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Anne Ulrich • Joachim KnapeMedienrhetorik des Fernsehens

Edition Medienwissenschaft

2014-10-27 14-47-26 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0310380828044280|(S. 1- 4) TIT2587.p 380828044288

Momos in memoriam

Anne Ulrich (Dr. phil.) lehrt Rhetorik an der Universität Tübingen.Joachim Knape (Prof. Dr.) ist Rhetorikprofessor an der Universität Tübingen.Ihre Forschungen beschäftigen sich mit Schnittstellen von Rhetorik, Text-, Me-dien- und Kommunikationswissenschaft u.a. am Beispiel des Fernsehens, derVisualität, der Massenpublizistik und dem Begriff der Wirkung.

2014-10-27 14-47-26 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0310380828044280|(S. 1- 4) TIT2587.p 380828044288

Anne Ulrich • Joachim Knape

Medienrhetorik des FernsehensBegriffe und Konzepte

2014-10-27 14-47-26 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0310380828044280|(S. 1- 4) TIT2587.p 380828044288

Projekt und Drucklegung wurden gefördertvon der Deutschen Forschungsgemeinschaft unddem Rhetorikforum

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekBibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut-schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, BielefeldLektorat & Satz: Anne Ulrich, Joachim KnapeDruck: Majuskel Medienproduktion GmbH, WetzlarPrint-ISBN 978-3-8376-2587-5PDF-ISBN 978-3-8394-2587-9

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2014-10-27 14-47-26 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0310380828044280|(S. 1- 4) TIT2587.p 380828044288

Vorwort

Die private Internetnutzung kommt einer aktuel-

len Studie zufolge auch weiterhin um Längen

nicht an die durchschnittliche Zeit heran, die die

Menschen in Deutschland vor dem Fernseher

verbringen. Die im Netz verbrachte Zeit stieg

demnach zwar von rund 50 Minuten pro Tag im

Jahr 2008 auf aktuell 80 Minuten, ermittelte das

Marktforschungsinstitut TNS Infratest, in allen

Altersgruppen sehen die Befragten nach eigener

Einschätzung aber seit Längerem konstant um

die 160 Minuten pro Tag fern.

(DPA, 28. AUGUST 2013)

Fernsehnutzung ist, wie man sieht, nach wie vor etwas ganz Alltägliches und

keineswegs vollkommen auf dem Rückzug. Andere Quellen sprechen sogar von

220 Minuten, die die Deutschen pro Tag fernsehen. Dieses Buch beschäftigt sich

mit diesem alltäglichen Phänomen jedoch aus einer ungewöhnlichen Perspektive

und hält daher für Fernsehinteressierte manche Überraschung bereit. Das gilt vor

allem für den rhetorischen Ansatz, bei dem die Persuasionsfrage im Mittelpunkt

steht. Erst langsam beginnt er für die Fernsehforschung wirksam zu werden. Mit

ihm hängt auch die in diesem Buch analytisch ausgearbeitete theoretische Tren-

nung des Mediums Fernsehen von den Fernsehtexten bzw. Fernsehtexturen zu-

sammen.

Von den Vertretern der Rhetorikforschung ist das Fernsehen bereits vor Jahr-

zehnten durch Walter Jens, den Gründer des Tübinger Seminars für Allgemeine

Rhetorik, zum Thema gemacht worden. Jens erkannte die Bedeutung dieses Me-

diums für die moderne demokratische Gesellschaft und seine kommunikative

Kraft. Das geschah zu einer Zeit, in der noch viele Intellektuelle hochnäsig auf

dieses Medium herabblickten. Freilich näherte sich Jens der Fernsehthematik in

den Jahrzehnten von 1963 bis 1983 nicht als Wissenschaftler an, sondern als Kri-

tiker, indem er aktuelle Sendungen des Deutschen Fernsehens in einer wöchent-

lichen Zeit-Kolumne kommentierte.

Der vorliegende Band geht andere Wege. Er ist für Studienzusammenhänge

gedacht, in denen man sich dem Fernsehen unter theoretischem Blickwinkel zu-

wendet, zentrale Termini der Forschungsdebatte zum Medium Fernsehen kennen

lernen und dabei Hinweise zu ihrer rhetorischen Bedeutung bekommen möchte.

Dies ist in einem Theoriedreieck von Kommunikations-, Medien- und Rheto-

riktheorie angesiedelt. Die Leitfrage lautet: Unter welchen Kategorien, Begriffen

und Konzepten kann man Schnittstellen zwischen Fernsehforschung und moder-

ner Medienrhetorik aufdecken und diskutieren? Dafür wurden aus dem gegen-

wärtigen Fernsehforschungsdiskurs jene medientheoretisch relevanten Konzepte

und unter diesen wiederum diejenigen ausgefiltert, die sich mit Rhetorikansätzen

verbinden lassen. Es soll also eine gut erkennbare Perspektive etabliert werden.

Als Forschungsrahmen ist das in den Jahren 2009 bis 2011 von der Deut-

schen Forschungsgemeinschaft geförderte Tübinger Forschungsprojekt zum Te-

levisuellen Überzeugen anzusehen. Im Rahmen dieses Projekts fand 2010 in Tü-

bingen auch eine Konferenz mit Fernsehjournalisten und Fernsehforschern zum

Problem der Fernsehbilder im Ausnahmezustand sowie der Rhetorik des Televi-

suellen statt, deren Ergebnisse 2012 veröffentlicht wurden (neue rhetorik 11). Im

selben Jahr erschien die mit diesem Forschungszusammenhang verbundene Dis-

sertation von Anne Ulrich zum Thema Umkämpfte Glaubwürdigkeit. Visuelle

Strategien des Fernsehjournalismus im Irakkrieg 2003 (neue rhetorik 9). Auch

die ebenfalls mit dem Problemkreis Fernsehrhetorik befasste Dissertation Star-

Formate. Strategisches Potential von TV-Formaten im Musikfernsehen von Ul-

rich Schermaul wurde 2012 publiziert (neue rhetorik 14).

An den Vorarbeiten zu der nun fertiggestellten Publikation über die Medien-

rhetorik des Fernsehens waren maßgeblich Markus Gottschling, Stefanie Haus-

ner, Sebastian König und Sarah Weltecke beteiligt. An der Redaktion des Ban-

des wirkten neben Julia Götzschel, Jan Hecker und Sarah Weltecke vor allem

Nicolas Dorn, Constantin Neumeister und Fabian Strauch mit. Die allerletzte

Fassung haben außerdem Selina Bernarding, Simon Drescher und Elias Güthlein

Korrektur gelesen. Ihnen allen gilt unser herzlicher Dank.

Tübingen im Sommer 2014 AU/JK

Inhalt

Vorwort |

Einleitung | 9

1. MEDIALE PERFORMANZDIMENSION

Audiovisualität | 38

Fernsehton | 41

Flow | 45

Flüchtigkeit | 54

Liveness | 59

Programmstruktur | 71

Serialität | 76

Televisualität | 85

Wiederholung | 93

2. TEXTUELLE DIMENSION

Dramatisierung | 100

Format | 112

Infotainment | 121

Konstruktion von Wirklichkeit | 131

Oralität | 137

Personalisierung | 145

Zeit-Bild-Struktur | 155

3. ADRESSATENORIENTIERTE DIMENSION

Aktualität | 160

Alltäglichkeit | 167

Emotionalisierung | 176

Ereignis, Normalität und Ausnahme | 187

Interaktivität | 201

Monitoring | 208

Parasoziale Interaktion | 213

Persona | 221

5

Quote | 230

Reality TV | 240

Umschalten | 248

Unterhaltung | 262

Zerstreuung | 276

Einleitung

Die Fernsehforschung scheint zu jenen Disziplinen zu gehören, deren Gegen-

stand seit Jahrzehnten einen ungeklärten Status hat. Für diese Analyse sprechen

Befunde, wie sie sich in dem folgenden Zitat von Charlotte Brunsdon ausdrü-

cken: „There is nothing obvious about the television of television studies“.1 Je

nach Disziplin, Forschungsfrage, Analyseverfahren oder theoretischer Grund-

überzeugung wird Fernsehen, in den Worten von Ralf Adelmann (u.a.), „gleich-

gesetzt mit Institutionen und Sendern, mit Programm und Sendungen, mit Fern-

sehgerät und technischen Erfindungen, mit Bildern, flow, Information, Unterhal-

tung, Wirkung usw.“2 Was Fernsehen ist und welche gesellschaftliche, politische

oder kulturelle Bedeutung ihm zugeschrieben wird, ändert sich also beständig

mit der Perspektive, die man auf es wirft. Dieses Buch begreift ‚das Fernsehen‘

in erster Linie als ein kommunikatives Phänomen und verfolgt ein rhetorisches

Frageinteresse: Welche Rolle spielt das Fernsehen in kommunikativen Persuasi-

onsprozessen? Was ist an ihm, in Anlehnung an die aristotelische Rhetorikdefi-

nition,3 das spezifisch Überzeugende oder Glaubenerweckende? Mit anderen

Worten: Wodurch überzeugt das Fernsehen?

Dieses Buch betrachtet das Fernsehen unter einer in der Fernsehforschung

eher ungewöhnlichen Perspektive. Es richtet sich deshalb an Leserinnen und Le-

ser, die bereit sind, das vermeintlich vertraute Phänomen ‚Fernsehen‘ von einer

neuen Warte aus und mit zum Teil neu konzipierter Terminologie zu betrachten.

Dass ‚das Fernsehen‘, lapidar gesprochen, etwas von uns will, leuchtet auf den

ersten Blick intuitiv ein: Es will uns verführen, überzeugen, ändern, uns etwas

verkaufen, uns an sich binden, es will uns einschüchtern, uns unterhalten oder

1 Brunsdon (1998, 95; Kursivierung durch d. Verf.).

2 Adelmann u.a. (2002b, 8).

3 Aristoteles: Rhetorik, 1.2.1, 1355b: „Die Rhetorik stelle also das Vermögen dar, bei

jedem Gegenstand das möglicherweise Glaubenerweckende zu erkennen.“

10 | MEDIENRHETORIK DES FERNSEHENS

unser Bild der Wirklichkeit prägen. Diese ‚Rhetorik‘ des Fernsehens ist der

Fernsehwissenschaft bzw. den television studies nicht unbekannt, wird in diesem

Band jedoch theoretisch neu gefasst. In erster Linie geht es also nicht um Rheto-

rik im Fernsehen, etwa um medienadäquates Sprechen oder Auftreten, um fern-

sehspezifische Kommunikatorrollen oder Akteursperspektiven, es geht auch

nicht allein darum, fernsehspezifische Stilmittel oder Montagetechniken nach

dem Vorbild der antiken rhetorischen Systematik zu beschreiben und damit als

‚rhetorisch‘ zu etikettieren, und es geht auch nicht bloß darum, dem Medium

selbst quasi-magische Überzeugungskräfte zuzuschreiben. Vielmehr wird das

Fernsehen vor dem Hintergrund neu konzipierter Begriffe von Fernsehtextualität

und -medialität als Instrument innerhalb eines Persuasionsprozesses verstanden,

dessen Möglichkeiten und Grenzen diesen Prozess in fundamentaler Weise be-

dingen. Diese Rhetorizität theoretisch zu fassen, ist die erklärte Aufgabe unserer

Überlegungen und bisher nur in Ansätzen oder anhand spezifischer Teilbereiche

des Fernsehens geklärt worden.4

In diesem Buch gehen wir diese Aufgabe an, indem wir die rhetoriktheoreti-

schen Schnittstellen mit der Fernsehforschung bzw. ihren aus unterschiedlichen

Disziplinen und historischen Entwicklungsstadien des Fernsehens stammenden

Ansätzen erheben und auf der Basis dieses Begriffsangebots Bausteine einer

Elementartheorie der Fernsehrhetorik skizzieren. Ziel ist es, am Beispiel des

Mediums Fernsehen deutlich zu machen, wie eine von den konkreten ‚Inhalten‘

losgelöste Medienrhetorik systematisch aussieht und was ihre wichtigsten Poten-

tiale sind. Dem liegt die noch weiter auszuführende These zugrunde, dass das

Fernsehen als Medium über eine spezifische Rhetorizität verfügt, die sich unab-

hängig von der Betrachtung konkreter Fernsehsendungen bestimmen lässt. Inso-

fern kann eine solche Medienrhetorik gut an semiotische, pragmatische oder se-

miopragmatische Ansätze wie diejenigen von Francesco Casetti, Hans-Jürgen

Wulff oder Umberto Eco anschließen. Auch medienontologische oder technik-

zentrierte Ansätze treten unvermeidlich ins Blickfeld. Es ist aber nicht zuletzt

4 Die ersten expliziten Überlegungen zum Zusammenhang von Rhetorik und Fernsehen

finden sich bei Primeau (1979) (hier allerdings mit einem stark restringierten Rheto-

rikbegriff), bei Geißner (1987) und Holly (1996). Die neuere Rhetorikforschung hat

sich inzwischen mit einer ganzen Reihe von Forschungsarbeiten dem Thema Fernse-

hen zugewandt. Bei diesen Arbeiten ist besonders wichtig, dass die methodisch vor-

genommene Untersuchung der rhetorischen Aspekte des Fernsehens diese entschei-

dende Kommunikationsseite ganz neu hervortreten lässt. Vgl. hierzu Knape (2005b),

zu Fernsehbildern in Krieg und Krise Knape/Ulrich (2012), zu Glaubwürdigkeit, Te-

levisualität und Ethos Ulrich (2012) und zu Star-Inszenierung und Formatierung im

Musikfernsehen Schermaul (2012).

EINLEITUNG | 11

der Reiz dieser Erkundung der Fernsehforschung, dass sich auch in Untersu-

chungen, in denen zunächst keinerlei genuin rhetorisches Gedankengut zu ver-

muten wäre, überaus anregende Bausteine für eine Medienrhetorik des Fernse-

hens finden lassen.

Die Rhetorik versteht das Fernsehen im Wesentlichen als eine Art kommuni-

katives Dispositiv,5 als eine in ihren Strukturen bestimmbare, aber dennoch

durchaus über Zeiten und Räume hinweg auch veränderliche Kommunikations-

anordnung, welche die Verbreitung und Performanz rhetorisch angelegter Fern-

sehtexte strukturiert. Das rhetorische Grundverständnis des Mediums wird im

folgenden Teil zum besseren Verständnis der Kapitel erläutert. Im Anschluss an

5 Der Begriff ‚Dispositiv‘ kennzeichnet in der Fernsehtheorie in Anlehnung an Michel

Foucault (1978) eine Kräfteanordnung, die Diskurse, Praktiken, Wissen und Macht

maßgeblich prägt. Dieser Gedanke wurde zunächst von Jean-Louis Baudry (1986) fürs

Kino adaptiert und dann von Knut Hickethier (1995) aufs Fernsehen übertragen. Mit

Hickethier kann ein Fernseh-Dispositiv als Konnex aus drei Elementen charakterisiert

werden: erstens die technische Einrichtung (das Fernsehgerät); zweitens die soziale

Rahmung, bestehend aus dem Ort des Adressaten (z.B. Wohnzimmer) und dem ge-

sellschaftlichen Umfeld (z.B. Studios); und drittens die Inhalts- bzw. Programmstruk-

tur. Die Gesamtheit dieser Elemente erzeugt durch ihren starken Einfluss auf den Zu-

schauer tendenziell unfreie und in der Strukturdeterminiertheit gefangene Subjekte.

Dies kann als strategisches Ziel der mit dem Begriff Dispositiv bezeichneten Medien-

institutionen und Interessengruppen betrachtet werden, da Machterhalt die causa fina-

lis des Dispositivs ist. Hickethier (1995, 63) führt das Dispositiv als allgemeinen The-

orierahmen für das Fernsehen ein, um „Technik, Institutionen, Programme, Rezeption

und Subjektverständnis als ein Geflecht von Beziehungen zu verstehen“. An dieses

Verständnis kann die Rhetorik einerseits anschließen, weil sie ebenso die kulturellen,

gesellschaftlichen und politischen Produktions-, Performanz- und Rezeptionsbedin-

gungen der Fernsehkommunikation in den Blick nehmen muss, um ein vollständiges

Bild der Fernsehkommunikation zu erhalten. Diese Bedingungen stellen andererseits

jedoch nicht ihr eigentliches Untersuchungsfeld dar, sondern werden als fernsehrheto-

rische Potentiale verstanden, die ein Fernseh-Orator in sein Kalkül aufnehmen muss.

Auch der machttheoretische Ansatz, dem Hickethier etwas skeptisch gegenübersteht,

bildet nicht den Mittelpunkt des rhetorischen Dispositiv-Verständnisses. Die vielfälti-

gen Interessens-Verflechtungen, gegenseitigen Bedingtheiten und Abhängigkeiten

sind jedoch als institutionell-medialer Rahmen für die Bestimmung der Handlungs-

macht der Fernseh-Oratoren von Bedeutung. Solche Bedingungen werden im vorlie-

genden Band jedoch immer nur dann thematisiert, wenn sie für die Betrachtung des

rhetorischen Instrumentariums Fernsehen unumgänglich sind, beispielsweise in den

Kapiteln zur Quote oder zum Umschalten.

12 | MEDIENRHETORIK DES FERNSEHENS

diese theoretisch-systematischen Überlegungen nehmen wir zur Diskussion über

die gegenwärtigen Transformationen des Fernsehens Stellung.

Dieses Buch eignet sich als Grundlage für medienrhetorische Analysen von

Fernsehsendungen, da sich in jedem Kapitel Überlegungen wiederfinden, welche

die fernsehtheoretischen Begriffe und Konzepte für die Rhetorik fruchtbar ma-

chen. Zudem deuten sich bei der Untersuchung des Fernsehens auch allgemeine

Eckpunkte einer Medienrhetorik an, die zum Ausgangspunkt eines umfassende-

ren Theorieentwurfs gemacht werden können. In einem gewissen Sinne lassen

sich die hier vorgenommenen Überlegungen daher auch als Prolegomena zu ei-

ner allgemeinen Medienrhetorik lesen.

1. FERNSEHRHETORIK ALS MEDIENRHETORIK

Der rhetorische Ansatz arbeitet mit wohldefinierten Kategorien und ist von zwei

Elementen geprägt: von der kommunikativen Dimensionierung und von der Rhe-

torikfrage. Das Fernsehen wird demzufolge immer als Bestandteil eines Kom-

munikationszusammenhangs gesehen, wobei die Persuasion in der Regel als rhe-

torischer Kernaspekt im Mittelpunkt steht. Die Rhetoriktheorie sieht drei zentra-

le Kommunikationselemente vor, die eng aufeinander abgestimmt sind und als

solche auch für den Entwurf einer Fernsehrhetorik grundlegend sind:

• einen als Orator abstrahierten Kommunikator oder vielmehr eine kollektive

Oratorinstanz, die ein rhetorisches Anliegen verfolgt;

• ein kommunikatives Instrumentarium, bestehend in erster Linie aus dem Text,

über den das rhetorische Anliegen geäußert wird, und dem Medium, das den

Text transportiert und performiert; und schließlich

• einen Adressatenkreis, auf den der rhetorische Überzeugungsvorgang insge-

samt zielt und dessen Bedürfnisse und Befindlichkeiten die Oratorinstanz

einkalkulieren muss.

Diese Komponenten spielen in jeder denkbaren rhetorischen Situation eine Rol-

le. Ihre Herkunft aus der Face-to-Face-Situation, in der ein einzelmenschlicher

Redner ein räumlich anwesendes Publikum direkt adressiert, spricht dabei kei-

neswegs gegen ihre Anwendbarkeit auf massenmediale Kommunikationsver-

hältnisse – sofern die nötigen Adaptionen vorgenommen werden. Wie das erste

Element, der Oratorbegriff, im Rahmen der fernsehmedialen Kommunikation als

kollektive Instanz neu konzipiert werden kann, ohne seinen rhetorischen Kern zu

verlieren, wurde an anderer Stelle am Beispiel des Fernsehformats der Nachrich-

EINLEITUNG | 13

ten bereits gezeigt.6 Dies auf andere Formate im Fernsehen (etwa die im Moment

als Untersuchungsgegenstand boomenden Fernsehserien mit der interessanten

Kommunikatorrolle des Show Runners) zu erweitern, stellt ein eindeutiges Desi-

derat der Fernsehrhetorik dar, würde jedoch den Rahmen dieses Bandes spren-

gen. Stattdessen wird ein Teilaspekt des kommunikativen Instrumentariums, das

Medium, am Beispiel des Fernsehens einer eingehenden Untersuchung unterzo-

gen,7 um bewusst isoliert seinen Anteil am rhetorischen Kommunikationsprozess

und dessen Erfolg oder Misserfolg besser beleuchten zu können.8 Der Medien-

begriff wird dabei in Differenz zum Textbegriff gefasst und – wie anschließend

noch näher erläutert – als Tragfläche für Texte verstanden. Das heißt zugleich,

dass das so definierte Medium Fernsehen in der kommunikativen Realität nie

isoliert in Erscheinung tritt, sondern stets als ‚Bühne‘ für einen Text, über den

die eigentliche Überzeugungshandlung vollzogen wird. Dennoch ist es, das be-

absichtigt der vorliegende Band zu zeigen, äußerst aufschlussreich, von der fast

unüberschaubaren Fülle dessen, was auf dieser Bühne aufgeführt wird, zu abs-

trahieren und die Bühne – um im Bild zu bleiben – als conditio sine qua non

fernsehrhetorischer Kommunikationsprozesse und als eigenständige Untersu-

chungsebene zu begreifen.

Mithin ist hier Marshall McLuhans Diktion The Medium is the Message zu-

mindest in einem übertragenen Sinne von zentraler Bedeutung: Schließlich ge-

hen wir davon aus, dass das Medium für jeden rhetorischen Persuasionsvorgang

eine (allerdings nicht die einzige!) unverzichtbare Größe ist, an der sich die ge-

samte rhetorische Operation orientieren muss. So verfügt das Fernsehen zwar

nicht über eine verbalisierbare Eigenbotschaft, wohl aber über spezifische Struk-

turen, die so und nicht anders sind und daher indirekt erheblichen Einfluss neh-

men auf das, was eine Oratorinstanz mit einem Medium rhetorisch überhaupt

bewirken kann. Die Medienrhetorik des Fernsehens beschäftigt sich also nicht

mit der an sich durchaus interessanten Frage, wovon uns die Macher einer Fern-

sehsendung oder eines Werbespots etwa überzeugen wollen. Genauso wenig

sind Fragen der Manipulation, Propaganda, Massenpersuasion oder Werbebeein-

flussung für diesen Kontext relevant, auch wenn diese durchaus unter den

Stichworten ‚Rhetorik‘ und ‚Fernsehen‘ verstanden werden können und insbe-

sondere aus kritischer Perspektive am Fernsehen diskutiert worden sind. Die

Medienrhetorik des Fernsehens setzt stattdessen an einer anderen Stelle im

6 Vgl. Ulrich (2012, 91–97 sowie 210–222).

7 Zu ersten konzeptionellen Überlegungen vgl. Ulrich (2012, 152–173).

8 Zur Forderung nach einem diskreten Medienbegriff am Beispiel des Fernsehens siehe

auch Weber (1996, bes. 108–111).

14 | MEDIENRHETORIK DES FERNSEHENS

Kommunikationsvorgang an und fragt zunächst unter produktionstheoretischen

Vorzeichen danach, wie und in welchem Umfang das Medium selbst und seine

Strukturen die Oratorinstanz dazu bringen, solche und nicht andere Kommunika-

tionsmuster zu wählen, und damit indirekt den Kommunikationsvorgang in einer

bestimmten Weise prägen.

Die Struktur des Mediums als Widerstand und Potential

Im rhetorischen Sinne wird das Medium als sozial-distributive ‚Tragfläche‘ ver-

standen,9 die den für den Persuasionsvorgang eigentlich wichtigeren Text spei-

chert, transportiert und performiert.10 Der Begriff der Tragfläche macht deutlich,

dass das Medium damit in den Worten Jochen Schulte-Sasses als ein „Informa-

tions- oder Kommunikationsträger“ angesehen wird, „der auf das Übertragene

nicht zwangsläufig einwirkt“.11 Die entgegengesetzte Position sieht „das Medi-

um als einen Träger von Informationen, der diese nicht mehr oder weniger neut-

ral vermittelt, sondern sie grundsätzlich prägt, sich ihnen medienspezifisch ein-

schreibt und dadurch dem menschlichen Zugriff auf Wirklichkeit Form ver-

leiht“.12 Sibylle Krämer beschreibt eine solche Auffassung, die sie selbst nicht

teilt, treffend als Medien-‚Generativismus‘: Medien würden verbunden werden

„mit einem Souveränitätsimpuls: Medien sind nicht Instrumente und Überträger

eines ihnen von Anderswoher aufgegebenen Zweckes, sondern Medien bringen

zugleich hervor, was sie vermitteln. Ihnen eignet ein konstruktivistischer, gene-

rativistischer, um nicht zu sagen: demiurgischer Zug. Medien erzeugen, was sie

vermitteln.“13 Zu Recht vermutet Krämer, dass solche und andere Sichtweisen –

sie nennt eine Reihe weiterer Ansätze, die einen derart ‚starken‘ Medienbegriff

vertreten – möglicherweise genau „das verfehlen, was ein Medium überhaupt

9 Knape (2012, 62).

10 Im Sinne des erweiterten Textbegriffes sind unter dem systematischen Begriff ‚Text‘

im Fernsehen audiovisuelle Texturen, also alle Arten von ‚Fernsehsendungen‘, zu ver-

stehen. Das semiotisch-informationelle Gewebe (textum) des Fernsehens rekurriert auf

diverse Kodes (Bildkode, Lautsprache, Musik, Geräusche usw.; vgl. Knape 2005a,

19–23), um seine hoch komplexen Texturen in die Kommunikations- und damit in die

Handlungszusammenhänge der Menschen einzuspeisen, wofür in der neueren Rheto-

riktheorie der Begriff der ‚Adpragmatisierung‘ steht, vgl. Knape (2013b, 209f. und

264).

11 Schulte-Sasse (2002, 1).

12 Schulte-Sasse (2002, 1).

13 Krämer (2008, 67). Siehe etwa auch die Actor-Network-Theory, die dem Medium ei-

ne eigene Agency zuschreibt, vgl. Belliger/Krieger (2006).