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BuchHaruki Murakami, japanischer Bestsellerautor und Reisen-der zwischen den Kulturen, entwirft Geschichten vollerGeheimnisse und offener Fragen. Jay Rubin spürt diesen Rät-seln nach: Klug und stets diskret setzt er Schlüsselepisodenaus Murakamis Leben mit den Motiven der Geschichten inBeziehung, um den typischen »Murakami-Sound« zu ergrün-den. In Interviews mit dem Autor und durch sorgfältigeAuseinandersetzung mit seinem Werk entsteht ein Bild, dasauf viele der offenen Fragen überraschende und gewitzteAntworten gibt.

AutorJay Rubin ist Professor für japanische Literatur an derUniversität Harvard und neben Alfred Birnbaum der Über-setzer von Murakamis Werken ins Englische. Er ist Autorund Herausgeber mehrerer Publikationen über japanischeLiteratur.

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Jay Rubin

Murakamiund die Melodie des LebensDie Geschichte eines Autors

Aus dem Englischen von Ursula Gräfe und Angela Praesent

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Die englische Originalausgabe erschien 2002unter dem Titel »Haruki Murakami and the Music of Words« bei Harvill Press, London.

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100

Das FSC-zertifizierte Papier Munken Print für Taschenbücher aus dem btb Verlag liefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden.

1. AuflageGenehmigte Taschenbuchausgabe Mai 2006, btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenCopyright © der Originalausgabe 2002 by Jay Rubin Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2004 by DuMont Literaturund Kunst Verlag, KölnUmschlaggestaltung: Design Team München Umschlagfoto: CorbisDruck und Einband: Clausen & Bosse, LeckEM · Herstellung: AWPrinted in GermanyISBN-10: 3-442-73383-9ISBN-13: 978-3-442-73383-5

www.btb-verlag.de

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In Memoriam

Milton Rubin (1909–1963)

Frances Rubin (1913–1993)

Ippei Sakai (1909–1995)

Masako Sakai (1917–1992)

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Inhalt

Dank 9Liesmich 10Zu Aussprache und Namensstellung 11

1 präludium 13Das 1963/1982-Mädchen von Ipanema 20

2 boku – geburt eines ich-erzählers 25Gehackte Zwiebeln und Prosastücke 41Kaze no oto o kike – »Lausche dem Wind« 53

3 die halb erinnerte melodie 61Pinball, 1973 61Die Geschichte einer armen Tante 69Frachtschiff nach China 77Ein perfekter Tag für Kängurus 80

4 die ohren sauber halten 89Wilde Schafsjagd 92

5 etüden 119Glühwürmchen, Scheunenabbrennen und andere Geschichten 120Dead Heat on a Merry-Go-Round 124

6 ein lied über mich selbst 131Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt 131

7 wagner-ouvertüren und moderne küchen 149Der zweite Bäckereiüberfall 149Der Elefant verschwindet 154

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8 popsong 163The House of the Rising Sun 163Norwegian Wood – Naokos Lächeln 166

9 tanzen zu einer anderen melodie 185Dance Dance Dance – Tanz mit dem Schafsmann 185»TV-People« und »Schlaf« 189Tony Takitani 198

10 on the road again 203South of the Border, West of the Sun – Gefährliche Geliebte 213

11 ouvertüre zu »die diebische elster« 221The Wind-up Bird Chronicle – Mister Aufziehvogel 224

12 der rhythmus der erde 259Untergrundkrieg 259Der Geist von Lexington 270Sputnik Sweetheart 272Nach dem Beben 278

13 die musik spielt weiter 287Kafka am Strand 292Der junge Kafka 317Der Fänger im Roggen 320Birthday Stories 322Blick in die Zukunft 324

anhang a

Übersetzung und Globalisierung 327Übersetzer, Lektoren und Verlage 338

anhang b

Bibliografie 347

anmerkungen 363register 380

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Dank

Bei den Recherchen zu diesem Buch wurde ich anfänglich unterstütztdurch ein Stipendium des vereinten Komitees für Japan-Studien des So-cial Studies Research Council und des American Council of Learned So-cieties, aus Mitteln, die das National Endowment for the Humanities be-reitstellte. Ich möchte Haruki und Yoko Murakami für ihre Bereitschaftzu Interviews danken, trotz ihrer Bedenken gegenüber einem so zudring-lichen Projekt. Riki Suzuki, der Redakteur von Shincho, geizte weder mitseiner Zeit noch mit Kommentaren, und Ted Goossen war mir eine be-sondere Hilfe. Ian Pindar rang tapfer mit stilistischen und strukturellenFragen. Dank gebührt zudem Rakuko Rubin, Deborah Bluestein, EizoMatsumura, Tess Gallagher, Hiromi Hashimoto, Alfred Birnbaum, El-mer Luke, Kenzaburo Oe, Charles Inouye, Hosea Hirata, Miryam Sas,Beatrice und Paul Reiss, Howard Hibbett, Edwin Cranston, Paul War-ham, Emi Shimokawa, Glynne Walley, Matthew Strecher, Kozo Yama-mura und Jun Kim. Wo es jedoch um Fragen der literarischen Interpreta-tion geht, trage die Verantwortung ich allein.

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Liesmich

Am besten gebe ich’s gleich zu: Ich bin ein Haruki-Murakami-Fan. Ichwusste, als ich seine Texte las, dass ich auch den Mann mögen würde, undich habe dieses Buch für andere Fans geschrieben, die sich ihm ähnlichverwandt fühlen und gern mehr über sein Leben und seine Kunst erfah-ren möchten, jedoch durch die Barriere der japanischen Sprache darangehindert werden.

Ich versuche, Antworten auf Fragen der Art anzubieten, wie Leser siemir in all den Jahren, seit ich Murakamis Werke zu übersetzen begann,gestellt haben. Eine weitere Inspirationsquelle stellten die Kommentarevon Lesern im Internet dar. Diese Annäherungsweise mag meine wissen-schaftliche Objektivität in Frage stellen, aber ich bilde mir gern ein, dassmeine akademische Erfahrung mir geholfen hat, mir selbst und anderenzu erklären, worum es Murakami meiner Ansicht nach geht, und dazugehört auch, dass ich auf die Punkte hinweise, an denen er meinem Ein-druck nach ein paar falsche Abzweigungen genommen hat. Gelegentlicherfordert es auch, dass ich Zitate aus den übersetzten Werken gemäßmeiner Interpretation neu formuliere. Dies tue ich nicht, um Unruhe zuschüren, sondern um Lesern die Chance zu geben, einmal zu sehen, wieüberaus vorläufig die Übersetzungen von Literatur – besonders von zeit-genössischer – sein können. Anhang A illustriert dies. Hauptsächlichaber möchte ich hier etwas von dem Vergnügen weitergeben, das ich beimLesen und Übersetzen von Murakamis Romanen und Storys hatte undals ich genauer erfuhr, wie sie entstanden waren. Bitte versuchen Sie,nachsichtig zu sein, wenn ich gar zu viel Spaß zu haben scheine.

Eznimneztak tim täsrebü, amatJay Rubin

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Aussprache und Namensstellung

Jeder, der mit Hiroshima, Honda, Ichiro, Mitsubishi, Nagasaki, Nissan,Sushi, Tokyo, Toyota, Tsunami und Yoko Ono vertraut ist, kann japani-sche Wörter getrost so aussprechen, wie sie aussehen. Dreisilbige Namenwie »Haruki« tragen eine leichte Betonung auf der ersten Silbe (eherHA-ru-ki als Ha-RU-ki), aber keine Sorge, er ist es auch anders zu hörengewohnt.

Es mag manche Leser überraschen, wenn sie über einigen VokalenLängezeichen (Makrons) sehen, die in den übersetzten Werken nicht er-scheinen: Toru statt Toru. Diese sind für Leser eingefügt, die mit dem Ja-panischen vertraut sind, in dem die Länge einer Silbe die Wortbedeutungverändert; alle übrigen Leser können sie ignorieren. Yoko Ono undIchiro aus der oben stehenden Liste kommen offenbar ganz gut ohneLängezeichen aus.

Japanische Namen werden in diesem Buch durchgängig in der west-lichen Reihenfolge – Nachname zuletzt – angegeben, mit einer Ausnah-me: In Zitaten aus Quellen in japanischer Sprache und aus englischspra-chigen wissenschaftlichen Werken wird in den Anmerkungen und in derBibliografie die ursprüngliche japanische Reihenfolge verwendet. Auchdies geht nur Japanisch-Leser an.

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1 Präludium

Oh Danny Boy, the pipes the pipes are callingFrom glen to glen and down the mountainside.

The summer’s gone, and all the roses are falling,’Tis you, ’tis you must go and I must bide.

But come ye back when summer’s in the meadow,Or when the valley’s husked and white with snow,

It’s I’ll be here in sunshine or in shadow,Oh Danny Boy, oh Danny Boy, I love you so!

Durchströmt von der Sentimentalität einer traditionellen irischen Weise,erobert sich der »innere« Held von Hard-Boiled Wonderland und das Endeder Welt (Sekai no owari to hadoboirudo wandarando, 1985) über Musik denZugang zu seinem Herzen zurück. Dies führt in einer der berührendstenPassagen von Haruki Murakamis üppigem, fantasiereichem Roman zueinem Wechselspiel zwischen dem »inneren« Helden und demjenigender »äußeren« Welt, seinem bewussten Ich.1

Murakami liebt die Musik – Musik jeder Art: Jazz, klassische Musik,Folk, Rock. Sie spielt eine zentrale Rolle in seinem Leben und seinemWerk. Der Titel seines ersten Romans befiehlt dem Leser »Lausche demWind«* (Kaze no uta o kike, 1979), und eine Zeitschrift hat gar eine Dis-kografie aller musikalischen Titel veröffentlicht, die in Murakamis Tex-ten erwähnt werden, ein Projekt, aus dem später ein umfangreiches Buchwurde.2 Murakami besaß sieben Jahre lang eine Jazz-Bar und ergänzt wei-terhin seine Sammlung von über 6000 Platten. Unentwegt geht er inKonzerte und hört Musikaufnahmen. Es ist ein Wunder, dass er nichtselbst Musiker wurde – in gewisser Hinsicht freilich wurde er es doch.

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* Kursiv stehen Buchtitel, soweit sie auf Deutsch erschienen sind. Ansonsten stehen siewie die Titel einzelner Erzählungen in Anführungszeichen.

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Vielleicht das wichtigste Element seiner Prosa ist der Rhythmus. Er ge-nießt die Musik der Wörter und spürt eine Affinität zwischen seinen sti-listischen Rhythmen und dem Beat des Jazz, wie er in einem Vortrag ander University of California sagte:

Mein Stil läuft auf Folgendes hinaus: Zunächst einmal lege ich niemehr Bedeutung in einen Satz als unbedingt notwendig. Zwei-tens müssen die Sätze einen Rhythmus haben. Das habe ich vonder Musik gelernt, besonders vom Jazz. Im Jazz macht erst ein tol-ler Rhythmus tolle Improvisationen möglich. Alles beruht auf derArbeit der Füße. Wenn man diesen Rhythmus wahren will, darf eskein überflüssiges Gewicht geben. Das heißt nicht, dass es über-haupt kein Gewicht geben sollte. Nur keines, das nicht unbedingtnotwendig ist. Du musst das Fett herausschneiden.3

Für Murakami ist Musik der beste Schlüssel zu den tiefen Winkeln desUnbewussten, dieser zeitlosen anderen Welt in unserer Psyche. Dort, imKern der Person, liegt die Geschichte desjenigen verborgen, der jeder vonuns ist: eine zersplitterte Erzählung, die wir nur über Bilder erfahrenkönnen. Will man mit diesen Bildern in Kontakt kommen, sind Träumeein wichtiges Mittel, doch oft dringen sie in unserem wachen Daseinganz unberechenbar an die Oberfläche, werden vom Bewusstsein nurflüchtig erfasst und sinken ebenso plötzlich wieder dorthin, wo sie herge-kommen sind.Der Erzähler erzählt Geschichten in dem Versuch, die innere Erzählungzum Vorschein zu bringen; und durch irgendeinen irrationalen Prozessbringen diese Geschichten diejenigen in jedem Leser zum Schwingen. Esist ein wunderbarer Vorgang, so subtil wie ein Déjà-vu und ebenso unbe-stimmbar. Wir sehen ihn voll entfaltet in Hard-boiled Wonderland und dasEnde der Welt, wo es winzigen Echos aus der »inneren« Geschichte desProtagonisten (»Das Ende der Welt«) gelingt, die abgebrühte, harte »äu-ßere« Welt seines Bewusstseins zu erreichen.

Dass in einer Literatur so voller Musik und Erzählungen Ohren eine

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PRÄLUDIUM

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bedeutende Rolle spielen, ist nicht überraschend. Murakamis Gestaltenpflegen ihre Ohren außerordentlich gut. Sie säubern sie fast zwanghaft,um mit der unberechenbaren, wechselnden Musik des Lebens in Ein-klang zu bleiben. Die unglaublich schönen Ohren einer Gestalt, der na-menlosen Freundin in Wilde Schafsjagd (Hitsuji o meguru boken, 1982) – inder Fortsetzung dieses Romans, Tanz mit dem Schafsmann (Dansu dansudansu, 1988) erhält sie den Namen Kiki (»Lauschen«) –, besitzen fastübernatürliche Kräfte, wie sich herausstellt. Und Ohren sind für Muraka-mis Erzählerfiguren wichtig, weil sie viel Zeit damit verbringen, sich Ge-schichten anzuhören.

In seinem fünften Roman Naokos Lächeln (Noruwei no mori, 1987)gibt es zum Beispiel einen Augenblick, an dem der Erzähler-Held Toru»die Ereignisse des Tages, der mir unendlich lang vorkam« an sich vor-überziehen lässt,4 und das wirkt glaubhaft aus einem schlichten Grund.Dieser Tag hat über siebzig Romanseiten in Anspruch genommen, aufdenen wir nicht nur Torus Abenteuer verfolgt, sondern auch eine langeGeschichte mit angehört haben. Reiko, die faltige alte Frau (sie ist ganzeneununddreißig Jahre alt) hat Toru (und uns) ihre Lebensgeschichte er-zählt: Wie sie in ihrer Jugend den Ehrgeiz hatte, Konzertpianistin zuwerden, wie der Beginn einer Geisteskrankheit diese Träume zunichtegemacht hat; wie sich in ihrer Ehe ihr Zustand bessert, sie eine Tochtergebiert und eine neue musikalische Laufbahn als Klavierlehrerin beginnt,dann aber mit einer bösartigen Schülerin zusammentrifft, die ihr Gleich-gewicht zu zerstören droht.

Just als dieses neue Moment in die Geschichte kommt, merkt Reiko,wie spät es ist, und lässt Toru und den Leser hängen. Toru macht ihr dasKompliment, sie sei eine Scheherazade, und wir sind gespannt auf dieFortsetzung ihrer Geschichte, die im zweiten Band der Originalausgabefolgt. Erst da erfahren wir, dass Reiko von ihrer neuen Schülerin, einerschönen jungen Lesbierin, verführt wurde, dass ihr mühsam wieder ge-festigtes Leben entzweiging und sie in den Wahnsinn abglitt, der sie indas Sanatorium geführt hat, wo sie Toru ihre Geschichte erzählt. Es isteine bannende, herzerweichende Geschichte, und wir haben gespannt je-

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des Wort verfolgt, nicht zuletzt dank der aktiven Teilnahme des Erzäh-lers, der sich in entscheidenden Momenten meldet und Reiko solche Fra-gen stellt, wie wir sie stellen würden, könnten wir zugegen sein. Seine In-telligenz und sein Timing sind bemerkenswert. Er ist genauso neugierig,genauso sensibel, genauso intelligent und einfühlsam wie wir!

Murakami weiß, wie man Geschichten erzählt – und ihnen zuhört. Erhat ein empfindliches Gespür für die Rhythmen des Austauschs zwi-schen Erzähler und Zuhörer und ist sich der Mechanik dieses Vorgangsbewusst genug, um sie in einem fiktionalen Rahmen nachzubilden, waser oft tut. 1985 veröffentlichte er gar einen ganzen Band mit Shortstories,die vorgeblich Erfahrungen aus dem wirklichen Leben wiedergeben, vondenen ihm Freunde und Bekannte berichtet haben; später gestand er,dass sie allesamt erfunden waren.5 Ein weiterer Murakami-Erzähler be-schreibt den Vorgang des Geschichten-Erzählens im Zweiten Buch vonMister Aufziehvogel (Nejimakidori kuronikuru, 1994–95), einem gewal-tigen, prall mit Geschichten gefüllten Roman: »Nach mehreren solchenBegegnungen hatte ich entdeckt, daß sie [seine Tischgefährtin] eine ganzausgezeichnete Zuhörerin war. Sie begriff rasch, und sie verstand es, denFluß der Erzählung durch geschickt eingeworfene Fragen und Kommen-tare in bestimmte Bahnen zu lenken.«6

Sie mag eine gute Zuhörerin sein, aber für den Leser ist sie vornehm-lich interessant wegen der Geschichte, die sie selbst erzählt, wodurch siees dem Erzähler ermöglicht, uns Ereignisse mitzuteilen, die weit jenseitsder Grenzen seiner Erfahrung liegen. Murakamis Erzählergestalten ver-halten sich in ihrem eigenen Leben gewöhnlich passiv, als Zuhörer jedochsind sie vollkommen aktiv. Auf den ersten Seiten von »Pinball, 1973«(1973-nen no pinboru, 1980) beschreibt sich der Erzähler so:

Ich hatte früher einen pathologischen Hang, mir Geschichtenüber Orte anzuhören, die ich nicht kannte und nie gesehen hatte.Eine Zeitlang, vor ungefähr zehn Jahren, zog ich ständig durch dieGegend und brachte alle, die ich finden konnte, dazu, mir über dieOrte, an denen sie geboren oder aufgewachsen waren, Geschich-

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ten zu erzählen. Vielleicht herrschte damals gerade Mangel an demTyp, der es aktiv darauf anlegt, sich anderer Leute Geschichten an-zuhören, denn jeder – wirklich jeder – erzählte mir seine freund-lich und begeistert. Vollkommen fremde Menschen hörten vonmir und stöberten mich auf, um mir ihre Geschichten zu erzählen.Als würden sie Steine in einen trockenen Brunnen werfen, erzähl-ten sie mir alle möglichen Geschichten, und wenn sie fertig waren,ging jeder von ihnen befriedigt nach Hause … Ich hörte mir ihreGeschichten so ernst an, wie es mir nur möglich war.7

Auch wenn der Erzähler nicht gerade ein Therapeut ist, hat er einen sanfthumorvollen Ton und ein mitfühlendes Ohr zu bieten. »Es ist sehr heil-sam für mich, mir viele Geschichten anderer Menschen anzuhören«, äu-ßerte Murakami gegenüber dem Psychologen Hayao Kawai. »Ja, sicher«,entgegnete Kawai, »so geht es unsereinem – wir heilen und werden selbstgeheilt.«8 Der »therapeutische« Ton von Murakamis frühen Werken trugzweifellos dazu bei, dass er sofort erfolgreich wurde. Die frühen Roma-ne, erzählt von einem verständnisvollen Neunundzwanzigjährigen, dererklärt, wie er sein drittes Lebensjahrzehnt überlebt hat, stellten soetwas wie einen Reiseführer für Leser dar, die sich gerade selbst aufden Weg durch diese beängstigende Dekade begaben, in der sie die si-chere Ordnung von College oder Universität hinter sich lassen und eineihren individuellen Bedürfnissen gemäße Lebensform würden findenmüssen.

Murakami ist ein sehr populärer Schriftsteller – vor allem natürlich inJapan, obgleich seine Werke nun wenigstens in fünfzehn Sprachen inachtzehn Ländern übersetzt sind (vgl. die Bibliografie). Besondern gutverkaufen sich seine Bücher in anderen ostasiatischen Ländern, wo seincooler, unabhängiger, oft komischer Erzähler eine Alternative zu einemLeben zu eröffnen scheint, das in der erbarmungslosen konfuzianischenUmklammerung durch Staat und Familie stattfindet. In Taiwan zum Bei-spiel gab es im November 2000 in einer Buchhandlung eine ganze Mu-rakami-Abteilung mit fast zwanzig übersetzten Titeln; in einem großen

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Porträtartikel, den eine Zeitung an zwei Tagen druckte, wurde er als derbedeutendste japanische Romancier seit dem Klassiker Soseki Natsumeaus der Meiji-Zeit bezeichnet und es war davon die Rede, dass sein Ge-sicht eines Tages eine japanische Banknote zieren könnte wie das vonSoseki heute; nicht weniger als fünf verschiedene Übersetzungen vonNaokos Lächeln waren auf den diversen chinesischen Märkten erhältlich.Korea ist, was Murakami-Übersetzungen angeht, als ausländische Na-tion mit dreiundzwanzig Titeln in einunddreißig Bänden führend, da-runter einige mit leichteren Essays und Reiseberichten, die wahrschein-lich nie auf Englisch publiziert werden.9

In Japan erschien die erste, achtbändige Ausgabe von Murakamis Ge-sammelten Werken bereits 1990, die ersten zehn Arbeitsjahre eines Au-tors dokumentierend, der mit dreißig Jahren zu publizieren begann. Jetztfünfundfünfzig (im Januar 2004), hat er seinem Œuvre inzwischen wei-tere zehn Bände hinzugefügt. Nur die japanischen Bücher über ihn dürf-ten an Zahl seine eigenen übertreffen; freilich sind dann nicht mitgezähltdie mindestens vierzig Bände mit Essays, Reiseschriften und die Über-setzungen von Literatur für Erwachsene und Kinder aus dem Engli-schen, die Murakami in seiner »Freizeit« hervorgebracht hat. Weltweitbetrug 1999 die Anzahl neu erschienener Einzelausgaben, als deren Au-tor oder Übersetzer Haruki Murakami genannt wird, mindestens zwei-undzwanzig; 2000 waren es, ohne Reprints, dreiundzwanzig.

Viele Kommentatoren, die meisten davon weit älter als das Gros vonMurakamis Lesern, betrachten seine Popularität als Anzeichen dafür, dassda etwas nicht stimmt – nicht nur mit Murakamis Schreiben, sondernmit der gesamten japanischen Gegenwartsliteratur. So beklagte DonaldKeene, der Doyen der westlichen Japanologen, den augenblicklichen Zu-stand der Literatur in Japan – in Hinblick auf den Nobelpreis, den Ken-zaburo Oe10 1994 für seine »soliden« Romane erhielt – mit folgendenWorten: »Wenn man hier in eine Buchhandlung geht, dann findet man,wenn es nicht eine sehr große ist, kein wirklich solides literarisches Werk.Die heutigen Autoren schreiben für den wechselnden Modegeschmackeines jungen Publikums.«11

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Ein besonders freimütiger Kritiker von Murakami ist der stets streit-lustige Masao Miyoshi, der Keene beipflichtet: »Oe ist zu schwierig,klagen die [japanischen] Leser. Fasziniert sind sie von nichtssagendenProduzenten unterhaltsamer Wegwerfliteratur, einschließlich den ›neuenStimmen Japans‹ wie Haruki Murakami und Banana Yoshimoto.«12 WieYukio Mishima,13 sagt Miyoshi, schneide Murakami seine Ware speziellauf seine ausländischen Leser zu. Während »Mishima ein exotisch-natio-nalistisches Japan zur Schau gestellt« habe, führe Murakami »ein exo-tisch-internationales Japan« vor; er sei »auf Japan fixiert, oder, genauergesagt, auf ein Japan, wie es seiner Vorstellung nach die ausländischenKäufer gern sehen«.

Miyoshi betrachtet Murakami als zynischen Spekulanten, der nie einWort aus so altmodischen Motiven wie Inspiration oder innerem Impulsheraus geschrieben hat. Um flatterhafte Akademiker abzuschrecken, dieversucht sein könnten, Murakami ernst zu nehmen, bemerkt er warnend:»Nur sehr wenige werden wohl so töricht sein, ihn einer eingehendenLektüre zu würdigen.«14

Nun gut, dann sind wir eben töricht. Beginnen wir aber mit einer vonMurakamis musikalischsten Erzählungen, »1963/1982 Girl from Ipane-ma« (»1963/1982-nen no Ipanema-musume«, 1982), die mit einem selek-tiven Zitat des Songtextes beginnt, der in seiner Bedeutung dem portu-giesischen Original näher ist als die populäre englische Version.15

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Das 1963/1982-Mädchen von Ipanema

Tall and tan and young and lovely,The girl from Ipanema goes walking.When she walks, it’s like a sambaThat swings so cool and sways so gently.How can I tell her I love her?Yes, I would give my heart gladly.But each day when she walks to the sea,She looks straight ahead, not at me.

So schaute das Mädchen von Ipanema damals, 1963, aufs Meer. Und sotut sie es heute, 1982, noch immer. Sie ist nicht gealtert. Versiegelt in demBild, das wir von ihr haben, treibt sie im Meer der Zeit. Wäre sie älter ge-worden, dann wäre sie nun wohl bald vierzig. Oder auch nicht. Aber siehätte nicht mehr die schlanke Figur und wäre nicht so braun gebrannt.Vielleicht wäre sie noch immer fast so reizend wie früher, aber sie hättedrei Kinder, und zu viel Sonne täte ihrer Haut nicht gut.

Auf meiner Platte ist sie natürlich nicht älter geworden. In den Samtdes Tenorsaxofons von Stan Getz gehüllt, ist sie so cool wie eh und je, dassich sanft wiegende Mädchen von Ipanema. Ich lege die Platte auf denPlattenteller, setze die Nadel in die Rille, und da ist sie –

How can I tell her I love her?Yes, I would give my heart gladly.

Die Melodie weckt in mir Erinnerungen an den Korridor in meinerHighschool – ein langer, klammer Schulkorridor. Wenn man über denBetonboden ging, hallten die Schritte an der hohen Decke wider. NachNorden hin gab es ein paar Fenster, die jedoch auf die nahe Bergflankeblickten, und darum war es auf dem Korridor immer düster. Und fast im-mer still. In meiner Erinnerung wenigstens.

Ich weiß nicht ganz genau, warum mich »The Girl from Ipanema« an

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jenen Schulkorridor erinnert. Die beiden haben absolut nichts miteinan-der zu tun. Welche Kieselsteine, frage ich mich, mag das Mädchen von Ipa-nema 1963 wohl in den Brunnen meines Bewusstseins geworfen haben?

Wenn ich an meinen Schulkorridor denke, fallen mir bunte Salate ein:Kopfsalat, Tomaten, Gurken, grüne Paprika, Spargel, Zwiebelringe undrosa Thousand-Island-Salatsauce. Nicht dass es eine Salatbar am Endedes Korridors gegeben hätte; nein, da war nur eine Tür, und hinter ihr einschäbiges Fünfundzwanzig-Meter-Schwimmbecken.

Warum erinnert mich mein alter Schulkorridor dann an bunte Salate?Auch diese beiden Sachen haben nichts miteinander zu tun, sie waren nurzufällig gleichzeitig vorhanden, so wie wenn ein Pechvogel merkt, dass erauf einer frisch gestrichenen Bank sitzt.

Bunte Salate erinnern mich an ein Mädchen, das ich damals kannte.Das ist nun wenigstens eine einleuchtende Assoziation, denn diesesMädchen aß nie etwas anderes als Salate.

»Wie steht’s denn (mampf-mampf ) mit dem (mampf-mampf ) Eng-lischreferat? Schon fertig damit?«

»Nicht ganz (mampf-mampf ). Muss noch ein paar Sachen dafür le-sen (mampf-mampf ).«

Ich mochte Salate selbst ziemlich gern, und daher führten wir, wennich mit ihr zusammen war, Salat-strotzende Gespräche. Sie war ein Mäd-chen mit klaren Überzeugungen, und dazu gehörte, dass alles in Ordnungsei, wenn man nur ausgewogen aß und viel frisches Gemüse verputzte.Wenn nur alle Gemüse äßen, wäre die Erde ein Planet der Schönheit unddes Friedens, voller Liebe und Gesundheit, Strawberries forever sozusagen.

»Vor langer, langer Zeit«, schrieb ein gewisser Philosoph, »da warenMaterie und Gedächtnis einmal durch einen metaphysischen Abgrundgetrennt.«

Das 1963/1982-Mädchen von Ipanema geht weiter stumm über denheißen Sand eines metaphysischen Strands. Er ist sehr lang, und sanfteweiße Wellen lecken an ihm. Es herrscht kein Wind, am Horizont istnichts zu sehen. Man riecht nur das Meer. Und die Sonne brennt heiß.

Unter einem Strandschirm ausgestreckt, nehme ich eine Bierdose aus

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DAS 1963/1982-MÄDCHEN VON IPANEMA

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der Kühltasche und ziehe die Lasche auf. Das Mädchen geht noch immervorbei, groß und gebräunt, im primärfarbenen Bikini.

Ich versuch’s mal. »Hi, wie geht’s?«»Hallo«, sagt sie.»Wie wär’s mit einem Bier?«Sie zögert. Aber schließlich ist sie müde vom Gehen und sie hat

Durst. »Gern«, sagt sie.Und zusammen trinken wir unter meinem Strandschirm Bier.»Übrigens«, wage ich mich vor. »Ich bin mir sicher, wir sind uns 1963

begegnet. Gleiche Zeit, gleicher Ort.«»Das muss sehr lange her sein«, sagt sie und neigt den Kopf ein wenig

zur Seite.»Ja«, sage ich. »Sehr lange.« Sie leert die halbe Dose in einem Zug, dann starrt sie in das Loch im

Deckel. Es ist nur eine gewöhnliche Bierdose mit einem gewöhnlichenLoch, aber so wie sie in die Öffnung blickt, scheint alles eine besondereBedeutung anzunehmen – als würde gleich die gesamte Welt darin ver-schwinden.

»Vielleicht sind wir uns ja wirklich schon begegnet. 1963, sagst du?Hmmm … 1963. Könnte schon sein.«

»Du bist überhaupt nicht älter geworden.«»Natürlich nicht. Ich bin ein metaphysisches Mädchen.«Ich nicke. »Damals hast du keine Notiz von mir genommen. Du hast

aufs Meer geschaut, nie zu mir.«»Könnte schon sein«, sagt sie. Nun lächelt sie; ein wundervolles, ein

wenig trauriges Lächeln. »Vielleicht habe ich wirklich nur aufs Meer ge-schaut und sonst nichts gesehen.«

Ich mache mir noch ein Bier auf und biete ihr eines an. Sie schütteltnur den Kopf. »Danke, aber ich kann nicht so viel Bier trinken«, sagt sie.»Ich muss immer weitergehen.«

»Werden deine Fußsohlen denn nicht heiß?«»Überhaupt nicht«, sagt sie. »Sie sind vollkommen metaphysisch.

Willst du mal sehen?«

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