methodenlehre i 21.6 - uzh · 1 prof. dr. m. mahlmann fs 2013 methodenlehre i 21.6.2013 dauer: 120...
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Prof. Dr. M. Mahlmann FS 2013
Methodenlehre I
21.6.2013
Dauer: 120 Minuten
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Teil 1: Textanalyse (50 %)
Herr K. (geb. 1960) wanderte am Sonntag bei strahlendem Sonnenschein zwischen 15.40 und
16.00 Uhr nackt in einem beliebten Naherholungsgebiet im Kanton Appenzell A.Rh. Dabei kam
er u.a. an einem Grillplatz vorbei, der aber gerade nicht verwendet wurde. Ausserdem spazierte er
an einem Altersheim vorbei. Eine Passantin stellte K. zur Rede und erstattete Strafanzeige.
K. wurde wegen unanständigen Benehmens im Sinne von Art. 19 des Gesetzes über das
kantonale Strafrecht des Kantons Appenzell A.Rh. zu einer Busse von 100 Franken verurteilt.
Das Bundesgericht musste u.a. entscheiden, ob Art. 19 al. 2 Strafrecht/AR (s. sogleich unten)
hinreichend bestimmt ist und ob die Bestrafung K.s das angerufene Grundrecht auf persönliche
Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) verletzt.
Art. 10 Bundesverfassung (Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit)
2Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige
Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit.
Art. 19 Gesetz des Kantons Appenzell A.Rh. über das kantonale Strafrecht (Strafrecht/AR)
Unanständiges Benehmen
Wer sich in angetrunkenem oder berauschtem Zustand öffentlich ungebührlich aufführt, wer in
anderer Weise öffentlich Sitte und Anstand grob verletzt, wird mit Busse bestraft.
Aufgaben:
1. Bitte nehmen Sie zu den unten auszugsweise abgedruckten Ausführungen des
Bundesgerichts methodenkritisch Stellung. Was wird auslegt? Welche Methoden bzw.
Auslegungselemente werden wo angesprochen? Welche Methoden werden ggf. nicht
erwähnt? (30 %)
2. K. ist der Ansicht, dass die Tatbestandsmerkmale der Verletzung von „Sitte“ und
„Anstand“ heute nicht mehr als Anknüpfungspunkt für strafrechtliche Regelungen dienen
dürften. Insbesondere dürfe doch der Richter nicht einfach seine Vorstellungen über
„bürgerliche Tugendhaftigkeit“ den Menschen „aufzwingen“. Diskutieren Sie K.s Ansicht.
Gehen Sie dabei auch auf das Problem des Richterrechts ein. (20 %)
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Auszug aus dem Urteil des Bundesgerichts:
„Eine Strafe oder Massnahme darf nur wegen einer Tat verhängt werden, die das Gesetz
ausdrücklich unter Strafe stellt (Art. 1 StGB). Der Grundsatz der Legalität ("nulla poena sine
lege") ist ebenfalls in Art. 7 EMRK ausdrücklich verankert. Er ergibt sich auch aus Art. 5 Abs. 1,
Art. 9 und Art. 164 Abs. 1 lit. c BV. Der Grundsatz ist verletzt, wenn jemand wegen eines
Verhaltens strafrechtlich verfolgt wird, das im Gesetz überhaupt nicht als strafbar bezeichnet
wird; wenn das Gericht ein Verhalten unter eine Strafnorm subsumiert, unter welche es auch bei
weitestgehender Auslegung der Bestimmung nach den massgebenden Grundsätzen nicht
subsumiert werden kann; oder wenn jemand in Anwendung einer Strafbestimmung verfolgt wird,
die rechtlich keinen Bestand hat. … Aus dem Grundsatz der Legalität wird das
Bestimmtheitsgebot abgeleitet ("nulla poena sine lege certa"). Eine Strafnorm muss hinreichend
bestimmt sein. Das Gesetz muss so präzise formuliert sein, dass der Bürger sein Verhalten
danach richten und die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen
entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen kann. Nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte darf das Gebot nach
Bestimmtheit rechtlicher Normen indessen nicht in absoluter Weise verstanden werden.
Das Gesetz des Kantons Appenzell A.Rh. über das kantonale Strafrecht stellt nicht ausdrücklich
das Nacktwandern oder das Nackt-Sein in der Öffentlichkeit unter Strafe. Es droht in Art. 19 für
"unanständiges Benehmen" Busse an. … Gemäss Art. 19 al. 2 Strafrecht/AR wird bestraft, wer
"in anderer Weise öffentlich Sitte und Anstand grob verletzt".
"Anstand" bezeichnet "die Form des zwischenmenschlichen Verhaltens, die als der Würde des
Menschen entsprechend angesehen wird. … Unter "Sitte" versteht man "die in einer Gesellschaft
oder Teilgesellschaft vorhandenen und angewendeten Regeln des Sozialverhaltens, sofern diese
nicht durch Gesetze festgelegt, sondern durch alltägliche Anwendung verankert sind, die sich
durch den Verweis auf Traditionen, Kultur, Brauch, moralische oder religiöse Vorstellungen
rechtfertigt".
Das Nacktwandern unterscheidet sich wesentlich etwa vom Baden, Sonnenbaden sowie von der
Ausübung von Sport und Spiel im Zustand der Nacktheit auf einem begrenzten Gelände. …
Gemäss Art. 10 Abs. 2 BV hat jeder Mensch das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf
körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit. … Das Grundrecht auf
persönliche Freiheit umfasst neben den in Art. 10 Abs. 2 BV ausdrücklich genannten Rechten
auch das Recht auf Selbstbestimmung und auf individuelle Lebensgestaltung sowie den Schutz
der elementaren Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung. Das Grundrecht enthält jedoch
keine allgemeine Handlungsfreiheit, auf die sich der Einzelne gegenüber jedem staatlichen Akt,
der sich auf seine persönliche Lebensgestaltung auswirkt, berufen kann. Die persönliche Freiheit
schützt nicht vor jeglichem physischen oder psychischen Missbehagen. Das Recht auf
individuelle Lebensgestaltung beinhaltet auch die Freiheit in der Auswahl der Bekleidung etwa
nach den Gesichtspunkten der Ästhetik und der Praktikabilität. … Das Verbot liegt schon mit
Rücksicht auf die nachvollziehbare Empörung über das Nacktwandern in Teilen der Bevölkerung
und die daher möglichen Zwistigkeiten sowie zwecks Verhinderung von Auswüchsen im
öffentlichen Interesse. Die Beschwerde ist in sämtlichen Punkten unbegründet.“
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Aufgabe 1.1
Gegenstand der Auslegung: Hinreichende Bestimmtheit der Strafnorm des Art. 19
Strafrecht/AR
Hinweis auf eine völkerrechtskonforme Auslegung der BV (als Sonderfall der
systematischen Auslegung)
„Eine Strafe oder Massnahme darf nur wegen einer Tat verhängt werden, die das Gesetz
ausdrücklich unter Strafe stellt (Art. 1 StGB). Der Grundsatz der Legalität ("nulla poena sine
lege") ist ebenfalls in Art. 7 EMRK ausdrücklich verankert. Er ergibt sich auch aus Art. 5 Abs. 1,
Art. 9 und Art. 164 Abs. 1 lit. c BV.
Systematische Auslegung
Der Grundsatz ist verletzt, wenn jemand wegen eines Verhaltens strafrechtlich verfolgt wird, das
im Gesetz überhaupt nicht als strafbar bezeichnet wird;
Grammatikalische Auslegung (hier wird der „Wortlaut“ der Norm ausgelegt)
wenn das Gericht ein Verhalten unter eine Strafnorm subsumiert, unter welche es auch bei
weitestgehender Auslegung der Bestimmung nach den massgebenden Grundsätzen nicht
subsumiert werden kann; oder wenn jemand in Anwendung einer Strafbestimmung verfolgt
wird, die rechtlich keinen Bestand hat.
zumindest der letzte Fall stellt eine Auslegung dar, die sich nicht mehr nur aus dem
Wortlaut der Norm ergibt, sondern die Zweckmässigkeitserwägungen mit einbezieht
(teleologische Auslegung)
Aus dem Grundsatz der Legalität wird das Bestimmtheitsgebot abgeleitet ("nulla poena sine lege
certa"). Eine Strafnorm muss hinreichend bestimmt sein. Das Gesetz muss so präzise formuliert
sein, dass der Bürger sein Verhalten danach richten und die Folgen eines bestimmten Verhaltens
mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen kann.
Teleologische Auslegung (Was „Normbestimmtheit“ meint, ergibt sich wesentlich aus
der Analyse, wozu Bestimmtheit erforderlich ist.)
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte darf das Gebot nach Bestimmtheit rechtlicher Normen indessen nicht in
absoluter Weise verstanden werden.
Anklänge der völkerrechtskonformen Auslegung der BV
Argumentum ad absurdum (Absolute Bestimmtheit der Norm zu verlangen, würde zu
unzweckmässigen Ergebnissen führen).
1 Der Fall ist BGE138 IV 13 – Nachtwandern – nachgebildet.
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Das Gesetz des Kantons Appenzell A.Rh. über das kantonale Strafrecht stellt nicht ausdrücklich
das Nacktwandern oder das Nackt-Sein in der Öffentlichkeit unter Strafe. Es droht in Art. 19 für
"unanständiges Benehmen" Busse an. … Gemäss Art. 19 al. 2 Strafrecht/AR wird bestraft, wer
"in anderer Weise öffentlich Sitte und Anstand grob verletzt".
Hier handelt es sich um eine grammatikalische Auslegung, da mit dem Wortlaut
gearbeitet wird.
"Anstand" bezeichnet "die Form des zwischenmenschlichen Verhaltens, die als der Würde des
Menschen entsprechend angesehen wird. … Unter "Sitte" versteht man "die in einer Gesellschaft
oder Teilgesellschaft vorhandenen und angewendeten Regeln des Sozialverhaltens, sofern diese
nicht durch Gesetze festgelegt, sondern durch alltägliche Anwendung verankert sind, die sich
durch den Verweis auf Traditionen, Kultur, Brauch, moralische oder religiöse Vorstellungen
rechtfertigt".
Gegenstand der Auslegung: Tatbestandsmerkmale „Anstand“ und „Sitte“
*Hier handelt es sich um eine grammatische Auslegung, allerdings fliessen teleologische
Erwägungen ein („der Würde des Menschen entsprechend“).
Das Nacktwandern unterscheidet sich wesentlich etwa vom Baden, Sonnenbaden sowie von der
Ausübung von Sport und Spiel im Zustand der Nacktheit auf einem begrenzten Gelände. …
Argumentum e contrario: Hier wird ein Analogieschluss ausgeschlossen. Weil sich das
erlaubte Verhalten (z.B. Baden) wesentlich vom fraglichen Verhalten (Nacktwandern)
unterscheidet, können beide in den Rechtsfolgen unterschiedlich behandelt werden. Die
Erlaubnisnorm „Baden in der Sozialsphäre ist erlaubt“ deckt nicht den Fall des
Nacktwanderns.
Gemäss Art. 10 Abs. 2 BV hat jeder Mensch das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf
körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit. … Das Grundrecht auf
persönliche Freiheit umfasst neben den in Art. 10 Abs. 2 BV ausdrücklich genannten Rechten
auch das Recht auf Selbstbestimmung und auf individuelle Lebensgestaltung sowie den Schutz
der elementaren Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung.
Gegenstand der Auslegung: Ist Nacktwandern vom Schutzbereich des Rechts auf
persönliche Freiheit umfasst?
Hier geht es implizit um eine grammatikalische Auslegung und deren Grenzen im Fall von
Art. 10 Abs. 2 BV (wesentliche Aspekte der Norm sind dem Wortlaut nicht zu
entnehmen, sondern müssen durch Auslegung ermittelt werden). *Dabei handelt es sich
im Wesentlichen um Richterrecht.
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Das Grundrecht enthält jedoch keine allgemeine Handlungsfreiheit, auf die sich der Einzelne
gegenüber jedem staatlichen Akt, der sich auf seine persönliche Lebensgestaltung auswirkt,
berufen kann. Die persönliche Freiheit schützt nicht vor jeglichem physischen oder psychischen
Missbehagen. Das Recht auf individuelle Lebensgestaltung beinhaltet auch die Freiheit in der
Auswahl der Bekleidung etwa nach den Gesichtspunkten der Ästhetik und der Praktikabilität. …
Hier steht eine unausgesprochene teleologische Auslegung im Hintergrund.
Das Verbot liegt schon mit Rücksicht auf die nachvollziehbare Empörung über das Nacktwandern
in Teilen der Bevölkerung und die daher möglichen Zwistigkeiten sowie zwecks Verhinderung von
Auswüchsen im öffentlichen Interesse. Die Beschwerde ist in sämtlichen Punkten unbegründet.“
Nicht angesprochene Auslegungsmethoden (diese sind ausweislich der Aufgabenstellung kurz zu
erläutern):
historische Auslegung: Die historische Auslegungsmethode sucht den Sinn einer Norm in
den Umständen ihrer Entstehung. Als Begründung dieser Auslegungsmethode wird
insbesondere ein demokratietheoretisches Argument angeführt: Der Rechtsanwender
sei an den Sinn der Norm, wie er von dem damaligen, zur Rechtssetzung befugten Organ
verstanden wurde, gebunden. Man unterscheidet die subjektiv-historische
Auslegungsmethode, die nach dem tatsächlichen (historischen) Willen des historischen
Gesetzgebers fragt, von der objektiv-historischen Methode, die auf die historisch mit der
Gesetzgebung verfolgten Zwecke abstellt.
systematische Auslegung: Die systematische Auslegung ermittelt den Sinn einer
Rechtsnorm aus ihrem Verhältnis zu anderen Rechtsnormen oder ihrer Stellung in einem
Gesetz. Dabei können Titel und Überschriften eine Rolle spielen. Sonderfälle der
systematischen Auslegung sind die verfassungs- oder völkerrechtskonforme Auslegung.
zeitgemässe Auslegung: Sofern man in der zeitgemässen Auslegung keinen Sonderfall
der teleologischen Auslegung erblickt, ist auch sie hier zu erwähnen. Diese
Auslegungsmethode stellt auf das Normverständnis ab, wie es zur Zeit der
Rechtsanwendung besteht. Sie steht daher in einem Spannungsverhältnis zur
historischen Auslegung. Diese Auslegungsmethode gibt dem Rechtsanwender einen
grossen Spielraum an die Hand. Problem ist die evtl. damit verbundene Einbusse an
Rechtssicherheit. Diese Methode spielt im europäischen Verfassungsrecht (Europarecht,
EMRK-Recht eine bedeutende Rolle).
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Aufgabe 2.
Die Aufgabenstellung spricht zwei Problemkomplexe an:
a) Das Problem der Unbestimmtheit von Rechtsbegriffen wie „Sitte“ und „Anstand“, speziell im
Kontext von Strafrechtsnormen.
b) Das Problem des Richterrechts in diesem Kontext.
Zu a)
Es gibt in der polizeirechtlichen Literatur eine Diskussion, die die Tauglichkeit der
„öffentlichen Sittlichkeit“ als Schutzgut des Polizei-/Übertretungsstrafrechts in Frage
stellt (für CH vgl. P. Taschannen, „Öffentliche Sittlichkeit“: Sozialnormen als polizeiliches
Schutzgut?, in Mélanges en l’honneur de Pierre Moor, 2005,553 ff.).
Im Ausgangsfall hatte der Beschwerdeführer argumentiert, dass „öffentliche Sittlichkeit“
als eigenständiger Tatbestand für eine straf-/bussgeldbewehrte Norm in einem
freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat nicht mehr zu halten sei.
Diese Tatbestandsmerkmale seien notwendig unbestimmt.
Erforderlich sei daher immer eine spezielle, gesetzliche Regelung; nur wenn man sich auf
eine solche geeinigt habe, könne das sittliche Empfinden der Bevölkerung Schutz
beanspruchen.
Gegen diese Argumentation lässt sich anführen:
o i) Unbestimmte Rechtsbegriffe sind dem Recht keineswegs fremd; jedes moderne
Rechtssystem operiert mit Begriffen, die mehr oder weniger bestimmt sind (z.B.
„öffentliches Interesse“, „angemessene Entschädigung“).
o ii) Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichts sowie des EGMR kann
eine absolute Bestimmtheit auch für Strafrechtsnormen und Normen des
Übertretungsstrafrechts nicht verlangt werden. Vielmehr dürfen gewisse Fragen
der Rechtsanwendung überlassen werden.
o iii) Als Konkretisierungshilfe bei der Bestimmung dieser Begriffe dient die
Methode der verfassungs- und ggf. völkerrechtskonformen Auslegung (als
Sonderfall der systematischen Auslegung).
o iv) Zugleich kann – insbesondere auch bei Normen des Polizeirechts oder
Übertretungsstrafrechts – wie hier auch die gefestigte Rechtsprechung der
Gerichte zur Konkretisierung herangezogen werden: Unbestimmte Rechtsbegriffe
sind daher nicht mehr „unbestimmt“, wenn ihnen regelmässig ein bestimmter
Sinn (eine bestimmte Auslegung) beigegeben wird.
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Zu b)
Diese Frage zielt auf das institutionelle Folgeproblem: Wenn Normen des Straf- bzw.
Übertretungsunbestimmte Rechtsbegriffe enthalten, dann wird das Problem ihrer
Konkretisierung auf den rechtsanwendenden Richter verlagert.
Gerade bei Normen, die stark wertungsbezogene Tatbestandsmerkmale, wie hier das
der „öffentlichen Sittlichkeit“ enthalten, entsteht leicht der Vorwurf des Subjektivismus
oder des Rechtspaternalismus durch den Richter.
Dagegen ist zu sagen:
o Richterrecht ist nicht per se ein Problem. Die Tätigkeit der Judikative ist eine
legitime Form der Ausübung öffentlicher Gewalt.
o Es ist heute anerkannt, dass Rechtsanwendung immer auch ein schöpferischer,
kreativer Vorgang im Umgang mit Normen ist. Der Richter ist keineswegs nur „la
bouche qui prononce les paroles de la loi“, wie Montesquieu meinte. Der Richter
ist kein „Subsumtionsautomat“.
o Dennoch: Der Richter ist nur insoweit zur „Setzung“ von Richterrecht befugt, wie
das geltende, demokratisch legitimierte Recht dafür Raum lässt. Der Richter ist
also keineswegs frei. Er ist an Gesetz und Recht gebunden, ausserdem gebiete die
Gewaltenteilung eine gewisse Zurückhaltung bei der Auslegung.
Bezogen auf den vorliegenden Fall heisst das:
o Der Richter ist aufgerufen, den unbestimmten Rechtsbegriff der „Sitte“
auszulegen. Der Begriff ist einer juristischen Auslegung nicht unzugänglich.
Solange der Richter seine Auslegung auf die anerkannten Auslegungsmethoden
stützen kann, ist das gefundene Ergebnis methodisch vertretbar.
o In diesem Fall handelt es sich dann auch nicht um das Aufzwingen subjektiver
bürgerlicher Tugenden durch den Richter.
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Teil 2: Einzelfragen (50 %)
3. Welche Probleme bei der Auslegung von Recht kennen Sie, die mit dem Wortlaut der
Norm verbunden sind? (15 %)
Die Wortlautauslegung (sprachlich-grammatikalische Auslegung) gehört zu den
klassischen Auslegungskriterien von Normen nach Savigny.
Problem des Bedeutungsermittlung von Rechtssprache (Drei-Bereiche Modell,
Referenzmodell, soziales Gebrauchsmodell, Modell der Dekonstruktion, Kontextmodell
etc.)
o Bsp.: Was bedeutet „Schusswaffe“? Fällt die täuschend echte Spielzeugpistole
darunter?
o Drei-Bereiche Modell (Ph. Heck): zu unterscheiden sind positive, neutrale oder
negative Kandidaten; positiv = sichere Normerfüller; negativ = sichere
Normernichterfüller; neutral = Normerfüller, wenn TBM extensiv ausgelegt wird;
Normnichterfüller, wenn Norm restriktiv ausgelegt wird (Problem: Die
Möglichkeit der Einteilung setzt ein unabhängiges Kriterium voraus; dieses wird
von dieser Theorie aber nicht benannt.)
o Referenzmodell: Beziehung des Sprachzeichens zum Gegenstand; Definition eines
Begriffs durch Aufzählung verschiedener Beispiele (extensional); Umschreibung
der Merkmale eines Begriffs (intensional)
o Soziales Gebrauchsmodell: relevant ist, wie der Begriff im Rechtsdiskurs
verwendet wird; Wittgenstein
o Dekonstruktion: relevant für die Bedeutung eines Begriffs ist, welche Macht der
Begriffsverwender im Diskurs ist
o Kontextmodell (Mahlmann): Normbedeutungen werden mit Hilfe eines Modells
der universalen Grammatik und des universalen Sprachgebrauchs ermittelt
Nach hM hat die Auslegung bei der Ermittlung des Wortsinns zu beginnen.
Unter dem „Wortsinn“ wird gemeinhin die Bedeutung im Allgemeinen oder besonderen
juristischen Sprachgebrauch verstanden.
Der Wortsinn ist ein wichtiges „Indiz“ bei der Ermittlung des Normsinns.
Probleme der Auslegung aufgrund des Wortlauts
o Problem: Vagheit oder Mehrdeutigkeit des Wortsinns eines Ausdrucks
Deskriptive Tatbestandsmerkmale lassen „semantische Spielräume“
offen, z.B. Wohnung (fällt darunter auch der Wohnwagen oder das
Krankenhauszimmer? Das Auto?)
Differenzierung: Man unterscheidet hier zwischen „enger“ oder „weiter“
Auslegung. Bei enger Auslegung eines Normausdrucks gibt es „klare“
Normerfüller, also Gegenstände/Personen, auf die die Norm
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unzweifelhaft Anwendung findet (z.B. die Wohnung in einem
Mehrfamilienhaus). Ebenso gibt es beider engen Auslegung eine klare
Normnichterfüllung, z.B. die Matratze unter der Brücke. Dann gibt es
„neutrale Kandidaten“, bei denen man aufgrund des Wortsinns weder
eindeutig „ja“ noch eindeutig „nein“ sagen kann, z.B. dem Zelt oder dem
Wohnwagen. Hier müssen weitere Auslegungskriterien bemüht werden.
In diesem Fall kann die Auslegung nicht bei dem Wortsinn stehenbleiben,
sondern muss weitere Indizien (Systematik, Teleologie) heranziehen.
Gesetzgeber kann Legaldefinitionen vorsehen; aber auch diese können
auslegungsbedürftig sein.
o Problem: Normative Tatbestandsmerkmale sind durch Wertung auszufüllen, z.B.
Die Polizei darf Tiere und Gegenstände sicherstellen, um eine erhebliche Gefahr
abzuwehren, § 38a PolG ZH.
normative Tatbestandsmerkmale sind einmal juristische Fachtermini, wie
z.B. Gefahr; zu deren Auslegung muss auf die juristische Dogmatik, d.h.
die Entfaltung einer Bedeutung einer Norm durch rationale
Argumentation, zurückgegriffen werden
normative Tatbestandsmerkmale sind auch Begriffe, die auf eine
gesellschaftliche Wertung zurückgreifen, z.B. „erheblich“ (s.o.); hier muss
der Rechtsanwender eine Wertung vornehmen
o Problem: Generalklauseln, z.B. „Treu und Glauben“; das „öffentliche Interesse“;
auch hier ist eine wertende Ausfüllung geboten; Bedeutungssicherheit kann hier
insbes. eine konsistente Rechtsprechung liefern
o Problem: Relativität der Rechtsbegriffe, d.h. Ausdrücke bedeuten in einem
Rechtsgebiet (sogar bisweilen in einem Gesetz) nicht immer dasselbe, z.B.
Urkunde im Strafrecht ist etwas anderes als Urkunde im Zivilprozessrecht
o Problem: „Verfremdung“ der Normalsprache durch juristische Sprache; als
Gesetzesterminus kann ein Ausdruck eine von der Alltagssprache abweichende
Bedeutung annehmen (s. oben: Nach hM ist auch ein Zelt eine „Wohnung“.)
o Problem: Mehrsprachigkeit von Rechtsquellen (v.a. im Völkerrecht);
harmonisierende Auslegung unter Berücksichtigung des Ziels der Norm (s. Art. 33
der Wiener Vertragsrechtskonvention)
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4. Nach einer zuweilen vertretenen Ansicht kann Recht ohne Bezug auf Moral ausgelegt
und angewandt werden. Diskutieren Sie diese Ansicht! (15 %)
s. „exclusive legal positivism“ (vertreten u.a. von R. Raz, S. Shapiro, A. Marmor)
Hintergrund dieser Ansicht ist der Streit zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus.
Während das Naturrecht von der Verbindungsthese ausgeht (Recht und Moral sind
notwendig verbunden), kennzeichnet die Positionen des Rechtspositivismus, dass eine
notwendige Verbindung beider Normordnungen geleugnet wird.
Allerdings halten auch manche Rechtspositivisten (die sog. inclusive legal positivists, z.B.
Will Waluchow, Jules Coleman; wohl auch H.L.A. Hart) eine Verbindung beider
Normordnungen für möglich (aber eben nicht für notwendig), etwa wenn das positive
Recht Inkorporationsnormen enthält, die sich auf moralische Standards beziehen.
Für die Ansicht kann angeführt werden:
o Über Fragen der Moral besteht oft Streit; eine „objektive“ Theorie der Moral
erscheint vielen als nicht begründbar; daher ist es gut, Fragen der Moral aus dem
Recht, das eindeutige Ergebnisse produzieren muss, herauszuhalten. Das gebietet
das Gebot der Rechtssicherheit.
o Wer eine moralische Argumentation im Recht befürwortet, will seine Interessen
bzw. Werte mit den Mitteln staatlichen Zwangs durchsetzen. Das ist nicht
demokratisch.
Gegen diese Ansicht sprechen folgende Argumente:
o Existenz abstrakter Normen, insbes. Grundrechte und Generalklauseln; hier
besteht eine besondere Konkretisierungsbedürftigkeit, wobei z.T. auf ethische
Prinzipien zurückgegriffen werden muss (z.B. „Treu und Glauben“, „gute Sitten“;
Menschenwürde als selbständiges Grundrecht).
o Grundrechte werden heute zumeist als positiviertes Naturrecht verstanden; dann
aber bleiben sie in ihrer Auslegung ein Stück weit abhängig von dieser Tradition.
o Zumindest bei der teleologischen Auslegung wird der Rechtsanwender oft auch
auf ausserrechtliche Normen, etwa der Moral, zurückgreifen müssen.
o Eine überzeugende Grundrechtstheorie kommt ohne Bezug auf moralische
Erwägungen nicht aus, wenn sie tatsächliche Unbestimmtheiten dieser Rechte in
Angriff nimmt.
o Auch die hard cases lassen sich oft nur unter Rückgriff auf Prinzipien lösen, die
nicht allein der positiven Rechtsordnung entnommen werden können.
o Es muss die Möglichkeit geben, schlechthin ungerechtes Recht unter Bezug auf
die Moral zu invalidieren.
Zum „Verschwimmen“ beider Positionen vgl. Mahlmann, Rechtsphilosophie und
Rechtstheorie, 2. Aufl., 2012, § 20 III.
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5. In seinem Werk „Die unbegrenzte Auslegung“ schreibt Bernd Rüthers: „Das Recht des
NS-Staates war nach der Vorstellung der Machthaber ein Instrument zur totalen
Herrschaft und zugleich zur möglichen Beseitigung jeder formalen und materialen
juristischen Machtschranke, die durch irgendwelche Rechtsregeln entstehen konnte“ (5.
Aufl., Heidelberg 1997, S. 110). Erläutern Sie diese Aussage! (20 %)
Hintergrund:
o Es bestand die Forderung, dass alle Gesetze des NS-Staates ausschliesslich im
„nationalsozialistischen Sinne“ auszulegen seien. Das Recht hatte damit einer
Ideologie zu dienen und diese zu verwirklichen.
o Grundsatz der Auslegung aus nationalsozialistischer Weltanschauung
Mittel:
o Gesetzgeber stellte den Vorschriften bestimmte Vorsprüche oder Regeln der
Auslegung voran (z.B. Präambeln)
o Weltanschauung als Instrument zur Erlangung und Erhaltung der Herrschaft
Recht als Instrument der totalen Herrschaft
o Ablehnung einer philosophisch begründeten, überpositiven Rechtsidee
o aber wichtig: zugleich auch Ablehnung eines formal-positivistischen
Rechtsbegriffs
o denn dieser stand dem Machtwillen Hitlers entgegen („Recht liege in der Macht“)
Recht als Instrument zur Beseitigung jeder Machtschranke
o Uminterpretation des überkommenen Recht im Lichte der nationalsozialistischen
Weltanschauung
o Rechtsnormen, die der ungehinderten Macht entgegenstehen, werden beseitigt,
Bsp. Notverordnungen