate, gefolgt voneinem rasanten Abfallder Herzschläge

Abb.2: Schematisch dargestellte Muster der gegenseitigen Herzschlagbeziehungen

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oder Singen (s.Abb. 3). Dieses Ergebnis an-sich ist schon beachtlich. Noch bemerkens-werter ist die Tatsache, daß wir lange Pha-sen koordinierter und synchronisierterHerzfrequenzaktivität beider Versuchsper-sonen in den Perioden musikalischer Akti-vität finden können und zwar unabhängigvon der Veränderung oder Entwicklung mu-sikalischer Stilistik. Es wurde zu keiner Zeitder Versuch unternommen, innerhalb derUntersuchungszeit bewußt beruhigendeMusik zu spielen.Diese synchronisierten Pe-rioden sind Sequenzen der Improvisationen,in denen die musikalische Entwicklung vonden Initiativen beider Spieler abhängt.

In Abb. 4 sehen wir eine solche Sequenz,in der beide Musiker im spanischen Musik-stil improvisieren. Anfangs beginnt der Mu-siker, der die Rolle des Therapeuten über-nimmt, spontan zu singen. Er bringt hiermiteine Initiative in die Musik ein, die mit einemAnstieg seiner Pulsfrequenz korreliert, wo-bei wir die gleiche Entwicklung bei der Ver-suchsperson sehen können. Unmittelbarnach seiner Aktivität fällt seine Pulsfrequenzab und deutet an, daß sich seine Aufmerk-samkeit dem anderen zuwendet, um her-auszuhören, was sein Partner als Responsauf seine Initiative tun wird.Obwohl die Mu-sik sich unmittelbar im Anschluß an diesenMoment verändert und der Charakter sichwandelt, bleiben die Pulsfrequenzen beiderPersonen synchron.

Eine Wiederholung dieses Musters fin-den wir in Abb. 5. Beide Herzfrequenzkur-ven verlaufen zunächst parallel zueinander.Graduell steigt die Herzfrequenz beiderPersonen, als sie eine Veränderung in derMusik innerlich vorwegnehmen. Hier spieltnun die Versuchsperson die Zimbel und

0 Minuten 1 2 3 9 10 11

1 2 3 4 5 6 10 11

1 2 3 4 8 9 10

Proband

Therapeut

SingenSpielenGesprächRuhe

SingenSpielenGesprächRuhe

0 Minuten

SingenSpielenGesprächRuhe

0 Minuten

Abb. 3: Drei Beispiele der Herzschläge des Therapeuten und der Versuchsperson (Darstellung gemittelt über 5 Schläge); gezeigt sind vier Versuchsphasen: Ruhe, zusammen sprechen, gemeinsam improvisieren, gemeinsam singen

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Musiktherapie David Aldridge, Gudrun Aldridge and Lutz Neugebauer 2010 33

Abb. 4:Wechselseitige Herzschlagmuster während gemeinsamer ImprovisationAbb. 5:Auf eine musikalische Initiative folgt ein

Wechsel des Herzschlages, bezogen auf das Hören

Abb. 6: Dialogisches Singen.Veränderungen im Herzschlag zeigen sich gespiegelt als

Abb. 7: Gemeinsames Singen zeigt vokale Initiativen und zusammentreffende Herzschlagveränderungen

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Regulationen und somit auf die emotionaleLage gibt (Aldridge 1996).

Über diese intraindividuellen Vorgängehinaus können wir eine ‘externe’ Koordinati-on der Herzfrequenz beobachten, wennzwei Menschen miteinander musizieren.Während einer musikalischen Beziehungentsteht also auch eine gemeinsame physio-logische Beziehung. Sie ist vielleicht dieGrundlage für Empathie - wenn zwei Her-zen sich aufeinander einschwingen. Matura-na undlVerden-Zöller (Ruiz 1996) beziehensich auf dieses Phänomen als die ‘Biologieder Liebe’ - bedingungslose Akzeptanz - wo-beilVerhaltensweisen auftreten können, dieindividuell und gleichzeitig coexistent mit an-deren sind. In der Tat wird aus systemischerSicht deutlich, daß die Musiktherapie beidePartner eines musikalischen Dialoges als ak-tive Mitgestalter akzeptiert.Auch der Beob-achter ist ein aktiver Teilnehmer in der Welt,die er gestaltet.Was als Musik hörbar wird,ist ein Beziehungsphänomen, welches dieDynamik der Interaktion beinhaltet. Mankann also die Kommunikation nie an einemder beiden Partner festmachen oder beob-achten,weil sie sich in beider Interaktion ent-faltet.

Wie aus der Literatur ersichtlich, tratenAnstiege der Pulsfrequenz auf, wenn musi-kalische Initiativen vorbereitet wurden. Die-se Anstiege deuteten auf kognitive Vorgängehin. Ebenso trat während des aktivenZuhörens, verbunden mit einer Zunahmeder umweltorientierten Aufmerksamkeit,ein Absinken der Pulsfrequenz auf. Das Kar-diovasculäre System reflektierte die Intenti-on zur Informationsaufnahme. Diese beidenPhänomene werden dadurch miteinanderverbunden, daß Anstiege und Abfallen

gefolgt werden.Am Ende der Abbildung se-hen wir einen graduellen gemeinsamen An-stieg der Herzfrequenz. Die musikalischeStimmung verändert sich hier, die Herzfre-quenz verbleibt in der Parallelbewegung. Inder Tat scheint es, als wenn zwei Herzen wieeines schlagen würden.

Diskussionund

Schlußfolgerungen

Musik ist eine spezielle Form des Dialo-ges, die vollständig andere Möglichkei-

ten gegenüber verbalen Therapien bietet.Der Dialog in der Musik leitet sich nicht wieim Gespräch aus zwei Sinngehalten ab, dieaufeinandertreffen und zusammenwirken.Der musikalische Dialog entsteht aus demursprünglichen Element des Dialoges;einemSinn, der sich zwischen den Menschen bil-det, einem Sinn, der verbindet. Die Improvi-sation von Musik bietet eine Struktur fürgleichzeitige und gemeinsam gestalteteKommunikation. Mit Bezug auf die Therapieerkennen wir, daß musikalische Aktivitäteninnerhalb des Beziehungsrahmens einer ge-meinsam aktiv gestalteten ImprovisationAuswirkungen auf den Parameter der Herz-frequenz haben. Die Physiologie wird durchdie aktive musikalische Gestaltung beein-flußt. Wir können aus diesen Beobachtun-gen und früheren Arbeiten von Physiologenherleiten, daß nicht nur die Herzfrequenzverändert wird, sondern daß es einen kor-respondierenden Einfluß auf hirnorganische

plötzlich - gleichzeitig - sinkt die Herzfre-quenz des Therapeuten ab. Er hört hier auf-merksam zu, was als nächstes passierenwird. Eine neue Sequenz von Musik ent-wickelt sich.

Auch während des Singens können wirdie Koordination beider Herzfrequenzensehen. Hier sind die Kurven oft gegenläufigzueinander, während die erste Person singt,hört die zweite ihr zu und ergreift dann dieInitiative.

In Abb. 6 sehen wir eine Periode dialogi-schen Singens. Beide Partner singen nach-einander.lWährend der eine singt, steigt sei-ne Pulsfrequenz. Er wird sich seiner selbstbewußt und konzentriert sich auf das, waser singt. Gleichzeitig hört der andere zu.Sein Fokus ist auf den Sänger gerichtet.Diesdeutet klar auf eine Umweltorientierunghin.Wenn er allerdings im Gesang auf denersten antwortet, steigt seine eigene Puls-frequenz an, während gleichzeitig die desPartners absinkt.

Auch Abb. 7 zeigt genau dieses Muster.Hier sehen wir allerdings zwei Personen,dieunisono miteinander singen. Der Dialog istalso nicht in einer alternierenden, sondernin einer gemeinsamen Vokalisierung (Ald-ridge 1996; Stern et al. 1975).Wir sehen inAbb. 7 eine Phase, in der musikalische Ver-änderungen während des Singens auftreten,indem eine Person musikalische Initiativenübernimmt.Dabei steigt ihre Herzfrequenz.Obwohl der Therapeut ebenfalls singt,einenliegenden unterstützenden Ton, sinkt dessenHerzfrequenz ab. Kurz danach ereignet sicheine Phase paralleler musikalischer Entwick-lung, gefolgt von zwei musikalischen Initiati-ven, die wiederum von einer Parallelphase

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in der Kunst. In den vorangegangenen Bei-spielen haben wir gesehen, daß die mensch-liche Physiologie zeitlich strukturiert ist. Imersten Kapitel dieses Buches führt Aldridgeaus, daß die biologische Zeit strukturiert istwie improvisierte Musik. Das Leben ist Jazz.Die Grundlage für die Improvisation ist dieEntscheidung im jeweiligen Moment; Zeitals Kairos.

Unsere Ergebnisse haben Bedeutung fürsolche Kollegen, die im Feld der psychoso-matischen Medizin arbeiten. Sie können zei-gen,daß das gemeinsame Improvisieren vonMusik von deutlichen physiologischen Ver-änderungen begleitet ist. Jenseits der Gren-zen der Musik gibt es Hinweise für den Ein-fluß, den wir aufeinander ausüben, wenn wirauf nonverbale Weise miteinander kommu-nizieren. Kommunikation ist immer ein ge-meinsamer Prozeß und bindet beide Part-ner in einen Dialog ein.Diese Erkenntnis be-freit uns von linear kausalen Denkstruktu-

während der Aktivität gemeinsam zwischenzwei physiologischen Einheiten und der Mu-sik stattfinden. Dies bedeutet, daß die Phy-siologie und die musikalischen Vorgänge iso-morphe Prozesse sind. Ein solches Verständ-nis wird Auswirkungen auf die Musikthera-pie haben müssen und auch darauf, wie wirKrankheit und Gesundheit verstehen.

Innerhalb des westlichen Medizinsystemswerden für die Beschreibung von Krank-heitsvorgängen Zeitkonzepte von akut undchronisch benutzt. Gerade das Auftretenchronischer Krankheiten verursacht zahlrei-che Probleme für das gesamte westlicheGesundheitssystem und löst Diskussionendarüber aus, wie wir am Ende des 20. Jahr-hunderts mit solchen Krankheiten umgehensollen.Vielleicht sind es aber gerade die Kon-zepte von akuten und chronischen Dimen-sionen in ihrer linearen Abbildung der Zeit,die sich begrenzend auf Lösungen für dieseKrankheitsvorgänge auswirken; vielleichtwird es notwendig werden, den Zeitbegriffdes Kairos für Krankheitsgeschehen einzu-binden. ‘Kairologische Krankheiten’ würdenden Versuch der Persönlichkeit, ihre Identitätaufrechtzuerhalten und sich mit den vonaußen auferlegten Veränderungen auseinan-derzusetzen. ebenso mit einbeziehen. Soverfahren Familiensystemtherapeuten schonheute, wenn sie darüber sprechen, daß einProblem innerhalb der Ökologie der Famili-enmitglieder, der kulturellen Konstruktionund der individuellen Biographie auftritt(Aldridge 1984, 1988a, 1988b;Aldridge undRossiter 1985; Bloch 1987). Die Konzeptevon Zeit (im Sinne von Entwicklung) undRaum (im Sinne von Beziehung) sind funda-mental für unsere Kultur in allen ihren Aus-prägungen, sei es in der Wissenschaft oder

ren. Es gibt eine Gemeinsamkeit in der ge-genseitigen Beeinflussung.

Eine weitere und vielleicht abschließendeSchlußfolgerung aus dieser Arbeit, die ge-zeigt hat, daß Musiktherapie die physiologi-schen Parameter beider in die Kommunika-tion eingebundener Partner beeinflußt, ist,daß Musiktherapeuten wachsam für den Ein-fluß sein müssen, den ihre Arbeit auf sie sel-ber hat.Vielleicht ist dies ein Grund für das‘Burn-out-Syndrom’ in Therapieberufen, daßdiese hochgradig auf der Fähigkeit der Em-pathie beruhen.lWie wir zeigen konnten, hatEmpathie auch eine physiologische Grundla-ge. Wie jeder Kliniker, der lange Zeit mitchronisch Kranken gearbeitet hat, aus sei-nem Arbeitsfeld weiß, wird man nach einerZeit beginnen, die Symptome der betreutenPersonen nachzuempfinden und an sich sel-ber zu beobachten. Diese Erfahrung beruhtauf der einfachen Komponente physiologi-scher Mitempfindung und der menschlichenPsyche - aber wie wir zeigen konnten, trittauch hier ein gemeinsam empathischer Dia-log auf. Vielleicht sollten wir als Kliniker ge-rade diesen Situationen, in denen wir Ein-flüssen ausgeliefert sind, die auf uns selbernegativ wirken könnten, mehr Aufmerksam-keit schenken.

Abschließend könnte man aus dieser Un-tersuchung auch herleiten, daß das Phäno-men der Übertragung - im Sinne einer psy-chotherapeutischen Perspektive - auch imVerständnis der von uns durchgeführten phy-siologischen Untersuchung erläutert werdenkann.Vielleicht ist also wirklich die Zeit ge-kommen, in der wir lernen müssen, die Tren-nung von Körper,Seele und Geist aufzugebenund diese als Einheit zu verstehen.

Unter dem Titel „Musik als Dialog“ erschien ein ähnlicher Artikel - mit anderer Schwerpunktsetzung - in der Musiktherapeutischen Umschau, Bd 19/1 (1998).

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Literatur

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Musiktherapie David Aldridge, Gudrun Aldridge and Lutz Neugebauer 2010 37

1

die insbesondere auf die emotionalen Belastungs-faktoren einwirken kann, an Bedeutung gewonnen.

Aus der Literatur wird ersichtlich, daß Musik-therapie einen positiven Effekt auf ähnliche Para-meter auszuüben vermag, die auch durch psycho-soziale Interventionen eine Verbesserung aufwei-sen.

Mit ihrer individuell angelegten Methode unter-stützt sie Ergebnisse verschiedener Langzeitstudien,die demonstrieren, daß auch weniger emotional lei-dende Patientinnen mit sehr unterschiedlichen Ein-stellungsprofilen zu ihrer Krebserkrankung beson-ders von individuell gemessenen psychosozialen In-terventionen profitieren (Nelson et al. 1994).

Von einer holistischen Perspektive aus gesehenkann Musiktherapie einen Beitrag leisten, den Be-dürfnissen der Patientinnen während der verschie-denen Krankheitsphasen zu begegnen. Im Sinne derForderungen mehrerer Langzeitstudien könnte sieals rezeptive und aktive Intervention:

1. physische Entlastung bringen (Reduzierung vonMüdigkeit und Kraftlosigkeit, Ablenkung vonSchmerzen),

2. psychologisch auf emotionale Stressfaktoren ein-gehen und impulshaft auf innerliche Beweglichkeiteinwirken, im Sinne einer Transformation der Ge-fühlspole vom negativen zum positiven,

3. durch den Dialog in der Musik die kommunikati-ven Ausdrucksmöglichkeiten erweitern und sozialeSchwierigkeiten, bzw. Hemmnisse abmildern,

4. soziale Schwierigkeiten durch die Anregung in-terpersonellen Kontakts verringern und Isolationreduzieren.

nungslosigkeit,Gedanken über den Tod und der Un-gewißheit der Zukunft assoziiert sind. Patientinnen,die an dieser Krankheit leiden, müssen eine Reihevon physischen, sozialen und emotionalen Bela-stungsfaktoren ertragen,die den Gebrauch von Co-ping- Mechanismen erforderlich machen, um ihr in-neres Gleichgewicht aufrechterhalten zu können.Die meist zitierten Indikatoren sind: Depression,Angst,Ärger, Fatigue,Verzweiflung und Unsicherheit.

Musiktherapie und Krebs-behandlung

Bedingt durch den besonders hohen, streßvollenCharakter der Krebserfahrung verlangt die

Krebsbehandlung eine komplexe Behandlungsme-thode, die über das rein Medizinische hinaus psy-chologische, psychosoziale und soziale Aspekte miteinbezieht (Aldridge 1987; Aldridge 1993a; Aldrid-ge 1993b; Aldridge 1993c; Aldridge 1995) . In die-sem Zusammenhang hat auch die Musiktherapie,

Das vorliegende Thema befaßt sich mit der Fra-ge,welchen Beitrag die Musiktherapie und ins-

besondere die melodische Improvisation für Brust-krebspatientinnen während ihrer frühen rehabilita-tiven Phase, nach einer Mastektomie, leisten kann.Insbesondere wird der musikalische Aspekt der Me-lodie diskutiert, in der Rolle, die er spielt, um Ex-pressivität zu ermöglichen und zu erleichtern.

Aus der Literatur ist bekannt, daß es insbeson-dere für Brustkrebspatientinnen wichtig ist, sichausdrücken zu können.

Es ist bekannt,daß der Aspekt der Melodie in un-serer modernen Gesellschaft und Kultur einewichtige Form der Ausdrucksmöglichkeit dar-stellt.

Wenn Expressivität ein wichtiger Faktor fürBrustkrebspatientinnen und Melodie eine wich-tige Form musikalischen Ausdrucks ist, macht eseinen Sinn, in der Musiktherapie das melodischeSpiel von Brustkrebspatientinnen zu entwickeln.

Die Krankheit im Kontext

Brustkrebs ist unter den rund 200 verschiedenenKrebsarten die verbreiteste unter Frauen mit

steigender Tendenz. Gleichwohl werden bei ihr diehöchsten Überlebensraten festgestellt.

Die Diagnose Krebs ist ein traumatisches Ereig-nis mit signifikantem Impakt auf Patienten und ihreFamilien. Sie kann fundamentale Ängste hervorru-fen, die mit Empfindlichkeit, Verletzlichkeit, Hoff-

DIE ENTWICKLUNG EINER MELODIE IM VERLAUF EINER IMPROVISATIONSpontane Ausdrucksmöglichkeiten in der Musiktherapie

mit einer Brustkrebspatientin

Gudrun Aldridge

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38 Musiktherapie David Aldridge, Gudrun Aldridge and Lutz Neugebauer 2010

2

Zur Bedeutung von Melodie

Es läßt sich behaupten, daß die Melodie als wich-tiger Teilaspekt der Musik für viele Menschen ei-

ne Bedeutung hat. Sie ist mit inneren Erlebnissenund dem Erinnerungsvermögen verbunden undkann als intimer Begleiter der verschiedenen Le-bensstadien und -situationen fungieren. Mit Melodi-en vermag man sich zu identifizieren. Es ist weiteranzunehmen, daß die Melodie, in welcher Erschei-nungsform auch immer, der geläufigste und verbrei-teste Aspekt der Musik während aller Zeiten undKulturen war und heute noch ist. Sie ist das Elementder Musik, an dem die allgemeine Qualität der Mu-sik gemessen wird und sich die künstlerische Qua-lität des Komponisten offenbart. Die Frage, warumuns die eine Melodie mehr anspricht als die ande-re, sie in uns weiterlebt und unter Umständen auchzu einem quälenden Ohrwurm werden kann, ist ge-nerell kaum möglich zu beantworten. Ähnliche Un-klarheiten und Zweifel bezüglich grundsätzlicherAussagen zur Bedeutung und Funktion der Melodielassen sich nachweisen, wenn man einen Blick aufdie historische Entwicklung der Melodie wirft. Die-se offenbart, daß wir es mit einer paradoxen Diszi-plin zu tun haben, denn das einzig Unveränderlichein ihrer Entwicklung, die Jahrtausende zurückreicht,scheint die Klage darüber zu sein, daß es sie nichtoder noch nicht gebe. (Abraham & Dahlhaus 1982,S.10) .

Johann Mattheson beschreibt diese Tatsache mitfolgenden Worten:

„Diese Kunst, eine gute Melodie zu machen, be-greifft das wesentlichste in der Music. Es ist dan-nenhero höchstens zu verwundern, daß ein solcherHaupt- Punct, an welchem doch das größeste gele-gen ist, bis diese Stunde fast von jedem Lehrer hin-tangesetzet wird. Ja man hat so gar wenig darauf ge-dacht, daß auch die vornehmsten Meister, und un-ter denselben die weitläufigsten und neuesten, ge-stehen müssen: es sey fast unmöglich, gewisseRegeln davon zu geben, unter dem Vorwande, weildas meiste auf den guten Geschmack ankäme; dadoch auch von diesem selbst die gründlichsten Re-geln gegeben werden können und müssen.“ (Mat-theson 1739, S.133).

Das Konzept von Melodie muß also in seinemhistorischen Kontext betrachtet werden.Melodie istnicht nur von den musikalischen Entwicklungsperi-oden beeinflußt, sondern sie setzt sich aus diesenessentiell zusammen.

Melodiebegriff der Antike

Unser Verständnis des heutigen Melodiebegriffs,das von unserem allgemeinen Musikverständ-

nis der Musik des 18./19. Jh. geprägt ist, trägt auchdie Merkmale des älteren und weitgespannten Me-lodiebegriffs der Antike, der zwei Perspektiven vonMelodie, eine weitreichende und enge, zum Aus-druck bringt. Die weitreichende Perspektive vonMelodie beinhaltet drei Momente:

Harmonia (das Zusammenstimmen der Töne),Rhy-thmos (die Zeitgliederung) und Logos (die Sprache,der Text).

Die engere Perspektive definiert Melodie als eineSequenz von Tönen, die sich durch ihre Höhe un-terscheiden, bekannt als Diastematik, der horizon-talen Anordnung der Töne.

Merkmale des kontemporärenMelodiebegriffs nach Riemann

Das Zitat von Riemann (Dahlhaus & Eggebrecht1979) hebt den Aspekt der Formhaftigkeit

und Gestalt hervor und läßt sich durch die Attribu-te selbständig, geschlossen, gegliedert, singbar, ein-stimmig und einprägsam ergänzen, die im alltägli-chen Sprachgebrauch in Verbindung mit den Adjek-tiva melodisch, melodiös und unmelodisch eineWertung erlangen können:

Desweiteren erwartet man von einer Melodie Ori-ginalität und Expressivität, d.h. neben dem Momentdes Gleichmaßes und der Konvention einen Anteil

von Neuheit und Außergewöhnlichkeit. Diese Vor-stellungen und Erwartungen über das, was Melodiebeinhalten soll, sind wiederum Auswirkungen einerÄsthetik, die den Faktor Melodie im 18./19. Jahr-hundert besonders hervorhob. Der Gedanke derOriginalität läßt sich auf die Inspirationsästhetik des19. Jh. zurückführen, die schroff zwischen dem me-lodischen Einfall, der Inspiration, die nicht lehrbar ist,und der kunstverständigen, satztechnisch - formalenAusarbeitung unterschied.

Expressivität

Das Merkmal der Expressivität läßt sich aufästhetische Vorstellungen des 19. Jahrhunderts

zurückführen, die die musikalische Expressivität amdeutlichsten in der Melodie ausgedrückt sahen. Be-einflußt wurde dieser Gedanke durch Hegels Mu-sikästhetik, die hervorhob, daß der Mensch in derMelodie sein Inneres, seine Seele auszudrücken ver-mag und dadurch auch gleichzeitig in der Lage ist,sich von einem möglichen Freudens - oder Lei-densdruck zu befreien. Für Hegel ist das Innere desMenschen nicht nur in sich selbst versunken, son-dern steht gleichsam neben sich. Indem ein Gefühlzugleich gegenwärtig und ferngerückt erlebt wird,kann es befreiend wirken. Diesen Doppelcharakterdes Gefühls (zugleich emphatisch und distanziert)sieht Hegel in der bestimmbaren Beziehung derMelodie zur Taktrhythmik und tonalen Harmonikdes 17.bis 19. Jahrhunderts begründet.Auch er hebtin Verbindung mit Expressivität die für die Melodiewesentlichen Elemente Rhythmik und Harmonikhervor. In den Regeln und Strukturen dieser beidenElemente sieht er weniger einen Zwang, als einenHalt, auf den sich die Melodie stützen kann, umnicht ins Gestaltlose zu verfließen. Dieser von He-gel formulierte Doppelcharakter des melodischenGefühlsausdrucks, die Gleichzeitigkeit von Versun-kensein und Darüberstehen hängt mit einemGrundzug des Musikempfindens im 19. Jahrhundertzusammen.

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Fallstudie

Anhand des Beispiels einer melodischen Impro-visation soll im folgenden demonstriert wer-

den, daß der Aspekt Melodie Möglichkeiten für diePatientin bereitzuhalten vermag, ihre eigene indivi-duelle Ausdrucksform zu finden.Drei Fragen sind fürdie vorliegende Fallstudie relevant:

Wie entwickelt die Patientin ihr melodischesSpiel im Kontext der melodischen Improvisation?

Welches sind die relativen Nuancen ihrer emo-tionalen Expressivität?

Was bedeutet es für die Patientin, sich durch dasWesen der Melodie ausdrücken zu können?

Für die musikalische Analyse wird es notwendigsein, das Zusammenwirken der beteiligten musika-lischen Einzelelemente wie rhythmisches, melodi-sches Motiv oder Zelle, harmonische Struktur oderdynamische Vielfalt zu erkennen und das zu be-schreiben, was durch den kreativen Prozeß der Pa-tientin als neu Geschaffenes hervorgebracht wor-den ist.

Therapeutisch bedeutet dieses, immer wiederneu zu sehen, auf welche Art und Weise sich die Pa-tientin mit der melodischen Improvisation individu-ell auszudrücken vermag und auf welche Weise sieihren Ausdruck in eine für sie gemäße Form brin-gen kann.

Das folgende Beispiel stammt aus der sechstenSitzung mit einer Mammakarzinompatientin,die sichnach dem chirurgischen Eingriff einer Mastektomiewährend ihrer kurzen nachoperativen Rehabilitati-onsphase im Krankenhaus aufhielt. Die ersten vierNotationsbeispiele folgen aufeinander, während dieBeispiele fünf und sechs aus dem späteren Verlaufder Improvisation stammen.

Patientin: Metallophon, harmonische Skala c-moll,Tonumfang c1- as2

Therapeutin: Klavier

Jedes ‘Stadium’ hat seine eigenen charakteristi-schen Wege der Entwicklung einer besonderen Auf-führungspraxis, die aus dem jeweiligen, speziellenMaterial (Rhythmus, Melodie oder Harmonie) her-vorgeht:

Stadium I: Rhythmus, Entwicklung zur Phrase.

Stadium II: Melodie, Entwicklung zur Führung,bzw. führenden Stimme.

Stadium III: Harmonie, Entwicklung zur Architek-tonik.

Festzuhalten ist, daß diese Ordnung in der Sacheselbst begründet ist. Benzon erläutert dieses, indemer feststellt:

„Musik entfaltet sich in der Zeit.Wie kann man Kon-trolle über die Melodie erlangen, ohne zuvor dieKontrolle über die zeitliche Entwicklung, den Rhyth-mus erfahren zu haben? Und wie kann man über dieKontrolle gleichzeitig erklingender Stimmen - d.h.der Harmonie verfügen, ohne zuvor die Kontrolleüber Tonhöhenmuster individueller Melodielinien,nämlich die Melodie erlangt zu haben?“ (Benzon1993, S.279)

Kulturelle Voraussetzungen

Die heute übliche Trennung der Musik in die Pa-rameter: Rhythmus, Melodie und Harmonie,

die wir generell heranziehen, wenn wir Musik ana-lysieren,wird auch von Benzon (Benzon 1993) auf-gegriffen. Allerdings begründet er dieses von einerkulturgeschichtlichen Perspektive aus, in dem er kul-turelle Gegebenheiten artikuliert. Benzon behaup-tet,und er stützt sich dabei auf vorangegangene Stu-dien, daß unsere Grunderfahrungen von Musik, wieauch alle unsere Elementarerfahrungen, holistischsind.Auf die Musik bezogen bedeutet dieses,daß wirsie zunächst undifferenziert als Ganzheit wahrneh-men und erst allmählich in der Lage sind, unserenmusikalischen Gesamteindruck in Rhythmus, Melo-die und Harmonie zu differenzieren. Er argumen-tiert weiter, daß sich nur durch den langen Prozeßder kulturellen Entwicklung die Elemente Rhyth-mus, Melodie und Harmonie klar unterscheidenkonnten und schlägt, indem er sich auf die Diskus-sionen Wioras beruft, folgende Entwicklungsstadienvor, die hier nur verkürzt wiedergegeben werden.

KulturgeschichtlicheEntwicklungsstadien der Musik

Stadium I Kultur : rhythmisch orientiertes Stadium(die ersten Kulturen und Gemeinschaften vonden Sprachanfängen beginnend bis zur Entwick-lung der Schrift; Musik der einheimischen Kultu-ren Nord -, Südamerikas und Afrikas).

Stadium II Kultur : melodisch orientiertes Stadium(die hohen Zivilisationen der Antike mit Schrift-systemen, Städtebau und einer permanentenAgrikultur ;Musik des Nahen und Fernen Ostensund des mittelalterlichen Europas).

Stadium III Kultur : harmonisch orientiertes Stadium(Zeit der Renaissance und der Industriellen Re-volution; Musik der Klassik und Romantik)

Stadium IV Kultur:Klangfarben orientiertes Stadium(die sich noch im gegenwärtigen Arbeits - undEntwicklungsprozeß bewegenden Künste undWissenschaften).

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4

Beispiel1

Das Beispiel beginnt mit einem Auftakt. Ein rhythmisches Motiv ist erkennbar,das, man könnte es mit einem kleinen Keim vergleichen, in sich die Möglichkeit zurEntwicklung birgt. In der Verslehre der hellenistischen Zeit (Aristoxenos ‘Rhythmik-Fragmente’) ist es ein Jambus.

Diese rhythmische Zelle ist in zweifacher Hinsicht von Bedeutung:

1. Sie gibt der Patientin Halt und Stabilität innerhalb ihrer Spielaktivität, um die me-lodische Seite der Musik zu entdecken.

2. Gleichzeitig ist sie ein Bewegungsimpuls, der ihr ermöglicht, den harmonischenTonraum von c-moll zu erfahren.

Meiner Erfahrung nach ist für die Entdeckung und Entwicklung des melodischenSinns in der Musik das Vorhandensein eines Gefühls für den Rhythmus ausschlag-gebend. Der von der Patientin formulierte ‘Klangfuß’ ist die von ihr eingeschlagene

‘Gangart’, die sie durch die Improvisation führt und die für alles Folgende den Maß-stab abgibt.

Zusammenfassend kann das erste Beispiel als klangliche Orientierung im har-monischen Bereich von c-moll bezeichnet werden. Die Patientin beginnt auf demGrundton, findet ganz natürlich ihren Weg über die höher gelegene Quinte, Ok-tave und Quarte. Nach den ersten vier Takten führe ich ein melodisches Elementein.

Beispiel 2

Hier geht es nicht mehr länger um eine Orientierung im tonalen Raum, son-dern um bewußtere Wahrnehmung und bewußteres Einhören in die Tonbezie-hungen, was hörbar wird durch die differenzierte Anschlagsart der Patientin. IhreWahrnehmung des harmonischen Tonraums wird durch die Hervorhebung derzentralen Töne Grundton und Quinte deutlich. Es sind für sie harmonische Ori-entierungspunkte, von denen sie ausgehen und wieder zurückkehren kann. Ge-genüber der melodisch hervortretenden Stimme des Klaviers sucht sie sich alsKontrast eine harmonische Mittelstimme. Im letzten Takt des Beispiels entwickeltsie eine auftaktige Figur, die zum nächstfolgenden Beispiel führt.

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Beispiel 4

In diesem Beispiel ist die Melodie stärker ausgeformt: nach dem auftaktigen Ok-tavsprung aszendiert und deszendiert sie in Zwei-Takteinheiten, wobei sie konse-quent den Grundton hörbar macht.

Beispiele 5 und 6

In Beispiel 5 betont sie jeweils den Taktbeginn, was ihrer deszendierenden Ska-lenbewegung entgegenkommt. In Beispiel 6 variiert sie die Skalenbewegung in ho-rizontaler Linienführung durch eine Art Umspielung der zentralen harmonischenTöne. Der Rhythmus besteht aus völlig gleichen Notenwerten (Achtelnoten), d.h.seine Bedeutung tritt hinter die der Tonhöhengestaltung zurück. Der Sinn ihresSpiels liegt hier in der Gestaltung der horizontal bewegten Diastematik.

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Beispiel 3

In diesem Beispiel beginnt die Patientin ihr Spiel melodisch zu formen. Die Ton-höhenstruktur (Diastematik) steht im Vordergrund, sie ist nicht nur geformt, son-dern zeigt gleichzeitig rhythmische Vielfalt. Beide Elemente, das melodische undrhythmische korrespondieren miteinander und gehen eine Symbiose ein. Jeder Tonsteht in Beziehung zu den nächst folgenden, wie es sich anhand der Phrasierungs-bögen darstellen läßt. In diesem Beispiel sehen wir die Entwicklung formaler Prinzi-pien der Musik:

die Entfaltung eines Taktmotivs zu 2-Takt-Phrasen.

die Entfaltung der melodischen Struktur, der Diastematik.

die Entwicklung von tonaler Einheit durch Rückkehr zu harmonisch zentralenTönen.

die experimentelle Erfahrung im unmittelbaren, gegenwärtigen Spiel, Musikin Form zu bringen.

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Die im Spiel der Patientin hörbare emotionale Qualität läßt sich nicht von dem,von ihr entwickelten musikalischen Material eliminieren, da es aktiv und lebendig ist.

Es wird hier deutlich, daß das Erlebnis einer sich auf diese Weise entfaltendenMelodie ein Erlebnis einer sinnvollen Ganzheit ist.Die deskriptive Psychologie ziehtfür diesen Tatbestand den Begriff der Gestalt heran (Blume 1989), ein Gebilde, dasmehr Eigenschaften besitzt als die Summe ihrer einzelnen Elemente ausmachenwürde. Die Gestaltqualitäten lassen sich am vorliegenden Beispiel anhand der An-schaulichkeit seiner Form, der Synthese seiner Einzelelemente und der Möglichkeitseiner Transponierbarkeit nachweisen. Der im Spiel der Patientin hörbar werden-de harmonische Bezug, insbesondere der zum Grundton, läßt vermuten, daß sie ei-nen Weg des Ausdrucks gefunden hat, der sie zum einen zentriert und ihr zum an-deren eine Neuorientierung gibt.Therapeutisch bedeutet dies für mich, daß die Pa-

tientin für sich eine Möglichkeit fand, ihrer inneren Ex-pressivität Form zu geben. Für Brustkrebspatientinnen,die sich nach der Operation im Prozeß neuer Orientie-rung und Identifikationsfindung befinden, ist dieses be-sonders wertvoll.

Schlußfolgerungen

Wenn wir auf Benzon`s Entwicklungsstadien der Kul-tur schauen, auf die vorher verwiesen wurde, kön-

nen wir bei dieser Improvisation feststellen, wie die har-monische Struktur der Musik die Architektur der thera-peutischen Beziehung bereitstellt. Innerhalb dieser Archi-tektur entwickelte die Patientin eine Vorwärtsbewegung,die auf eine einfache rhythmische Zelle gegründet ist:dem Jambischen Versfuß. Dieses von ihr erlebte und alsSpaziergang beschriebene Fortbewegen führt sie durchdie Improvisation und bestimmt den Ausdruck und Ton-fall der sich entfaltenden melodischen Entwicklung. Aus-gehend von der Stabilität dieses rhythmischen Impulses,den sich die Patientin selber gibt, entwickeln sich rhyth-mische Formen. Das melodische Motiv, das aus derrhythmischen Figur hervorgeht, weitet sich zu einer me-lodischen Linie aus. Diese leitet nicht nur in eine größeremusikalische Form über, sondern führt auch zur einer in-trapersonellen Beziehung und entwickelt somit eine neueexpressive Identität. Der persönliche Ausdruck erscheint

innerhalb der kulturell akzeptierten Form. Musiktherapie ermöglicht also eine Ar-chitektur, um eine neue persönliche Identität innerhalb eines sozialen Kontextes zufinden, der als solcher Gültigkeit und Bedeutung innerhalb des angebotenen kultu-rellen Kontextes hat.

Betrachtet man dieBewegung im Detail, soentdeckt man, ausgehendvon der ursprünglichenrhythmischen Zelle, typi-sche Motivbildungen:

Im 8.-9. Takt von Bei-spiel 3 sequenziert sie die-ses Motiv in Aufwärtsrich-tung. In den Takten 8-10von Beispiel 4 gibt sie ihmdurch seine Wiederho-lung mehr Bedeutung. Er-kennbar wird die Kor-respondenz ihrer Melo-dieteile, die häufig 4 Takteumfassen.Das von mir an-gebotene harmonische Ge-rüst übernimmt die tekto-nische Funktion, über dersich die melodische Inspi-ration der Patientin freivariierend entfalten kann.

Diese Beispiele ver-deutlichen,daß die Patien-tin in der Lage war, sich alsPerson in einer melodi-schen Form auszudrücken. Ihre Bemerkung nach dieser melodischen Improvisati-on war, daß sie sich in einem wunderbaren Spaziergang durch die sonnigen Straßenvon Paris erlebt hätte.

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44 Musiktherapie David Aldridge, Gudrun Aldridge and Lutz Neugebauer 2010

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Tabelle 1:Unterschiedliche Diagnosestellung zur

Alzheimer-Krankheit

Unterschiedliche Diagnosestellung

Multi-Infarkt-Demenz und andere Formender zerebralvaskulären Erkrankung

Parkinson’sche Krankheit

Progressive supranukleare Lähmung

Chorea Huntington

Infektion des Zentralnervensystems

Subdurale Haematoma

Normaldruckhydrozephalus

Multiple sclerose

Schlaganfall

Gehirntumor

Zerebrale Trauma

Metabolische Störung

Ernährungsmangel

Psychiatrische Störung

Substanzmißbrauch oder Übermedikation

Klinische Beschreibungen von Demenz

ner an progressivem Gedächtnisschwund leiden-den 55jährigen Frau zu erkennen und die Krankheitals solche zu identifizieren, die heute seinen Namenträgt.

Während kognitive Schäden durch Verhalten of-fensichtlich werden und neurologische Degenerati-on von der Neurohistopathie erkannt wird,neigt dieDiagnose der Alzheimer-Krankheit jedoch zu Fehl-einschätzungen, und Autoren sind verschiedenerMeinung, was die Schwierigkeit einer präzisen Dia-gnose angeht (Odenheimer 1989; Steg 1990). ImFrühstadium der Erkrankung können die Symptomenur schwerlich von denen des normalen Alterns,einVorgang der ohnehin ungenügend verstanden wird,unterschieden werden. Zur Zeit gibt es weder nor-mativ etablierte Meßwerte in bezug auf kognitiveSchäden oder Gedächtnisschwund noch Klarheithinsichtlich der neurochemischen und neurophy-siologischen Veränderungen, von denen das norma-le Altern begleitet werden. Deshalb ist es außeror-dentlich schwierig, Kriterien für die Determinierungvon abweichenden Veränderungen in der normalenBevölkerung zu etablieren. Der Forscher/Klinikermuß sich zum Teil auf ‘within-the subject’ (individu-elle) Studien-Designs verlassen, um fortschreiten-den Verfall überhaupt aufzeichnen zu können.

Eine zweite Fehlerquelle in der Diagnostik derAlzheimer-Krankheit ist, daß sie hinter anderen Be-schwerden verborgen bleiben kann (s. Tabelle 1).Hauptursache dieser Beschwerden ist Depression,die auch kognitive und Verhaltensstörungen verur-sachen kann. Zusätzlich schätzt man, daß 20% bis30% der an der Alzheimer-Krankheit leidenden Pa-tienten auch begleitende Depression aufweisen(Kalayam & Shamoian 1990), wodurch die diagno-stische Problematik nur noch erschwert wird.

Demenz ist eine wichtige Ursache von chroni-schen Behinderungen, die sowohl zu steigen-

den Pflegekosten als auch zu einer progressivenStörung der Lebensqualität für Patienten und ihreFamilien führt. In den USA wird der Aufwand für in-stitutionalisierte Pflege für an Demenz leidendenPatienten auf $25 Milliarden pro Jahr geschätzt (Steg1990). In dieser Bevölkerungsgruppe wird die Hy-pothese aufgestellt, daß 15% der über 65jährigen anleichter bis schwerer Demenz leiden werden,mit ei-ner Steigerung bis zu 45% unter den über 90jähri-gen (Odenheimer 1989), wobei mehr als 60% die-ser Fälle von Demenz aus der Alzheimer-Krankheithervorgehen (Kalayam & Shamoian 1990).

Da die ältere Bevölkerung Europas vermutlichimmer zahlreicher wird (Aldridge 1990), dürfte eshöchste Zeit sein, Behandlungsinitiativen in derwestlichen Welt zu finden, die die Auswirkungendieses Problems entschärfen könnten. Obwohl dieMusiktherapie keine Heilung für die Alzheimer-Krankheit bieten kann, wäre sie in der Lage, ihreAuswirkungen zu mildern und für eine wertvolle Er-gänzung in der Diagnostik zu sorgen. Krankheiten,die Demenz hervorrufen, d.h. erworbene kognitiveStörungen, sind seit Jahrhunderten bekannt, aber essind kaum Fortschritte in der spezifischen Diagno-se vor der Evolution der nosologischen Einstellungzum Kranksein und den frühen klinischen Beschrei-bungen von Neurosyphilis und Chorea Huntingtonim 19. Jahrhundert gemacht worden. In solchen Be-schreibungen wurde vermutet, daß das Hirn einendirekten Einfluß auf das Verhalten des Menschen hat.Die frühesten histopathologischen Charakterisie-rungen von kognitiven Störungen wurden erstdurch die Entwicklung des optischen Mikroskops er-möglicht. Infolgedessen war es Alzheimer möglich(Alzheimer 1907; Drachman et al. 1990) neurologi-sche Degeneration und senile Plaques im Hirn ei-

Musiktherapie und die Alzheimer-Krankheit David & Gudrun Aldridge

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Musiktherapie David Aldridge, Gudrun Aldridge and Lutz Neugebauer 2010 45

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Klinische Beschreibungen von Demenz

Das klinische Syndrom von Demenz wird durch einen erworbenen Verfall der kognitiven Funktionen cha-rakterisiert, der durch Gedächtnisschwund und Aphasie in Erscheinung tritt. Obwohl der Ausdruck De-

menz sowohl in der medizinischen Fachliteratur als auch im Volksmund (= Schwachsinn) Verwendung findet, be-zieht er sich in der Beschreibung kognitiver Funktionsstörungen auf zwei Beschwerden: senile Demenz vom Alz-heimer-Typ (SDAT) und Multi-Infarkt-Demenz.

Der Verlauf der Alzheimer-Krankheit besteht aus einem progressiven Verfall, der durch degenerative Verän-derungen im Hirn verursacht wird. Ein solcher Verfall manifestiert sich in einem klinischen Bild episodenhafterVeränderungen und Muster bestimmter kognitiver Schwächen, die variabler Natur sind (Drachman, O´Donnell,Law & Swearer, 1990).‘Mental status testing’ (Prüfung des intellektuellen Zustandes) ist eine wichtige Methode derEvaluation dieser kognitiven Funktionsstörungen, zu denen Veränderungen im Kurzzeit- sowie im Langzeitge-dächtnis,Abnahme des abstrakten Denkvermögens und Urteilens, Sprachbehinderungen (Aphasie) und Schwie-rigkeiten bei der Namensgebung von Wörtern (Anomie) gehören; dazu zählt auch der Verlust der Fähigkeit, dasGehörte,Gesagte oder Empfundene interpretieren zu können (Agnosie), sowie die Unfähigkeit motorische Ak-tivitäten z.B. die Benutzung eines Schreibstifts oder der Zahnbürste durchführen zu können, obwohl die moto-rische Funktion als solche noch intakt ist (Apraxie).Wenn solche klinischen Ergebnisse gegeben sind, kann einemutmaßliche Diagnose gestellt werden. Eine definitive Diagnose hängt jedoch von einer Gewebeanalyse ab (s.Tabelle 2).

Obwohl chronische Demenz vom Alzheimer-Typ erst ab 40 anfängt und daher als eine geriatrische Erkran-kung eingestuft wird, ist die Signifikanz des Lebensalters für die Prognose weniger wichtig als der momentaneSchweregrad zur Zeit der Diagnose (Drachman et al. 1990). Der durch die Evaluation der intellektuellen Funk-tionen gemessene Krankheitszustand scheint die zuverlässigste Voraussagbarkeit für den darauffolgenden Krank-heitsverlauf zu besitzen, insbesondere, wenn dieser von einer Kombination von Verwirrtheitszuständen, ziello-sem Umherirren und Verhaltensproblemen begleitet wird (Walsh,Welch, & Larson 1990). Die Rate des Verfallszwischen Patienten-Untergruppen ist jedoch variabel und daher kann das Tempo des Verfalls bei einem Patien-ten während eines Jahres nicht unbedingt als zukunftsweisend betrachtet werden, was den weiteren Verfall an-geht (Salmon et al. 1990).Manche Autoren (Cooper,Mungas,& Weiler 1990) beziehen sich auf einen noch nichtbewiesenen Faktor außerhalb des Verfalls der kognitiven Funktionen, der möglicherweise in Zusammenhang mitden assoziierten abnormalen Verhaltensweisen:Wutausbrüche, Agitiertheit, Persönlichkeitsänderung,Verwirrt-heitszustände, Schlaflosigkeit und Depression, die im späteren Verlauf der Krankheit auftreten, eine Rolle spielt.

Tabelle 2:Diagnostische Evaluation von Demenz*

Diagnostische Kategorien

Vollständige medizinische Vorgeschichte

Mental status examination

Gründliche physikalische und neurologischeUntersuchung (inklusive Untersuchung desZentralnervensystems, falls Verdacht aufInfektion besteht)

Vollständiges Blutbild und blutchemische Tests (auch Vitamin B12 Anteile)

Tests zur Schilddrüsenfunktion

Serologie für Syphilis

Computertomographie (CT) oder Magnetfeldresonanz Imaging (MRI), Elektroen-zephalographie (EEG) oder Positronen- Emissions-Tomographie (PET) Scan

*Steg, R. (1990). Determining the cause of dementia. Nebraska Medical Journal,75, (4), 59-63.

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1990 ), ohne durch motorische und sensorischeDefizite kontaminierbar zu sein (Beatty & Goodkin1990; Jairath & Campbell 1990).

Ältere Patienten, die aus einem möglichen Er-gebnis von 30 Punkten weniger als 24 erzielen,wer-den als ‘schwachsinnig’ bezeichnet. Jedoch ist diesesPunktsystem aufgrund der unteren Grenze von 24Punkten in Frage gestellt worden, insbesondere imHinblick auf präsenile Demenz (Galasko et al. 1990),aber auch wegen des Einflusses der jeweiligenSchulbildung auf die Ergebnisse (Gagnon et al.1990).Schwachgebildete Menschen mit weniger als 8 Bil-dungsjahren könnten mit weniger als 24 Punkten

abschneiden ohne vonDemenz befallen zu sein.Eine weitere Kritik desMini-Mental-State-Ex-amination ist, daß ernicht empfindlich genugauf geringe Defizite rea-giert, aber er könntedurch die Einbindung ei-nes Wortflüssigkeitstestsund die Verbesserungdes Aufmerksamkeits-Konzentrationstests er-gänzt werden (Galaskoet al. 1990 ). Zudemwerden die kognitivenFunktionsstörungen beipsychiatrischen Patien-ten ernsthaft unterbe-wertet (Faustman, Mo-ses, & Csernansky 1990),denn eine wichtige Ei-genschaft, die von demMMSE vernachlässigt wird,ist ‘Intentionalität’ oderexekutive Kontrolle (Oden-heimer 1989), die dieFähigkeit eines Patientenbeschreibt, sich auf eineAufgabe zu konzentrie-ren, ein gesetztes Ziel zuerreichen, oder auch dieAufgabe wechseln zukönnen.

setzt, ist eigentlich für den Kliniker gedacht, um dieFunktionen verschiedener Hirnregionen zu messen(s.Tabelle 4); er ist ein weit verbreitetes und erfah-renes validiertes klinisches Instrument (Babikian etal. 1990; Beatty & Goodkin 1990; Caine 1981; Eu-stache et al. 1990; Faustman, Moses, & Csernansky1990; Gagnon et al. 1990; Jairath & Campbell 1990;Summers et al. 1990; Zillmer et al. 1990).

Als Krankenbett-Test wird der MMSE weit ver-breitet zur Überprüfung der intellektuellen Fähig-keiten eingesetzt und ist auch als ein prediktivesMeßinstrument für kognitiven Verfall und semanti-schen Gedächtnisverlust nützlich (Eustache et al.

Der Patient leidet offensichtlich selbst unter sei-ner Krankheit. Der vor dem einsetzenden motori-schen Verfall erscheinende Gedächtnisverlust unddie begleitende Aphasie führen zu Störungen seinestäglichen Lebens; Kommunikation, die Basis aller so-zialen Interaktion, ist gestört. Der sich androhendeprogressive Verfall und die Verhaltensstörungen sindnicht nur für Patienten problematisch, sondern auchfür ihre Angehörigen, die die soziale Verantwortungfür die Patientenbetreuung mindestens teilweiseübernehmen müssen, obendrein mit der emotio-nalen Belastung, zusehen zu müssen, wie ein gelieb-ter Mensch sich allmählich in Verwirrtheit und Isola-tion verliert.

Zu guter Letzt sollteberücksichtigt werden, daßalte depressive Menschenmanchmal eine Pseudo-demenz an den Tag legen(Caine 1981), wobei dieAlzheimer-Krankheit ‘vor-gegaukelt’ wird (Siehe Ta-belle 3). Solche Patientenerholen sich und zeigenkeine Anzeichen residua-ler intellektueller Beein-trächtigungen.

Die Evaluationvon Demenz

Ein kurzer kognitiverTest, der ‘Mini-Mental

State Examination’ (MM-SE), wurde entwickelt, umdie Progression der Alz-heimer-Krankheit zu be-trachten und zu überwa-chen (Folstein, Folstein, &McHugh 1975) Der Test,der sich aus Fragen undAktivitäten zusammen-

Tabelle 3:Die differenzierenden Merkmale von Pseudodemenz und Demenz

Demenz

Anfang kann nur vage vermutet werden

Symptome können von längerer Dauer sein, bevorärztliche Hilfe gesucht wird

Selten frühere psychiatrische Störungen

Kaum Patientenbeschwerden über kognitiven Ver-fall

Patienten geben sich große Mühe mit den Aufga-ben

Verhalten stimmt mit dem Schweregrad des kognitiven Versagens überein

Häufige nächtliche Betonung der Verhaltungs-störungen

Antworten häufig beinahe richtig

Gleichbleibend schlechte Leistungen bei Aufgabenähnlichen Schwierigkeitsgrads

Pseudodemenz

Anfang kann relativ präzise datiert werden

Symptome von kurzer Dauer bevor ärztliche Hil-fe gesucht wird

Oft frühere psychiatrische Störungen

Häufige Patientenbeschwerden über kognitivenVerfall

Patienten geben sich wenig Mühe, selbst bei deneinfachsten Aufgaben

Verhalten oft unvereinbar mit dem Schweregraddes kognitiven Versagens

Nächtliche Betonung von Verhaltungsstörungenungewöhnlich

„Ich weiß nicht”Antworten typisch

Auffällige Leistungsunterschiede bei Aufgabenähnlichen Schwierigkeitsgrads

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Ausgehend von diesem augenblicklichen Lei-stungsvermögen,wobei musikalische Evaluation mitmedizinischer Diagnose gekoppelt wird, wäre esmöglich, ein breites Spektrum therapeutischer Ver-änderungen,ob Verbesserungen oder Verschlechte-rungen, die nicht auf verbalen Fähigkeiten be-schränkt wären, zu erkennen.

Musik und Demenz

Mit 56 Jahren, nach der Komposition zweier be-deutsamer Klavierkonzerte, fing der Kompo-

nist Maurice Ravel an, über erhöhte Erschöpfungund Mattigkeit zu klagen. Nach einem Verkehrsun-fall verschlechterte sich sein Zustand progressiv(Henson 1988). Er verlor die Fähigkeit, sich an Na-men zu erinnern, spontan zu sprechen und zuschreiben (Dalessio 1984).

Obwohl er Sprache noch verstehen konnte, ver-fügte er nicht mehr über die erforderliche Koordi-nation, um ein großes Orchester zu dirigieren.Gleichwohl, wie er berichtete, sein Kopf voller mu-sikalischer Ideen sei, war er nicht mehr in der Lage,sie niederzuschreiben (Dalessio 1984). Mit der Zeitverschlechterten sich seine intellektuellen Funktio-nen und seine Sprachfähigkeit derartig, daß er letzt-lich nicht einmal mehr seine eigene Musik erkann-te. Er litt scheinbar an einer Krankheit, die wir heut-zutage als die Alzheimer-Krankheit erkennen wür-den.

Jedoch ist die Reaktion auf Musik der an der Alz-heimer-Krankheit leidenden Patienten ein bemer-kenswertes Phänomen (Swartz et al. 1989).Während sich kognitive Defizite durch Sprachver-fall bemerkbar machen, scheinen musikalische Fähig-keiten erhalten zu bleiben. Dieses könnte dadurcherklärbar sein, daß die Ursprünge von Spracheselbst musikalisch sind und der Entwicklung von se-mantischen und lexikalischen Sprachfunktionen vor-angehen (Aldridge 1989a;Aldridge 1989b;Aldridge1991b).

Wir wissen nur wenig über den Verlust von mu-sikalischen und sprachlichen Fähigkeiten in Fällen

res Instrument der Evaluation herausstellen (Ald-ridge 1989a) (Siehe Tabelle 5). Jedoch wäre hiermitdie Musiktherapie noch kein eigenständiges diag-nostisches Instrument. Es wäre nicht möglich zu be-urteilen,wie Patienten vor ihrer Erkrankung gespielthätten, oder daß ihre momentane besondere Spiel-weise das Ergebnis ihrer Erkrankung sei, jedoch wä-re sie ein geeignetes Evaluierungsinstrument für dasaugenblickliche Leistungsvermögen eines Individu-ums.

Die Items, die der MMSE nicht berücksichtigt(geringere Sprachdefizite) oder nicht evaluierenkann (Fluß und Intentionalität), können jedochdurch das improvisierte Musikspiel erkannt werden.Eine dynamische Evaluation des Patientenverhaltensin Verbindung mit motorischer Koordination undder Intention, die für das Spielen auf Musikinstru-menten innerhalb der Musiktherapie unerläßlich ist,könnte sich zusammen mit der interpersonellenKommunikation als empfindsames komplementä-

Tabelle 4:

Mini-Mental State Examination*

Item Komponent Ergebnis

Zeitliche Orientierung Jahr, Jahreszeit, Monat, Datum und Tag 5

Örtliche Orientierung Land, Kreis, Stadt, Gebäude und Etage 5

Registration Patient wiederholt „Rose“, „Ball“ und „Schlüssel“ 3

Aufmerksamkeit für Rechen- Serielle Subtraktion von 7 von 100 oder „Welt“ 5aufgaben (Kalkulationen) rückwärts buchstabieren

Erinnerungsvermögen „Rose“, „Ball“ und „Schlüssel“ 3

Namensgebung Bleistift und Armbanduhr 2

Wiederholung Kein wenn und oder aber 1

Dreistufiger verbaler Befehl Nehmen Sie ein Blatt Papier in die rechte Hand, 3falten Sie es, damit es halb so groß ist und legen Sie es auf den Boden

Geschriebener Befehl Machen Sie die Augen zu! 1

Schreiben Ein spontaner Satz 1

Konstruktion Zwei miteinander verbundene Pentagramme 1

Summe 30

*Galasko, D., Klauber, M., Hofstetter, C., Salmon, D., Lasker, B., & Thal, L. (1990 ).The Mini-Mental State Ex-amination in the early diagnosis of Alzheimer’s disease. Arch-Neurol, 47, (1), 49-52.

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Tabelle 5:

Eigenschaften medizinischer und musikalischer Evaluierung

Medizinische Evaluierungselemente Musikalische Evaluierungselemente

Kontinuierliche Beobachtung des intellektuellen und funktionellen Zustandes Kontinuierliche Beobachtung des intellektuellen und funktionellen Zustandes

Überprüfung der verbalen Fähigkeiten inklusive Sprachgewandtheit Überprüfung der musikalischen Fähigkeiten: Rhythmus, Melodie, Harmonie, Lautstärke,Phrasierung,Artikulation

Prüfung der kortikalen Fehlfunktion, visuell-räumlichen Fähigkeiten und der Testung der kortikalen Fehlfunktion, visuell-räumlichen Fähigkeiten und der Fähigkeit Fähigkeit, komplexe motorische Aufgaben zu bewältigen (inklusiv Greifen und komplexe motorische Aufgaben zu bewältigen (inklusiv Greifen und links/rechts links/rechts Koordination) Koordination)

Test für progredientes Gedächtnisversagen Test für progredientes Gedächtnisversagen

Motivation, die Tests zu Ende zu führen, gesetzte Ziele zu erreichen und gestellte Motivation, beim improvisierten Musizieren durchzuhalten, musikalische Ziele zu Aufgaben nicht aufzugeben erreichen und die musikalische Form beizubehalten

‘Intentionalität’ hier schwer zu evaluieren ‘Intentionalität’ ist eine Eigenschaft der musikalischen Improvisation

Konzentration und Dauer der Aufmerksamkeit Konzentration auf das improvisierte Spiel und Aufmerksamkeit gegenüber denInstrumenten

Flexibilität beim Aufgabenwechsel Flexibilität bei musikalischen (auch instrumentalen) Veränderungen

Mini-Mental State Examination Ergebnisse werden vom Bildungsniveau Fähigkeit improvisierte Musik zu spielen, mit Rücksicht auf den Einfluß der früheren beeinflußt musikalischen Erziehung

Unempfindlichkeit für geringe Veränderungen Empfindlichkeit für geringe Veränderungen

Fähigkeit, die Umgebung zu interpretieren Fähigkeit, den musikalischen Kontext zu interpretieren und die Kommunikation innerhalb des therapeutischen Verhältnisses zu evaluieren

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Bei Alzheimer Patienten wird erwartet, daßwährend die Ebenen I, II und III nicht beeinträchtigtwerden,die Komplexitäten der Ebenen IV und V bis-weilen erhalten bleiben können, wenn auch ohneVerweisfähigkeit, jedoch sind sie für den Verfall an-fällig.

Es ist durchaus erwähnenswert, daß diese Fehl-funktionen eigentlich gar keine musikalischen, son-dern Gehörfehler sind. Nur Fehlfunktionen in musi-kalischer Produktion sollten zu der Annahmeführen, daß eine musikalische Fehlfunktion die Ur-sache sei. Improvisiertes Musizieren bietet also eineeinmalige Gelegenheit, einen Beweis für den hypo-thetischen Zusammenhang zwischen Wahrneh-mung und Produktion zu erbringen.

Rhythmus ist der Schlüssel zu dem integrativenProzeß sowohl von musikalischer Wahrnehmung alsauch physiologischer Kohärenz. Barfields (Barfield1978) Ansatz konstatiert, daß die Begegnung vonmusikalischer Form als Tongestalt mit dem At-mungsrhythmus ein musikalisches Erlebnis ergibt.Die externe Gehöraktivität wird vom internen Auf-fassungsvermögen im Kontext des individuellenRhythmus weitervermittelt. Rhythmus ist auch inBezug auf Kommunikation ein fundamentaler Teilder Organisation und Koordination interner undzwischenmenschlicher Prozesse (Aldridge, 1989a).

Rhythmus liefert einen Bezugsrahmen für Wahr-nehmung (Povel 1984). In Sequenzen gespielte Ton-folgen, die durch Tonhöhe, Volumen, Timbre undLänge charakterisiert werden, schreibt man eineDoppelfunktion zu. Zusätzlich markieren sie Zeit-punkte.Diese Töne produzieren also Zeitstrukturenund Strukturen in der Zeit.Wenn Tonsequenzen ei-ner Zeitordnung lediglich als temporale Konzeptegehorchen, stellen sie eine Art von temporalemGitter dar, eine Zeitskala, auf der die Längen und Po-sitionen der Tonsequenzen entworfen werden.Mankönnte sinnigerweise fragen, welche isomorphi-schen Geschehnisse in physiologischer Hinsicht ei-ne solche Doppelfunktion übernehmen könnten.Möglicherweise gibt es regelmäßige sequenzielleImpulse von metabolischer, kardialer, oder respira-torischer Aktivität innerhalb des Körpers, die auchder jeweiligen Qualität der Tonhöhe, -farbe und -län-ge entsprechen.

I die akustisch-psychische Ebene - Veränderun-gen in Intensität,Tonhöhe und Klang,

II die diskriminierende Ebene - Differenzierung von Intervallen und Akkorden,

III die kategorische Ebene, - bestimmende Identifi-zierung von rhythmischen Mustern und Inter-vallen,

IV die Konfigurationsebene, - Wahrnehmung vonMelodien, die Erkennung von Motiven und The-men, tonale Veränderungen, die Identifizierung von Instrumenten und rhythmische Differenzie-rung,

V die Ebene, bei der musikalische Form erkannt wird, einschließlich der Wahrnehmung harmoni-scher, melodischer und rhythmischer Transfor-mation, sowie deren exekutiver Funktion.

von globalen kortikalen Schäden. Etwaige Diskussi-on muß sich zwangsweise auf Hypothesen be-schränken,da es keine etablierten Maßstäbe für mu-sikalische Leistungen in der erwachsenen Bevölke-rung gibt (Swartz et al. 1989).Aphasie,ein Symptomvon kognitivem Verfall, ist ein kompliziertes Phäno-men. Während syntaktische Funktionen länger er-halten bleiben können, fangen die lexikalischen undsemantischen Funktionen der Namensgebung undZuordnung schon im frühen Stadium an zu versa-gen.Phrasierung und grammatische Strukturen blei-ben erhalten und geben den Äußerungen einescheinbare Normalität, während deren Inhalte zu-nehmend durcheinander geraten. Dieser progre-diente Verfall scheint sich innerhalb des Kontextesvon semantischer und episodischer Gedächtnis-einbuße anzusiedeln.

Musikalität und Singen werden nur selten für ih-re Tauglichkeit als Hinweise zum kognitiven Verfallüberprüft, obwohl die Konservierung dieser Fähig-keiten bei Aphasiebefallenen mit einer eventuellenGenesung gekoppelt wurde und gar signifikante In-dikatoren von hierarchischen Veränderungen in ko-gnitivem Verhalten darstellen könnten. Jacome (Ja-come 1984) entdeckte, daß ein musikalisch naiverPatient mit transkortikaler, gemischter Aphasie wie-derholt und spontan pfeiffen und Fragen mit Pfeif-fen erwidern konnte. Der Patient sang häufig spon-tan und fehlerfrei bezüglich Tonhöhe, Melodie,Rhythmus und Lyrik und widmete sich über langeZeitspannen dem Musikhören. Beatty (Beatty et al.1988) beschreibt eine Frau mit schweren Beein-trächtigungen durch Aphasie, Gedächtnisstörungenund Apraxie, die dennoch in der Lage war, ein un-bekanntes Lied vom Blatt zu lesen und Xylophon -ein für sie ungewohntes Instrument - zu spielen.WieRavel (Dalessio 1984) und ein älterer Musiker, derMusik auswendig spielen konnte (Crystal,Grober,&Masur 1989), aber den Namen der Komponistenvergessen hatte, konnte die Frau sich auch nichtmehr an den Titel der Musik, die sie gerade spielte,erinnern.

Swartz und seine Kollegen (Swartz et al. 1989)unterbreiten eine Reihe perzeptiver Ebenen, auf de-nen musikalische Störungen in Erscheinung treten:

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dische Phrasen vorspielt in der Erwartung, daß derPatient diese Formen oder Phrasen nachmachenwird, ähnelt dem Element der ‘Registration’ im Men-tal-State-Examination-Test.

Während improvisiertes Musizieren ein nützli-ches Instrument für die Evaluation musikalischerFähigkeiten bleibt, wird es auch innerhalb eines the-rapeutischen Kontextes eingesetzt.Auf diese Weisewerden Evaluation und Therapie gekoppelt, wobeidie Evaluation Kriterien vorgibt für die Identifizie-rung von therapeutischen Zielen und die Entwick-lung therapeutischer Strategien.

Musiktherapie mit einerAlzheimer Patientin

Die Nordoff-Robbins Musiktherapie basiert aufmusikalischer Improvisation zwischen Thera-

peut und Patient (Nordoff & Robbins 1977). DerMusiktherapeut improvisiert am Klavier mit dem Pa-tienten, dem eine ganze Reihe von Musikinstru-menten zur Verfügung stehen. Die Arbeit fängt oftmit einer ‘Erforschungssitzung’an, in der rhythmischeInstrumente, insbesondere Trommel und Zymbel,eingesetzt werden, gefolgt vom Einsatz rhythmisch-melodischer Instrumente wie Glockenspiel oderXylophon. Im Verlauf der sich weiter entwickelndenArbeit im melodischen Bereich werden Metallo-phon, Klavier und die Stimme einbezogen. So liegtder Schwerpunkt dieser Arbeit während jeder Sit-zung auf musikalischen Improvisationen, in der dieMusik als Träger der Therapie fungiert. Jede Sitzungwird mit Einverständnis des Patienten auf Tonkas-sette festgehalten, um zu einem späteren Zeitpunktanalysiert und, für ihren musikalischen Inhalt, katalo-gisiert zu werden.

In der folgenden Fallstudie wird die Musikthera-pie als Teil einer umfangreichen Behandlung einge-setzt. Die Patientin erhält auf ambulanter Basis The-rapiesitzungen,die einmal wöchentlich für jeweils 40Minuten stattfinden.Da die Patientin den Weg nichtmit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen kann,wird sie von ihrem Sohn ins Krankenhaus gebracht.

Frau X war eine 55jährige Frau, die zur Behand-lung ins Krankenhaus kam. Ihre verstorbeneSchwester litt an der Alzheimer-Krankheit und dasich das Gedächtnis von Frau X zunehmend ver-schlechterte, befürchtete ihre Familie, daß ihr dasgleiche Schicksal wie das ihrer Schwester widerfah-ren könnte. Sie hatte mit 40 Jahren angefangen, fürFamilie, Freunde und Bekannte Klavier zu spielen,obwohl sie keinen formellen Unterricht nahm. Die-se Tatsache führte zu der Annahme, daß Musikthe-rapie zusätzlich zur medizinischen Behandlung einepotentielle adjuvante Therapie wäre.

Die Patientin wurde ursprünglich zu dem Zeit-punkt ans Krankenhaus überwiesen als ihr fort-schreitender Verfall sowohl ihr,wie auch ihrem Sohnbewußt wurde,obwohl die Krankheit noch im Früh-stadium war. Zu Hause hatte sie schon Schwierig-keiten, ihre Kleidung und andere Dinge für das täg-liche Leben zu finden. Sie war nicht mehr in der La-ge, für sich selbst zu kochen oder ihren eigenen Na-men zu schreiben. Beim Sprechen hatte sieSchwierigkeiten mit der Wortfindung.Aufgrund derFamiliengeschichte und ihres eigenen Verständnissesüber ihre Schwächen können wir davon ausgehen,daß ihre kognitiven Probleme durch Depressionverstärkt wurden und wahrscheinlich eine Pseudo-demenz darstellten.

Rhythmisches Spiel

In allen zehn Sitzungen zeigte Frau X ihre Fähigkeit,ohne den Einfluß ihrer Musiktherapeutin ein rhyth-

misches Muster im 4/4 Takt mit einem Schlegel aufeiner Trommel zu spielen. Dieser Musterrhythmustrat, wie in Beispiel I demonstriert, in unterschiedli-chen Formen auf.

Eine Eigenschaft ihres rhythmischen Spiels war,daß der Patientin während einer Improvisation all-mählich die Kontrolle über den Rhythmus verlor, sodaß er immer unpräziser wurde und sowohl anForm als auch an Vitalität einbüßte. Der zu Anfangklare und präzise Impuls ihres rhythmischen Spielsbaute schrittweise mit dem Verlust an Konzentrati-

Rhythmus spielt auch in der Wahrnehmung vonMelodie eine Rolle.Die Wahrnehmung von Spracheund Musik stellen ungeheure Anforderungen in derWahrnehmung von Mustern. Der Zuhörer mußden Sinn aus langen Sequenzen von rasch wech-selnden temporal eingeteilten Elementen herausfil-tern (Morrongiello et al. 1985).Temporale Voraus-sagbarkeit spielt eine wichtige Rolle in der Verfol-gung von melodischen Linien (Jones, Kidd, & Wetzel1981; Kidd, Boltz, & Jones 1984). Kidd et al definie-ren Melodie als Struktur in der Zeit und argumen-tieren, daß ein regelmäßiger Rhythmus die Erken-nung eines Tonintervalles und seine anschließendeIntegration in eine kognitive Repräsentation der se-riellen Struktur eines musikalischen Schemas er-leichtert. Erwachsene identifizieren bekannte Melo-dien auf der Basis der Information über die relati-ven Tonintervalle vielmehr als durch absolute Infor-mation von vereinzelten Tönen. Bei der Erkennungvon unbekannten Melodien geht es weniger um In-formationen über die einzelnen Töne als um suk-zessive Tonhöhenveränderungen oder melodischeUmriße. Der rhythmische Kontext bereitet denZuhörer auf den Beginn bestimmter musikalischerIntervalle vor und ist deshalb ein Mittel zur Erken-nung,Voraussagung oder Veränderung.Diese Verän-derungen werden vielleicht nicht wahrgenommen,man stimmt harmonisch oder zeitlich nicht mehrmit der Umgebung überein. Ein solcher Verlust derrhythmischen Struktur, der nach außen hin Verwir-rung stiftet, könnte ein verborgener Faktor im Ver-ständnis der Alzheimer-Krankheit sein.

Wichtig bei diesen Beschreibungen der musika-lischen Wahrnehmung ist, daß die Betonung auf derSituation liegt, in der die verschiedenen Ebenen derAufmerksamkeit vor dem Hintergrund einer tem-poralen Struktur gleichzeitig auftreten (Jones, Kidd,& Wetzel 1981; Kidd, Boltz, & Jones 1984). Musikali-sche Improvisation mit einem Therapeuten,die Auf-merksamkeit (Sandman 1984;Walker & Sandman1979; Walker & Sandman 1982) , Tempoverände-rungen und freiwillige Mitwirkung einbindet (Safra-nek, Koshland, & Raymond 1982), ohne dabei auflexikalische Inhalte Rücksicht nehmen zu müssen,könnte eine ideale Behandlungsmaßnahme für Alz-heimer Patienten bieten. Daß der Therapeut demPatienten einfache rhythmische Formen und melo-

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on und Ausdauer ab. Jedoch konnte die Patientin ih-re rhythmische Präzision wiedererlangen, wenn dieTherapeutin ihr im Laufe der Improvisation einemusikalische Gesamtstruktur anbot.Wie bereits er-wähnt, ist eine übergeordnete rhythmische Strukturnotwendig, um Wahrnehmung aufrecht zu erhalten,und es ist gerade die ‘musikalische Gestalt’ (d.h. dieFähigkeit, eine Gesamtorganisation im zeitlichenRahmen anzubieten),die in der Alzheimer-Krankheitfehlt.

Die Patientin reagierte schnell auf Tempowech-sel und auf verschiedene rhythmische Muster undkonnte diese in ihr Spiel integrieren. Signifikant warihre flüssige Reaktion beim Wechsel vom 4/4 in ei-nen 3/4 Takt mit ihrer häufigen Bemerkung „...undjetzt ist es ein Walzer...“. Bei typischen familiärenrhythmischen Mustern (z.B. dem Habanera-Rhyth-mus) zusammen mit charakteristischen melodi-schen Phrasen lachte sie, atmete tief durch undspielte mit größerer Entschlossenheit.

Diese rhythmischen Improvisationen auf ver-schiedenen Trommeln wurden in späteren Sitzun-gen auf zwei Instrumenten gespielt. Die Patientinhatte keine Schwierigkeit, die Schlegel zu kontrollie-ren und festzuhalten. In gleicher Weise war ihr dieKoordination von paralleler oder alternierenderSpielweise auf einem einzelnen Instrument unpro-blematisch, auch wenn sie ein meist schnelles Tem-po wählte (120 Schläge pro Minute ). Jedoch verur-sachte die Einführung eines zweiten, gleichzeitig zuspielenden Instruments erhebliche Schwierigkeitenfür die Patientin. Sie blieb desorientiert vor den Ins-trumenten stehen, unfähig, beide gleichzeitig in ihrSpiel einzubinden. Lediglich durch Anweisung undFührung der Therapeutin war die Patientin in der La-ge, das Rechts/Links-Spiel auf zwei Instrumenten zukoordinieren. Auch Veränderungen im Spielmusterwaren nur schwer umsetzbar (siehe Beispiele 2 und 3).

Durch alle Improvisationen hindurch blieb je-doch die instinktive Musikalität der Patientin, wasTempo (ritardando, accelerando, rubato) und Laut-stärke betrifft, erhalten und wurde bei jeder Gele-genheit zum Ausdruck gebracht,was übereinstimmtmit den von Swartz et al. definierten Wahrneh-mungsebenen, auf denen sich musikalische Störun-gen ereignen (d.h. Ebenen: (a) die akustisch-psy-

Beispiel 1Rhythmisches Spiel der Patientin auf einer Trommel mit einem Schlegel in der rechten Hand

Beispiel 2 Dialogspiel auf der Trommel

Therapeutin

Patientin

Beispiel 3 Eine Veränderung im Spielmuster

Therapeutin

Patientin

Beispiel 4Veränderung in der Spielform der Patientin

Trommel (r H)

Zymbel (l H.)

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che Töne sie spielen sollte, vermochte sie den Fin-gerbewegungen der Therapeutin zu folgen. Ihr fiel essehr schwer, eine ihr vorgespielte kleine Tonreihenachzuspielen,was allerdings ihre visuell-räumlichenSchwierigkeiten verschlimmert haben könnten (esist beispielsweise einfacher, die Oberfläche einerTrommel als die limitierten präzisen Oberflächen ei-nes Glockenspieles zu treffen).

Harmonisches Spiel

Ganz am Anfang der ersten Therapiesitzung,ent-deckte Frau X beim Betreten des Therapie-

raums das Klavier und begann spontan ‘Lustig ist dasZigeunerleben’ zu spielen. Sie begleitete dieses Liedmühelos mit harmonischen Dreiklängen und Terzen.Das zweite Lied, das sie zu spielen versuchte, stell-te sich als schwieriger heraus. Sie fand die Subdo-minante nicht, worauf sie ihr Spiel unterbrach undbemerkte „...das passiert mir immer wieder“. Die-ser Vorgang, in dem sie eine Melodie spontan an-spielte,nur um abzubrechen,wenn die harmonischeStruktur versagte,wiederholte sich,wenn immer sieandere Lieder wie ‘Happy Birthday’ und ‘Horch waskommt von draußen rein’ anstimmte. Sie zeigte da-bei eine feine Sensitivität für die passende Harmo-nie, die sie nicht immer spielen konnte. Beim Trom-melspiel war ihre musikalische Sensitivität zu den

kontrastierenden Klangqualitäten von Dur und Mollvermindert, aber insgesamt zeigte sie eine unver-kennbare Wahrnehmung für harmonische Vorgän-ge.Wie in Tests für Sprachfunktion, ist hier die Mu-sikproduktion beeinträchtigt, während Wahrneh-mungsfähigkeiten erhalten bleiben.

Veränderungen im musikali-schen Spiel der Patientin

Im rhythmischen Spiel an Trommel und Zymbel,versuchte die Therapeutin die Aufmerksamkeit

der Patientin dadurch zu verlängern, indem sie kur-ze musikalische Muster mit wechselndem Ausdruck(Moll, Dur, leise, laut, schnell, langsam) ständig wie-derholte, in der Hoffnung,daß die Patientin eine sta-bile musikalische Form aufrechterhalten würde.Die-se Technik half der Patientin, länger bei einemrhythmischen Muster zu bleiben und es stärker zumAusdruck zu bringen. Über die Betonung desGrundschlags in der Musik versuchte die Therapeu-tin auf andere Weise dem Entgleiten des rhythmi-schen Musters entgegenzuwirken. In einem schnel-len Tempo konnte die Patientin den Grundschlagüber eine gewisse Zeit aufrechterhalten.Sobald sichaber das Tempo verlangsamte oder die Musik vari-ierte, schoben sich Achtel ein, die das stabile Ele-ment des Grundschlags beeinträchtigten und somitihrem Spiel einen oberflächlichen Charakter gaben.

Eine weitere Veränderung in der Improvisationereignete sich, als die Patientin rhythmische Mustererkannte und wiederholen konnte, die dann häufigin einen musikalischen Dialog umgesetzt und in ei-nen musikalischen Kontext eingebunden wurden.Während der letzten Therapiesitzung konnte diePatientin ihr Spiel in der Weise verändern, daß siedurch die Organisation ihres kontemplativen undexpressiven Spieles eine stärkere Ausdrucksweise inihrer Spielform erzielte (siehe Beispiel 4).

Obwohl ihr das Spiel auf zwei Instrumenten mitder Zeit vertrauter wurde, so daß sie zuweilen oh-ne Hilfe auskam, konnte sie es doch nicht als eine

chologische Ebene, (b) die diskriminierende Ebene,mit der Differenzierung von Intervallen und Akkor-den und (c) die kategorische Ebene, mit der be-stimmenden Identifizierung von rhythmischen Mus-tern und Intervallen).

Melodisches Spiel

Melodie ist der natürliche Ausdruck einer Be-wegung, die von einem Moment zum näch-

sten entsteht und vergeht. Die Größe der Interval-le gibt dieser Bewegung eine immense melodischeSpannung, die von sich aus eine dynamische Stärkeentfaltet. Jedoch ist das melodische Erlebnis zugleichein formales; schon zu Beginn einer Melodie ent-steht die Möglichkeit, das Gefühl der Unmittelbar-keit der ganzen Form zu erfassen, um sich für dasästhetische Vergnügen der Abweichung vom er-warteten Schema vorzubereiten. Dieses Span-nungselement zwischen dem Erwarteten und demUnvoraussehbaren ist seit 200 Jahren die Quintes-senz musikalischer Komposition gewesen. Überdiesist es Melodie, die Musik aus der rhythmischen Weltder Gefühle in die kognitive Welt der Imaginationführt.

Die von Frau X gespielten Melodien waren im-mer lebendig. Sie kannte viele Volkslieder aus frühe-ren Tagen und konnte sie selbständig singen.Wennder Therapeut ihr ein paar Töne am Klavier vor-spielte, konnte sie diese Töne mit einem populärenLied assoziieren. Jedoch war es der Patientin un-möglich,eigenständig eine ganze Melodie am Klavier,oder an einem anderen melodischen Instrument zuspielen. Obwohl sie spontan und flüssig anfangenkonnte, hatte sie Schwierigkeiten, eine bekannteMelodie zu Ende zu spielen.

Melodische Instrumente wie z.B. Metallophonund Xylophon, die sie zuvor nicht gekannt hatte,blieben ihr auch weiterhin fremd.Wenn eine neueMelodie vorgeschlagen wurde, suchte sie häufigstattdessen eine ihr bekannte, um der Ungewißheiteiner Improvisation zuvorzukommen. Wenn dieTherapeutin ihr gegenüber saß und ihr zeigte, wel-

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Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsreaktionendurch die Improvisationen wachgehalten und ver-stärkt werden konnten, versagten Konzentrationund Ausdauer bei der Vollendung musikalischerPhrasen. Hier war die Patientin von der übergeord-neten rhythmischen Struktur abhängig, mit der dieTherapeutin sie musikalisch unterstützte.

Klinische Veränderungen

Am Ende der Behandlungsperiode, in der auchhomöopathische Medikamente angewendet

wurden, konnte Frau X für sich kochen und ihre Sa-chen zu Hause finden. Der Psychiater, der die Ver-antwortung für ihre therapeutische Behandlungtrug, berichtete über eine allgemeine Verbesserungihrer Anteilnahme an Geschehnissen in ihrer Um-gebung, insbesondere, daß sie ihre Aufmerksamkeitfür Besucher und Gespräche aufrechterhalten konn-te. Die Patientin hatte ihre Fähigkeit, ihren Namenzu schreiben, wiedergewonnen - wenn auch nurlangsam.Obwohl sie sprechen wollte,hatte sie nochSchwierigkeiten mit der Wortfindung. Der prakti-sche Arzt, der die allgemeine Verantwortung für ih-re Behandlung trug,machte von einer validierten kli-nischen Prozedur für Mental-State Examination kei-nen Gebrauch.

Es scheint, daß Musiktherapie eine günstige Wir-kung auf die Lebensqualität dieser Patientin hatte,und daß dieser therapeutische Effekt teilweise durchdie musiktherapeutische Behandlung der Depressi-on resultierte. Es ist sogar möglich, daß die Patien-tin an einer Pseudodemenz litt, die durch ihre eige-nen Ängste und ihre Depression hinsichtlich des To-des ihrer Schwester verschlimmert wurde.Obwohldie Patientin in allen Sitzungen deutlich ihre Absichtzeigte, spielen zu wollen, war ihre Fähigkeit, die In-itiative zu ergreifen, herabgesetzt. Dieser Zustandspiegelte die Situation in ihrem täglichen Leben: siewollte zwar selbständig sein, konnte aber nicht auseigener Initiative heraus handeln. Der Stimulus, dieeigene Initiative zu ergreifen, wurde von der Thera-peutin als eine wichtige Eigenschaft der Musikthe-

neue, selbständige und eigenständige Spielaktivitätergreifen. Auch trotz der häufigen Anwendung derihr nicht mehr fremden Melodieinstrumente, wieXylophon und Metallophon, kam kein Vertrautseinim Umgang mit diesen auf. Sie äußerte jedesmal ih-re Unsicherheit: „Jetzt weiß ich nicht wie das geht”und benötigte meistens eine Anleitung.

Die Patientin zeigte kaum dynamische Verände-rungen in ihrem Spiel. Sie reagierte zwar auf dyna-mische Kontraste und Übergänge, aber ein für siekraftvolles Forte konnte nur in der letzten Sitzungerreicht werden. Somit hatte ihr Spiel zuweilen, be-dingt durch eine gleichbleibende Anschlagstärke, ei-nen etwas mechanischen und unbeweglichen Cha-rakter. Auch mit einer kleinen Auswahl von ausge-suchten Tönen war es der Patientin nicht möglich,in eine eigene, freie melodische Gestaltung zu kom-men. Es schien, als ob sie von der Suche nach altbe-kannten, festgefügten Liedmelodien in Bann gehal-ten wurde. Infolgedessen wählte die Therapeutinhäufiger die freie Improvisation auf rhythmischenInstrumenten.

Intentionalität

Schon ab der ersten Therapiesitzung zeigte diePatientin unmißverständlich ihre Entschlossen-

heit, sich ans Klavier zu setzen und die Melodien mitder jeweils passenden harmonischen Begleitung zuspielen, die ihr gerade einfiel. Diese Zielstrebigkeitund die entsprechende Willenskraft, sie umzusetzen,zeigte sie bei allen Sitzungen. Dieser Spielimpuls ge-wann insofern an Bedeutung als er sich auch als Aus-gangspunkt für die freien Improvisationen nutzenließ. In der sechsten Sitzung improvisierte Frau X einrhythmisches Stück im 4/4 Takt, das die Therapeutinanschließend in eine melodische Phrase umwan-delte. Am Ende der Phrase lachte die Patientin vorFreude über den Erfolg ihres Spiels und bat um ei-ne Wiederholung. Das anfänglich beobachtete labi-le rhythmische Spiel (Entgleiten und Auflösen derrhythmischen Form) konnte z.T. in intentionales, aus-drucksbewußtes Spiel geführt werden. Obwohl

rapie angesehen und scheint korrelativ zu sein mitder Art, mit der die Patientin begann, in ihrem täg-lichen Leben die Initiative zu ergreifen.Aktives Mu-sizieren förderte die Interaktion zwischen den teil-nehmenden Personen und damit die der PatientinVergnügen bereitenden Kommunikationsinitiativen,insbesondere dann, wenn ihr eine vollständige Im-provisation gelang.

Eine Kontraindikation für Musiktherapie mit Pa-tienten,die ihrer Probleme bewußt sind, ist dann ge-geben, wenn durch das Musizieren diese fehlendenkognitiven Fähigkeiten stärker bewußt werden undunter Umständen eine womöglich tieferliegendeDepression verschlimmern könnten, so daß der Pa-tient im weiteren Verlauf der Therapie demotiviertwerden könnte.

Schlußfolgerung

Wenn für uns die normalen Vorgänge im kog-nitiven Verfall des Alterns ungewiß sind, sind

wir erst recht im unklaren, was die normalen musi-kalischen Fähigkeiten von Erwachsenen betrifft. DieLiteratur suggeriert, daß musikalische Aktivitätenkonserviert werden, während andere kognitiveFunktionen versagen.Trotz Aphasie und Gedächt-nisverlust, singen Alzheimer Patienten alte Liederund tanzen zu alten Melodien wenn immer sich dieGelegenheit ergibt. Jedoch scheinen Musikproduk-tion und Musikimprovisation auf die gleiche Weisewie die Sprache zu verfallen. Bedauerlicherweiseexistieren keine etablierten Richtlinien für den nor-malen Umfang musikalischer Improvisation mit Er-wachsenen.

Improvisierte Musiktherapie bietet erfahrungs-gemäß eine Möglichkeit Mental-State Examinationsin den Bereichen zu ergänzen, die diese Prüfungenvernachlässigen (Siehe Tabellen 1 und 2).

Zum ersten ist es möglich, den Fluß der Musik-produktion zu ermitteln.

Zum zweiten sind Intentionalität,Aufmerksam-keit, Konzentration und Durchhaltevermögen

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Tabelle 6:Musikalische Elemente, Evaluierung und Improvisationsbeispiele

Musikalische Evaluierungselemente Improvisationsbeispiele

Überprüfung der musikalischen Fähigkeiten: Rhythmus, Melodie, Harmonie, Improvisationen mit rhythmischen Instrumenten (Trommel und Becken) einzeln Lautstärke, Phrasierung,Artikulation oder kombiniert

Improvisation mit melodischen InstrumentenSingen und Spielen von Volksliedern mit Harmoniebegleitung

Testung der kortikalen Fehlfunktion, visuell-räumlichen Fähigkeiten Spielen auf Metallophon, Xylophon, Glockenspiel, das anspruchsvollen und präzisen Bewegungen bedarf

Test für progredientes Gedächtnisversagen Das Spielen von kurzen rhythmischen und melodischen Phrasen innerhalb der Sitzungund in darauffolgenden Sitzungen

Motivation, beim Improvisieren durchzuhalten, musikalische Ziele zu erreichen Das Spielen eines rhythmischen Musters läßt die Begleitung des Therapeuten zu,und in unermüdlicher musikalischer ‘Intentionalität’, der Form zu folgen. wie auch die Fähigkeit, eine bekannte Melodie zu Ende zu spielen, obwohl das ‘Intentionalität’ ist ein wesentlicher Aspekt der musikalischen Improvisation Tempo nicht nachläßt

Die Patientin bekundet vom Anfang der Therapie an ihre Absicht, Klavier zu spielen und bleibt bei ihrem Vorhaben bis zum Ende der therapeutischen Behandlung

Konzentration auf das improvisierte Spiel und Aufmerksamkeit gegenüber Die Patientin verliert ihre Konzentration während ihres Spieles, mit qualitativem Ver-den Instrumenten lust im musikalischen Spiel und fehlender Präzision beim Schlagen auf Stabspielen

Flexibilität bei musikalischen (auch instrumentalen) Veränderungen Zuerst beschränkt sich das musikalische Spiel auf ein Tempo von 120 Schlägen pro Min.und auf ein typisches Muster, aber Veränderungen können herbeigeführt werden

Fähigkeit, improvisierte Musik zu spielen, mit Rücksicht auf den Einfluß Obwohl die Patientin eine musikalische Erziehung genoß, ist diese nur hilfreich, wennder früheren musikalischen Erziehung sie das musikalische Spiel wahrnimmt, es hat kaum einen Einfluß auf das

improvisierte Spiel

Empfindlichkeit für geringe Veränderungen Zu Anfang fehlende Flexibilität in Tempo, Lautstärke, und Ausdruck, die erst nach undnach entwickelt werden kann

Fähigkeit, den musikalischen Kontext zu interpretieren und die Kommunikation Die Patientin entwickelt die Fähigkeit zum dialogischen Spiel, das sowohl genauereinnerhalb des therapeutischen Verhältnisses zu evaluieren musikalische Perzeption, als auch musikalische Umsetzung erfordert

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duktion. Die Produktion von Musik ist, wie die Pro-duktion von Sprache, ein sehr komplexes, nochkaum verstandenes Globalphänomen. Das Ver-ständnis von Musikproduktion könnte einen Hin-weis zur Basisstruktur von Sprache und Kommuni-kation im allgemeinen geben. Die Erforschung die-ser Domäne der Wahrnehmung ist nicht nur zumbesseren Verständnis der Alzheimer Patienten zwin-gend, sondern im gesamten Kontext kognitiver De-fizite und zerebraler Dominanzen. Wie Berman(Berman 1981) konstatierte, könnte es sein, daß dienicht dominante Hemisphäre einen Vorrat an Funk-tionen im Falle regionalen Versagens parat hält, unddaß diese Funktionalität stimuliert werden kann, umdie Progression degenerativer Erkrankung zu ver-zögern.Überdies sollte darauf aufmerksam gemachtwerden,daß, trotz des Versagens des globalen rhyth-mischen Musters bei der oben beschriebenen Pati-entin, sie weiterhin im Takt schlagen konnte. Eineähnliche Situation könnte bei komatösen Patienteneintreten,die ihre fundamentalen Lebensimpulse imrhythmischen Zusammenhang nicht koordinierenkönnen, und somit ihr Bewußtsein nicht wiederer-langen (Aldridge 1991a; Aldridge, Gustorff, & Han-nich 1990).Vielleicht müssen wir uns in zukünftigerForschung der koordinierenden Funktion vonRhythmus im menschlichen Intellekt und Bewußt-sein annehmen, sei es bei Menschen, deren kogniti-ve Fähigkeiten verlorengehen, oder bei Menschen,die ihre kognitiven Fähigkeiten wieder zu erlangenversuchen.

Wir wollten eine gemeinsame Sprache zwischenKlinikern und Therapeuten herausarbeiten und die-ses Ziel haben wir erreicht. Obwohl der klinischeNutzen von Musiktherapie für Patienten mit De-menz oder Pseudodemenz spekulativ blieb, wurdeeine gemeinsame Sprache für die Diskussion undden Vergleich therapeutischer Veränderungen ent-wickelt, die der erste Schritt in einem Programmkontinuierlicher Forschungsdialoge ist. Der nächsteSchritt wird der Versuch anderer Therapeuten sein,mit ihren älteren Patienten zu korrelieren, um fest-zustellen, ob unsere Hypothesen klinischen Unter-suchungen standhalten können.Unsere Erfahrungenlehren uns, daß es wichtig ist, eine Periode aktiverEvaluierung abseits von der Therapie zu berück-sichtigen, und daß diese Evaluierung auch Zeit für

haftes Beweismaterial erweckt auf jeden Fall denEindruck, daß die Lebensqualität von Alzheimer Pa-tienten durch Musiktherapie signifikant verbessertwird (Tyson 1989), begleitet von dem sozialen Ge-samtgewinn der Integration und des Zugehörig-keitsgefühls, der eine Interkommunikation mit sichbringt (Morris 1986). Prinsley empfielt Musikthera-pie in der geriatrischen Pflege von dem Standpunktaus, daß dadurch die individuelle Verabreichung vonBeruhigungsmitteln gesenkt wird,weniger Bedarf anHypnotika auf der Krankenhausstation entsteht undder Rehabilitation generell geholfen wird. Er emp-fielt, daß Musiktherapie sich nach Behandlungszielenorientiere: soziale Ziele der interaktiven Kooperati-on; psychologische Ziele der Stimmungsverbesse-rung und Selbstdarstellung; intellektuelle Ziele derSprachstimulation; Organisation der intellektuellenProzesse; physische Ziele der sensorischen Stimula-tion und motorische Integration (Prinsley 1986).

In weiterer Forschung scheinen Single-Case De-signs - mit der möglichen Einbindung von MultipleBaselines - im klinischen Bereich eine plausible Formder Evaluierung individueller Reaktionen auf musi-kalische Intervenierung mit Alzheimer Patienten zuwerden.Solche Studien würden von sorgfältigen kli-nischen Untersuchungen, Mental-State Examinati-ons und musikalischen Evaluierungen abhängig sein.

Bedauerlicherweise beruht beinahe die gesam-te Literatur zur Kognition und musikalischen Wahr-nehmung auf Musikrezeption und nicht Musikpro-

bei einer gestellten Aufgabe wichtige Eigen-schaften des musikalischen Improvisierens und können durch Musizieren zugänglich gemacht werden.

Zum dritten kann das episodische Gedächtnis für seine Fähigkeit, kurze rhythmische und melo-dische Phrasen zu wiederholen, geprüft werden.

Die Unfähigkeit, solche Phrasen zu bilden, könn-te Gedächtnisschwierigkeiten zugeschrieben wer-den, oder einem bisher unbekannten Faktor, dermöglicherweise mit der Organisation von Zeit-strukturen in Zusammenhang steht.

Wenn rhythmische Struktur einen Gesamtkon-text für musikalische Produktion und eine Basis-struktur für Wahrnehmung darstellt, muß der Ein-druck entstehen, daß es dieser Gesamtkontext ist,der bei Alzheimer Patienten in Verfall gerät. Ein Ver-lust des rhythmischen Kontextes wäre eine Er-klärung für die Fähigkeit dieser Patienten, sich einemrhythmischen und melodischen Spiel nur dann zu-wenden und widmen zu können, wenn der Thera-peut ihnen eine Gesamtstruktur vorgibt.Eine solcheHypothese würde mit der von Swartz vorgeschla-genen musikalischen Hierarchie (Swartz et al. 1989)S. 154) übereinstimmen und einen globalen Verfallder Kognition bei einer Beibehaltung der einfache-ren Fähigkeiten nahelegen. Jedoch müßte bei dieservon Swartz propagierten Hierarchie der musikali-schen Wahrnehmungsebenen wahrscheinlich eineweitere Unterteilung in eine Klassifizierung von Mu-sikrezeption und Musikproduktion vorgenommenwerden.

Die Musiktherapie scheint auch deshalb ein sen-sibles Evaluations-Instrument zu sein, weil sie die le-xikalisch ungebundenen prosodischen Elementevon Sprache zu prüfen vermag. Weiterhin könnenrezeptive und produktive Funktionsgebiete eva-luiert werden,die nicht in ausreichendem Maße vonanderen Prüfverfahren berücksichtigt werden, z.B.Geschicklichkeit, Durchhaltevermögen, Aufmerk-samkeit, Konzentration und Intentionalität (siehe Ta-belle 6). Zusätzlich bietet sie eine Therapieform, diemöglicherweise kognitive Aktivität auf eine Art undWeise stimulieren könnte, daß für progressiven Ver-fall anfällige Regionen erhalten bleiben.Anekdoten-

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die Orientierung zur musiktherapeutischen Umge-bung, zur Interaktion, zu den Instrumenten und zurImprovisationsaktivität einkalkulieren sollte. Musik-produktion ist,wie auch Sprachproduktion,ein kom-plexes Globalphänomen, das bisher wenig verstan-den wurde. Ein Verständnis von musikalischer Krea-tivität könnte vielleicht einen Hinweis zur universa-len Grundstruktur von Sprache und Kommunikationgeben.Wie Berman konstatiert (Berman 1981), istes vielleicht möglich, daß die nicht dominante He-misphäre einen Vorrat an Funktionen für den Fall ei-nes regionalen Versagens bereithält, und daß dieseFunktionalität stimuliert werden könnte, um dieProgredienz degenerativer Erkrankungen aufzuhal-ten.

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Die Schilderungen dieses Bei-trages beziehen sich auf die

musiktherapeutische Arbeit mitHIV- und AIDS-betroffenen Men-schen, die im Jahr 1987 begann.In diesen Ausführungen steht diemusiktherapeutische Praxis unddas Umfeld, in dem diese Betreu-

ung stattgefunden hat, im Vorder-grund. Die medizinischen Aspekte

dieser Arbeit sind in früheren Beiträ-gen, z.B. der Zeitschrift AIFO (Schnürer

1995 ), dargestellt. Konzeptionelle und wis-senschaftliche Hintergründe zum Einsatz der Musik- und Kunstthe-rapie in diesem Indikationsgebiet sind im Buch “Music Therapy Re-search and Practice in Medicine“ zugänglich (Aldridge 1996).

Das Umfeld

Das Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke ist eine Klinik, die aufdem Hintergrund der Anthroposophie Rudolf Steiners eine er-

weiterte medizinische Praxis anbietet. Neben den schulmedizini-schen Maßnahmen werden hier auch besondere pflegerische An-wendungen, kunsttherapeutische Begleitung und komplementäremedizinische Verfahren in die Behandlung einbezogen und in einerengen Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen zu einemTherapiekonzept komponiert.

Die Frage nach der Betreuung von HIV- und AIDS-betroffenen Pa-tienten stellte sich gleichzeitig von zwei Seiten. Zum einen kamen Be-troffene auf der Suche nach einer angemessenen medizinischen Be-treuung, die auch komplementäre Aspekte einbezieht, nach Her-decke - sicherlich auch in der Hoffnung von “alternativmedizinischerSeite“ Antworten auf drängende Fragen zu erhalten, die die Schul-medizin schuldig blieb. Zum anderen ergab sich die Möglichkeit, ausder Situation der Betroffenen in ihrem individuellen Charakter drän-gende Fragen des Gesundheitssystems aufzugreifen und stellver-tretend zu bearbeiten. Ein Anliegen, das seit jeher im Gemein-schaftskrankenhaus Herdecke einen hohen Stellenwert hatte.

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Auch wenn diese Fragen hier nicht beantwortet werden können,sollen einige doch gestellt werden, weil sie auch die hier geschil-derte therapeutische Arbeit beeinflußt haben:

die Begriffsbestimmung von Krankheit und Gesundheit

die Frage nach Therapiezielen angesichts einer chronischen, fort-schreitenden Erkrankung

die Frage nach der Lebensentfaltung des Individuums angesichtseiner begrenzten Lebensspanne

die Bewertung medizinisch-therapeutischer Erfolge

die soziale Aufgabe einer Integration stationärer und nicht sta-tionärer Behandlung und Lebensbegleitung

die Bedeutung des Sterbens im Behandlungskontext.

Alle diese Fragen sind in unterschiedlichen Zusammenhängenaufgetreten und diskutiert worden, versammelten nun aber um diebetroffenen Menschen herum einen Kreis von Ärzten, Pflegendenund Therapeuten zu einer langjährigen kontinuierlichen klinischenArbeit. Einmal wöchentlich trafen sich alle in die Begleitung der Pa-tienten einbezogenen Menschen zu einer Besprechung, um die ver-schiedenen Wahrnehmungen, Entwicklungen und Veränderungenmiteinander zu besprechen und aus diesem gemeinsamen Aus-tausch zu einer angemessenen individuellen Therapie für die Be-troffenen zu kommen.

In der Arbeitsgruppe waren neben den medizinischen Aspektendie pflegerischen Beobachtungen und die Beiträge der kunstthera-peutischen Disziplinen von besonderem Gewicht. In der Beschrei-bung hier wahrnehmbarer Prozesse bildeten sich Entwicklungen ab,die eine wesentliche Erweiterung der Labor- und Funktionsdiagno-stik darstellten. So wurden in der Eurhythmie - einer bestimmtenForm der kunsttherapeutischen Bewegungsgestaltung - beispiels-weise räumliche Bezüge und Körpereigenwahrnehmung an Bewe-gungsgestalten sichtbar. Malen und Plastizieren verdeutlichten Farb-empfindungen, räumliche und zeitliche Gestaltungsprozesse unddie Musiktherapie zeitlich-formale und gestalterische Gesichtspunk-te. Aus der reinen Beschreibung der künstlerischen Prozesse herausentstand oftmals ein Gesamtbild des Patienten, das die medizini-

schen und pflegerischen Maßnahmen mitgeprägt hat. Vielfach wur-den Veränderungen, Prozesse oder Entwicklungen im Behand-lungsverlauf in allen Bereichen deutlich, so daß die Aussagekraft je-der einzelnen Therapie für sich genommen belegt werden kann (Ald-ridge et al. 1990; Schnürer 1995). Man kann aus dieser Tatsache aberauch schließen, daß eine Veränderung in einem der therapeutischenTeilbereiche eine Gesamtentwicklung repräsentiert, die auch in an-deren Bereichen auftreten wird.

Diese Grundannahme und die fruchtbare Zusammenarbeit zwi-schen allen Berufskollegen war die Grundlage für die Entwicklungder nun dargestellten musiktherapeutischen Gedanken. Sie stehengleichsam stellvertretend auch für andere Kunsttherapieformen. Nurin der Anerkennung des jeweils eigenen Beitrages jedes Berufeswird eine Gesamtbehandlung aus einzelnen Teilen zu einer Therapie.Für die Erfahrung, Teil dieses therapeutischen Teams gewesen zusein, danke ich daher an dieser Stelle allen Kolleginnen und Kolle-gen.

Die Patienten, denen ich in meiner musiktherapeutischen Arbeitbegegnet bin, waren in ihren Biographien, den individuellen Le-bensentwürfen, den sozialen und persönlichen Hintergründen sounterschiedlich, daß es schwer fällt, von einer Gruppe zu sprechen,weil diese Gruppenbildung letztendlich nur auf die Gemeinsamkeitin der Diagnose des HIV-Virus und der daraus resultierenden Kon-sequenz besteht. Daher möchte ich die Möglichkeiten der Musik-therapie an einzelnen - individuellen Beispielen - aufzeigen. DieseBeispiele verdeutlichen aber dennoch insofern etwas allgemeines,als jeder HIV- und AIDS-Betroffene während seines Lebens ähnlichePhasen durchläuft, die über den individuellen Krankheitsprozeß hin-ausweisen.

Der Anfang: nach dem positiven HIV-Befund

Zunächst stehen die Betroffenen vor der Situation, mit dem posi-tiven Befund des HIV-Tests konfrontiert zu sein. In dieser Phase

kommt es bereits zu seelischen und persönlichen Auseinanderset-zungen mit einer Krankheit sowie zu Umfeldveränderungen aufgrunddes Testergebnisses, obwohl der Gesundheitszustand auch über län-gere Zeiträume als “normal“ anzusehen ist. Welche innerpersönli-

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chen Auseinandersetzungen stattfinden, wird in verschiedensten au-tobiographischen Schilderungen anschaulich dargestellt (Auras1994). In solchen autobiographischen Werken wird auch die innereNot deutlich, die dadurch entsteht, Dinge ausschließlich mit sichselbst abmachen zu müssen, die das Leben in so existentieller Wei-se bestimmen und auch zukünftig prägen werden.

In dieser Phase lernte ich im Krankenhaus Herrn M. kennen. Er warein selbständiger, erfolgreicher Unternehmer, der im Rahmen eineranderen Behandlung - eher zufällig - mit seinem HIV-Befund kon-frontiert wurde. Im Gegensatz zu anderen Betroffenen konnte er we-der die Umstände noch den Zeitpunkt seiner Ansteckung ausma-chen. Als er zum ersten Mal zur Musiktherapie kommt, ich ihn abho-le und zum Therapieraum begleite, spricht er viel, vermeidetaber alles, was mit seinem Befund oder seiner Krankheit zutun hat.

Im Musikraum findet er verschiedene Instrumen-te, Percussionsinstrumente wie Trommeln und Zim-beln, Stabspiele aus dem Orchesterbereich undandere leicht zu spielende Instrumente vor. Ich er-kläre ihm, daß er selber auswählen dürfe, was erspielt, und daß ich sein Spielen auf dem Klavier be-gleiten werde. Nach anfänglichem Zögern und derBeteuerung, daß er gänzlich unerfahren und unmu-sikalisch sei, beginnt er mit zwei Stöcken auf einerTrommel zu spielen. Er spielt - motorisch geschickt - ei-nen schnellen, fast getriebenen Galopp-Rhythmus. Ichbegleite sein Spiel akkordisch zunächst nur auf den Takt-schwerpunkten, die er bildet, später auch in den kleineren rhythmi-schen Einheiten mit fragmentierten Melodiemotiven. Sein Spielenwird immer lauter, und auch die begleitende Musik wird in ein cres-cendo geführt. Nach etwa 10 Minuten lauten Spielens bricht er ab,wechselt auf eigenen Wunsch das Instrument, geht zu einem Metal-lophon und beginnt zu spielen. Dieser Wechsel vollzieht sich ohneKommentar, aber nach einem Blickwechsel, der deutlich macht, daßwir uns verstanden haben.

Am Metallophon sitzend, beginnt er zu spielen. Zu meiner Über-raschung probiert er nicht erst den Klang aus, sondern beginnt,ebenso heftig, wie er zuvor die Trommelimprovisation beendet hat,mit genau dem gleichen rhythmischen Motiv sein Spielen. Die me-lodischen Qualitäten des Instrumentes werden ihm scheinbar gar

nicht bewußt, und die tonale Begleitung eines Dreitonmotivs, dassich - wie in der Minimal Music Steve Reichs - immerzu wiederholt,scheint er gar nicht wahrzunehmen. Nach zwölf Minuten beendet erauch diese Improvisation, verharrt einen Moment in äußerer Ruheund - wie es mir scheint - innerer Stille, bevor wir beide mit einemKopfnicken diese erste musikalische Begegnung abschließen. Ingroßer Ruhe begleite ich ihn auf sein Zimmer.

Im gesamten Verlauf seiner weiteren Lebensgeschichte bin ichHerrn M. immer wieder begegnet. Im Rahmen seiner stationärenKrankenhausaufenthalte; in der ambulanten Begleitung während ei-ner Phase, in der er eine Anbindung suchte; als Begleiter zu einemKonzert, das er - schon schwerstkrank - gerne hören wollte und als

Besucher zu Hause, während er bettlägerig war. Diese erste Be-gegnung, in der das Unaussprechliche, was ihm geschehen

war, präsent und hörbar war, obwohl nichts gesagt wer-den brauchte, und die Tiefe, die in dieser ersten mu-

sikalischen Begegnung lag, hat den gesamten wei-teren Weg der Therapie prägend bestimmt.

Gerade hierin sehe ich die große Chance für dieMusiktherapie in der frühen Betreuung: eine the-rapeutische Beziehung kann bei guter körperlicherVerfassung aufgebaut werden; Unaussprechliches

kann hörbar werden und das, was hörbar wird, wirdin der musikalischen Beziehung mit einem anderen

Menschen geteilt.

Krisenintervention und stationäreAufenthalte...

So wie für Herrn M. ist der weitere Weg für alle Betroffenen davongekennzeichnet, daß wiederholte Krankenhausaufenthalte not-

wendig sind; zum Teil mit oder unmittelbar nach lebensbedrohlichenKrisen, die absehbar - aber doch immer unvorhergesehen - in das Le-ben einbrechen. Das Ziel aller in diese Situation einbezogenen Men-schen ist es zunächst, diese akute Krise zu überstehen, ein möglichstgroßes Maß an persönlicher Gesundheit wiederzuerlangen und indie vertrauten Lebensumstände zurückkehren zu können. So be-gegne ich über mehrere Jahre oftmals auch Herrn W.

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Während seines ersten Krankenhausaufenthaltes hat er wöchent-lich zwei Musiktherapiesitzungen. Dieses Angebot bestand auchwährend seiner späteren Aufenthalte. Wegen seines körperlichenZustandes konnte er nicht immer beide Termine wahrnehmen.

Schon in den allerersten Sitzungen - zu denen Herr W. mit großerBereitschaft kommt - treten musikalische Besonderheiten auf, dieden gesamten Weg in der Musiktherapie kennzeichnen und bestim-men. So zeigt sich in seinem Spiel an melodischen Stabspielen einegroße Sensibilität. Diese drückt sich in zarten Klängen und großerEinfühlsamkeit in ruhige Stimmungen aus. Sein Spielen ist schwe-bend, ohne klar erkennbare äußere Strukturen und wird vom Thera-peuten mit offener, tonal nicht gebundener Musik begleitet. Unmit-telbar kommt es so zu einem Zusammenspiel.

In krassem Gegensatz zu dieser Seite seines Spielens steht diemusikalische Gestaltung an percussiven Instrumenten wie Trommelund Zimbel. Hier ist seine überwiegende Ausdrucksform sehr lautes,hartes Spielen. Er spielt in Einzelschlägen, die in kontinuierlicher Ab-folge zwar stabil wirken, jedoch kein Tempo in musikalischem Sinnebilden, da sie unverbunden aufeinander zu folgen scheinen. Bei dy-namischen (Lautstärke) oder agogischen (Tempo) Veränderungenwird sein Spielen noch fester; kontinuierliche Entwicklungen sindkaum möglich, vielmehr verlaufen Steigerungen und Veränderungenin Stufen.

Bei beiden beschriebenen Spielweisen ist auffallend, daß es soscheint, als könne er selber nicht in das musikalische Geschehen ein-greifen. Einmal entstandene Stimmungen könnten sich ewig fort-setzen, wenn sie nicht teilweise zu nahezu körperlicher Erschöpfungführten, die ein Abbrechen nötig werden lassen. Einflüsse der Impro-visation des Therapeuten im Hinblick auf Veränderungen oder for-male Verläufe sind kaum zu verzeichnen, was bei der zunächstoffensichtlichen Sensibilität im Zuhören erstaunt.

Im Verlauf der ersten Behandlungseinheit wird immer deutlicher,daß Herr W. diese Diskrepanz wahrnimmt. In allen Sitzungen ist da-her ein musikalisches Element, an dem er arbeitet, die Formfindungund die Gestaltung von Übergängen und Schlüssen. Bei ent-sprechenden musikalischen Angeboten des Therapeuten findet er insich zunehmend die Möglichkeiten, in musikalischem Sinne dieseDinge elementar zu veranlagen.

Immer hat er viel Freude an den Musiktherapiesitzungen, auchwenn er nachher körperlich wie geistig erschöpft ist. Er beschreibt,daß genau seine Musik erklingt, und er sich in der Musik selberbegegnet. Über diese Begegnung hinausgehend sieht er aber auchunmittelbar die Möglichkeit, in das, was ihm von außen begegnet,handelnd einzugreifen.

Nach einer der ersten Sitzungen sagt er, daß er aus diesem Grun-de die Musiktherapie bedeutsamer erlebe als verschiedene Formender Psychotherapie, die er kennengelernt habe.

Die Gesamtkomposition aller therapeutischen Maßnahmenführen dazu, daß Herr W. das Krankenhaus bald wieder in stabilemZustand verlassen kann.

Wieder...

Die musikalischen Aspekte bestimmen auch den zweiten musik-therapeutischen Behandlungsblock in seinem zweiten Kranken-

hausaufenthalt , der ein halbes Jahr später nötig wird. Deutlicher alsin den vorangegangenen Sitzungen findet Herr W. - mit Hilfe durchdie improvisierte Musik - zu Enden und zu Abschlüssen. Besonderswenn sein eigenes Spielen aufgegriffen und in seinen her-vortretenden Elementen gesteigert wird, gelingt es ihm immer, ver-ändernd einzugreifen, ohne dabei den musikalischen Fluß unterbre-chen zu müssen.

Zu Beginn des dritten musiktherapeutischen Behandlungsblockswährend seines nächsten Akutaufenthaltes im Frühjahr des folgen-den Jahres ist der vorherrschende musikalische Eindruck wieder derdes ungeformten, zerfallenden Spielens. Sehr schnell findet Herr W.aber die im vorangegangenen Krankenhausaufenthalt erarbeitetenMöglichkeiten wieder. Parallel dazu stabilisiert sich sein körperlicherZustand rasch. Erstmals treten jetzt Phasen auf, in denen es zu einemdialogisch imitatorischen Wechselspiel und zu Pausenbildung in sei-nem Spielen kommt. Diese Pausen werden durch musikalische Ge-staltungselemente des Therapeuten verlängert, so daß es erstmalsnach Schlußbildungen zu bewußten Neuanfängen kommt. Mit ge-wissen Umstellungsproblemen gelingt es Herrn W. nun auch, Ron-doformen - also musikalische Formen mit sich wiederholenden Ab-

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schnitten - zu gestalten. Wiedererkennen und wiederholen ohne da-bei mechanisch zu werden, sind die hervortretenden Merkmale in-nerhalb dieses Improvisationsabschnittes.

Herr W. verläßt die Klinik diesmal mit der Frage, in welcher für ihnangemessenen Form er die in der Musik- und Kunsttherapie erleb-ten Fähigkeit zu selbstbestimmten Initiativen und eigenständigemHandeln auch im Alltag umsetzen kann.

...und wieder...

Auch während der bald notwendigen nächsten stationären Be-handlung knüpft er zunächst musikalisch an die vorherigen Mu-

siktherapiesitzungen an. Aufgrund seiner sich rapide ändernden kör-perlichen Verfassung ist eine kontinuierliche Arbeit jedoch nichtmöglich. Da Herr W. es ablehnte, daß ich auf dem Zimmer für ihn mu-siziere, wurde die Begleitung zeitweise sogar unterbrochen.

Die erste Sitzung nach langer Bettlägerigkeit schließt - obwohl ersichtlich entkräftet ist - an die vorhergegangene an. Er kann seinSpielen selber beeinflussen, ist flexibel und erlebt so im musikali-schen Dialog Selbstvertrauen, Zuspruch und die Möglichkeit, ei-genständig handeln zu können. Dies geschieht in einer spielerischenSituation, die scheinbar keine Anforderungen an ihn stellt. Zu diesemZeitpunkt entschließt er sich, in Absprache mit allen Behandelnden,seine Kräfte einzuteilen und als einzige Kunsttherapie die Musikthe-rapie fortzuführen. Er hat bis zu seiner Entlassung wöchentlich zweiSitzungen.

...und wieder...

Auch in seinem letzten für diesen Bericht relevanten Aufenthalthat er wieder Musiktherapie. Diesmal ruft er erstmals schon vor

seiner Krankenhauseinweisung selber an, um sich anzumelden. Auchdiesmal kann er musikalisch unmittelbar an den vorherigen Aufent-halt anknüpfen. Obwohl er seine gesamte Lebenssituation in Ge-sprächen mit depressiver Gestimmtheit in Frage stellt, erlebt er in

der Musiktherapie mit großer Freude seine Sicherheit in der forma-len Gestaltung; genießt es, in unterschiedlicher Stilistik (von orien-talischer Musik bis Schuhplattler) begleitet zu werden. Er kann sichnicht nur in die jeweilige Stimmung einfinden, sondern diese inten-tional initiieren und die Improvisation führen. Bei treibender Musikkann er nach kurzen Phasen des Folgens selber Wendungen geben,die zu ruhigeren Phasen führen und spielt dadurch gleichberechtigtseinen unabdingbar notwendigen Part in einem musikalischen Ge-samten. Er erkennt und genießt die Situationen, in denen es in derMusik zu einem sozialen Miteinander kommt und ist jedesmal trau-rig, daß die Therapiezeit vorüber ist. Die Enden der Therapiesitzun-gen werden jeweils vom Therapeuten gesetzt. Erst aus dem Raumherausbegleitet scheint Herr W. gewahr zu werden, daß ihn die Mu-sik körperlich und seelisch anstrengt.

Auf die Frage, warum er trotzdem komme, antwortete ein ande-rer Patient einmal: “immer wenn ich spiele, weiß ich, daß ich lebe“.Diesen unmittelbaren, sinnlichen Zugang zum Lebensgefühl unddem positiven Erleben auch außerhalb der stationären Betreuungzur Verfügung zu stellen, war eine wichtige Aufgabe. Sie gelang beidenjenigen Patienten, die im direkten Einzugsbereich des Kranken-hauses lebten, so daß sie ambulante Angebote auch wahrnehmenkonnten.

...immer ein Wiedersehen

Diese ambulante Arbeit ermöglichte, neben den positiven Aspek-ten für die Patienten, auch eine kontinuierliche Begleitung sei-

tens der Therapeuten. Wie bereits erwähnt, werden in den Kunst-therapien Entwicklungen sichtbar, die auch auf Veränderungen desAllgemeinbefindens schließen lassen. Im kontinuierlichen Kontaktwird es so möglich, vielleicht auch Empfehlungen zu Untersuchun-gen zu geben, bevor sich die Situation zu einer akuten Erkrankungzuspitzt. Für die Betroffenen bieten solche ambulanten Anbindun-gen die Möglichkeit, einen kontinuierlichen Gesprächspartner zuhaben, bei dem auch Sorgen und Nöte ihren Platz finden können.Die Betreuten finden die Möglichkeit, diejenige Therapie, die sie alsbesonders hilfreich empfunden haben, auch außerhalb der Kran-kenhaussituation wahrzunehmen. Für die Therapeuten bietet dieseEinbindung die Möglichkeit, die Betroffenen auch in Phasen relati-

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ver Gesundheit und freier Lebensentfaltung wahrzunehmen. Hier-durch wird es erst möglich, Hypothesen zu Zusammenhängen vonGestaltungsprozessen im künstlerischen Bereich und dem Krank-heitsgeschehen zu überprüfen und zu relativieren, die sich aus denBeobachtungen während der stationären Aufenthalte ergeben.

Wenn man sprachlos ist...

Sowohl in den stationären als auch in den ambulanten Zusam-menhängen wird auch der Grund für die Phase der Arbeit gelegt,

in der es nicht mehr um die “Verbesserung“ des Gesundheitszu-standes oder um Heilung im Sinne einer möglichst umfassenden

Symptomfreiheit, sondern um die Begleitung inder letzten Lebensphase und um Heilung

im wirklich umfassenden Sinne des“ganz werdens“ geht (Aldridge

1996). Diese letzte Phase erlebtman sowohl in klinisch-stationärenals auch in häuslichen Zusam-menhängen.

In beiden sind musiktherapeu-tische Begleitungen möglich und

erfolgt. Im Gegensatz zu der zuvorbeschriebenen Arbeitsstruktur der

Sitzungen im Therapieraum findetdie Arbeit nun überwiegend am Bett

des Patienten statt und erfordert eine hoheFlexibilität hinsichtlich der organisatorischen Um-

stände. So kann es z.B. im Krankenhaus geschehen, daß der Patientgerne aktiv musizieren möchte, wenn er sich kräftig genug fühlt; ge-nausogut kann es sein, daß man - nach einem kurzen Anruf bei Pfle-genden - zum Patienten kommt und innerhalb der Zeit, die der Wegin Anspruch genommen hat, zu einer krisenhaften Veränderung desZustandes gekommen ist, der den Gedanken an Kunsttherapie inden Hintergrund drängt.

...in der Klinik...

Ein solcher Patient war Herr B. Sieben Wochen lang begleite ichihn während seines letzten Krankenhausaufenthaltes. Ich musi-

ziere zunächst zweimal wöchentlich mit ihm, sofern es sein Zustanderlaubt, der sich sprunghaft verändert. Ich versuche ihn so oft es gehtim Musiktherapieraum zu treffen, später gehe ich auch in sein Kran-kenzimmer. Um ihm dennoch alle Optionen offenzuhalten, halte ichtäglich zur gleichen Zeit den Therapieraum für ihn bereit. Herrn B.sKontakt mit dem medizinischen Personal auf der Station erweist sichin dieser ganzen Zeit als ausgesprochen schwierig. Er ist fordernd,ungehalten, unvorhersehbar cholerisch und wenig zu Kompromissenbereit.

In der Musiktherapie wirkt er weich und durchlässig. Bei dem ver-abredeten ersten Termin ist Herr B. bereits zu schwach, um selber inden Musiktherapieraum zu kommen, also hole ich ihn auf seinen aus-drücklichen Wunsch hin ab. Im Krankenbett fahre ich ihn in den The-rapieraum. Schon auf dem Weg übergibt er mir die Noten einerChormotette, die ich für ihn singen und spielen soll. Für ihn habe Mu-sik, besonders das Chorsingen, immer eine ganz große Rolle ge-spielt, das wolle er auf keinen Fall aufgeben, sagt er. Im Therapie-raum versucht er, so gut es ihm möglich ist, Fragmente mitzusingen,muß aber immer wieder wegen seiner Atemprobleme abbrechen. Ersignalisiert aber gleichzeitig gestisch, daß ich weiterspielen solle.Nach dem ersten Abschnitt des Stückes sagt er unter Tränen, daß ernicht einmal mehr das tun könne, was er kennt, und was er sich ge-danklich genau vorstellen kann. Also soll ich es für ihn singen.

Die Arbeitssituation verändert sich mit seinem immer schlechterwerdenden Gesundheitszustand, so daß ich ihn bald täglich auf demZimmer besuchen gehe. Da er wünscht, “richtige Musik“ zu hören,bringe ich zu diesen Besuchen ein Tischcembalo mit. Zu einer Ver-abredung bringe ich verschiedene Stücke mit, die ich ihm vorschla-gen möchte. Er wünscht von sich aus, ohne die mitgebrachten No-ten beachtet zu haben, daß ich den Bachchoral “Jesu meine Freu-de“ für ihn singen soll, der zufällig auch bei den Noten ist. Am Cem-balo begleite ich mich selbst zum Singen. Entkräftet hält er eineKopie dieses Chorals in den Händen und verfolgt den Text der er-sten beiden Strophen, während ich singe:

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“Jesu meine Freude,meines Herzens Weide,Jesus meine Zier.Ach wie lang, ach langeist dem Herzen bange und verlangt nach Dir.Gottes Lamm, mein Bräutigam,außer Dir soll mir auf Erdennichts sonst lieber werden.

Unter Deinen Schirmenbin ich von den Stürmenaller Feinde frei.Laßt den Satan wettern,laßt die Welt erzittern,mir steht Jesus bei.Ob es jetzt gleich kracht und blitzt,ob gleich Sünd’ und Hölle schrecken,Jesus will mich decken.“

Die 3. Strophe singt er unter großer Anstrengung mit.

“Trotz dem alten Drachen,trotz dem Todesrachen,trotz der Furcht dazu.Tobe Welt und springe,ich steh’ hier und singein gar sich’rer Ruh...“

... und sagt sehr bestimmt: ”So, das reicht, vielen Dank”.

Am nächsten Tag verstirbt Herr B.

...oder zu Hause...

Für viele Betroffene - wie für die meisten Menschen - besteht derWunsch, zu Hause, im Kreise der vertrautesten Personen das Le-

ben zu beschließen. Wo immer dies möglich war, versuchte die Ar-beitsgruppe diesem Wunsch zu entsprechen. Weil sich die Erfahrungeiner häuslichen Begleitung in vielem von den stationären Arbeits-zusammenhängen unterscheidet, habe ich für diesen Artikel die Be-

treuung von Frau U. als Beispiel gewählt. Als häuslich begleitendeBezugsperson gehen viele professionelle Schutzräume, die das Ar-beiten in der Klinik bietet, verloren. Man steht plötzlich im wahrstenSinne des Wortes im “Schlafzimmer der Patienten“. Vielen Dingen,die ich aus den Teambesprechungen zu kennen glaubte, trete ichnun direkt gegenüber: dem familiären Umfeld, der Wohnsituation,Problemen mit Kostenträgern etc. Unweigerlich wird man zu einemTeil des Lebens, der Familie und muß dieser Vertrautheit auch offengegenüberstehen.

Täglich besuche ich Frau U.; gehe in das Zimmer, in dem sie ab-gemagert und kraftlos liegt. Immer wenn ich komme, freut sie sich.Nach Kräften erzählt sie, was sie bewegt. Irgendwann stellt sie danndie Frage, ob ich für sie singe. Mit ihrer Atmung, ganz leise, summeich für sie. Sie lautiert mit, und es entsteht ein zarter, zweistimmigerGesang. “Wie schön“, sagt sie, “daß die Töne immer zusammen-passen“. Und das stimmt. Mit Strukturhilfen wie der Aufgabe, jedenTon zweimal zu singen und in meinem eigenen Singen diese Wie-derholungen genau um einen Ton zu versetzen, entstehen plötzlichmusikalische Vorhalte, Spannungen und Auflösungen. Ihr Atmen,das ihr schwer ist, vertieft sich, und am Ende atmet sie ganz kraftvolldurch, seufzt und sinkt entspannt in ihre Kissen zurück.

Ein anderer Patient beschrieb dies einmal mit den Worten: “Dasist so schöne Musik wie das Doppelkonzert von Bach, das ich immerso gerne gehört habe.“ Das sei ihm jetzt aber zu lang und zu viel.

Auch Frau U. lebt sonst in einer sehr ruhigen Atmosphäre, die sieauch selber ausstrahlt. Mitunter ist sie tageweise zu schwach, um sel-ber zu singen, genießt aber, die Melodien innerlich mitzusummen,auch wenn ich sie nicht höre. Manchmal dämmert sie auch - währendwir musizieren - einfach weg oder schläft ein. Sie taucht dann mit ei-nem zufriedenen Lächeln wieder auf und singt manchmal sogar so-fort wieder mit.

Eines Tages komme ich zu meinem täglichen Besuch, und sie lebtnicht mehr. Wie selbstverständlich gehen alle Freunde und An-gehörigen aus dem Zimmer, so wie auch schon immer, während wirnoch miteinander musizierten...

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Am Ende...

Diese vier Schilderungen sollten die verschiedenen Möglichkeitenzur Begleitung von Menschen darstellen, die an unterschiedli-

chen Punkten innerhalb ihrer Biographie mit dem HIV-Syndrom le-ben. Alle Menschen, von denen ich hier erzählt habe, zu denen micheine tiefe Beziehung verbunden hat, eine musikalische, sind inzwi-schen verstorben. Diese Begegnungen, Erlebnisse und Erfahrungenhaben mein eigenes Nachdenken über die Frage des Therapieer-folges, über die Frage der Gesundheit und der Lebenszufriedenheitnachhaltig geprägt. Die Erlebnisse und die Begegnung mit zahlrei-chen Patienten zu bestimmten Momenten ihres Lebens oder überlängere Zeiträume hinweg, hat mir gezeigt, welchen Stellenwert Mu-siktherapie und Kunsttherapien für die Begleitung chronisch krankerMenschen haben kann: sie suchen sie in ihrer Gesundheit auf.

Dort wo diese Therapien ihre Stärken haben, in der Unmittelbar-keit des Kontaktes, in der Aufrichtigkeit der Begegnung, in derGleichwertigkeit, in der Sicht auf die Potentiale des Gegenübers undin der Möglichkeit, bis zum Tode hin mitgeführt zu werden, sind siein der Lage, das Nachdenken über die eingangs dargestellten Fra-gen anzuregen und uns in der direkten menschlichen Begegnung zubeschenken.

..... tobe Welt und springe ....

Ich steh' hier und singe....

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Mit der Frage, ob und wie Tinnitus durch Musiktherapiebeeinflußbar ist, wurden fünf Patienten mit chroni-

schem subjektiven Tinnitus musiktherapeutisch behandelt.Der Therapieverlauf wurde durch Tonbandprotokolle dokumen-tiert und musiktherapeutisch ausgewertet. Parallel dazu wurden diePatienten von einem unabhängigen Beobachter regelmäßig mitdem Tinnitus-Fragebogen und der HAD-Skala befragt. Nach Ab-schluß der Behandlung erfolgte eine weitere eigene Einschätzungdes subjektiven Befindens und die Probanden wurden hinsichtlichdes Therapieerfolges befragt.

Die Ergebnisse werden anhand exemplarischer Einzelfallberichtevorgestellt. Bei zwei Patienten trat nach der Therapie sowohl sub-jektiv als auch objektiv eine deutliche Besserung ein. Eine Patientin

gab an, bei objektiv nur unwesentlicher Besserung, wesentlichbesser mit dem Tinnitus zurechtzukommen. Zwei Patienten

haben die Therapie nicht beendet . Tinnitus, eine Einführung:

Jeder von uns kennt Ohrgeräusche: sie treten aus demNichts auf und verschwinden ebenso plötzlich wieder. Die

Geräusche lassen sich als Pfeifen, Rauschen, Summen oder Klingelnbeschreiben und haben im Gegensatz zum herkömmlichen Begriffdes Hörens kein äußeres Schallereignis als Ausgangspunkt. Ein dau-erhaft bleibendes Ohrgeräusch bezeichnet man als Tinnitus (lat. tin-nitus=Klingeln).

Obwohl kein umweltbezogener Hörvorgang vorliegt, lassen sichfür diesen gehörten Sinneseindruck grundsätzlich zwei Kategorienbilden, objektive und subjektive Ohrgeräusche.

Während die objektiven Ohrgeräusche, die beispielsweise inden Strömungsgeräuschen der Blutgefäße ihren Ursprung

haben, auch von einem Untersucher festgestellt werdenkönnen, sind subjektive Ohrgeräusche für einen Unter-

SCHÖPFERISCHE MUSIKTHERAPIE BEI PATIENTEN MIT CHRONISCHEM TINNITUSLutz Neugebauer

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sucher nicht feststellbar. Indirekt läßt sich aber auch ein subjektiverTinnitus aus den Beschreibungen der Patienten oder anhand ver-gleichbarer Geräusche nachvollziehen. Durch die Möglichkeit derelektronischen Klangsynthese ist es inzwischen sogar möglich, auchkomplexe subjektive Ohrgeräusche zu rekonstruieren und für dasUmfeld erlebbar und nachvollziehbar zu machen. Schon das kurzeVorspielen dieser Klänge löst bei den Hörern oft große Betroffenheitund Empathie mit den direkt Betroffenen aus. Wie wichtig diese Mit-teilbarkeit für Tinnitus-Betroffene ist, wird später noch deutlichwerden. Früher war dieses Privileg nurbesonders musikalisch Begabten ver-gönnt, wie dem Komponisten F. Smeta-na, der einen von ihm wahrgenomme-nen Tinnitus-Klang in sein e-mollStreichquartett ‘Aus meinem Leben’einkomponiert hat. (Honolka 1989; Uex-küll 1990).

Forscht man nach den Ursprüngendieser Hörerlebnisse, wird man nur teil-weise eindeutige kausale Zusammen-hänge aufdecken können. Eine häufigeUrsache für das Auftreten eines Tinnitussind äußere traumatisierende Schaller-eignisse, z.B. laute Knallgeräusche oderandere extreme Schallexpositionen, z.B.bei Rockkonzerten oder durch Maschi-nen. Daß infolge dieser Traumatisie-rung ein dauerhaft wahrgenommenesGeräusch auftritt, läßt sich physiolo-gisch durch eine Schädigung der Haar-zellen im Innenohr erklären. Währendsie sich im Innenohr sonst durch dieSchalldruckwellen bewegen und durch diese Reizung ein Hörerleb-nis vermittelt wird, senden sie nach einer Schädigung kontinuierlichImpulse aus, die als Hörempfindung wahrgenommen werden (Bran-dis 1990). Unter den Berufskrankheiten nehmen Lärmschäden inzwi-schen die erste Stelle ein (Knör 1996).

Neben diesen von außen eintretenden traumatischen Hörschädi-gungen werden als Ursache für den Tinnitus in der Literatur aberauch immer wieder Streß, Belastungen und Dispositionen der Per-sönlichkeit beschrieben (Andersson 1997 b; Knör 1995, 1996), die zu

einem Ohrgeräusch oder zu einem Hörsturz mit nachfolgendem Tin-nitus führen. Die Informationen der Deutschen Tinnitus-Liga weisendarauf hin, daß der Tinnitus auf etwas aufmerksam machen will; Be-troffene verstehen die Ohrgeräusche als ‘wohlmeinende Mahner’(Knör 1996) und zeigen in diesem Symptomverständnis eine Auffas-sung von Gesundheit, welche die Krankheit als mißlungenen Versucheines Gesundwerdens (Matthiessen1984) versteht. Mit dem AspektGesundheit ist hier allgemein die persönliche Gestaltungsleistungangesprochen, die in der Literatur als wesentlicher Hintergrund für

kunsttherapeutische Arbeiten gesehenwird (Aldridge 1996).

Besteht ein Ohrgeräusch länger alsdrei Monate, wird es als chronischer Tin-nitus eingestuft. In der Bundesrepublikgeht man von etwa einer Million betrof-fener Menschen (Knör 1995) aus. Eine si-cher wirksame und anerkannte Thera-pie gibt es bisher nicht, so daß sich ge-rade in der Behandlung des chronischsubjektiven Tinnitus sehr unterschiedli-che Therapierichtungen entwickelt ha-ben (Übersicht bei Feldmann 1992). Ne-ben der bekanntesten und empfohle-nen Infusionstherapie (Lanarz 1995) wirdin zunehmendem Maße auch die hyper-bare Sauerstofftherapie angewendet,bei der in Überdruckkammern hoheSauerstoffkonzentrationen vom Patien-ten geatmet werden (Knör 1996).

Neben diesen medizinisch körperli-chen Maßnahmen werden aber auch

spezielle Entspannungstechniken empfohlen (Andersson 1995). Vonden Betroffenen werden aber darüber hinaus eine Vielzahl von an-deren komplementären Verfahren wie Hypnotherapie, Akupunktur,Homöopathie, Fußreflexzonentherapie, Kinäsiologie und andere alswissenschaftlich nicht gesichert geltenden Methoden ausprobiert(Andersson 1997; Knör 1996). Das Ausmaß, in dem dies offensicht-lich geschieht, macht uns einerseits deutlich, wie groß die subjektivempfundene Beeinträchtigung ist. Andererseits zeigt es, wie wenigHilfe die Betroffenen durch die als wissenschaftlich gesichert gel-tenden Behandlungsmethoden erfahren.

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Daß das Tinnitus-Problem in alle Lebensbereiche hineinwirkt, wirdin Zahlen deutlich, die von der Selbsthilfeorganisation Deutsche Tin-nitus-Liga (DTL) angegeben werden: Etwa eine Million Bundesbür-ger bedürfen nach Ansicht der DTL „in irgendeiner Weise der nach-haltigen therapeutischen Hilfe zur Lebensführung und Erhaltung ih-rer Arbeitsfähigkeit“ (Knör 1995, S. 7). Hiervon leiden 4 % massiv un-ter den Ohrgeräuschen und deren sozialen oder körperlichenAuswirkungen (Newman 1995; Knör 1995). Stille ist für die Betroffe-nen nicht mehr erlebbar und Entspannung in Ruhe ist nicht mehrmöglich. Die Mitmenschen stehen dieser Beeinträchtigung häufigverständnislos gegenüber (Hiller 1995) und das Unverständnis für dieobjektiv vorhandene Beeinträchtigung belastet zunehmend sozialeBeziehungen. Nicht selten führt dies zum sozialen Rückzug der Be-troffenen oder zu Veränderungen der sozialen Einbindung und desBezugs zur Umwelt (Newman 1995). Unabhängig davon wie laut derTinnitus empfunden wird und wie groß die objektive Hörbeein-trächtigung eingestuft wird, treten die Veränderungen der Bezie-hungsmöglichkeiten bei Betroffenen nicht selten als Angst, Schlaf-losigkeit und depressive Symptomatik in Erscheinung (Hiller 1995).Diese Beeinträchtigung kann so weit gehen, daß die Betroffenen kei-nen anderen Ausweg mehr sehen als den Suizid (Uexküll 1990). We-sentliches Merkmal des Leidens ist, daß man selber als Betroffenervöllig hilflos zu sein scheint und auch die Experten nur bedingt er-folgreich sind (Hiller 1995). So ist es therapeutisch entscheidend, denBetroffenen selber Handlungsmöglichkeiten zu geben, um die Si-tuation, in der sie stehen, beeinflussen zu können.

So entwickelten sich eine Anzahl von Möglichkeiten, das subjek-tive Empfinden durch Veränderung der äußeren akustischen Umweltzu beeinflussen. Neben alltäglich verfügbaren Möglichkeiten wieRadio, Zimmerspringbrunnen oder Fernsehen, welche die Betroffe-nen nutzen, um ihr Ohrgeräusch zu überdecken, bieten Fachfirmensogenannte Tinnitusmasker an (Vernon 1995). In Hörhilfen einge-baute technische Ausführungen setzen dem ‘innerlich gehörtenKlang’ ein äußerliches Geräusch dauerhaft oder vorübergehend ent-gegen, so daß man - so die Theorie dazu - durch selektive Wahr-nehmungsvorgänge beide ‘Störgeräusche’ aus seiner Wahrneh-mung ausblendet (Vernon 1995; Jastreboff 1996). Auch andere the-rapeutische Hilfen, die in die gleiche Richtung zielen, werden an-geboten, etwa speziell und individuell produzierte Tonbandaufnah-men, die den eigenen Tinnitus einbeziehen und ein gegenüber demnormalen Hörbild verfremdetes Klangbild wiedergeben. Diese Bän-der werden subjektiv oft als Hilfe erlebt, weil sie eigene Ein-

flußmöglichkeiten eröffnen. Der Gedanke der Wahrnehmungsschu-lung findet auch im therapeutischen Bereich seinen Niederschlag. InEngland wurde diese Idee im ‘Tinnitus Retraining Program’ als the-rapeutisches Hilfsangebot systematisiert, das sehr hilfreich zu seinscheint (Hazell 1995).

Wegen der starken Beeinträchtigung der Betroffenen durch dieOhrgeräusche, die oben schon erwähnt wurde, aber auch wegen desausschließlich subjektiven Erlebnischarakters werden bei chroni-schem subjektiven Tinnitus neben diesen Maskierungs- und medizi-nischen Verfahren auch psychotherapeutische Interventionen fürsinnvoll erachtet (Hiller 1995). Psychosomatische Komponenten derKrankheit, aber auch der oben angesprochene Wahrnehmungs-aspekt lassen es daher sinnvoll erscheinen, mit den Betroffenen auchmusiktherapeutisch zu arbeiten.

Tinnitus und Hören

Die Betrachtung des Phänomens Tinnitus macht uns auf ein The-ma aufmerksam, das für Musiktherapeuten ausgesprochen wich-

tig ist: das Hören. In unserer Alltagserfahrung gehen wir davon aus,daß einem Hörerlebnis ein akustisches Ereignis zugrunde liegt, wel-ches objektiv feststellbar, meßbar und nachvollziehbar ist. Tatsäch-lich ist diese Sicht des Hörens relativ jung.

In der Geschichte des Hörens war über Jahrhunderte eine Analo-gie zum Sehsinn notwendig, und es war unerläßlich, akustische Phä-nomene in optische Vorgänge zu übertragen, um zu objektiven Aus-sagen bezüglich hörbarer Ereignisse zu gelangen. Der gesamte Wis-senschaftszweig der Akustik findet hier einen seiner Ursprünge. DasHören selbst war und blieb als ein subjektives Sinneserlebnis einge-stuft. Um dieses subjektive Erleben dennoch wissenschaftlich be-greifen zu können, bildeten sich verschiedene Disziplinen. So wur-den hörbare Phänomene unter anderem durch Ton- und Musikpsy-chologie erklärt und wissenschaftlich beleuchtet (Reich 1950).

Ein wesentlicher Wandel tritt erst vor etwa hundert Jahren mit derMöglichkeit von Tonaufnahmen und Klangwiedergaben ein. Heutenimmt die Musik im alltäglichen Umgang längst einen objekthaftenCharakter an, indem sie auf Tonträgern jederzeit verfügbar und re-

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produzierbar, außerhalb unserer selbst stehend, gleich zur Disposi-tion steht. Dennoch hat sich in wissenschaftlichen Kategorien gese-hen, der Objektivitätsbegriff hinsichtlich hörbarer Ereignisse nochnicht durchgesetzt. Auch heute noch herrscht die Ansicht vor, daßHöreindrücke einen subjektiven Charakter haben, während die Ob-jektivität gesehener Eindrücke kaum in Zweifel gezogen wird. Sofand auch in wissenschaftlichen Datenerhebungen, der Hörvorgangnur sehr begrenzt Einzug, während optischen Wahrnehmungen a pri-ori ein objektiver Charakter zugestanden wurde.

Unsere heutige Auffassung desHörens ist eng mit anatomischen Er-kenntnissen verknüpft, die im 16-tenund 17-ten Jahrhundert ihre Wurzelnhaben und sich zu Beginn des 19-tenJahrhunderts durch die Wissenschafts-zweige Histologie und vergleichendeAnatomie verfeinerten und komplettier-ten (Reich 1950, S. 1509). Aus heutigerSicht dienen die Sinnesorgane der Um-wandlung des physikalischen Reizes indie physiologische Erregung, die zurGrundlage der Wahrnehmung wird.Auch der physiologische Vorgang desHörens ist in diesem Sinne umfassendund gut beschrieben. Ein Schallereignistrifft auf das Trommelfell, und über dieHörknöchelchen wird der Impuls in dieSchnecke weitergeleitet; dort wird erdurch die Haarzellen in einen Nerven-impuls umgewandelt und es kommt zueinem Höreindruck (Brandes 1990).

Der Physiologe Helmholtz erklärte in seiner Resonanztheorie, daßjeder einzelne Ton nur einen bestimmten Bereich dieses Systemszum Mitschwingen bringe. „Die meisten normalen und pathologi-schen Gehörerscheinungen lassen sich dadurch widerspruchslosdeuten“ (Reich 1950, S. 1512). Macht man sich diese Auffassunggänzlich zu eigen, vernachlässigt man allerdings den Teil der aktivenWahrnehmung, die Wahrnehmungsintention. Diese hat Bedeutung,denn durch sie wird den verschiedenartigen akustischen EindrückenSinn verliehen und Selektion ermöglicht. Hierzu bemerkt David: „aufeine Weise, die uns noch völlig unbekannt ist, kann das Gehirn sol-

che Muster erkennen, sie zusammenfügen, dem Ganzen einen Sinngeben und somit Kommunikation mit dem Mitmenschen ermögli-chen.“ (David 1983, S. 450/451). Wenn tatsächlich durch die reinenReizleitungsvorgänge der Hörvorgang beschrieben wäre, könnteman auch sagen, ein Mikrofon würde hören, eine Videokamera se-hen. Tatsächlich aber bildet ein Mikrofon nur Klangbilder ab, so wieeine Videokamera nur Bilder aufzeichnet. Hören, Sehen und Verste-hen ist ein Prozeß des Sinnverständnisses in einem Klangbild. Wir be-gegnen also der Frage, wie wir eigentlich etwas Gehörtes verstehen

können und müssen zu dem Schlußkommen, daß im Hören auch etwas ‘voninnen nach außen tritt’. Hören ist nichtausschließlich ein Vorgang der Beein-druckung. Vielmehr treffen akustischeStrukturen auf Sinnverständnis undWahrnehmungsstrukturen, die uns et-was Gehörtes als sinnvoll verstehen las-sen. Hierauf weisen auch die Arbeitenvon Aldridge hin, der davon ausgeht,daß es bei musiktherapeutischen Vor-gängen im wesentlichen darum geht,daß Patienten Sinnzusammenhängeschaffen oder mitschaffen können, dieihnen neue Perspektiven für Gesundheiteröffnen (Aldridge 1996).

„Ein Sinnesreiz braucht nicht unbe-dingt zu einer bewußten Wahrnehmungzu führen, genauso wie ein Sinneserleb-nis nicht unbedingt durch einen physi-kalischen Reiz ausgelöst sein muß“(David 1983, S. 429). Für den Bereich desSprachverständnisses liegen eine ganze

Reihe von Veröffentlichungen zur Thematik der Sinnerfassung imHören vor. Allerdings kann hier der Eindruck entstehen, daß das Ver-stehen ein psychologisch geprägter Vorgang ist, der von der Sinnes-tätigkeit getrennt geschieht. Tatsächlich ist er aber integraler Be-standteil von Wahrnehmungsvorgängen in allen Sinnesbereichen.Was uns am Tinnitus begegnet, ist der sich innerlich abspielendeHörvorgang des subjektiv empfundenen Tones, der als quälenderDauerton die Lebensqualität stark beeinträchtigt und infolge seinersozialen, körperlichen und psychischen Auswirkungen zu sekundärenKrankheitserscheinungen führen kann.

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Die zuvor erwähnten inneren, integralen Prozesse der Wahrneh-mungsvorgänge weisen auch im Bereich der Musik auf das subjektivempfundene Hören hin. Es tritt als sinnvolle Klangstruktur nachaußen in Erscheinung.

Erst durch das innere Voraushören wird Gestaltung möglich. Amklarsten tritt uns dieses Phänomen am gehörlos komponierendenLudwig van Beethoven entgegen. Er hörte innerlich, was er für unserst sehr viel später durch mehrere Umsetzungsprozesse nachvoll-ziehbar machte.

In unserer heutigen Zeit, in der das Hören fast ausschließlich alsein von außen nach innen wirkendes Prinzip verstanden wird, ma-chen uns gerade Menschen, die von einem Tinnitus betroffen sind,auf die Einseitigkeit dieser Sichtweise aufmerksam.

Hören - Musik - Musiktherapie

Im Rahmen dieser Untersuchung standen wir in unserer Arbeit alsMusiktherapeuten Menschen gegenüber, die mit uns den Erfah-

rungshintergrund teilten, daß das Hören auch als ein innerer Wahr-nehmungsvorgang verstanden werden muß; ja mehr noch, daß derinnere Vorgang der eigentlich entscheidende Teil der Sinneswahr-nehmung ist; eine Erfahrung, die wir in vielen anderen Arbeitsberei-chen schon gemacht hatten. Daß die strukturierenden Wirkungenvon Musiktherapie beobachtbar sind und daß die Strukturierung derWahrnehmungsinhalte von entscheidender Bedeutung für eine Ge-nesung ist, ist aus vielen Arbeitsbereichen bekannt, etwa aus der Ar-beit mit entwicklungsverzögerten Kindern (Aldridge 1995; Gustorffund Neugebauer 1996), bewußtlosen Menschen (Gustorff 1996),Menschen in der Rehabilitation nach neurochirurgischen Eingriffen(Weckel 1998) oder solchen mit psychiatrischen, psychosomatischenoder neurologischen Störungen.

Anders als andere Gruppen, die aufgrund dieses Wahrnehmungs-und Strukturverständnisses durch Musiktherapie profitieren können,begegneten uns aber mit vom Tinnitus betroffene Menschen, diegenau in dem Sinnesbereich beeinträchtigt waren, durch den wir alsMusiktherapeuten Zugänge zum Menschen suchen und finden.

Mit Tinnitus-Betroffenen zu arbeiten war deshalb eine inhaltlicheHerausforderung. Um eventuell auftretende Auswirkungen von im-provisiertem Spielen möglichst genau nachvollziehen zu können,entschieden wir uns dafür, unsere Behandlungen wissenschaftlich zubegleiten.

Zur musiktherapeutischen Betreuung vonTinnitus-Betroffenen

Aus den zuvor gemachten Ausführungen zum Krankheitsbild unddem Grundverständnis des Hörens lassen sich verschiedene Ge-

danken zu musiktherapeutischen Vorgehensweisen und Überlegun-gen zu Indikationen der Musiktherapie für Tinnitusbetroffene ablei-ten. Wie schon im ersten Abschnitt ausgeführt wurde, gehen eineVielzahl von therapeutischen Hilfestellungen von einem Hörbegriffaus, der das Hören als einen von außen nach innen gerichteten Wegversteht. Der Tinnitus wird maskiert, spezielle Hörprogramme tragenzur Umgewöhnung und zum gezielten Überhören des Tinnitus bei.

In dieser Studie wurde ein Weg gewählt, der das Hören auch alseinen von innen nach außen gerichteten Vorgang versteht. Mit Pati-enten innerhalb eines aktiven improvisatorischen Settings zu musi-zieren, bezieht auch die andere Sicht des Hörens ein und ruft inten-tionale Prozesse der Wahrnehmung wach. Im Spielen auf Instru-menten, im gemeinsamen Improvisieren von Musik werden diesehörbar. Als Dialog verstanden, der von den musikalischen Äußerun-gen des Patienten ausgeht, diese aufgreift, wandelt, formt und in ei-nen neuen Kontext setzt, wird Musik zur Musiktherapie.

Diese Konzeption geht von den künstlerischen Potentialen jedesMenschen aus und knüpft an dessen/deren inividuellen Fähigkeitenund kreativen Möglichkeiten an. Gesundheit wird in diesem thera-peutischen Kontext nicht als Normalität, sondern als individuellerGestaltungsvorgang verstanden, der an sich eine künstlerisch-krea-tive Dimension hat. In der gemeinsamen musikalischen Improvisati-on mit Patienten treten diese Potentiale zutage, die vielleicht in an-deren z.B. verbalen Bereichen keinen Ausdruck finden können.

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Eine Vielzahl von Veröffentlichungen hinsichtlich der aktiven Mu-siktherapie (Aldridge1996, 1997) lassen sich auf die sekundärenStörungen beziehen, die Tinnitus-Betroffene durchleben müssen.So deuten Arbeiten von Peter Hoffmann (1997), die mit Schmerzpa-tienten durchgeführt wurden, auf eine deutliche Verbesserung derLebensqualität hin. Die Erfahrungen von Musiktherapeuten in derBetreuung depressiv erkrankter Patienten bieten ein weiteres mög-liches Schnittfeld zu einem sekundär auftretenden Tinnitus-Problem,ebenso wie der beschriebene soziale Rückzug und die zunehmendeIsolation. Bezüglich dieser Sekundärerscheinungen deuten die Ar-beiten von Gudrun Aldridge (1997) und Ulrike Linden (1997) auf dieaußergewöhnlichen Potentiale hin, die in einer aktiven Musikthera-pie liegen.

Um für uns selber als Berufsstand klären zu können, ob die Mu-siktherapie für Tinnitus-Betroffene eine sinnvolle Maßnahme ist, ent-schieden wir uns direkt zu Beginn unserer Arbeit dazu, die Thera-pien wissenschaftlich zu begleiten. Auf diese Weise wollten wir si-cherstellen, daß wir nicht unsere eigenen Hypothesen hinsichtlichder Wirkungen durch unsere eigenen Wahrnehmungen bestätigenwürden. Was zunächst nach einer selbstbezogenen Reflexion klingt,ist in der therapeutischen Intention auf den Patienten und dessenBedürfnisse gerichtet. Die Frage, ob man diese therapeutische Maß-nahme Menschen empfehlen kann, stand im Mittelpunkt unseresForschungsbemühens.

Das Forschungsdesign

Aus inhaltlichen Erwägungen, die an anderer Stelle genauer aus-geführt werden (Aldridge 1996), entschieden wir uns für eine

kleine Projektstudie auf Basis der Einzelfallforschung. Wir haben die-se Untersuchungsreihe zusammen mit einer Schwerpunktpraxis fürTinnitus-Betroffene durchgeführt und die Patienten über das Settingund den Aufbau informiert. Von dem behandelnden Arzt wurden diePatienten an die Musiktherapie überwiesen. Die Patienten litten al-le unter einem chronisch subjektiven Tinnitus, d. h. sie hatten die Tin-nitus-Problematik anhaltend über einen Zeitraum von mindestensdrei Monaten durchlebt, ohne daß eine Besserung eingetreten warund ohne daß eine organische Ursache nachgewiesen werden konn-te.

Zunächst wurden die Betroffenen durch einen, in der Behandlungnicht involvierten, Interviewer befragt. Hierbei wurden neben anam-netischen Daten auch Daten mit Hilfe von standardisierten und vali-dierten Fragebögen erhoben. Die so erhobenen Ausgangsdatensubjektiver und objektiver Art wurden im späteren Verlauf als Ver-gleichsgrößen herangezogen.

Einige Zeit nach dieser Erstbefragung begann die Musiktherapie.Einmal wöchentlich kamen die Patienten zu einer Sitzung in die Mu-siktherapieräume des Institutes für Musiktherapie der UniversitätWitten/Herdecke. Während des Behandlungszeitraums wurden indefinierten Zeitintervallen wieder Befragungen anhand des Tinnitus-Fragebogens (Goebel 1991) und der Hospital Anxiety and Depressi-on Scale in einer Übersetzung durchgeführt. Beide Fragebögen er-fassen die relevantesten primären oder sekundären Probleme, diewir aus der Literatur herleiten konnten. Eine letzte Befragung er-folgte anhand dieser Fragebögen einige Zeit nach Abschluß der Mu-siktherapie. Außerdem war uns wichtig, daß wir auch subjektiveKomponenten in die Auswertung einbeziehen konnten. Deshalb ha-ben wir mit allen Betroffenen, die dazu bereit waren, ein persönlichesAbschlußgespräch im deutlichen Zeitabstand zur Behandlung durch-geführt. In dieses Gespräch waren der Interviewer und der behan-delnde Musiktherapeut einbezogen. Um eine ausschließlich per-sönliche Sicht auf der musiktherapeutischen Seite auszuschließen,wurden die Behandlungen der einzelnen Patienten von verschiede-nen Therapeuten durchgeführt.

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Stellvertretend sollen drei der insgesamt sechs behandelten Per-sonen als Einzelfälle geschildert werden. Hiermit wollen wir einerseitsdie Ergebnisse, andererseits die Probleme darstellen, die währenddieser Untersuchung auftraten.

Drei Verlaufsdarstellungen

Frau D.

Frau D. ist 37 Jahre alt und arbeitet als Erzieherin in einem kirch-lichen Kindergarten. Als sie zu uns überwiesen wird, hat sie seit ei-nem halben Jahr ein anhaltendes Ohrgeräusch. Das Ohrgeräusch seinach einem initialen Hörsturz aufgetreten und sei unverändert, auchnachdem bei entsprechender Behandlung des Hörsturzes die Hör-fähigkeit wiederhergestellt worden sei. Sie leidet zum Beginn derMusiktherapie nach ihren Schilderungen unter Unruhe, abends un-ter Einschlaf- und Durchschlafstörungen. Sie habe sich nach diesemhalben Jahr inzwischen an den Tinnitus gewöhnt und habe akzep-tiert, damit leben zu müssen. Das Ohrgeräusch besteht aus einemRauschen mit 8690 Hz und einem Pfeifton mit 8810 Hz. Das Ohr-geräusch sei durch Umweltgeräusche maskierbar.

Sie beginnt in der ersten Musiktherapiesitzung nach einigen Rück-fragen zu spielen, zunächst Instrumente, die ihr aus beruflichen Zu-sammenhängen bekannt sind. Ihr Spielen ist kraftvoll, sehr laut unddie Bezüge in der gemeinsamen Improvisation gehen eher vom The-rapeuten aus. Tempo, Dynamik und Anschlagsweise variieren beiverschiedenen Instrumenten nur wenig und sind - wie Bemerkungennach den Improvisationen zeigen - begleitet von Selbstbeobach-tungen hinsichtlich der Veränderung des Tinnitus. Im Laufe der wei-teren Sitzungen wird auch im musikalischen Ausdruck deutlich, daßim allgemeinen eine große Belastungssituation vorliegt.

Neben den Problemen, die Frau D. durch den Tinnitus empfindet,treten in ihrem beruflichen Umfeld erhebliche Schwierigkeiten auf,die durch eine Asbestbelastung ihrer Arbeitsstelle bedingt sind. VierKindergartengruppen müssen in den Gemeindesaal ausweichen unddie Lärmbelastung wird von Frau D. als unerträglich geschildert. DieMusiktherapie, die bei ihr mit einer weiten Anreise und großem or-ganisatorischen Aufwand verbunden ist, belastet sie zwar zusätzlich

- sie braucht einen Fahrer, die Kolleginnen müssen Ihre Arbeit an ei-nem Nachmittag übernehmen - sie erlebt es aber positiv, sich vonSpannungen freispielen zu können. Genauso klingt ihre und die fürsie improvisierte Musik - spannungsreich, dissonant, häufig sehr lautund im Ausdruck extrovertiert. Als sie beginnt, in ihrem Spiel die mu-sikalische Beziehung deutlicher in den Vordergrund zu rücken, schil-dert sie, daß Sie jetzt Ruhe besser ertragen könne. So sei es ihr jetztmöglich, auch bei geschlossenen Fenstern in einem Zimmer zu sein,ohne daß ihr Ohrgeräusch lauter werde.

Trotz dieser subjektiv empfundenen Verbesserung bilden die Be-fragungsergebnisse eher die Probleme ab, die Frau D. während derBehandlungsphase durchlebt hat. Noch während der musikthera-peutischen Behandlungsphase bekommt Frau D. Zugang zu einerhyperbaren Sauerstofftherapie und nimmt dieses Angebot wahr.

Wegen der hinzugezogenen zusätzlichen Behandlung wurde die5. Befragung nicht mehr durchgeführt. Zu einem zusammenfassen-den Gespräch war Frau D. nicht bereit. Wir haben diese Schilderungdennoch in unseren Bericht einbezogen, weil sie stellvertretend dieSchwierigkeiten aufzeigt, die auch bei einer sorgfältig geplantenUntersuchung durch das Spannungsverhältnis zwischen den Interes-sen der Studie und den individuellen Behandlungsbedürfnissen derProbanden auftreten können.

Herr L.

Herr L. ist 42 Jahre alt und freiberuflich tätig; er ist starken beruf-lichen Belastungen ausgesetzt und muß viel Auto fahren. Zwei Jah-re zuvor hatte er einen Hörsturz im linken Ohr erlitten. Nach sta-tionärer Behandlung bleibt ein Ohrgeräusch mit zunehmender In-tensität zurück. Verschiedene Therapieversuche haben keine Ver-besserung erzielt, dennoch ist Herr L. sich sicher, daß der Tinnitusverschwindet, daß er ihn besiegt. Er ist bei starkem privaten und be-ruflichen Streß durch das Ohrgeräusch stark beeinträchtigt, da nor-male Gespräche den Tinnitus nicht verdecken. Dies bedroht ihn so-gar in seiner beruflichen Existenz, da er Mandantengesprächen nurmit Mühe folgen kann. Er empfindet einen beruflichen Leistungs-verlust, kann wegen auftretenden Schwindels manchmal nicht zuMandanten fahren, leidet unter Einschlaf- und Durchschlafstörun-gen, Konzentrationsschwäche, Unruhe und depressiven Verstim-mungen.

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Im Zeitraum von drei Monaten kommt er wöchentlich einmal zurMusiktherapie. Zwei Termine muß er absagen, weil er sich nicht fahr-tauglich fühlt. Wenn er kommt, spielt er gerne und nach anfänglicherScheu mit großer Hingabe und ausdauernd auf verschiedenen In-strumenten. In der ersten Sitzung beobachtet er dabei sehr genau,wie sich der Klang der verschiedenen Instrumente auf seinen Tinni-tus auswirkt und kann dies sehr differenziert beschreiben. Sein mu-sikalisches Spiel ist vielfältig und fa-cettenreich, weil er zahlreiche An-schlagsvarianten ausprobiert. Auffäl-ligstes Merkmal ist, daß er trotz großerSensibilität sein Spiel hinsichtlich dermusikalischen Beziehung kaum dyna-misch variiert. Dies wirkt um so er-staunlicher, als er sich auch bei leiserMusik, die der Therapeut am Klavierimprovisiert, in anderen musikalischenParametern, z.B. Tempo, auf die Musikbezieht. Diese Vielfalt in der für ihnentstehenden Musik hat ihren Ur-sprung in der Verschiedenartigkeitund teilweise filigranen und rhyth-misch präzisen Wahl des Anschlags. Inden ersten Sitzungen scheint er den-noch manchmal Schlüsse nicht zuhören und sein eigenes Spiel erstdurch optische Rückversicherungbeim Therapeuten zu beenden.

Eine Veränderung tritt im Laufe derTherapie immer deutlicher in Erschei-nung: er beginnt leise zu spielen undphrasiert sein Spielen sehr sensibelund bezogen auf die Musik. Anfängliche Nachfragen, wofür Musik-therapie gut sei oder Bemerkungen darüber, wie sie wirke, treten abder dritten Sitzung nicht mehr auf. Vielmehr steht eine ausgespro-chene Spielfreude im Vordergrund. Herr L. kommt sehr gerne zurMusiktherapie und beobachtet positive Veränderung besonders hin-sichtlich eigener Ansprüche an seine berufliche und persönliche Lei-stungsfähigkeit. Weil es ihm besser geht, bricht er die Behandlungab und nimmt seine Arbeit in größerem Umfang wieder auf.

Bei dem Abschlußgespräch ein halbes Jahr nach der Behandlungschildert er, daß die Entspannung, die er während der Behandlungerlebt hat, anhält. Er habe im Musikspielen Ruhe gefunden. Zwar seisein Tinnitus nicht - wie erhofft - verschwunden, er gehe aber jetztanders damit um. Er schlafe besser, könne ohne maskierendes Fern-sehen oder Radio einschlafen, was vor allem für seine Partnerschaftentlastend sei. Beruflich habe er sich darauf eingestellt, „eben nicht

mehr 200 % zu bringen“. Die Bedeu-tung der Musiktherapie sieht er vor al-lem darin, daß er anders auf seinenTinnitus hört.

Frau J.

Frau J. leidet bereits seit 2 Jahrenan Tinnitus, als sie zur Musiktherapiekommt. Sie erinnert sich, daß das er-ste Auftreten ihres chronischen Ohr-geräusches mit einer für sie sehr streß-belasteten Zeit in Zusammenhangstand. Das Ohrgeräusch beschreibtsie als unangenehmes bis unerträgli-ches Pfeifen im hinteren Kopfbereich.Hinzu treten Niedergeschlagenheit,Schlafstörungen und Einbußen imHörvermögen.

Sie hat innerhalb von drei Monateninsgesamt 7 Musiktherapiesitzungen.Die Dauer der einzelnen Sitzungenbeträgt jeweils 45 Minuten. Obwohlder Anfahrtsweg sehr weit und z. T.durch hohes Verkehrsaufkommen zu-

sätzlich belastet ist, kommt sie gern zur Musiktherapie. Sie istwährend dieser Zeit arbeitslos. Diese Situation belastet sie ver-ständlicherweise sehr. Ihr macht jedoch nicht nur die Tatsache der Ar-beitslosigkeit zu schaffen, sondern auch die Erfahrung, daß mehre-re ihrer Bewerbungsschreiben abgelehnt wurden. Somit ist für sie dieMusiktherapie eine willkommene Ablenkung von ihrer momentanenschwierigen Situation, die sie gern annimmt und konsequent ver-folgt.

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Ein weiterer Grund für ihre motivierte Haltung gegenüber der Mu-siktherapie ist durch ihre Erfahrung im Ensemblespiel zu sehen. Siespielte als Bassistin in einer Rockband. Ihre musikalischen Vorerfah-rungen fließen in die Musiktherapie ein und äußern sich auf vielfälti-ge Art und Weise:

Frau J. ist aufmerksam für das Miteinander im Zusammenspiel, istkonzentriert, steht mit der Therapeutin in Blickkontakt, nimmt Über-gänge und Schlüsse wahr, die sie differenziert und subtil gestaltetund zeigt keine Begrenzungen im dynamischen Ausdrucksbereich.

Durch ihre Wachheit für musikalische Vorgänge wirken die Schluß-bildungen der verschiedenen Improvisationen wie auskomponiert.Sie reagiert flexibel auf rhythmische Spielmuster und nutzt diese zumZweck der Eigengestaltung und des eigenen Ausdrucks. Im ge-meinsamen Spiel kann sie klare Metren darstellen, von denen sie ge-stalterisch in rhythmisch lebendige Spielweisen überwechselt. IhreWahrnehmung und Beziehung auf musikalische Teilaspekte sind be-sonders im harmonischen Bereich hörbar, auf den sie subtil durch ei-nen zum Harmoniewechsel entsprechend vollzogenen Klangfarben-wechsel auf den rhythmischen Instrumenten reagiert (Wechsel vonkleiner zur großen Trommel). In ihrer bezogenen Spielweise kommenauch eigenständige Elemente zum Ausdruck, die sie bewußt ge-genüber der Musik der Therapeutin absetzt, wie z. B. ein eigenstän-diges rhythmisches Ostinato gegenüber einer gespielten Baßmelo-die auf dem Klavier.

Ihre Musikalität zieht sich wie ein beständiges Element durch alleSitzungen und wird immer wieder durch die Aktivierung ihrer ge-stalterischen Kräfte herausgefordert. Wichtig ist für Frau J. der Mo-ment des aktiven Musizierens als solcher und zwar gemeinsam mitder Therapeutin. Er bereitet ihr Freude und bringt ihr Momente desErfolges, die sie während dieser Zeit der Arbeitslosigkeit so sehr ver-missen muß. So ist die Musiktherapie vielleicht ein wichtiger Aspekt,der ihr verhilft, ihre innere Balance wiederzufinden. Es ist deutlich zusehen, wie die Patientin die Beziehung in der Therapie nutzt, ausihrem aktiven Spiel heraus, eigene individuelle Formen zu ent-wickeln. Während aller Therapiesitzungen ist sie frei vom Tinnitus.Die Zusage für einen Platz in einem Weiterbildungsprogramm führtzu der Entscheidung, die Musiktherapiesitzungen zu beenden.

Zusammenfassend-vergleichendeBetrachtung der Verlaufsdarstellungen und

Auswertung der Befragungen

Die drei Beispiele geben einen Einblick in unterschiedliche Ver-läufe innerhalb der Behandlung im Rahmen unserer For-

schungsarbeit mit Tinnitus-Betroffenen. Sie verdeutlichen, wie indi-viduell die musikalischen Zugänge sind und daß der Kontext der Le-bensumstände mindestens ebenso entscheidend für Therapie undKrankheitsverlauf sind, wie scheinbar objektive Parameter. In allendrei Schilderungen wird deutlich, daß die dialogische, vom Patien-ten ausgehende Gestaltung der Musik in der Improvisation Verän-derungen des Befindens bei den Betroffenen hervorruft. Allen dreiVerlaufsdarstellungen ist gemeinsam, daß die Betroffenen von ihrenprimär als problematisch eingestuften Beobachtungen im Hinblickauf Auslöser oder Symptome hin zu einer eher umweltbezogenenSichtweise finden. Die subjektiv empfundenen Entlastungen durchdie Musiktherapie stehen nur zum Teil in Korrelation zu den Ergeb-nissen der Fragebogenerhebungen. So zeigen die Summen aller er-hobenen Werte, die kognitive, emotionale Komponenten sowieWerte für Angst und depressive Verstimmtheit anzeigen, nicht bei al-len Probanden Verbesserungen; was aber noch wichtiger ist, sie ste-hen zum Teil im Widerspruch zu den persönlichen Schilderungen.

In der Durchführung der Befragung stellte sich als eines der Pro-bleme der Zugang zu den Patienten dar. So war im Entwurf vorge-sehen, die Betroffenen nach der Musiktherapie noch einmal mit Hil-fe der Fragebögen zu interviewen. Der Kontakt war hier allerdingsdurch die große räumliche Streuung und die nur lose Anbindung andie Schwerpunktpraxis so schwierig, daß sich dieses Vorhaben mitHilfe der zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht umsetzen ließ.Dennoch zeigen die Verläufe aller drei Probanden, daß eine subjek-tiv empfundene Verbesserung auch in den Messwerten ihren Nie-derschlag findet. Diese Aussage an sich sagt aber mehr über die Ver-läßlichkeit der Selbsteinschätzung der Betroffenen als über die Aus-wirkungen der Musiktherapie aus.

Auch wenn wir von der positiven Wirkung unserer Zusammenar-beit mit den Betroffenen überzeugt sind, bleibt fraglich, ob zu emp-fehlen ist, daß Betroffene den notwendigen Aufwand in Kauf neh-men müssen, den sie betreiben müßten, um Zugang zur Musikthe-

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rapie zu bekommen. Sicherlich könnte ein dichteres Netz in der mu-siktherapeutischen Versorgung auch im ambulanten Bereich für ein-zelne Patienten eine große Hilfe sein. Das wesentliche Ergebnis liegtfür uns darin, daß die Einschätzung der Betroffenen in Hinblick aufihre Lebenssituation eine Entsprechung in gemessenen Ergebnissenfindet, und daß diese sich auch in Parametern des musikalischenAusdrucks abbildet. Hierdurch wird deutlich, daß es eigentlich im-mer nur darum geht, zu hören, was Patienten ausdrücken wollen -auf welcher Ebene die Begegnung auch immer stattfinden mag. Mu-siktherapie bietet hierzu einen möglichen Zugang.

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