medea

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Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung: Mythos und Vorgeschichte 1 2 Euripides 1 2.1 Motivation ..................................... 2 2.2 Medeas Leiden .................................. 4 2.3 Darstellung und Rolle der Gewalt ........................ 5 3 Seneca 11 3.1 Darstellung der Gewalt .............................. 11 3.2 Medeas Ziel .................................... 13 3.3 Darstellung der Rache – Das finale Wüten ................... 15 4 Vergleich 16

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Vergleich der Gewaltdarstellung in Euripides' und Senecas Medeen

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Page 1: Medea

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung: Mythos und Vorgeschichte 1

2 Euripides 12.1 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2 Medeas Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42.3 Darstellung und Rolle der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

3 Seneca 113.1 Darstellung der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113.2 Medeas Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133.3 Darstellung der Rache – Das finale Wüten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

4 Vergleich 16

Page 2: Medea

1 Einleitung: Mythos und Vorgeschichte

Diese Abhandlung vergleicht den Charakter und die Gewalttaten der Medea in den Ver-sionen Euripides´1 und Senecas2 .

Euripides´ Medea wurde im Agon 431 v. Chr. zum ersten Mal aufgeführt3. FürSenecas Drama ließ keinen genauen Entstehungs-/ erstmaligen Aufführungszeitpunkt fest-machen.Grundlage beider Werke ist die mythische Figur der Medea, Enkelin des griechischen Son-nenkönigs Helios, Tochter des Königs Aietes von Kolchis. Jenem König von dem sich Iason,der Anführer der Argonauten, das goldene Vlies erbat. Als dieser die Bitte abschlug, halfihm Medea, die sich in Iason verliebt hatte, durch ihre magischen Kräfte und ihr Wissendas goldene Vlies zu erlangen. Verfolgt von Medeas Bruder Absyrtos fliehen sie und Iasonaus Kolchis. Medea lockt ihren Bruder in eine Falle, worauf hin er von Iason getötet wird.Auf der weiteren Flucht nach Iolkos, Iasons Heimat, heiraten Medea und Iason. Dort mussIason feststellen, dass seine Familie umgekommen ist. Die Schuld hierfür trug König Pelias.Medea rächt die Familie ihres Geliebten, indem sie Pelias‘ Töchter anstiftet, ihren Vaterzu töten.Von Iolkos aus fliehen Medea und Iason Richtung Korinth, wo Medea drei Söhnezur Welt bringt. Aus politschen Gründen will Iason Creusa, die Tochter des korinthischenKönigsKreon heiraten. Damit nimmt das Unheil der Dramen seinen Lauf. Diese Arbeit beschränktsich auf die Gewaltdarstellung in zwei der frühesten Bearbeitungen des Mythos. Trotz al-lem versuche ich Ergebnisse und Hypothesen für weitere Untersuchungen zu erarbeiten undzu präsentieren.

2 Euripides

Euripides greift den blutigen Rachefeldzug in Korinth als eine Episode aus Medeas be-wegtem Leben heraus, verzichtet allerdings auf viele andere Aspekte des Mythos4. Diesmag aus heutiger Perspektive einseitig erscheinen, aus der Rezeptionssituation heraus istes allerdings sinnvoll, da das antike Publikum mit den Mythen vertraut war.Zur Aufführung kamen nur mythische Stoffe, es ging nicht um den Inhalt der Stücke, son-dern um die Darstellung des grundsätzlich Bekannten.Euripides schuf eine vielschichtige Frauenpersönlichkeit. Seine Darstellung der Medea zeugtnicht nur von eigenem psychologischen Spürsinn, sondern auch von einem ungewöhnlichhohen Maß an Empathie – nur durch ihre Herkunft ist eine Distanz zwischen dem Publikumund Medea geschaffen: Sie ist die auf griechischem Boden rachesuchende Barbarin.

1 485-80 v. Chr. Zimmermann (1997) S. 254.2 um 0-65 n. Chr. Fuhrmann (1997) S. 631.3 Lütkehaus (2001) Vgl. S. 19/20.4 Lütkehaus (2001) Vgl. S. 21/22.

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2.1 Motivation

Euripides´ Medea wird von zwei sich teilweise gegenseitig verstärkenden Motivationen zuden Gewaltakten getrieben, Liebe und Wut:

1. Auslöser für ihre Wut ist Iasons Betrug an ihrer Liebe, indem er Kreons Tocherheiratet und sie in einen Strudel der Rache hineinzieht.

2. Nachdem sie die Gewalttaten geplant bzw. zu verüben begonnen hat, will sie nicht,dass ihre Kinder in die Hände Fremder geraten und leiden müssen. Mutterliebe undVergeltungssucht sind ursächlich für ihre Gewalttaten.

Oft genug legt Euripides Medea den Grund ihres Grolls in den Mund. In verschie-denen Monologen und Dialogen, auch von verschiedenen Personen erfährt das Publikum,was Medea zugestoßen ist. Ein großer Teil das Dramas zeigt Medea in ihrer Verzweiflungund Wut. Iason hat mit der Heirat Kreusas, die Euripides von Anfang an als gegeben vor-aussetzt, nicht nur sie, sondern auch die Kinder betrogen: „[. . . ] den Lieben war er nichttreu.“5. Es sind nicht etwa politische, sondern Herzensangelegenheiten, die Medea zu ihrenTaten veranlassen.

Iason hat Medea, wie es in der griechischen Antike dem Mann durchaus möglichwar, verstoßen: Als Ehemann der Tochter des Königs ist er nun nicht mehr Fremder inKorinth, während Medea, so die Amme, leide6.Immer wieder wird das Unrecht betont, welches Medea durch Iason angetan wurde, „[. . . ]einem Manne, der sie ehrlos macht.“7. Die Amme, welche Medea schon ihr Leben langkennt, ahnt „Übles“8, fürchtet gar den Mord an der königlichen Braut, dem König oderIason selbst9.Schon in diesen ersten Zeilen erfährt der Rezipient viel über den Charakter der Protago-nistin des Dramas: Medea war bereit, Vater und Heimat für Iason zu verlassen, ihm denWeg zu ebnen, Morde zu begehen für die Liebe. Doch „Schwerblütig ist ihre Art, und sieerträgt nicht, daß ihr Übles geschah.“10. Verletzter Stolz und Verrat an der Liebe, an Ehe-frau und Familie sind es, die Medea nun in die Depression, zum Selbstmitleid, aber auchzum „[. . . ] wilden Sinn, und der bösen Art | ihres trotzigen Wesens.“11 treiben. Sie ver-flucht gleichzeitig Kinder und Iason12, während die Amme „[. . . ] der Könige Leidenschaften[. . . ]“13 fürchtet, womit sie zugleich Medea und deren königliche Abstammung, sowie Kreonund dessen Zugriff auf Medeas Kinder meint. Medea selbst bekennt im Dialog mit Kreon:„Welch großes Übel ist den Menschen Liebesgier.“14.Sie geht hier u.a. auf die Situation der Frau im alten Griechenland ein – es folgt die Schilde-rung eines wenig beneidenswerten, immer vom jeweiligen Vormund, respektive Ehemanns,5 Euripides (1992) V. 698.6 Euripides (1992) Vgl. V. 20 f., 24 ff..7 Euripides (1992) V. 33.8 Euripides (1992) V. 37.9 Euripides (1992) V. 37 ff..

10 Euripides (1992) V. 38 f..11 Euripides (1992) V. 103 f..12 Euripides (1992) V. 112 f..13 Euripides (1992) V. 119.14 Euripides (1992) V. 330.

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abhängigen Lebens15. In Vers 252 kommt Medea dann wieder auf ihre Situation zu spre-chen16 – nicht, ohne abermals ihr eigenes Ziel, an Kreon gerichtet, zu formulieren17.Die gekränkte Eitelkeit und Eifersucht Medeas werden deutlich – Iason ist allerdings nichtweniger eitel18. Die Ursache von Medeas Wut sieht er in der Eifersucht19 und im Wesender Frauen20. Aus Iason´s Sicht sind die Frauen nie zufrieden mit dem, was sie bekommen,sobald eine Ehe beginnt schwierig zu werden. Das wiederum bedeutet: Alles Unglück hingeam weiblichen Geschlecht. Trotzdem heiratete er ein weiteres Mal.Die Diskussion wird immer inkonsequenter. Iason entscheidet sich im Vers 605 doch nochum: Jetzt ist es nicht mehr Eros, der Medea zur Flucht aus der Heimat bzw. aus dem frem-den Korinth veranlasst, sie selbst hätte sich entschieden, das Königshaus zu verfluchenund so die Verbannung durch den König herausgefordert, so Iason21. Was einst positiv fürIason ausging, hat nicht Medea entschieden, nein, sie wurde vom Liebesgott Eros dazugetrieben. Rachegelüste und Flüche auf das Königshaus ob der neuen Situation, in der sichMedea allein befindet, hat sie selbst zu verantworten. Iason legt es sich zurecht, wie er esfür seine Argumentation braucht: Die Götter sind ihm wohlgesonnen, nur die eifersüchtigeund zänkische Ex-Frau will die Vorteile der neuen königlichen Braut nicht anerkennen22.Medea hingegen nennt Iason einen „Erzbösewicht“23, bezichtigt ihn der „Unmännlichkeit“24

und erinnert an all die Dinge, die sie für ihn getan und aufgegeben hat – längst vergangeneZeiten beschwört sie herauf25, denn Iason soll „Schmerz empfinden, wenn“ er ihr „zuhört“26.Sie wirft ihm die neue Heirat vor – besonders der Kinder wegen27. Der Zuschauer weißlängst, was er vom Erzieher der Kinder zu Beginn des Dramas erfahren hat – Iason willsie los werden28. Denn:

„Alte Anhänglichkeit bleibt hinter neuer zurück | und jener [Iason, A-M. M.]ist nicht unserem Hause Freund.“29

Iason ist also gar nicht so sehr um das Wohl der Kinder besorgt, obwohl er im Dialogmit Medea seinen Ehebruch und die Vermählung mit Kreusa genau anders begründet30.Medea hingegen vermutet „die Ehe mit einer Nichtgriechin | bis zum Alter“31 sei Iasonnicht ruhmreich genug gewesen, weshalb er sich die Königstochter zur Ehefrau nahm.Sie will für sich kein Gastrecht mehr beanspruchen32. Medea ist überzeugt, es mit "schlech-15 Euripides (1992) Vgl. V. 230-251.16 Euripides (1992) Vgl. V. 255 ff..17 Euripides (1992) Vgl. V. 259-263.18 Euripides (1992) Vgl. V. 542-546.19 Euripides (1992) Vgl. V. 568.20 Euripides (1992) Vgl. V. 569-573.21 Euripides (1992) Vgl. V. 605 und V. 607.22 Euripides (1992) Vgl. V. 621 f..23 Euripides (1992) V. 465.24 Euripides (1992) V. 466.25 Euripides (1992) V. 475 ff..26 Euripides (1992) V. 474.27 Euripides (1992) V. 489 f..28 Euripides (1992) Vgl. V. 70 f..29 Euripides (1992) V. 76 f..30 Euripides (1992) Vgl. V. 594-597.31 Euripides (1992) Vgl. V. 591.32 Euripides (1992) Vgl. V. 616.

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ten Menschen" zu tun zu haben und will von diesen auch nichts mehr annehmen33. Im Sinneihres geplanten Rachefeldzuges verspricht sie: „Und auch für Dein Haus bin ich fluchbrin-gend.“34

„Und auch für Dein Haus bin ich fluchbringend.“35.

2.2 Medeas Leiden

Medea leidet. Ihre Leidenschaft schafft Leiden – auf allen Seiten. Sie bleibt ehrlich undverschleiert ihr Vorhaben weder vor dem Chor respektive dem Publikum, noch vor sichselbst. Sie ist Opfer und Täterin zugleich, während sie aus der Opferrolle zunehmend her-aus wächst, ihr Schicksal selbst bestimmen will. Aus den Demütigungen Iasons schöpft sie– frei nach Nietzsche, könnte man heute sagen – neue Kraft. Ihr aus der Balance geratenerSeelenzustand führte sie auf eine klare, kühl berechnende Überlegungsebene. Die Rache-pläne sind schnell ersonnen, ihre selbst gewählte Reaktion auf die Schmach. Sieht mansich ihre Vergangenheit allerdings an, erkennt man, dass Medea als mythische Figur immerzwischen den Extremen handelt – ein seelisches Gleichgewicht im eigentlichen Sinne kannman ihr nicht zuschreiben.Niemals lässt Euripides sie hilflos erscheinen, niemals als den Launen der Männer preisge-gebene Unterlegene auftreten. Auf der Ebene der Rache bleibt sie immer die Überlegene,fasst schnellen und rückhaltlosen Entschluss und führt ihre Rachetaten aus.Sie instrumentalisiert ihre eigenen Kinder, was ihr am Ende gar noch ein "heres" Motivverschafft, sie zu töten: Sie hat sie geboren und "schützt" sie vor fremder Hand.Beide Ebenen – die Liebe zu den Kindern, die Schmähung durch den geliebten Gatten,die (gefühlsmäßigen) Demütigungen, aber auch die geplante, kalkulierte und zielgerichtetdurchgeführte Rache – verwebt Euripides kunstvoll. Zeigt Medea in einem Vers Zeichenechter Rührung, sind wenige Zeilen später keine Emotionen mehr zu erkennen, wenn sieihre "Ehre wiederherstellt" und sich selbst so von ihrer Vergangenheit befreit. Verschafftsich Medea gar ihre eigene Katharsis? Reinigung von ihrer Fabel, von der bewegten Ver-gangenheit, um in eine freiere, glücklichere Zukunft zu fliehen?Diese Zerrissenheit, den Zwiespalt innerhalb der Medea-Figur gibt Euripides an das Publi-kum weiter. Er zeigt die gekränkte Frau, fürsorgliche Mutter, kompromisslose Komplizin.Trotzdem ist das, was sie tut ungeheuerlich und grausam. Medeas Ehrlichkeit und kühleBerechnung schockieren. Mehr noch: Ihre äußere Wandlung, von der "unterdrückten", ge-horsamen Ehefrau Iasons, geduldet als Barbarin in Griechenland, geliebt und vergöttertvom Volk36, erfolgt hin zur emanzipierten Rächerin ohne Skrupel, die am Ende doch tri-umphiert. Zuerst ebnet sie Iason den Weg. Als der sich undankbar zeigt, besinnt sie sichihrer eigenen Identität: Sie ist die Nachfahrin des Sonnengottes Helios. Als solche und alsbetrogene Ehefrau und Mutter kann sie die ihr bereiteten Demütigungen und Schmerzennicht hinnehmen. Rache um jeden Preis, ohne Rücksicht auf Verluste ist die Antwort der

33 Euripides (1992) ebd..34 Euripides (1992) V. 608.35 Euripides (1992) V. 608.36 Euripides (1992) Vgl. u. a. V. 534-541.

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ewig Unterschätzten. Sie zweifelt zu keinem Zeitpunkt am Ziel ihrer Rache, nur wenn esan ihre Kinder – das größte, unmenschliche Opfer – geht, plagen sie Unsicherheiten. Nichtob des Plans selbst, sondern ob seiner grausamen Durchführung: Dem bewussten Mord.Aber: Es ist nicht nur Mord an ihren Kindern, sondern ebenfalls Mord an Iasons Zukunft.Und die gilt es zu vernichten.

2.3 Darstellung und Rolle der Gewalt

Nach einem freundlichen und hoffnungsvollen Dialog mit dem König Athens37, Aigeus,legt Medea ihre Rachepläne dem Publikum, dem Chor und sich selbst offen dar. Sie klagtAigeus ihr Leid, versichert sich der Treue38 Aigeus´ und dass er ihr Schutz und Aufenthaltin seinem Reich gewähre, wenn die endgültige Frist bis zur Verbannung abgelaufen ist. Siewill im Gegenzug für Nachwuchs in seinem Hause sorgen. Am Ende schwört er gar „beimVatersvater Helios“39, dass er seine Versprechen halten werde.Diese Vorbereitung der Rache geht der klaren und deutlichen Präsentation des Plans durchMedea voraus.40 In einem Monolog zeigt Medea dem Chor, dem Rezipienten und sich selbstdie überlegte Durchführung der Rache offen41.42 Medeas Vorgehen ist also von Beginn anüberlegt.43 Sie trägt ihre Vorhaben ohne Zweifel oder emotionale Beteiligung vor44. Wasbesonders auffällt: Die klare und eindeutige Sprache. Ohne großartige metaphorische Ver-brämungen, ohne die bildhaften Elemente, die Seneca aufbietet, zeigt Euripides eine ziel-orientierte und planvoll vorgehende Medea. Primäre und sekundäre Ebene – Verstand undGefühl – sind immer klar gegeneinander abgegrenzt. Lässt Medea Emotionen zu, geschiehtdies "neben" der eigentlichen Rede, die ihren Plan beschreibt. Der grausamste Schritt ih-rer Überlegungen ist für sie gleichsam der schwerste.45 Das Ziel stellt sie noch einmal klar,auch vor sich selbst: „Und wenn ich dann das gesamte Geschlecht Iasons vernichtet habe,[. . . ]“46. Der Blick in die Zukunft verheißt nichts Gutes: Medea wird fliehen; vor dem Spott,vor Bestrafung und vor ihren eigenen Taten. Sie reißt sich mit Gewalt und Mord aus derihr unerträglichen Situation, um dann auf die selbe Art, mit der sie hineingeraten ist, denAusweg zu suchen.

Ihr Plan ist grausam und doch kostet sie das Leid, dass sie Kreusa zufügen wird,nicht in dem Maße aus, wie dies bei Seneca der Fall ist. Es geht Euripides´ Medea mehr

37 Euripides (1992) Vgl. 3. Epeisodion, V. 663-758.38 Euripides (1992) Vgl. V. 731.39 Euripides (1992) V. 746.40 Man könnte das Zusammentreffen mit Aigeus auch als notwendige Bedingung der Rache bezeichnen,

denn Medea ist nicht wahnsinnig: Sie will sich erst einer geordneten Zukunft versichern, bevor sie dieRache vollzieht. Aigeus wird Medeas „[. . . ] rettender Hafen für [ihre] Beschlüsse.“ Euripides (1992) V.769.

41 Euripides (1992) Vgl. V. 772/3.42 Euripides (1992) V. 765-767.43 Das antike Publikum wusste natürlich, was im Drama nicht direkt berücksichtigt wird, im Mythos aber

nach der Rache mit Medea geschieht: Sie verbringt einige Zeit bei Aigeus, gebärt ihm einen Sohn, Medosund wird nach einem entdeckten Anschlag auf Aigeus´ unerkannten Sohn Theseus von Aigeus verstoßen.Am Ende ist sie wieder auf der Flucht.

44 Euripides (1992) Vgl. V. 780-789.45 Euripides (1992) Vgl. V. 792 f..46 Euripides (1992) V. 795.

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um das Ergebnis, den größtmöglichen Schaden, den sie dem Königshaus und Iason zufü-gen will. Schmerz und Treuebruch durch Schmerz und Opfer zu "tilgen", das ist ihr Ziel.Einen Ausgleich will sie schaffen, dafür, dass Iason ihr Zukunft, Familie und Sicherheitgenommen hat. Weder er, noch die Familie seiner neuen Frau sollen dies erleben, wenn esihr verwehrt bleibt.47 Den Einspruch vom Chor, dass Medea sich auf diese Art und Weiseselbst unglücklich mache, lässt Medea gelten. Doch die Rache steht an erster Stelle, nichtihre persönliche (emotionale) Befindlichkeit, wenn sie die Rache rational als "logistischesProblem" angeht. Sie lässt die Amme Iason zu sich bitten, sie täuscht ihn im Dialog, istüberwältigt von mütterlichen Gefühlen und dann wieder berechnend im Umgang mit Iason,der sogar Wegbereiter ihrer Rache wird, indem er sich bei Kreusa für die Kinder einsetzt.Sie gibt den Kindern genaue Anweisungen48, schickt sie damit direkt in den Tod, sagtjedoch zuvor noch zu Iason: „[. . . ] Ich würde aber meiner Kinder Flucht | mit dem Lebeneinlösen, nicht mit Gold allein.“49. Trotzdem wählt sie die Kinder zu Werkzeugen ihrerRache. Medea ist immer wieder ehrlich gerührt und im nächsten Moment zur Opferung allihrer Lieben bereit. Der Chor fasst es im vierten Stasimon knapp zusammen: „Nun sindmir keine Hoffnungen mehr auf der Kinder Leben, [. . . ] Denn sie schreiten in den Tod be-reits.“50. Poetisch und in gewählten Worten prophezeit der Chor den Hergang der Rache,das Aufgehen Medeas´ Plans.51 Der vergiftete Kopfschmuck wird als „Hades“52 bezeichnet,eine starke Metapher. Begleitet von der Beschreibung der Wirkung des Schmucks auf Kreu-sa53 wird die Unausweichlichkeit des Geschehens vermittelt54. Die Verben – hauptsächlichim Zukunftstempus gehalten – zeichnen den Gang der Ereignisse vor.Im fünften Epeisodion berichtet der Erzieher Medea und dem Publikum von der erfolgtenÜbergabe der Geschenke durch die Kinder. Er sieht jetzt positiv für deren Zukunft55 undist erschrocken, als Medea ungehalten und mit Tränen auf die gute Nachricht reagiert. Me-dea realisiert nun selbst die Unausweichlichkeit der weiteren Geschehnisse. Sie weiß, dasssie damit ihre Kinder geopfert und sich selbst in Gefahr gebracht hat. Der Erzieher weißdavon natürlich nichts und versteht Medeas Reaktion als Trauer darüber, dass sie nun ausKorinth fliehen und ihre Kinder zurück lassen muss. Medea kündigt indes – unverstandenvom Erzieher – weitere Bluttaten an.56. Euripides betont einmal mehr die rationale Seiteder Medea, die – trotz des Schocks um die plötzliche Realität ihrer Rache – konsequentbleibt. Es folgt wieder ein längerer Monolog, in dem sich Medea hin- und hergerissen zeigtvon den Ereignissen. Medea soll nicht schwach erscheinen, möchte über ihre eigenen Gefüh-le und die Häme der anderen triumphieren. Gleichzeitig sind ihre Muttergefühle präsent–sie zweifelt wieder57. Dieser Monolog ist textreich. Die emotionale, die liebende Medea

47 Euripides (1992) Vgl. V. 817.48 Euripides (1992) Vgl. V. 969-975.49 Euripides (1992) V. 967 f..50 Euripides (1992) V. 976.51 Euripides (1992) Vgl. V. 976 ff..52 Euripides (1992) V. 980.53 Euripides (1992) Vgl. V. 982 f..54 Euripides (1992) V. 982 f..55 Euripides (1992) Vgl. V. 1002-1005.56 Euripides (1992) Vgl. V. 1016.57 Euripides (1992) Vgl. V. 1042-1048.

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wird gezeigt. Die langen Zeilen, die vielen Fragen und Ausrufe zeigen das Hadern mit sichselbst, den Kampf, den die Mutter Medea gegen die verstoßene Frau Iasons, die Zauberin,die Rächerin, führt. Doch nach dem Gefühlsausbruch58 kommt sie wiederum der Fragenäher, warum sich die Rache doch für sie "lohnt". Der verletzte Stolz, die ewige Unter-schätzung, die Angst vor Verspottung durch den Feind – sowie das Unrechtsbewusstseinfür Iasons Handeln machen sie letztlich wieder bereit für die Durchführung der Rache.59

Es folgt eine Art (kurzer) innerer Dialog der Medea. Etwa alle drei Zeilen wechselt ihre"Stimme" von der besorgten, schützenden Mutter zur betrogenen rachesuchenden Ehe-frau.60. Dann aber werden beide Stimmen in einem logischen Schluss zusammengeführt:Medea will nicht, dass Fremde Hand an ihre Kinder legen, sie will sie beschützen. Ande-rerseits weiß sie, dass sie nicht mit ihnen fliehen kann/will. Ihr logischer Schluss: Wenn sienicht von Fremden getötet werden sollen, „will ich sie töten, die ich sie geboren.“61. DieseÜberlegung ist wieder von Ratio geprägt, wenn auch von Muttergefühlen "inspiriert". Sosetzen sich ihre Gedanken fort, immer in fast schon schizophrener Spaltung zwischen denExtremen. Am Ende „erlieg[t Medea, A-M. M.] dem Übel. | Und [realisiert, A-M. M.:] icherkenne das Grauenvolle, das ich zu tun gedenke. | Doch mein Zorn ist stärker als meinevernünftigen Gedanken, der schuld ist an dem größten Übel für die Sterblichen. “62. Nacheinem weiteren Auftritt der Chorfrauen wacht Medea gespannt über die Situation und war-tet auf Nachricht aus dem Palast, auf "neues Übel".63 Ein Bote kommt hinzu geeilt undgibt einen Bericht zum Geschehen ab. Sofort rechnet er Medea das "furchtbare[s] Werk"64

zu und bedeutet ihr, zu fliehen. Als er vom Tod Kreusas und Kreons erzählt65, bezeichnetihn Medea als ihren "Wohltäter"66. Hier kommt zum ersten Mal Worte der Erleichterungüber ihre Lippen: der Plan funktioniert. Nun ist sie an den Einzelheiten des Todeskampfesder Königsfamilie interessiert. Sie will den bevorstehenden Triumph auskosten, sich weidenam Leid ihrer Opfer67. Der Bote gibt den Ablauf des Geschehens im Palast wieder. DasPublikum ist auf den Bericht angewiesen, bekommt die Handlungen nicht vorgeführt, son-dern muss sich die Bilder vorstellen. Was nicht auf der Bühne gezeigt werden kann/konnte,wird präzise, metaphorisch und "überlebensgroß" berichtet, um die Vorstellung der Szene-rie beim Zuschauer zu unterstützen. Die Vorgeschichte der Begegnung Iasons mit Kreusa,die Überredung, die Kinder zu schonen, wird vom Boten in direkter Rede präsentiert.68

Der entscheidende Moment, indem Kreusa Iasons Bitten nachgibt, liegt allerdings nicht indessen Rede, sondern im Anblick der Geschenke.

58 Euripides (1992) Vgl. V. 1019-1048.59 Euripides (1992) Vgl. V. 1048-1050.60 Euripides (1992) Vgl. V. 1050-1060.61 Euripides (1992) V. 1063.62 Euripides (1992) V. 1077-1080.63 Euripides (1992) Vgl. V. 1116-1120.64 Euripides (1992) V. 1021.65 Euripides (1992) Vgl. V. 1125 f..66 Euripides (1992) Vgl. V. 1127.67 Euripides (1992) Vgl. V. 1134 f..68 Euripides (1992) Vgl. V. 1051 ff..

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„Als sie nun den Schmuck erblickte, hielt sie nicht an sich, | sondern gelobteihrem Manne alles.“69

In dieser Gegenüberstellung – Wirkungslosigkeit der Rede Iasons und gleichzeitige Wir-kung der schön-scheinenden, aber totbringenden Geschenke – wird die OberflächlichkeitKreusas betont, wenn nicht gar ins Maßlose übersteigert. Die noch mehrere Zeilen geschil-derte Entzückung über die Geschenke (bis V. 1166) lassen den, wenngleich makaberen aberberechtigten Schluss zu, dass sich Kreusa das Leid (u. a.) selbst zugefügt hat. Besondersin diesem Moment wirkt die von Iason beteuerte Unschuld der Kinder als starker Kontrastzu den folgenden Bildern der Gewalt. Die Oberflächlichkeit Kreusa´s macht sie unsympa-thisch. Es folgt eine präzise Beschreibung der körperlichen Leiden Kreusas bis zu ihrem Tod.Zuerst ein Anfall von Krämpfen, dann Schmerzensschreie und Blässe. Schaum dringt ausihren Körperöffnungen, „Dann erhob sie, anstatt des besessenen Schreiens, | ein lautes Kla-gen.“70. Die Schilderung der Giftwirkung auf den Körper Kreusas vermittelt einerseits dieexistentielle Bedrohung, die von den Geschenken (bzw. von Medea) ausgeht, andererseitsauch die Qualen, die Kreusa durchleiden muss. Euripides nutzt Verben, die vornehmlichdie audio-visuellen Sinne ansprechen71; einer hervorragenden "Vorstellung"steht nun nichtsmehr im Wege. Der gesamte Hof wird ergriffen von Bewegung, während es Kreusa immerschlechter geht.72 Ab Vers 1186 bedient er sich ausgiebig der Feuermetaphorik. Ebensowerden die Beschreibungen der zerstörten Anatomie Kreusas immer ausführlicher, detail-lierter und grausamer. Das "allverzehrende[s] Feuer[s]"73 "zerriss[en] das zarte Fleisch derUnglücklichen"74 – sie sitzt in der Falle, kann sich nicht mehr wehren75.76 Die allumfas-sende Zerstörung ihres Körpers beraubt Kreusa ihrer Identität: „außer für ihren Erzeu-ger völlig unkenntlich anzusehen.“77. Trotzdem spricht der Bote nicht plötzlich von einemHäufchen Asche, oder den sterblichen Überresten Kreusas. Euripides bleibt farb- und vor-stellungsfreundlich und legt dem Boten weiterhin grausame Bilder der "Schlacht(ung)" inden Mund:

„[. . . ] und das Blut tropfte | vom Scheitel und vermischte sich mit dem Feuer.| Das Fleisch löste sich von den Knochen, wie die Tränen der Fichte, unter denunsichtbaren Bissen des Giftes, ein schreckliches Schauspiel.“78.

Der Naturvergleich, das Abperlen des Harzes vom Baum im Zusammenhang mit dem Ab-schälen des Fleisches vom Skelett bringt ein alltägliches Beispiel, um das Unvorstellbarevorstellbar zu machen. Immer wieder wird von einem "schrecklichen Schauspiel" gespro-chen – die Ohnmacht der Umstehenden wird deutlich. Sie konnten nur zusehen, „Alle hatten

69 Euripides (1992) V. 1156.70 Euripides (1992) V. 1176 f..71 Euripides (1992) Vgl. V. 1168-1175.72 Euripides (1992) Vgl. V. 1179 ff..73 Euripides (1992) V. 1187.74 Euripides (1992) V. 1189.75 Euripides (1992) Vgl. V. 1189 ff..76 Euripides (1992) Vgl. V. 1192-1194.77 Euripides (1992) V. 1196.78 Euripides (1992) V. 1198 ff..

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Angst“79, niemand konnte eingreifen in das Geschehen, alle waren neugierig. Die Faszina-tion des Grausamen wurde erst durchbrochen, als der ahnungslose Vater der Prinzessinauf sie und damit ins eigene Verderben stürzt. Er will das Kind in den Armen halten, derBote gibt seine Worte an Kreusa in direkter Rede wieder80. Kreon will mit seinem Kindesterben81, ein Wunsch, der ihm sogleich erfüllt wird. Wieder bringt ein Naturvergleich dasVerhängnis auf den Punkt:

„Als er mit Klagen und Jammern aufgehört, | gedachte er, seinen greisen-haften Körper aufzurichten, | und haftete, wie der Efeu an den Zweigen desLorbeers, | an den feinen Gewändern, und es war ein schrecklich Ringen.“82.

Kreusa und Kreon sterben gemeinsam. Der Chor betrauert den Tod der Königstochter,befürwortet allerdings dieses Unrecht gegen Iason.83 Medea indessen will weiter auf ihremRacheweg. Es „ist beschlossene Sache, möglichst schnell | die Kinder zu töten und aus die-sem Lande aufzubrechen, | und nicht durch Zögern die Kinder auszuliefern | einer anderen,feindlicheren Hand, die sie tötet. | Denn in jedem Fall müssen sie sterben, und da sie esmüssen, | will ich sie töten, die ich sie geboren habe.“84. Medea macht sich Mut zur neuenTat85 das letzte „[. . . ] schreckliche doch notwendige Übel“86 zu begehen. Dennoch wird siein letzter Sekunde noch einmal wehmütig und mütterlich sentimental: „Denn, tötest du sieauch, sie waren dennoch | geliebt, und ich bin ein unglückliches Weib.“87.Im fünften Stasimon hört das Publikum aus dem Bereich hinter der Bühne das Schreiender Kinder. Sie fürchten ihre Mutter, wissen nicht wohin. Hier hat der Zuschauer am di-rektesten Zugang zu Medeas Taten. Er kann zwar die Opfer und die Täterin nicht sehen,dennoch hört er die verzweifelten Rufe der Kinder, während der Chor dem Zuschauer eineStimme gibt und (sich) fragt: „Soll ich ins Haus gehen? Den Mord abwehren | von denKindern?“ letztlich aber zur Ansicht gelangt: „Es sei so!“88. Die Gewalt wird hier unmittel-bar miterlebt, das Publikum verfolgt das Geschehen, heute würde man sagen, in Echtzeit.Es geschieht eine Handlung, die narrativen Elemente des Botenberichtes fallen weg, somitauch die intensiven Bilder, die hier vermittelt wurden. Der Phantasie des Publikums bleibtnicht viel überlassen. Der wenige Text der Kinder und die kurzen Kommentare des Choresgenügen hier, um die bedrückende Situation der Kinder, in Todesangst vor der Mutter, dar-zustellen. Medea, die ihre Kinder praktisch jagt, die Kinder, die schreien und nicht wissen,wohin sie sich in ihrer Not flüchten sollen.89 Es bedarf keiner aufwendigen Beschreibungen,da der Rezipient unmittelbar am Geschehen ist – live quasi, in Hörnähe zur Tat.Es folgt der Exodus. Iason tritt auf, noch ganz unter dem Eindruck der verstorbenen Kreu-

79 Euripides (1992) V. 1202..80 Euripides (1992) Vgl. V. 1207-1210.81 Euripides (1992) Vgl. V. 1210.82 Euripides (1992) V. 1211-1214.83 Euripides (1992) Vgl. V. 1231 ff..84 Euripides (1992) V. 1236-1241.85 Euripides (1992) V. 1240 ff..86 Euripides (1992) V. 1243.87 Euripides (1992) V. 1249 f..88 Euripides (1992) Vgl. V. 1275 f..89 Euripides (1992) Vgl. V. 1271 ff..

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sa und seines toten Schwiegervaters.90 Plötzlich sorgt er sich um die Kinder, die er nunnoch retten will91. Der Chor informiert ihn, über den Mord an seinen Kindern.92 Iasonerkennt sofort, was mit ihm geschah – die Sorge um die Kinder war ihm nebensächlich,solange sein Geschlecht in Zukunft in einer neuen Linie weiterlebt. Doch nun scheint Medeaam Ziel, denn selbst Iason bemerkt: „[. . . ] Wie du mich vernichtet hast, Frau!“93.Die Gewalt an den Kindern bezieht Iason nicht zuerst auf die unmittelbaren Opfer, sondernzuerst auf sich selbst. Er erfragt die Umstände des Mordes und will sofort Vergeltung anMedea üben.94 Er dringt in das Haus ein, den Tatort der Morde, und beschimpft Medeaals "am meisten verhaßtes Weib"95. Iason empfindet Medeas Tat als von Anfang an ge-plant96 und als „gottloseste[s] Werk“97. Er macht Medeas „Rachedämon“98 verantwortlichfür alles, denn dieser sei von Beginn an wirksam gewesen. Iason erinnert an Medeas frühereTaten, an die Wohltaten, die er an ihr vollbracht habe.99 Seine Wut führt ihn gar in dieArgumentation, dass ihm dies mit einer "griechische[n] Frau"100 nicht passiert wäre. Er istaufgebracht und wütend, verständlich in dieser Situation.Trotzdem ist es meines Erachtens interessant, dass Euripides so kurz vor Ende des Dramasdiese Argumentation noch einmal aufnimmt. Am Ende ist es nicht die schlechte Wahl derFrau (von Iason) oder die Medea immanente Grausamkeit o.ä. Nein, das letzte Argument,was hier bemüht wird ist ein zu dieser Zeit, aber auch heute noch gut wirksamer Allge-meinplatz: Das Fremde. Iason weiß nicht mehr, wie er erklären soll oder kann, was passiertist, ohne sich selbst zu belasten oder sich unangenehmen Wahrheiten stellen zu müssen.Aber da gibt es noch ein Argument, das letzte, welches das griechische Publikum nur imbegrenzten Maße überprüfen kann, allerdings gern annehmen wird. Das unverständliche,das unbekannte Fremde ist hier am Werk gewesen. So grausam kann nur eine Barbarin sein,ein griechischer Mensch ist zu solchen Taten nicht fähig. Medea, die "Löwin"101 hat gewü-tet, im eigenen Land. Noch einmal beschreibt Iason seine Situation, wobei klar wird, dassMedea ihr Ziel erreicht hat.102 Medea rechtfertigt sich vor Iason und gibt sich zufrieden:„Dein Herz nämlich habe ich gepackt, wie es recht war.“103. Es schließt sich ein weitererStreit zwischen Medea und Iason an104. Stichomythien und kurze Sätze zeigen einen hef-tigen Schlagabtausch zwischen den beiden von den Ereignissen gezeichneten Charakteren.Iason bezeichnet Medea (indirekt) als unvernünftig105, während Medea Iason die Schuld

90 Euripides (1992) Vgl. V. 1293 ff..91 Euripides (1992) Vgl. V. 1301 ff..92 Euripides (1992) Vgl. V. 1306 ff..93 Euripides (1992) V. 1310.94 Euripides (1992) Vgl. V. 1312 ff..95 Euripides (1992) V. 1323.96 Euripides (1992) Vgl. V. 1325 f..97 Euripides (1992) V. 1328.98 Euripides (1992) V. 1333.99 Euripides (1992) V. 1329.

100 Euripides (1992) V. 1339.101 Euripides (1992) V. 1342.102 Euripides (1992) Vgl. V. 1347-1350.103 Euripides (1992) V. 1360.104 Euripides (1992) ab V. 1361.105 Euripides (1992) Vgl. V. 1369.

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zuschiebt und keinerlei Unrechtsbewusstsein entwickelt106.Sogar in der Diskussion um die Bestattung der Toten muss Iason Medea nachgeben – sieüberlässt ihm keines der Kinder, will selbst als Mutter dafür Sorge tragen, dass „[. . . ] keinersie mißhandelt“107, will sie selbst begraben, am „[. . . ] Heraheiligtum von Akraia“108 bestat-ten, sowie ihnen „[. . . ] ein heiliges Fest und Weihen“109 stiften. Iasons Selbstmitleid zeigtsich bis zum Ende. Medea weist ihn in seine Schranken, wirft ihm vor, die Kinder nichtgeliebt zu haben.110 Medea diktiert ihren eigenen Abgang, bleibt unnachgiebig gegenüberIason.111 Dieser spricht am Ende nur „ein Gebet zu den Göttern“112, während er hilfloszurück bleibt.Medea hatte ihren Triumph, wenn auch vom Publikum ob ihrer Herkunft distanziert. Dievielschichtige Darstellung der Medea, die die Gewalt als präzises Werkzeug gegen ihre Fein-de einsetzt, sich zu wehren weiß und am Ende, trotz grausamster Taten im Stillen doch denSieg davon trägt – dies ist die wenn nicht mutige, so doch aber für seine Zeit untypischeEntscheidung von Euripides. Es ist leider nicht genau überliefert, wie und in welchen Punk-ten Euripides den Mythos Medea verändert und für sein Drama gestaltet hat.113 Allerdingsist schon allein der Eindruck der hin- und hergerissenen Medea, der liebenden Mutter aufder einen, der nach Vergeltung suchenden Ehefrau auf der anderen Seite, bemerkenswertfür diese Zeit.

3 Seneca

3.1 Darstellung der Gewalt

Seneca zeigt in seinem Stück weniger die betrogene Gattin oder verzweifelte Mutter. Erbezieht sich in seiner Darstellung besonders auf Medeas Vergangenheit114. Medea, die er-fahrene Giftmischerin, die es versteht, ihre magischen Kräfte zu nutzen – zum Schadenanderer. Er zeigt eine kompromisslose, sehr entschlossene Medea115, die auch vor der Ge-waltanwendung am eigenen Körper keine Sekunde lang zurückschreckt, um ihr Ziel zuerreichen116. Über 105 Verse zieht sich der Monolog Medea´s an die Götter, die Mächte,die ihr bei ihren Plänen beistehen sollen. Die Apostrophe ist die oft gewählte Form, in derMedea hier um den Beistand der höheren Mächte bittet.117 Dies verdeutlicht besondersMedeas Rolle als mächtige Magierin, die im Bunde mit höheren Mächten steht. Durchdie Länge des Monologs und durch den dichten Informationsgehalt, der in sehr gleichmä-ßig gegliederte und kompakte Zeilen gearbeitet ist, wird dem Rezipienten ein sehr hohes

106 Euripides (1992) Vgl. V. 1363 f..107 Euripides (1992) V. 1380.108 Euripides (1992) V. 1379.109 Euripides (1992) V. 1382.110 Euripides (1992) Vgl. V. 1397 f. und V. 1401 f..111 Euripides (1992) V. 1404.112 Euripides (1992) V. 1409.113 Lütkehaus (2001) Vgl. S. 20.114 Seneca (1993) V. 908 ff..115 Seneca (1993) V. 739-844.116 Seneca (1993) V. 805 ff..117 Seneca (1993) Vgl. u. a. V. 739 ff., 749, bis 844.

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Sprechtempo der Medea suggeriert. Für eine Aufführung liegt dies auch nahe. Sowohl dieUnterbrechung des eigenen Redeflusses durch an sich selbst gerichtet Apostrophen118 alsauch die durch Medea selbst gegebenen Handlungsanweisungen119 vermitteln dem Rezipi-enten das überwältigende und gleichzeitig auch abstoßende Bild einer rasenden, ja beinahewahnsinnigen Medea. Getrieben von Wut und Zorn, Rachegelüsten und Vergeltungssuchtspricht sie „das Wort, | den Nacken gekrümmt, mit zitterndem Haupt.“120. Obgleich derVerdacht des Wahns aufkommt, erscheint die Hilfe, die sie erfleht, nicht aus der Verzweif-lung heraus geboren. Die Handlungsabläufe zum Präparieren der totbringenden Geschenkefür Creusa sind gut vorbereitet und durchdacht. Sie weiß, wie sie Creusa schaden will,was sie dazu tun muss und: Sie kann es auch. Sie zeigt sich konsequent, ist zu Opfern ameigenen Leib bereit121 und besessen vom Rachegedanken122:

„Ja, so wird die Rache sein, | mit Recht entscheid ich so – die ärgste Tatersinnt | doch nur ein großer Geist [. . . ] “123.

Seneca bettet seine Medea stark in ihren persönlichen Kontext ein: Es wird mehrfach aufihre Vergangenheit verwiesen, Medea selbst gibt die Motivationen früherer Taten preis – sieist mitnichten als Unschuldige in dieses Dilemma geraten. Auch hat nicht Iasons Betrug ander Ehefrau den Auslöser zu ihrer Entwicklung hin zur rasenden Medea gegeben. FrühereTaten „verbrach [sie] für ihn“124 – jetzt fragt sie sich (bzw. an dieser Stelle die Amme):

„Ich sollte weichen? Ich?“125.

Nun hat sich also weder die Art ihres Vorgehens, noch die Intensität der Gewalttat ver-ändert126. Außerdem befindet sich Medea scheinbar im Hader mit ihrer eigenen Fabel:Einerseits ist es Iason, dem sie alle Schuld gibt127, der sie instrumentalisiert hat und densie gleichzeitig liebte. Andererseits kommt sie selbst nicht von ihrer eigenen Geschichtelos. Kein Ausweg und kein Wunsch nach Katharsis, nach Befreiung von der eigenen Ver-gangenheit wird durch sie deutlich128. Dem Glauben an das Böse in ihr selbst wird durchdie genaue Beschreibung der Giftwirkung auf Creusa nur noch deutlicher Ausdruck verlie-hen. Die Aussprache des Leids, dass Creusa durch sie erfahren wird, ist "verheißungsvoll"und deutlich129. Da ihr "nur" der mittelbare Weg über Geschenke und Kinder bleibt, umCreusa ins Verderben zu stürzen, weidet sie sich an den Vorstellungen zur Wirkung ih-rer "Gaben" mit einem „feurigen Keim“130. Sie wird nicht direkt dabei sein können, keine

118 Seneca (1993) Vgl. u. a. V. 808-810, 840 ff..119 Seneca (1993) Vgl. u. a. V. 805-811, 817.120 Seneca (1993) V. 800 f..121 Seneca (1993) V. 807-811 und später V. 924/25.122 Seneca (1993) auch V. 893 ff..123 Seneca (1993) V. 922-924.124 Seneca (1993) V. 907.125 Seneca (1993) V. 893.126 Denn das Publikum weiß: Einige Morde gehen bereits auf ihr Konto. Vor und während der Flucht mit

Iason verstand es Medea, Feinde und besonders auch Familienangehörige aus dem Weg zu räumen.Zimperlich war sie schon damals nicht: U. a. zerstückelte sie ihren Bruder. Seneca (1993) V. 912

127 Seneca (1993) Vgl. V. 814-16.128 Seneca (1993) V. 910 und 915.129 Seneca (1993) V. 817-819 und V. 835-839.130 Seneca (1993) V. 834.

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Möglichkeit haben, vor den Augen Iasons oder der Königsfamilie diesen "Triumph" überden „Erzfeind“131 auszukosten. Dies geschieht über die wirkungsvollen und affektbelade-nen Verben und Substantive aus dem Wortfeld "Feuer"132, mit denen die Macht der Medeadem Publikum und der Figur selbst bewusst wird.Abgesehen von der bildhaften Wirkung der Worte, drückt das Mittel des Feuers – undsollte das Gift "nur" wirken wie Feuer – das Maß an Grausamkeit aus, dass Medea derverhassten Feindin anzutun bereit ist. Ein langsamer, qualvoller und bewusst erlebter Todsoll die Neben-„Buhlerin“133 ereilen. Sterben soll sie und Unheil soll über ihre gesamte Fa-milie hereinbrechen – Medea wird zur grollenden Ehefrau, die die Konkurrentin vernichtenwill.

3.2 Medeas Ziel

Diese Darstellung durch Medea bestärkt zum einen die emotionale Prägung ihrer Taten:Ungestüm und gnadenlos will sie wüten, nichts soll mehr übrig bleiben von Iason, seinerZukunft und ihrem Leid. Alles muss zugrunde gehen, vernichtet werden und ihrem TriumphPlatz machen. Die Täuschung durch die unschuldigen Kinder, die angewandte Hinterlistpotenziert die Genugtuung, die Medea verspürt. Allerdings spielt hier noch eine weitereRolle, dass Medea zwar durch die Geschenke und die Kinder – Werkzeuge ihrer Rache– wirkt, sich aber Creusa vom schönen Schein der Gaben täuschen lässt und sich somitquasi selbst schädigt, indem sie Gewänder und Schmuck anlegt. Diese Anspielung auf dieOberflächlichkeit der Königstochter (oder gar auf die der Oberflächlichkeit aufgesessenenLiebe Iasons zu Creusa) wird bei Euripides deutlicher. Trotzdem heißt es auch bei Senecaim Botenbericht über die Tat:

„CHOR(FÜHRER). Und Opfer welchen Trugs?BOTE. Wie man Könige fängt: Mit Gaben. “134.

. Dass Medea Erfolg mit ihrem Plan gehabt hat, formuliert der Bote knapp und deutlich:

„Vernichtet alles! Unter ging das Königshaus. | In Asche liegen Vater, Tochtertot vereint.“135

– sogar die Stadt scheint in Gefahr136. Im Botenbericht offenbart sich die Hinterlist Medeas,denn der Brand, den man versuchte mit Wasser zu löschen, wurde noch größer, die Flammennoch zerstörerischer, als das Wasser sie traf.137 Doch dies ist Medea nicht genug. Wohl istjetzt das Königshaus getroffen, die Stadt in heller Aufregung und Korinth des Königsberaubt: Doch treibt sich Medea immer weiter zu Gräueltaten an, erpresst sich selbst138.

131 Seneca (1993) V. 920.132 Seneca (1993) Vgl. V. 820-839.133 Seneca (1993) V. 920.134 Seneca (1993) V. 881 f..135 Seneca (1993) V. 895-905.136 Seneca (1993) V. 887.137 Seneca (1993) V. 889 ff..138 Seneca (1993) Vgl. V. 879-889.

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Es geht ihr nicht nur darum, die neue Frau und den Hort des neuen Lebens von Iason zuzerstören: Sie will ihn selbst mit aller Macht treffen, sein Geschlecht soll vernichtet werden.Alles bisher Geschehene war das „Vorspiel“139 „des Mädchens kindischer Wahn“140, wie sieselbst sagt. Die „Such[e] nach neuen Opfern, [. . . ]“141, nach endgültiger Rache, beschäftigtsie weiterhin sehr.142 Jetzt geraten ihre Kinder – gerade noch Instrument der Zerstörung desKönigshauses – in den Mittelpunkt der Rachepläne Medeas.143 Die Kinder sollen „für dieVerbrechen“144 des „Vaters“145 büßen. Gleichzeitig büßen sie aber auch für die Mutter146.Nun kommen Medea erstmals Zweifel an ihrem Plan: Mit einer pathetischen Apostrophean sich selbst beschreibt sie die Situation147, nur um am Ende wieder zu der Ansicht zugelangen148: Sie liebt ihre Kinder, das wird in, wenn auch wenigen Zeilen deutlich.149 Inihrer emotionalen Situation bleibt aber kein Platz für die geliebten Kinder. Während allihrer Planung ist sie auf Iason und Creusa fixiert, denkt nicht einmal nach über ihre Familie,über das Wohl ihrer Kinder. Als ihre Rache dann kurz davor ist in die Tat umgesetzt zuwerden, kommen ihr kurze schmerzhafte Zweifel, die sie wohl durchleidet und realisiert150.Aber sie verweilt nicht bei den Gewissenbissen. Die Rache wird wichtiger als die Kinder, ihrKampf ist nicht ein Kampf gegen Iason sondern ein Kampf gegen ihre eigene Geschichte,ihre Vergangenheit, ihre Dämonen.151 Der Tod ihres Bruders und die „Rachegeister“152

nagen an ihr. Mit Iason begann die verstärkte Entwicklung hin zur mordenden Getreuen.Heutzutage würde man Medea wohl als Serienmörderin bezeichnen.153 Um die Geister undihren Bruder zu besänftigen, opfert sie das erste Kind.154 Allerdings ein sekundärer Grund,da sie ja schon vorher festgestellt hat, dass sie Iason über die Kinder an seiner verletzlichstenStelle – der "Unsterblichkeit" durch seine Nachkommen – treffen könnte. Der erste Mordan einem ihrer Kinder ist in zwei Zeilen (V. 970/1) erwähnt und für den Rezipienten –im Vergleich zur aufwändigen, metaphorisch und "visuell" überfrachteten Trance-Szene– unspektakulär gestaltet. Nicht der Mord steht hier als ein vorläufiger Höhepunkt imVordergrund, sondern die steigende Handlung, die zum Mord hinführt. Die letzten kurzenZweifel der Medea, die dann noch einmal kurz als liebevolle Mutter zu Wort kommt, bevorsie wieder vom Rachedurst ergriffen wird und das Kind umbringt. Kein Wort der Trauerkommt ihr in diesem Moment über die Lippen155, Medea weiß: „[. . . ] das Blutbad fing nun

139 Seneca (1993) V. 907.140 Seneca (1993) V. 909.141 Seneca (1993) V. 915.142 Seneca (1993) Vgl. 915 ff..143 Seneca (1993) Vgl. V. 923 ff..144 Seneca (1993) V. 925.145 Seneca (1993) V. 925.146 Seneca (1993) Vgl. V. 933.147 Seneca (1993) Vgl. V. 926-951.148 Seneca (1993) Vgl. V. 951-953.149 Seneca (1993) Vgl. u. a. V. 926-932, 945-951.150 Seneca (1993) Vgl. V. 927-932.151 Seneca (1993) Vgl. V. 954 ff..152 Seneca (1993) V. 967.153 Lütkehaus (2001) Vgl. S. 12.154 Seneca (1993) Vgl. V. 969 ff..155 Seneca (1993) V. 976/77.

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[erst, A-M. M.] an [. . . ]“156.Ging es vorher noch um die Versöhnung mit Vater und Bruder, ist die Situation nun eineandere. Medea will und kann sich jetzt ganz den Racheplänen widmen: Iason und seineherannahenden Truppen bieten ihr das Forum, die Rache unter den leidenden Blicken derAnwesenden auszukosten.157

3.3 Darstellung der Rache – Das finale Wüten

Medea steht über den Dingen (nämlich auf dem Dach des Hauses) – die Aufmerksamkeitaller ist ihr gewiss, zumal sie die Leiche des Kindes noch mit auf den Dachfirst genommenhat.158 Iason will sich dem nicht beugen – er will das Haus mitsamt Medea anzünden las-sen159, während diese sich weiter Mut zuspricht.160.Gleichzeitig plagen sie erneut Zweifel, die sich verflüchtigen, sobald Iason auftritt.161

Iason will mit Gegengewalt auf die Situation reagieren – seinerseits wieder mit Feuer.Metaphorisch wird hier nicht nur die Hilflosigkeit Iasons deutlich: Er ist ratlos und stehteiner zu allem entschlossenen Medea gegenüber. Nicht nur ihre räumliche Position auf demDachfirst sondern, auch ihr Wissen um magische Kräfte entrücken sie dem Einflussbereichihres Ehegatten.162 Das noch lebende sowie die Leiche des schon getöteten Kindes sindMittel der Erpressung für Medea – sie halten Iason zumindest physisch auf Abstand – under sieht sich zu indirekter Gewaltanwendung mittels Feuer genötigt.163

Medea kündigt Iason den Mord an den Kindern an.164 Im Gegensatz zum ersten Mordfolgt nun ein Dialog mit Iason – ein letztes Kräftemessen, bevor auch das zweite Kind vonMedea getötet wird.165 Er bietet gar sein eigenes Leben für das des letzten Kindes – Medeaaber bleibt ungerührt166.Sie wäre sogar bereit, mit Gewalt gegen sich selbst vorzugehen, wäre sie schwanger.167

Hier nutzt Medea sich selbst, ihre eigene Gesundheit wiederum als Durckmittel gegenIason. Die drastischen Worte168 bezeugen den Ernst der Lage und die Raserei, von derMedea abermals ergriffen ist. Von den Ereignissen ermüdet und der Situation hilflos ge-genüberstehend, fordert Iason Medea in der Folge auf, ihre Pläne endlich durchzuführen,

156 Seneca (1993) V. 974.157 Seneca (1993) Vgl. V. 976/77.158 Seneca (1993) V. 974.159 Seneca (1993) V. 995 ff..160 Seneca (1993) V. 987-989.161 Seneca (1993) Vgl. V. 989-994.162 Iason sagt es sogar selbst: „Da ist sie – von des Daches Steile droht sie selbst.“ Seneca (1993) Vgl. V.

995.163 Seneca (1993) Vgl. V. 989-994.164 Seneca (1993) Vgl. V. 998/99.165 Seneca (1993) Vgl. V. 1018/19.166 Seneca (1993) Vgl. V. 1002-1011.167 Seneca (1993) Vgl. V. 1012/13.168 Die Verben „durchwühl“ und „reiß“ Seneca (1993) V. 1012/13 vermitteln wieder die existentielle Bedro-

hung für Leib und Leben, die von Medea ausgehen.

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den Racherausch und damit sein Leiden zu beenden169, während Medea die Rache genießenwill170, denn:

„Mein ist der Tag – ich nutze die Zeit die mir gewährt.“171.

Iason, erschöpft von Medeas Folter bittet sie noch einmal um den Tod172, was Medea alsBitte um „Gnade“173 für sich entlarvt. Sie bringt dann das zweite Kind um, deklariert es alsdas letzte ihr mögliche Opfer174 und entschwebt „im Flügelwagen“ „durch die Lüfte[. . . ]175

„Zum Himmel“176, nachdem sie die Kinder Iason überlassen hat177. Iason bleibt am Lebenund richtet sie, wenn auch aus der Ferne. Denn trotz aller höheren Macht der Medea weißer, „[. . . ] dass, wo [. . . ]“sie nun ist „keine Götter sind!“178, zu denen sie heimkehren könnte.

4 Vergleich

Es soll hier kein umfassender Vergleich folgen. Vielmehr möchte ich die m. E. nach wich-tigsten Punkte anführen, die beide Dramen betreffen.Ein halbes Jahrtausend liegt zwischen den beiden Autoren und doch bedienen sie sich dergleichen mythischen Grundlage. Während bei Euripides nicht genau bekannt ist, in wieweit er sich mit seiner Medea vom Mythos entfernt hat179, ist bei Seneca die Grundlageseiner Werke leichter zu bestimmen: Seine Tragödien orientieren sich immer an einem dergroßen attischen Tragödiendichter. Auf Euripides greift er bei der Dramenproduktion be-sonders häufig zurück.180

Bei Euripides hat es der Rezipient mit einer klugen, ruhigen und bedachten Medea zu tun,sofern er/sie die rationale Ebene des Charakters nicht verlässt. Medea geht überlegt anihre Rache, hat ein erklärtes Ziel und hält den einmal gewählten Weg bis zum Ende durch.Iason hat sie um alles betrogen, was ihre Identität als seine Frau ausmacht. Verspottethat er sie in der Fremde und allein gelassen. Dafür soll er büßen; auch er soll nun seinesichere Zukunft entbehren müssen. Motivation und Hintergrund der Medea-Figur sind beiEuripides anders als bei Seneca ausgearbeitet. Euripides´ Medea sieht das ihr durch Iasonangetane Unrecht, sie will einen Ausgleich, der Urheber soll für seine Tat büßen. Immerwieder wird bei Euripides auf den Spott verwiesen, dem Medea ausgesetzt sei: Ihr Stolzals Mutter, getreue Ehefrau und als Komplizin Iasons ist verletzt. Nachdem sie alles fürihren Mann geopfert hat, ihm zwei Kinder geschenkt hat, gemordet hat für ihn, lässt ersie fallen und wendet sich in der Fremde einer anderen Frau zu. Hier setzt ihre Wandlungan: Sie besinnt sich auf die eigene Identität als Nachfahrin des Helios, als Zauberin, der

169 Seneca (1993) Vgl. V. 1014/15.170 Seneca (1993) V. 1016.171 Seneca (1993) V. 1012/13.172 Seneca (1993) Vgl. V. 1017.173 Seneca (1993) V. 1018.174 Seneca (1993) V. 1018/19.175 Seneca (1993) V. 1025.176 Seneca (1993) V. 1022.177 Seneca (1993) Vgl. V. 1024.178 Seneca (1993) V. 1018.179 Lütkehaus (2001) Vgl. S. 20.180 Fuhrmann (1997) Vgl. S. 634.

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magisches Kräfte gehorchen. Sie definiert sich nicht mehr über Iason, ist nicht mehr seineGattin, sondern Medea, Kämpferin für die eigene Sache.Ihren Racheplan trägt sie vor, anschließend sagt sie: „Und hier nun will ich diese Rede ab-brechen.“181. Ein Bruch im Monolog, in der logischen Planpräsentation. Dann ist "Platz"für die Emotionen, die zeigen, dass ihr eigener Plan nicht spurlos an Medea vorbei geht:„Ich muss weinen, denke ich, welches Werk ich dann vollbringen muss.“ Euripides (1992) V.791. Das Modalverb macht wiederum deutlich, dass Medea sich getrieben fühlt, das erlit-tene Unrecht selbst zu "begleichen", sich nicht einschüchtern zu lassen, zu kämpfen; dennsie fühlt sich im Recht. Für Senecas Medea stellt sich die Frage nach Recht und Unrechtgar nicht erst. Diese "äußere"Wandlung vollzieht sich bei Euripides nicht konsequent imInneren der Figur. Sie bleibt bis zum Ende hin und her gerissen zwischen Muttergefühlen,-pflichten und dem Wunsch, sich selbst Gerechtigkeit zu verschaffen. Sie opfert ihre Kinderam Ende für ihr Ziel, Iason zu strafen. Trotzdem will sie anschließend für eine angemesseneBestattung sorgen – ein Zeichen dafür, dass sie die Mutterrolle nie ganz hinter sich lässt.Bei Seneca handelt es sich um die gleiche Ausgangssituation. Der Unterschied liegt imSelbstverständnis und Charakter der Medea. Seneca zeigt eine von Affekten getriebene,wahnsinnige und Rache suchende Giftmischerin. Die Rolle der Mutter kann man seinerMedea bis zum Schluss nicht so recht abnehmen – sind doch die Szenen, in den Medeaals Zauberin gezeigt wird, deutlich spektakulärer. In Trance versetzt, tut sie sich selbstkörperliche Gewalt an – bei Euripides´ Medea undenkbar. Man darf allerdings auch nichtvergessen, dass Gewalt zu dieser Zeit ein anerkanntes legales Rechtsmittel, um eigene In-teressen zu wahren. Die Gewalt wirkt unmittelbar, eine "Lösung"des Problems ist schnell,wenn nicht sogar sofort zu erwarten. Mittel und Wege der Diplomatie hingegen verlangenGeduld und zeitlichen Aufwand, den sich die Rachesuchende nicht leisten kann und will.Die Beschimpfungen, die Senecas Hauptfigur immer wieder an sich selbst richtet, sind Aus-brüche psychischer Gewalt gegen sich selbst. Euripides präsentiert eine "würdevolle"Medea– Seneca eine wahnsinnige. Der alte Grieche lässt Medea ihre eigenen Interessen verfolgen– der Römer zeigt sie ihren Trieben verfallen. Trotz grausamster Taten triumphiert Euri-pides´ Medea am Ende über Iason, während dieser sie bei Seneca – wenn auch "nur" mitWorten – zu richten vermag.Senecas Lehre über die ungezügelten Leidenschaften, die Affekte, die den Menschen zu sol-chen Taten treiben, hat nicht nur seine philosophischen, sondern gerade seine dramatischenWerke beeinflusst.182 Diese waren weniger zur Unterhaltung gedacht, als zur Belehrung;eine Aufgabe, der er ja als Erzieher Neros schon von Berufs wegen verpflichtet war.183 Dieshat die Gestaltung seiner Medea deutlich beeinflusst. Die rasende und zürnende Medea er-scheint – trotz aller Pläne – unvernünftig und schwach. Mit der magischen Dimension, dieSeneca dem Charakter gibt, führt er auch eine unberechenbare Größe ein – eine Warnungfür alle, die sich von den Gefühlen zu stark mitreißen und beeinflussen lassen. Daher ist seinIason auch sympathischer geraten, als quasi stoischer Gegenpart zu Medea. Selbst CreusasOberflächlichkeit wird nicht so kontrastiert und pointiert durch Seneca dargestellt – Creusa

181 Euripides (1992) V. 790.182 Fuhrmann (1997) Vgl. S. 633.183 Fuhrmann (1997) Vgl. S. 634/5.

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ist und bleibt ein unschuldiges Opfer. Das Annehmen der Geschenke ist den Königen im-manent und hat nichts mit dem Charakter an sich zu tun. Im Gegensatz dazu erfährt, wennnicht Medea eine Aufwertung, so zumindest Kreusa eine Abwertung im Werk Euripides´.Sie lässt sich von Geschenken zur Zustimmung überreden – nicht aber von ihrem Gatten.Es findet besonders bei Euripides ein unsympathisch-Werden des Opfers statt. Währendbei Seneca die Gewohnheit (Anziehen des überreichten Geschenks) überwiegt, Creusa einargloses Opfer der zürnenden Medea wird, erreicht Kreusa bei Euripides nur den Statuseiner weiteren Leiche auf Medeas Flucht.Iason als Medeas Ehegatte sorgt in beiden Dramen dafür, dass die Kinder und damit derTod ins Haus des Königs gelangen. Dieser Kontrast – unschuldige Kinder überbringen denTod – ist in beiden Dramen vorhanden. Iasons Beziehung zu den Kindern gestaltet sichallerdings unterschiedlich. Bei Euripides hat der Reziepient den Eindruck, Iason will dieKinder loswerden, betrachtet diese zumindest als lästig und tut nur auf Medeas Bitten hinetwas für seine Kinder. In Senecas Drama nutzt Medea allerdings insbesondere die LiebeIasons zu den Kindern, um ihn bewusst zu verletzen. Sie lässt ihm am Ende sogar dieLeichen der Kinder – und verlässt damit auch ihre Mutterrolle. Es fällt ihr nicht schwer,Iason die Kinder zu überlassen, als sie mit der Flucht beschäftigt ist.Bei Euripides istdie Wegnahme der Leichen noch einmal eine Grausamkeit gegenüber Iason. Zumindest indieser Situation leidet er, wenn er auch sonst nicht immer der fürsorglichste Vater war.Der vollständige Triumph Medeas über den Gatten wird so bezeugt. Bei Seneca ist eherdie Flucht der Medea in den Vordergrund gerückt. Sie möchte so schnell wie möglich derSituation entfliehen – die Kinder scheinen ihr egal. Die Tatsache, dass Seneca König Aigeusnicht auftreten lässt, lässt Medeas Verhalten noch voreiliger und unüberlegter erscheinen.Sie hat eine Identitätswandlung vollzogen – vom Eheweib in Demut zur Magierin in Hybris.Es wirkt, als habe sie die Rolle der Ehefrau und Mutter nur gespielt, denn im Vergleich zuEuripides kann sich Senecas Medea leichter (nicht leichten Herzens!) von ihrer Mutterrollelösen. Dreht sich ihr Leiden am eigenen Opfer doch eher um sie selbst, als um die Kin-der – bei Euripides ist Medeas Selbstmitleid weniger präsent, Iason allerdings "leckt sichöfter die Wunden". Beide Medeen sprechen im Drama Handlungsanweisungen, sowohl fürsich selbst, als auch für andere. Bei Euripides steht dies meist im Zusammenhang mit derDurchführung der Gewalt, der Realisierung des Plans. Senecas Medea scheint sich dadurcheher Mut zu machen, das Selbstmitleid zu besiegen und die eigenen Handlungen am Laufenzu halten und auch die Reue zu vertreiben.Medeas Kampf mit der eigenen Vergangenheit und Identität ist in beiden Dramen einThema, kann jedoch ambivalent betrachtet werden. Bei Seneca scheint es, als wolle Me-dea schnell fliehen, zuvor aber noch größtmöglichen Schaden anrichten, am liebsten "nurverbrannte Erde hinterlassen"und noch so viel Genugtuung erheischen wie möglich. Dasbelegen die eilig fortgeworfenen Kinderleichen, der große Aufwand, den Medeas in derTrance-Szene betreibt usw.. Sich wieder ihrer Identität als Zauberin bewusst, merkt sie,dass sie sich diese Ungerechtigkeiten von niemandem gefallen lassen muss. Bei Euripidessieht es etwas anders aus: Medea weiß, dass sie wieder wird fliehen müssen. Der Startin eine neue Zukunft über die alten, den immer gleichen Fluchtweg. Medea reagiert und

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handelt konsequent, sie agiert als starke Frau, die versucht, mit dem ihr angetanen Un-recht "würdig" fertig zu werden. Beschreitet sie mit ihrer Rache neue Wege, bleiben es amEnde aber doch die alten Verhaltensmuster, die sie nicht abschütteln, nicht überwindenkann. Sie hat schwere Situationen auf ihre Art "gemeistert", hat Opfer gebracht und Opfereingefordert. Sie selbst will Iasons Geschlecht zerstören, ihm damit ein Stück menschlicheUnsterblichkeit nehmen, während ihre Rache sie selbst unsterblich macht. Aus diesem altenVerhaltensmuster kann sie sich nicht befreien und wird es in Zukunft auch nicht können.184

Der Unterschied in ihrem Vorgehen an sich liegt m. E. besonders im Ziel der Medea undder Einsicht in ihren Plan: Die Gewalt dient bei Euripides meist als Mittel zur VernichtungIasons und zur Wiederherstellung eines von Medea als gerecht empfundenen Zustandes. BeiSeneca liegt der Schwerpunkt hingegen auf dem Genuss des Leidens der anderen. Medeasoll/will wüten und zürnen und ohne Rücksicht auf Verluste Unheil und Grausamkeit überihre Feinde bringen. Sie will deren Leiden genießen und tut das auch ausgiebig – wie dieausführlichen Gewaltdarstellungen belegen. Dies verdeutlicht die Gewalt bei Seneca: Nichtdie Gewalt wird vorgeführt, sondern die sich am Leid anderer ergötzende Medea wird –indirekt – charakterisiert. Durch die Szenen, die sich hinter der Bühne abspielen, ist dasPublikum stark in den Handlungsablauf integriert, der Chor spricht u. U. aus, was der Re-zipient denkt. Bei Euripides sieht der Zuschauer die Gewalt immer in Verbindung mit derrationalen Ebene, dem Ziel Medeas. Diese Spaltung der Medea in verschiedene Rollen bzw.in eine emotionale und rationale Seite fehlt bei Seneca. Diese einseitige Darstellung lässtMedea als negative Figur erscheinen. Euripides´ Charakter ist hier erklärungsbedürftiger,näher an der Realität und damit auch näher am Publikum.Dass die psychologische Realitätsnähe seiner Medea nicht unbedingt zu Anerkennung ver-holfen hat, zeigt der dürftige Erfolg des Dramas zu Lebzeiten.185

184 Bezogen auch auf die nähere Zukunft nach dem Kindermord.185 Verglichen mit den anderen großen Tragödiendichtern dieser Epoche: Sophokles und Aischylos. Zimmer-

mann (1997) Vgl. auch S. 254

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Literatur

Euripides; Eller, Karl Heinz (Hrsg.) (1992): Medea. Stuttgart: Reclam, Reclam7978.

Fuhrmann, Mannfred (1997): Seneca der Jüngere. Metzler Lexikon Antiker Autoren,631–635.

Lütkehaus, Ludger (2001): Der Medea-Komplex. Mythos Medea, Nr. Band 20006, 11–24.

Seneca, L. Annaeus; Häuptli, Bruno W. (Hrsg.) (1993): Medea. Stuttgart: Reclam,Reklam Reklam 8882.

Zimmermann, Bernhard (1997): Euripides. Metzler Lexikon Antiker Autoren, 254–259.

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