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MÄNNLICHKEIT UND ‚VOLKSGEMEINSCHAFT‘

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MÄNNLICHKEIT UND ‚VOLKSGEMEINSCHAFT‘

LWL-INSTITUT FÜR WESTFÄLISCHE REGIONALGESCHICHTELANDSCHAFTSVERBAND WESTFALEN-LIPPE

MÜNSTER

FORSCHUNGEN ZUR REGIONALGESCHICHTE

Band 78

Herausgegeben von Bernd Walter

Martin Dröge

Männlichkeit und ‚Volksgemeinschaft‘

Der westfälische Landeshauptmann Karl Friedrich Kolbow (1899-1945):

Biographie eines NS-Täters

FERDINAND SCHÖNINGH

Redaktion: Franz-Werner Kersting

Thomas Küster

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Abbildung auf dem Umschlag: Kolbow als Redner, vermutlich auf einem Westfalentag in den 1930er Jahren

(LWL-Archivamt für Westfalen)

Umschlaggestaltung: INNOVA GmbH, 33178 Borchen

Gefördert durch:

© 2015 Ferdinand Schöningh, Paderborn(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig.

Printed in Germany. Herstellung: Druckerei Kettler, BönenISBN 978-3-506-78289-2

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort 11

1. Einleitung 131.1. Untersuchungsgegenstand: Die Biographie eines NS-Täters 141.2. Einordnung: NS-Täterforschung 161.3. Forschungskontext: Historische Biographieforschung 191.4. Verortung: Biographieforschung in kulturgeschichtlicher Erweiterung 251.5. Quellengrundlage: Tagebücher als Selbstzeugnisse 281.6. Vorgehensweise: Aufbau der Arbeit 33

2.Theorierahmen 342.1. Konzeptualisierung: Geschlechter- und Männlichkeitengeschichte 34

2.1.1. Doing gender – narrating gender 362.1.2. Mehrfache Relationalität von Männlichkeit 392.1.3. Männlicher Habitus 412.1.4. Hegemoniale Männlichkeit 432.1.5. Das männliche Ideal 472.1.6. Kameradschaft und homosoziale Männergemeinschaften 50

2.2. Aufriss: Nation, Gemeinschaft und ‚Volksgemeinschaft‘ in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts 552.2.1. ‚Volksgemeinschaft‘ in der NS-Forschung 58 2.2.2. Ursprünge im 19. Jahrhundert: Männlichkeit,

Nationalbewegung und Nationaldarwinismus 632.3. Zusammenfassung: Theoretische Konkretion, methodische

Operationalisierung und erkenntnisleitende Fragestellungen 66

Teil I 1. Sozialisation und Habitusentwicklung: Von der Erziehung im

Elternhaus bis zum Beginn der Militärdienstzeit im Juni 1917 711.1. Bildungsbürger mit nationaler Gesinnung und Adlige aus Pommern:

Zur Herkunft der Eltern 71

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1.2. Männliche Vorbilder: Erziehung und Heranwachsen in der Familie 731.3. Bildung im humanistischen Gymnasium:

Leistungsethos und nationale Sozialisation 771.4. Körperliche Härte, militärische Tugenden und Gemeinschaftserlebnis:

Selbsterziehung zum soldatischen Männlichkeitsideal im Wandervogel 781.5. Jagdvergnügen, Kriegsausbruch und Verantwortungsbewusstsein:

Als Heranwachsender auf einem gutsherrschaftlichen Wirtschaftsbetrieb 831.6. Formierung eines soldatisch-militaristischen Habitus:

Die vormilitärische Ausbildung in der Jugendwehr 861.7. Erste Liebe, gefallene Helden und Kriegssehnsucht:

Jugendzeit während des Ersten Weltkriegs 93

2. Kameradschaft, soldatische Ehre und bewährte Führer? Kriegseinsatz im Osten vom April 1918 bis zur Rückkehr in das Zivilleben im März 1919 1012.1. Erfahrungen und Erinnerungen:

Ein Erlebnisbericht zum Ersten Weltkrieg 1012.2. Gemeinschaft und Kameradschaft:

Konträre Auffassungen von soldatischer Männlichkeit 1032.3. Die Kluft zwischen Mannschaften und Offizieren:

Zum Bild des idealen militärischen Führers 1092.4. Revolution, Auflösung der Manneszucht und eine entehrende Schmach:

Rückzug durch die Ukraine 114

3. Selbsterziehung zur Mannhaftigkeit: Die Zeit als Jenenser Sängerschafter vom Mai 1919 bis Februar 1921 1243.1. Faktoren der Politisierung:

Zur Entwicklung einer nationalen Gesinnung 1243.2. Gemeinschaftliche Erziehung zur Mannhaftigkeit und sittlich

veredelnder Männerchorgesang: Die Vorzüge einer Sängerschaft 1273.3. Unvollkommen, verehrt und vom Mann dominiert:

Zur Bedeutung von Frauen 1363.4. Die studentische Mensur: Männlichkeit demonstrieren 1383.5. Auseinandersetzung im Weimarer Verband Deutscher Sängerschaften:

Ein schärferer Waffenstandpunkt als Zeichen nationaler Männlichkeit 1433.6. Kampf gegen den Berg: Alpinismus als Männerdomäne 1513.7. Versatzstücke einer Weltanschauung: Monismus, Sozialdarwinismus,

Fortschrittsglaube und die Ungleichheit der Menschen 152

4. NSDAP, Freikorps Oberland und die männlich dominierte Welt des Bergbaus: Männergemeinschaften als prägende Instanzen in den Jahren 1921 bis 1923 1574.1. Das völkisch-nationalistische Milieu Münchens:

Der Weg in die NSDAP 1574.2. Männer der Tat: Ideologie und Habitus der frühen Nationalsozialisten 167

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4.3. Antisemitismus, Tatbereitschaft und Wille zum Selbstopfer: Als Freiwilliger des Freikorps Oberland in Oberschlesien 172

4.4. Soldatisch-militaristisches Männlichkeitsideal und verschworene Kameradengemeinschaft: Selbststilisierung zum heroischen Freikorpskämpfer 176

4.5. Zögerndes Bürgertum und entschlossen handelnde Freikorpsangehörige 1834.6. Radikalisierung und weltanschauliche Anleihen 1864.7. Völkische Denkweise und politisches Engagement:

Der Hochschulring deutscher Art an der Bergakademie Freiberg 1894.8. Persönliche Begegnung mit Hitler:

Kommender Führer der nationalsozialistischen Bewegung 1924.9. Verlobung und Verführerinnen:

Kameradschaftliche Lebensgemeinschaft und Frauenbild 1944.10 . Hierarchien in der Männerwelt des Bergbaus:

Als Praktikant auf einer Zeche im Ruhrgebiet 1954.11. Einsatz für die NSDAP: Ortsgruppengründung und polizeiliches Verhör 198

5. Berufliche Arbeit als Bergbauingenieur und Aktivitäten für die NSDAP im Siegerland 1923-1933 202

Teil II

1. Verwaltung, Volkstum und ‚Volksgemeinschaft‘: Landeshauptmann der Provinz Westfalen in den Jahren 1933-1939 2071.1. Amtsantritt als Behördenchef einer Selbstverwaltungskörperschaft:

Aufbau und Aufgaben eines preußischen Provinzialverbandes 2071.2. Personalpolitik und weltanschauliche Schulungen: ‚Volksgemeinschaft‘

und ein loyales Beamtentum als nationalsozialistische Erziehungsziele 2121.3. Instrumentalisierung der regionalen Kulturpolitik:

Das Konzept der landschaftlichen Kulturpflege in Westfalen 2171.4. ‚Erneuerung des Volkstums‘:

Landschaftliche Kulturpflege zur Stärkung der ‚Volksgemeinschaft‘ 2221.5. Kraftquellen Heimat und Natur: Der Westfälische Heimatbund als

Transmissionsriemen einer völkischen Erneuerung 2281.6. Zur Bedeutung landschaftlicher Selbstverwaltung und

regionaler Kulturpolitik: ‚Volksgemeinschaft‘ erfahrbar machen 2351.7. Fürsorgeerziehung zwischen volksgemeinschaftlicher Inklusion und

Exklusion: Streit um die Hoheit über die Jugendpflege in Westfalen 2391.8. Rassische Aufwertung der ‚Volksgemeinschaft‘: Zwangssterilisationen

als Maßnahme der nationalsozialistischen ‚Volkskörperpflege‘ 249

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2. Männliche Werte und mannhaftes Verhalten: Kameradschaft und Konflikte im Amt des Landeshauptmanns in den Jahren 1933-1939 2542.1. Tote Helden und der Mann als Versorger: Die Kolbow-Stiftung

für die Kinder gefallener SA- und SS-Kameraden 2542.2. Zum kameradschaftlichen Umgang unter den Landeshauptleuten und

innerhalb der Provinzialmitarbeiterschaft 2572.3. Beharrlichkeit, Gefolgschaftstreue und Führungsverantwortung im

Konflikt um den Reichsverband Deutscher Landesversicherungsanstalten 2632.4. Männlichkeit, Kameradschaft, Führertum, landschaftliche

Selbstver waltung, ‚Volksgemeinschaft‘: Ein Resümee 275

3. „Und dann kam der Krieg!“ Männlichkeit im Kampf um die völkische Ern euerung der ‚Volksgemeinschaft‘ 1939-1945 2783.1. Verletzter Mannesstolz und soldatischer Maßstab: Zur Konsistenz des

soldatisch-männlichen Habitus im ‚Kampf ums Dasein‘ 2783.2. Eine völkisch-organische Position in den Auseinandersetzungen

um die Einheit Westfalens 2843.3. Überleben nach Außen und Abwehr im Inneren:

Die Erneuerung der ‚Volksgemeinschaft‘ durch den Krieg 3053.4. Germanisierung des Ostens: Eine Initiative zur landsmannschaftlich

geschlossenen Ansiedlung westfälischer Bauern 3103.5. Verbrechen zum Vorteil der ‚Volksgemeinschaft‘:

Verantwortung als Täter für die NS-‚Euthanasie‘ in Westfalen 3173.6. Die Sache vor der Person: Gescheiterter Einsatz im Ostministerium 3333.7. Das Streben der NSDAP nach absoluter Herrschaft:

Kritik am nationalsozialistischen Herrschaftssystem 3393.8. Eine kameradschaftliche Gemeinschaft: Der Sternbergkreis 3433.9. Ordnungsvorstellungen und Verfassungsprogrammatik: Zur staats -

politischen Reform des Nationalsozialismus auf völkischer Grundlage 3453.10 . Entlassung und Kriegsende in Uniform: ‚Gliederungsmenschen‘ und

eine gegliederte ‚Volksgemeinschaft‘ als Vermächtnis 352

4. Hierarchien unter kriegsgefangenen Männern: Überleben in alliierten Internierungslagern von April bis September 1945 3604.1. Hungern hinter Stacheldraht auf den Rheinwiesen bei Remagen 3604.2. Zwischen Hoffnung und Resignation: Anpassung an den Alltag

im Lager für politische Gefangene in Koblenz 3634.3. Hackordnungen und Konflikte: Gefangenschaft im französischen

Transitdépôt Thorée-les-Pins 365

Zusammenfassung und Ausblick: Zur Biographie eines NS-Täters 373

Abkürzungsverzeichnis 385

Quellen und Literatur 386

Archivalische Quellen 386

Gedruckte Quellen 388Quellenedition 389Literatur bis 1945 390Literatur nach 1945 392Onlineliteratur 437

Register 440

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Vorwort

Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2014 von der Fakultät für Kultur-wissenschaften der Universität Paderborn als Dissertation angenommen. Das Manu-skript ist für den Druck leicht gekürzt und überarbeitet worden.

Viele Menschen haben mich in den letzten Jahren bei meinem Projekt begleitet und unterstützt: Meinem Doktorvater Prof. Dr. Dietmar Klenke danke ich für die Freihei-ten, die er mir zur Bearbeitung der Dissertation eingeräumt hat. Der konstruktiven und familiären Atmosphäre an seinem Lehrstuhl habe ich viel zu verdanken. Prof. Dr. Peter E. Fäßler hat das Zweitgutachten übernommen, dafür möchte ich auch ihm danken. Für viele anregende Gespräche stand meine Kollegin Sabrina Lausen M.A. jederzeit zur Verfügung. Zu Dank bin ich auch der Universität Paderborn verpflichtet, die mich mit einem Abschlussstipendium gefördert hat.

Die biographische Studie über Landeshauptmann Kolbow ist in weiten Teilen im LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster entstanden. Sie baut auf einer Quellenedition auf, die ich dort im Rahmen eines wissenschaftlichen Volontariats zusammengestellt und herausgegeben habe. Respekt und Dank schulde ich daher Frau Böhm, die die beiden Arbeiten überhaupt erst ermöglichte, indem sie die Tagebücher ihres Vaters der Forschung zur Verfügung gestellt hat. Der Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte, Prof. Dr. Bernd Walter, hat beide Projekte initi-iert, interessiert begleitet und tatkräftig unterstützt. Ihm habe ich sowohl die Förderung durch ein Stipendium der LWL-Kulturstiftung als auch die Aufnahme in die Reihe ‚Forschungen zur Regionalgeschichte‘ zu verdanken. Bei allen Institutsmitgliedern möchte ich mich für die Diskussionen, Anregungen und Hinweise bedanken. Prof. Dr. Franz-Werner Kersting hat das Manuskript in akribischer Weise Korrektur gelesen und wertvolle Tipps für die Überarbeitung gegeben. Dr. Julia Paulus trug entscheidend zur thematischen Ausrichtung der Studie bei. In allen Arbeitsphasen unterstützten die kritischen, aber konstruktiven Anmerkungen von Dr. Karl Ditt mein Vorankommen. Mit bekannter professioneller Routine hat Dr. Thomas Küster die Vorbereitungen für die Drucklegung organisiert. Matthias Frölich M.A. hat nicht nur zeitweise das Büro, sondern auch manche Probleme mit mir geteilt.

Stets freundlich, hilfsbereit und ausdauernd haben die studentischen Volontäre und Volontärinnen Sebastian Frolik, Marina Kramm, Magnus Tintrup und Anna-Lena Többen Literatur recherchiert, herangeschafft und kopiert. Bei den Mitarbeitern des

LWL-Archivamts bedanke ich mich für die unkomplizierte Zuarbeit, dem Ausheben und Einscannen der Akten aus dem dienstlichen Nachlass Kolbows.

Vor allem aber möchte ich meiner Frau und meiner Familie für ihre Unterstützung danken.

Bersenbrück, im Februar 2015 Martin Dröge

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1. Einleitung

„Männer machen die Geschichte“.1 Diese Behauptung des Historikers Heinrich von Treitschke von 1879 provozierte rund hundert Jahre nach ihrer Formulierung ener-gischen Widerspruch sowohl der Sozial- und Strukturgeschichte als auch der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Heute gilt ein derartiges Geschichtsbild als überholt. Biographien aus der Zeit des Historismus, die ‚große‘2 Männer glorifizieren, werden heute von Geschichtswissenschaftlern3 nicht mehr verfasst. Ziel ist es heute vielmehr, Biographien nicht zu verklären. Stattdessen wird der Anspruch erhoben, Lebensge-schichten zu verstehen und zu ergründen. Ein aktuelles Beispiel ist die Bismarck-Bio-graphie von Jonathan Steinberg, der den Menschen hinter dem ersten Reichskanzler zeigen will.4 Aber: Viele Biographien betrachten nicht das Mann-Sein ihrer Protago-nisten, wie es neue Ansätze der Männlichkeitengeschichte fordern. Somit wird ein Forschungsfeld vernachlässigt, das für die Analyse und Deutung von Biographien weiteres Erklärungspotential bereithält. Mann-Sein ist in der gegenwärtigen Gesell-schaft ein vielfach diskutiertes Thema: Männlichkeit wird fortwährend hinterfragt; viele Stimmen diagnostizieren sogar eine Krise der Männlichkeit.5

1 Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Erster Theil: Bis zum zweiten Pariser Frieden, Leipzig 1879, S. 28. Die ursprüngliche Orthographie in den bibliographischen Angaben sowie in wörtlichen Zitaten wird beibehalten.

2 Einfache Anführungszeichen zeigen einen distanzierten Gebrauch des Begriffs an.3 Bei der Verwendung des generischen Maskulinums, die aus Gründen der Lesbarkeit geschieht, sind Frauen

ausdrücklich eingeschlossen. 4 Jonathan Steinberg, Bismarck. Magier der Macht, Berlin 2012.5 Siehe Elisabeth Raether/Tanja Stelzer, Das geschwächte Geschlecht, in: Die Zeit vom 2.1.2014, S. 11-13.

Siehe auch den Blog zur Tagung ‚Wann ist der Mann ein Mann?‘ Tagung zu Männlichkeitskonstrukti-onen‘ der Friedrich-Ebert-Stiftung vom 15. März 2013, http://manwirdnichtalsmanngeboren.blogspot. de, Zugriff vom 5.11.2013. Eine Internetrecherche ergab einen ersten, jedoch nicht vollständigen Über-blick zum Diskurs über die Frage ‚Wann ist der Mann ein Mann‘, die in den letzten zwei Jahrzehnten regelmäßig in den Medien gestellt wurde – hier seien nur einige Beispiele aus dem Jahr 2013 angeführt. So zeigte der Kultursender Einsfestival eine Fernsehkomödie sowie eine Reportage: ‚Wann ist der Mann ein Mann?‘, Fernsehfilm Deutschland 2002, Regie: Dietmar Klein, Ausstrahlung am 18. März 2013, siehe http://programm.ard.de/TV/einsfestival/wann-ist-der-mann-ein-mann-/eid_287229616341986?list=now, Zugriff vom 5.11.2013; ‚Wann ist der Mann ein Mann? Das starke Geschlecht in der Krise‘, Reportage Deutschland 2013, Autor: Claus Räfle, Ausstrahlung 12. Juni 2013, siehe http://www.einsfestival.de/ sendungen/sendung.jsp?ID =10062566386, Zugriff vom 5.11.2013. Eine Wissensshow im ZDF stellte die gleiche Frage: ‚Wann ist ein Mann ein Mann? Auf den Spuren des starken Geschlechts‘, Folge aus der Sendereihe ‚Abenteuer Forschung‘ vom 28. Mai 2013, siehe http://www.zdf.de/Abenteuer-Forschung/Wann-ist-ein-Mann-ein-Mann-28039164.html, Zugriff vom 5.11.2013. Auch ein ‚ARD radiofeature‘ befasste sich mit dem Thema: ‚Maskuline Muskelspiele‘, Radiofeature von Ralf Homann, Bayerischer Rundfunk 2013, siehe http://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/radio-feature/ard-radio-feature-masku-line-muskelspiele100.html, Zugriff vom 5.11.2013. Gleich zweimal griff das ZEIT-Magazin die Thematik im Titel auf; siehe ‚Die Rollen der Männer‘, ZEIT-Magazin, Nr. 39, 19. September 2013; ‚Was macht einen Mann zum Mann?‘, ZEIT-Magazin, Nr. 24, 6. Juni 2013. In den meisten Beiträgen wird die Suche nach einer männlichen Identität als eine Krise der Männlichkeit interpretiert. Neben diesem populärwis-senschaftlichen Interpretationsmuster betrachten aktuelle Ansätze der kulturwissenschaftlichen Masculi-nity Studies stärker das Potential der vielfältigen Konzeptionen von Männlichkeit, siehe Martina Läubli/ Sabrina Sahli (Hg.), Männlichkeiten denken. Aktuelle Perspektiven der kulturwissenschaftlichen Mascu-linity Studies, Bielefeld 2011.

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Die Aussage Treitschkes lässt sich aber auch gegen das männliche Geschlecht richten: Wenn Männer Geschichte machen, dann können diese nicht nur für alles Positive, sondern ebenso für alles Schlechte in der Historie verantwortlich gemacht werden. Analog zu dieser Auslegung arbeitet etwa die NS-Täterforschung die Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus auf. Kollektive und individuelle Täterbiographien, vornehmlich von Männern, aber ebenso von Frauen, versuchen dazu beizutragen, das Böse im Menschen fassbar zu machen. Neben der nationalsozialistischen Propaganda, die eine rassisch exklusive ‚Volksgemeinschaft‘ postulierte und damit die Grundlage für die extreme Radikalisierung rassischer Exklusion im ‚Dritten Reich‘ legte, trug nicht zuletzt der Konformitätsdruck des Kameradschaftsideals der Nationalsozialisten dazu bei, dass im Zweiten Weltkrieg aus ‚normalen‘ Männern Täter wurden.

In der folgenden Biographie eines NS-Täters sollen neuere Forschungen der Männlichkeitengeschichte aufgegriffen und über den Begriff der Kameradschaft mit Forschungen zur nationalsozialistischen ‚Volksgemeinschaft‘ zusammengebracht werden. Die Untersuchung ist nicht als eine reine Studie über Männlichkeit angelegt, sondern als eine Biographie, die Männlichkeit als eine wichtige von mehreren Pers-pektiven vorrangig einbezieht.

1.1. Untersuchungsgegenstand: Die Biographie eines NS-Täters

Der Nationalsozialist Karl Friedrich Kolbow – seit 1921 Mitglied der NSDAP – war von 1933 bis 1944 Landeshauptmann der Provinz Westfalen.6 In der Wahrnehmung der Zeitgenossen hob er sich von anderen in der Öffentlichkeit stehenden Nationalso-zialisten offenbar vorteilhaft ab, sodass sich die Nachkriegserinnerung an seine Person das Bild einer respektablen Persönlichkeit zu eigen machte: Landeshauptmann Kolbow sei ein gerechter und unparteiischer Vorgesetzter sowie ein untadeliger Verwaltungs-mann gewesen. Als Mann mit Tatkraft und Sachkenntnis habe er voller Leidenschaft und ohne Kompromisse für die Einheit der Provinz Westfalen und für die Erhaltung der landschaftlichen Selbstverwaltung gekämpft – so der Tenor der Reminiszenzen nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese von früheren Mitarbeitern und Vertretern der westfälischen Heimatbewegung tradierte Charakterisierung seiner Person sowie die Leistungsbilanz seiner Amtszeit bekamen durch eine sehr einseitige Auswertung der Tagebücher Kolbows ein fast unumstößliches Fundament. Auf diese Weise blieb das Bild eines ‚anständigen Nazis‘ bis in die 1980er Jahre hinein erhalten.7

6 Siehe zum Folgenden auch Martin Dröge, Einleitung: Karl Friedrich Kolbow im Spiegel seiner Tagebü-cher, in: ders. (Hg.), Die Tagebücher Karl Friedrich Kolbows (1899-1945). Nationalsozialist der ersten Stunde und Landeshauptmann der Provinz Westfalen, Paderborn 2009, S. 1-31, hier S. 1f.

7 Auf diese Verklärung der Vergangenheit weist bereits Bernd Walter hin, der mit seiner biographischen Skizze den bislang aktuellen Forschungsstand über die Person Kolbow repräsentiert. Siehe Bernd Walter, Karl Friedrich Kolbow (1899-1945), in: Friedrich Gerhard Hohmann (Hg.), Westfälische Lebensbilder, Bd. 17, Münster 2005, S. 203-240, hier S. 203-207. Ausführlich zur Rezeptionsgeschichte siehe Martin Dröge, Karl Friedrich Kolbow. Landeshauptmann der Provinz Westfalen während der NS-Zeit – eine Le-bensgeschichte und deren Lesarten nach 1945, in: Geschichte im Westen 23 (2008), S. 205-219.

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Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte der Provinz Westfa-len während der NS-Zeit, die erst Ende der 1970er Jahre einsetzte, stellte auch die bekannte Überlieferungsgeschichte zu Landeshauptmann Kolbow auf den Prüfstand. Die regionalgeschichtliche NS-Forschung befasste sich differenziert mit seinem büro-kratischen sowie politischen Wirken und Handeln als Landeshauptmann der Provinz Westfalen und konnte aus seiner Lebensgeschichte ausgeblendete Fakten wieder ans Licht bringen. In verschiedenen Studien zur westfälischen Regionalgeschichte er-scheint Kolbow als eine zu berücksichtigender Größe, da er als Landeshauptmann während der NS-Zeit in verschiedenen Bereichen eine zentrale Funktion für die Provinz Westfalen einnahm.8 So wird er als Bürokrat der Provinzialverwaltung, als Handelnder in der westfälischen Kulturpolitik sowie als Verantwortlicher für die ‚Euthanasie‘ in West-falen thematisiert und seine Rolle in der Jugendfürsorge sowie in der Heimatbewegung beleuchtet. Schrittweise dekonstruierten die neuen Forschungsergebnisse das bis dahin geschönte Bild, das in weiten Teilen neu gezeichnet wurde: Kolbow setzte als regime-treuer ‚Alter Kämpfer‘ der NSDAP in seiner Funktion als westfälischer Landeshaupt-mann die rassenideologischen Grundsätze des Nationalsozialismus in seinem Verant-wortungsbereich durch und koordinierte für die Provinz Westfalen vom Schreibtisch aus die Tötung ‚lebensunwerten Lebens‘ im Rahmen der NS-‚Euthanasie‘.

Mit den vollständig überlieferten Tagebüchern Kolbows steht nun ein außerge-wöhnlicher Quellenbestand zur Verfügung, der es erlaubt, tiefergehende Einblicke in die Lebens- und Gedankenwelt des früheren Landeshauptmanns der Provinz Westfa-len zu gewinnen.9 Die Tagebücher zeichnen ein bewegtes Leben nach: Sie erzählen von der Lebenswelt eines Gymnasiasten und Wandervogels im Kaiserreich und von den Erlebnissen eines Soldaten des Ersten Weltkriegs im Kaukasus, sie berichten über den Studenten einer schlagenden Verbindung zu Beginn der Weimarer Republik, über einen Praktikanten im Bergbau und einen Freikorpskämpfer in Oberschlesien.

Die Tagebücher zeigen auf, wie Kolbow eine völkisch geprägte Weltanschau-ung entwickelte, und sie erfassen dabei die Erfahrungen und Ansichten eines ‚Alten Kämpfers‘ der NSDAP. Sie offenbaren zugleich die Wahrnehmungsperspektive eines nationalsozialistischen Beamten der mittleren Verwaltungsebene, der zum Schreib-tischtäter wurde. Sie lassen das ambivalente Denken, Fühlen und Handeln eines Na-

8 Siehe Karl Teppe, Provinz – Partei – Staat. Zur provinziellen Selbstverwaltung im Dritten Reich untersucht am Beispiel Westfalens, Münster 1977; Karl Ditt, Raum und Volkstum. Die Kulturpolitik des Provinzi-alverbandes Westfalen 1923-1945, Münster 1988; Bernd Walter, Psychiatrie und Gesellschaft in der Mo-derne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime, Paderborn 1996; Markus Köster, Jugend, Wohlfahrtsstaat und Gesellschaft im Wandel. Westfalen zwischen Kaiser-reich und Bundesrepublik, Paderborn 1999; Willi Oberkrome, „Deutsche Heimat“. Nationale Konzeption und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in Westfalen-Lippe und Thüringen (1900-1960), Paderborn 2004.

9 Siehe Dröge, Tagebücher. Bernd Walter, Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte, bemühte sich erfolgreich um Zugang zu den in Familienbesitz befindlichen Tagebüchern des früheren Landeshauptmanns. Die Tagebuchaufzeichnungen konnte er erstmals in größerem Umfang für eine bio-graphische Skizze auswerten. Siehe Walter, Kolbow. Im Jahr 2005 gewann er die notwendige Zustimmung und Unterstützung der Tochter Kolbows für die Veröffentlichung und differenzierte Auswertung der Ta-gebücher.

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tionalsozialisten erkennen, der als gerechter Vorgesetzter, fürsorglicher Familienvater und engagierter Natur- und Heimatfreund galt, aber gleichzeitig Ziele der national-sozialistischen Rassenideologie willig umsetzte. Seit Beginn des Zweiten Weltkriegs wird zudem eine zwiespältige Grundhaltung Kolbows deutlich, die einerseits durch die Verbindung von Fanatismus und Tatbereitschaft, andererseits durch Zweifel und partiellen Dissens gekennzeichnet war. Trotz des grundsätzlichen Bekenntnisses zum Nationalsozialismus kritisierte Kolbow in seinen Tagebüchern das NS-Regime: Die Kritik reichte gegen Kriegsende so weit, dass er alternative Ordnungsvorstellungen zum bestehenden NS-System entwarf. Diese Alternative beruhte auf seinem Konzept einer ‚wahren Volksgemeinschaft‘.

1.2. Einordnung: NS-Täterforschung

In den Jahren zwischen 1940 und 1943 fiel die Verwaltung der ‚Euthanasie‘-Trans-porte in Westfalen in Kolbows Verantwortungsbereich als Landeshauptmann. Für über 5.600 psychisch Kranke und geistige Behinderte der westfälischen Heil- und Pflegeanstalten bedeutete die von Kolbow verantwortete Umsetzung des regionalen ‚Euthanasie‘-Programms den Tod in der Gaskammer der Anstalt Hadamar, durch Medikamente oder durch sogenannte ‚Hungerkost‘. Ebenso wurden unter der Ver-antwortung Kolbows sogenannte ‚Kinderfachabteilungen‘ in den Anstalten in Nie-dermarsberg (1940/41) und Dortmund-Aplerbeck (1941-1945) eingerichtet, in denen behinderte Kinder getötet wurden.10

Mit der dienstlichen Unterstützung und der administrativen Verantwortung für das NS-‚Euthanasie‘-Programm in Westfalen beteiligte sich Kolbow an einem national-sozialistischen Verbrechen: Als Vertreter der mittleren Verwaltungsebene im Gefüge des nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Systems wurde er zu einem der zahlreichen Schreibtischtäter des ‚Dritten Reichs‘. Die in den letzten beiden Jahrzehnten intensiv betriebene NS-Täterforschung, die sich als Subdisziplin der Holocaustforschung eta-bliert hat, sammelt über kollektiv- und individualbiographische Ansätze Erkenntnisse über die an nationalsozialistischen Verbrechen Beteiligten und versucht in Analysen, deren Handeln zu erklären, wobei auch das gesellschaftliche Umfeld berücksichtigt wird:11 Biographie und Prägungen, Handlungsspielräume und Motivationen der Täter rücken damit stärker in den Fokus.

10 Zur NS-‚Euthanasie‘ in Westfalen siehe Walter, Psychiatrie, S. 629-774.11 Frank Bajohr, Biographie und Nationalsozialismus, in: Michael Ruck/Karl Heinrich Pohl (Hg.), Regionen

im Nationalsozialismus, Bielefeld 2003, S. 188-192, hier S. 188. Siehe auch ders., Von der ‚Täterfor-schung‘ zur Debatte um die ‚Volksgemeinschaft‘, in: Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (Hg.), Zeitgeschichte in Hamburg. 50 Jahre Forschungsstelle 1960-2010, Hamburg 2011, S. 55-68. Siehe ferner Magnus Brechtken, Geschichte des Nationalsozialismus. Literaturbericht Teil 2, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58 (2007), S. 609-623, hier S. 616. Exemplarisch seien hier zwei Vor-reiterstudien genannt: Michael Wildt, Die Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichs-sicherheitshauptamtes, Hamburg 2002; Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft. 1903-1989, Bonn 1996.

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Die Erforschung von Täterbiographien macht den Schwerpunkt der biographischen NS-Forschung aus, wie der Wiener Historiker Johannes Koll feststellt.12 Koll meint zu Recht, dass dieser in den letzten Jahren eingehend erforschte Bereich das Wissen über das ‚Dritte Reich‘ substanziell bereichert habe – und dennoch sei das ihm ei-gene Potential bei weitem noch nicht voll ausgeschöpft.13 Durch die biographische Personalisierung könne man die komplexen historischen Entwicklungen im ‚Dritten Reich‘ weiter konkretisieren und dadurch differenzierte Erkenntnisse zu politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Zeitumständen gewinnen, so Koll. Zudem belege gerade das Spektrum an unterschiedlichen Biographien zur NS-Zeit das heterogene und komplexe Wesen des ‚Dritten Reichs‘.

In seiner Auswertung neuerer Studien zur biographischen Täterforschung kommt Koll zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass mittlerweile durchgehend auf die früher übliche Dämonisierung der Täter verzichtet und nicht mehr davon ausgegangen werde, dass jemand von vornherein Täter war, sondern vielmehr unter bestimmten Bedingun-gen dazu wurde.14 Sozialisations- und Wandlungsprozesse sowie biographische Brüche fänden daher erhöhte Aufmerksamkeit. Entsprechend sind die von Koll besproche-nen Arbeiten weitgehend akteurszentriert angelegt und loten individuelle Handlungs-spielräume aus, um die Wechselwirkungen zwischen Individuum und strukturellen Rahmenbedingungen offen zu legen. Insbesondere durch die Analyse von Tätern der mittleren und unteren Ebenen kann die „gesellschaftliche Tiefenwirkung des National-sozialismus punktuell“ getestet werden; ferner fragen viele Studien nach der Selbst-wahrnehmung, einer subjektiven Sinndeutung und der Selbstrechtfertigung der Täter.15

Mittlerweile besteht eine gute Forschungslage über die am Holocaust beteiligten Täter in den ‚besetzen Ostgebieten‘, wobei verstärkt Gewalterfahrungen von Akteuren der mittleren sowie unteren hierarchischen Ebenen untersucht wurden.16 Dabei lassen 12 Johannes Koll, Biographik und NS-Forschung, in: Neue Politische Literatur 57 (2012), S. 67-127. Koll

liefert einen informativen und fundierten Überblick über Individual- und Kollektivbiographien zum ‚Drit-ten Reich‘, die in den letzten Jahren erschienen sind.

13 Zum Folgenden ebd. Zur Entwicklung der biographischen Forschung zum Nationalsozialismus siehe ebd., S. 70f.

14 Ebd., auch zum Folgenden.15 Ebd., S. 75, 99.16 Allgemein zur NS-Täterforschung siehe die Überblicke bei Gerhard Paul, Von Psychopathen, Techno-

kraten des Terrors und ‚ganz gewöhnlichen‘ Deutschen. Die Täter der Shoah im Spiegel der Forschung, in: ders. (Hg.), Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?, 3. Aufl., Göttingen 2008, S. 7-90; Peter Longerich, Tendenzen und Perspektiven der Täterforschung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2007, H. 14/15, S. 3-7; Klaus-Michael Mallmann/Gerhard Paul, Sozialisation, Milieu und Gewalt. Fortschritte und Probleme der neueren Täterforschung, in: dies. (Hg.), Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien, 2. Aufl., Darmstadt 2005, S. 1-32. Aus der Fülle der Literatur zum Thema NS-Täter siehe ferner Helgard Kramer (Hg.), NS-Täter aus interdisziplinärer Perspektive, München 2006; Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 2005; Gerhard Hirschfeld/Tobias Jersak (Hg.), Karrieren im Nationalsozialismus. Funkti-onseliten zwischen Mitwirkung und Distanz, Frankfurt a.M. 2004; Kathrin Kompisch, Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus, Köln 2008. Frank Bajohr, Neuere Täterforschung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 18.6.2013, http://docupedia.de/zg/Neuere_Taeterforschung?oldid= 86938, Zugriff vom 8.11.2013. Kritisch zur NS-Täterforschung: Hans Mommsen, Forschungskontroversen zum Nationalsozi-alismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2007, H. 14/15, S. 14-21, hier S. 18.

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sich weniger Idealtypen wie „Weltanschauungstäter“, „Exzesstäter“, „Schreibtischtä-ter“, „traditioneller Befehlstäter“ und „utilitaristisch motivierter Täter“ als vielmehr Mischformen dieser Kategorien festmachen, die aufgrund der Dynamik und der Ent-grenztheit des Täterhandelns zu konstatieren sind.17

Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass sich letztlich keine gesellschaftli-che Gruppe als immun gegenüber der Beteiligung an NS-Verbrechen erwies, fragt der Hamburger Historiker Frank Bajohr: „Wenn also ‚Tätergeschichte‘ vor allem auch Gesellschaftsgeschichte ist, wäre es dann nicht angemessener, die Frage nach den Tätern stärker in eine integrierte Gesellschaftsgeschichte des ‚Dritten Reiches‘ einzubetten?“18 Mit Hilfe eines genaueren Blicks auf die nationalsozialistische Leit-kategorie der ‚Kameradschaft‘, der in den Rahmenbedingungen der Verbrechen einer-seits eine entscheidende Rolle für das Täterhandeln zukam, die andererseits aber auch als gesellschaftliches Organisationsprinzip der NS-‚Volksgemeinschaft‘ diente, kann ein möglicher Weg gefunden werden, Täterforschung in eine Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus zu integrieren.19 Eine biographische Studie über den Lan-deshauptmann der Provinz Westfalen trägt dazu bei, diesen Gesichtspunkt zu erhel-len. Ziel ist es ein biographisches Persönlichkeitsprofil zu erstellen, das vornehmlich auf der Grundlage von Tagebüchern die Selbstwahrnehmung und Selbstdeutung eines führenden Akteurs der mittleren Verwaltungsebene in den Blick nimmt.

1.3. Forschungskontext: Historische Biographieforschung

Die biographische Geschichtsschreibung erfahre eine Konjunktur, so urteilte im Ap-ril 2007 Volker Ullrich über die „schwierige Königsdisziplin“ in der Wochenzeitung Die Zeit.20 Dieser Einschätzung kann man zustimmen, sind doch in den vergangenen zwei Jahrzehnten zahlreiche Biographien erschienen, die allgemeine Aufmerksamkeit in der wissenschaftlichen wie nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit fanden. Für die Zeitgeschichte lassen sich hier stellvertretend die Hindenburg-Biographie von Wolf-ram Pyta, die Hitler-Biographie von Ian Kershaw und die Studie von Ulrich Herbert über Werner Best anführen.21

17 Die Typologie von NS-Tätergruppen bei Mallmann/Paul, Sozialisation, hier, S. 17f. Zur Vereinfachung der Täterkategorien, die in der öffentlichen Rezeption der Täterforschung zu finden ist, siehe Bajohr, Debatte, S. 60.

18 Ebd., S. 61.19 Ebd., S. 62f.20 Volker Ullrich, Die schwierige Königsdisziplin. Das biografische Genre hat immer noch Konjunktur.

Doch was macht eine gute historische Biografie aus?, in: Die Zeit, vom 4.4.2007. Anders als Ullrich sehen manche Stimmen eher einen Boom auf dem Markt für Autobiographien, siehe Stephan Porombka, Biogra-phie und Buchmarkt, in: Christian Klein (Hg.), Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009, S. 444-450. Vgl. zum Folgenden auch Martin Dröge, Einleitung: Die biographische Me-thode in der Regionalgeschichte, in: ders. (Hg.), Die biographische Methode in der Regionalgeschichte, Münster 2011, S. 1-13, hier S. 2-5.

21 Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007; Ian Kershaw, Hitler. 2 Bde., 2. Aufl., Stuttgart 2000; Herbert, Best. Zur Dominanz von Männerbiographien und zum Verhältnis von Männer- und Frauenbiographien siehe Angelika Schaser, Bedeutende Männer und wah-

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In den letzten Jahren erschienen aber auch diverse Aufsätze, die Überblicke zur ge-schichtswissenschaftlichen Biographik liefern.22 Daneben wurden einige Sammelbände zur Praxis und Theorie biographischen Arbeitens herausgeben.23 In den letzten Jahren sei vornehmlich der Theoriemangel auf dem biographischen Feld kritisiert und jeder analytisch-systematische Zugang als Zeitverschwendung angesehen worden: „Die Aus-blendung der Biographie aus dem Blickfeld der wissenschaftlichen Relevanz hat dazu geführt, dass es hierzulande kaum ein überzeugendes, ausdifferenziertes Theorie-Ge-rüst gibt“, so der Literaturwissenschaftler Christian Klein in einem der Sammelbände.24

Hans Erich Bödeker ist der Ansicht, dass in der historischen Biographik die metho-disch-theoretischen Grundlagen lebhaft diskutiert werden: Seiner Meinung nach verlangt die gegenwärtige Definition des Gegenstandes kulturwissenschaftlicher Biographik einen stärker reflektierenden Begriff des historischen Subjekts. Ebenso fordert Bödeker eine Reflektion darüber, wie biographische Forschung in angemessener literarischer Form dargestellt werden kann. Dabei müsse auch die Rolle des Biographen diskutiert werden.25 Ein Blick auf die Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft zeigt, dass bio-

re Frauen. Biographien in der Geschichtswissenschaft, in: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 6 (2001), S. 137-152.

22 Siehe Simone Lässig, Die historische Biographie auf neuen Wegen?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 59 (2009), S. 540-543; Tobias Winstel, Das Buch zum Leben. Ein Plädoyer für den biogra-phischen Blick, in: Theresia Bauer/Elisabeth Kraus/Christiane Kuller/Winfried Süß (Hg.), Gesichter der Zeitgeschichte. Deutsche Lebensläufe im 20. Jahrhundert, München 2009, S. 9-22. Die ältere Literatur sei hier nur in Auswahl angeführt: Olaf Hähner, Historische Biographik. Die Entwicklung einer geschichts-wissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1999; Ernst Engelbert/Hans Schleier, Zu Geschichte und Theorie der historischen Biographie. Theorieverständnis – biographische Totalität – Darstellungstypen und -formen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 38 (1990), S. 195-217; Jacques LeGoff, Wie schreibt man eine Biographie?, in: Fernand Braudel (Hg.), Der Historiker als Menschenfresser. Über den Beruf des Geschichtsschreibers, Berlin 1990, S. 103-113; Christian Meier, Die Faszination des Biographischen, in: Frank Niess (Hg.), Interesse an der Geschichte, Frankfurt a.M. 1989, S. 80-98; Andreas Gestrich, Einleitung: Sozialhistorische Biographieforschung, in: ders./Peter Knoch/Helga Merkel (Hg.), Biographie – sozialgeschichtlich. 7 Beiträge, Göttingen 1988, S. 5-28; Helmut Scheuer, Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1979; Hagen Schulze, Die Biographie in der „Krise der Geschichtswissenschaft“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 29 (1978), S. 508-518; Dieter Riesenberger, Die Biographie als historiographisches Problem, in: Michael Bosch (Hg.), Persönlichkeit und Struktur in der Geschichte. Historische Bestandsaufnahme und didaktische Implikationen, Düsseldorf 1977, S. 25-39; Jürgen Oelkers, Biographik – Überlegungen zu einer unschuldigen Gattung, in: Neue Politische Literatur 19 (1974), S. 296-309; Jan Romein, Die Biographie. Einführung in ihre Geschichte und ihre Problematik, Bern 1948.

23 Hans Erich Bödeker (Hg.), Biographie schreiben, Göttingen 2003; Christian Klein (Hg.), Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Stuttgart 2002; ders., Handbuch; Wilhelm Hemecker/Bernhard Fetz (Hg.), Geschichte und Theorie der Biographie, Berlin 2009; Wilhelm Hemecker (Hg.), Die Biographie – Beiträge zu ihrer Geschichte, Berlin/New York 2009. Einen einführenden Über-blick gibt Thomas Etzemüller, Biographien. Lesen – erforschen – erzählen, Frankfurt a.M. 2012.

24 Christian Klein, Biographik zwischen Theorie und Praxis. Versuch einer Bestandsaufnahme, in: ders., Grundlagen, S. 1-22, hier S. 2. Siehe auch Winstel, Buch, S. 12; Hans-Christof Kraus, Geschichte als Lebensgeschichte. Gegenwart und Zukunft der politischen Biographie, in: ders./Thomas Nicklas (Hg.), Geschichte der Politik. Alte und Neue Wege, München 2007, S. 311-332, hier S. 315ff.

25 Hans Erich Bödeker, Biographie. Annäherungen an den gegenwärtigen Forschungs- und Diskussions-stand, in: ders., Biographie schreiben, S. 9-64, hier S. 18f.

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graphische Arbeiten mit Beginn der 1970er Jahre kaum noch Akzeptanz fanden. Die zu diesem Zeitpunkt innovative wie auch meinungsstarke Sozial- und Strukturge-schichte beschäftigte sich in theoriegeleiteten Untersuchungen mit überpersönlichen Strukturen sowie mit längerfristigen Prozessen in der Geschichte und grenzte sich dadurch von der bislang führenden Politikgeschichte ab, die sich mit singulären Er-eignissen und Individuen auseinandersetzte. Insbesondere heroisch geschriebene Bio-graphien über politikmachende ‚große Männer‘ traf damals wie heute der Vorwurf des Historismus.26

Aus dem starken Einfluss der historischen Sozialwissenschaft Bielefelder Prägung resultierte, dass sich Nachwuchswissenschaftler viel häufiger mit strukturgeschichtli-chen Fragestellungen und weniger mit biographischen Arbeiten befassten. Sogar vom „akademischen Selbstmord“ war die Rede, wenn die Dissertation eines jungen For-schers die Biographie einer historischen Person zum Gegenstand hatte.27 Mittlerweile trifft diese Einschätzung nicht mehr zu. Immer mehr Qualifikationsarbeiten sind Bio-graphien, was als ein Zeichen für die gewachsene Akzeptanz in der Geschichtswissen-schaft gewertet werden kann.28

In anderen Ländern, insbesondere in der angloamerikanischen Geschichtswis-senschaft, aber auch in der historisch interessierten Öffentlichkeit Deutschlands ab-seits der universitären Forschung blieben die Akzeptanz und die Wertschätzung von historischen Biographien ungebrochen.29 In Deutschland stieg das Interesse an der historischen Biographieforschung erst wieder in den 1990er Jahren, als nach Ende des Blockdenkens Werte wie Individualität, Eigenverantwortung und Selbstverwirk-lichung sowie die Suche nach neuen Identitäten zu einflussreichen Bezugspunkten wurden. Auch durch einen medientechnologisch forcierten gesellschaftlichen Wandel am Ende des 20. Jahrhunderts entstanden zunehmend Verunsicherungen, sodass die Gesellschaft verstärkt nach biographischen Deutungsmustern verlangte, wie Men-schen in früheren Epochen mit Lebenskrisen und Herausforderungen umgingen und diese bewältigten.30

Das gestiegene Interesse an biographischer Geschichtsforschung lässt sich neben den genannten gesellschaftlichen Zusammenhängen ferner mit einem erneuten Para-digmenwechsel in der Geschichtswissenschaft erklären. Denn so wie das Paradigma der Sozial- und Strukturgeschichte die Biographie ins Abseits gestellt hatte, hat die Neue Kulturgeschichte die biographische Forschung beflügelt:31 „Die Geschichtswis-

26 Exemplarisch zum Verhältnis von Strukturgeschichte und Biographie siehe Jürgen Kocka, Struktur und Persönlichkeit als methodologisches Problem der Geschichtswissenschaft, in: Bosch, Persönlichkeit, S. 152-169; Hans-Ulrich Wehler, Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse, in: ders. (Hg.), Geschichte und Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1974, S. 7-26. Zwischen den Positionen ver-mittelnd Gestrich, Einleitung.

27 Deidre Bair, Die Biographie ist akademischer Selbstmord, in: Literaturen, Heft 7/8, (2001), S. 38f. Siehe auch Winstel, Buch, S. 11, vgl. Schaser, Männer, S. 140, Anm. 22. Siehe ferner Koll, Biographik, S. 68.

28 Schaser, Männer, S. 140, und die genannten Titel ebd., Anm. 22. 29 Siehe hierzu Michael Jonas, Britische Biographik, in: Klein, Handbuch, S. 289-297; Levke Harders, US-

amerikanische Biographik, in: ebd., S. 321-330.30 Lässig, Biographie, S. 541f. 31 Zur Neuen Kulturgeschichte siehe Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüs-

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senschaft hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten von einer datengesättigten, aber oft ‚menschenleeren‘ Strukturgeschichte abgewandt und neue, den einzelnen Men-schen und ihren Lebensformen zugewandte Felder erschlossen.“32

Bereits seit den 1970er Jahren arbeitete die Mikro- und Alltagsgeschichte unter dem Stichwort ‚Geschichte von unten‘ mit den Biographien von namenlosen Men-schen, während sich die traditionelle Biographik stets mit ‚großen‘ Männern befasst hatte. Der Ansatz der Alltagsgeschichte manifestierte sich in der Gründung von loka-len Geschichtswerkstätten zu Beginn der 1980er Jahre, zugleich flankierten die Men-talitätsgeschichte, die Oral History sowie die Historische Anthropologie die Histori-ographie ‚von unten‘. Auch die Geschlechtergeschichte unterstützte diese Form der Geschichtsschreibung, indem sie begann, die Dominanz männlicher Biographien zu brechen.33 Alltagsgeschichtliche Untersuchungen wie auch Arbeiten der Historischen Anthropologie verbinden dabei die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster historischer Individuen mit sozialen, politischen, wirtschaftlichen und materiellen Lebensbedin-gungen, die individuelles Leben strukturieren.34 Folglich haben die diversen Ansätze der Neuen Kulturgeschichte auch die geschichtswissenschaftliche Biographik voran-gebracht, indem sie neue Forschungsfelder erschlossen, neue Verfahren etabliert, neue Quellengruppen herangezogen und wissenschaftliche Methoden verfeinert haben.35 Die Geschichtswissenschaft erhielt dabei Denkanstöße aus den benachbarten Diszi-plinen.36

selwörter, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 2006; Silvia Serena Tschopp/ Wolfgang E. J. Weber, Grundfragen der Kulturgeschichte, Darmstadt 2007.

32 Lässig, Biographie, S. 542, vgl. Koll, Biographik, S. 68.33 Siehe Schaser, Männer; Anne-Kathrin Reulecke, „Die Nase der Lady Hester“. Überlegungen zum Verhält-

nis von Biographie und Geschlechterdifferenz, in: Hedwig Röckelein (Hg.), Biographie als Geschichte, Tübingen 1993, S. 117-142.

34 Daniel, Kompendium, S. 304. Bereits um 1970 forderte Thomas Nipperdey symbolische Formen, Sinn-stiftungen und Deutungsmuster der Menschen, die von der Sozialgeschichte ausgeklammert würden, zu berücksichtigen. Siehe Thomas Nipperdey, Kulturgeschichte, Sozialgeschichte, historische Anthropo-logie, in: Vierteljahreshefte für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 65 (1968), S. 145-164, insbesonde-re S. 155, 158; ders., Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft, in: Gerhard Schulz (Hg.), Geschichte heute. Positionen, Tendenzen, Probleme, Göttingen 1973, S. 225-255, insbesondere S. 242.

35 Lässig, Biographie, S. 542f.36 Zur Biographieforschung in den verschiedenen Fachdisziplinen siehe die Beiträge des Kapitels ‚Biogra-

phisches‘ Arbeiten, in: Klein, Handbuch, S. 331-418. Die Anregungen aus der Erziehungswissenschaft und der Psychologie beziehen sich vornehmlich auf die Bedeutung von individuellen Sozialisationspro-zessen. Dabei schreiben die beiden Fachrichtungen der Primärsozialisation einen besonderen Stellenwert zu. Dennoch müssen Biographen die porträtierten Persönlichkeiten über das gesamte Leben in deren Lebensumfeld verorten und nach wechselnden Einflüssen fragen. Siehe Lässig, Biographie, S. 544. Vgl. Andreas Gestrich, Vergesellschaftungen des Menschen. Einführung in die historische Sozialisationsfor-schung, Tübingen 1999, S. 117. Allgemein zur erziehungswissenschaftlichen bzw. psychologischen Bio-graphieforschung siehe Heinz-Hermann Krüger/Winfried Marotzki (Hg.), Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung, 2. Aufl., Opladen 1996; Gerd Jüttemann/Hans Thomae (Hg.), Biographische Me-thoden in den Humanwissenschaften, Weinheim 1999; dies. (Hg.), Biographie und Psychologie, Berlin 1987; Röckelein, Biographie. Die Kommunikations- und Erkenntnistheorie hat herausgearbeitet, dass Erfahrungen generell konstruiert sind und Bedeutung überwiegend durch diskursive Praktiken entstehen; Lässig, Biographie, S. 544, siehe auch Bödeker, Biographie, S. 14f. Mit am stärksten aufeinander bezogen

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Ob jedoch die Zunahme von biographiegeschichtlichen Arbeiten in der Geschichts-wissenschaft die Rede von einem biographical turn rechtfertigt, ist eher fraglich. Auf die Frage nach jener ‚Wende zum Biographischen‘ stellte eine Tagung des German Historical Institute 2004 in Washington zurückhaltend, aber dennoch optimistisch fest: „Biography is ‚back‘ in serious historiography, even in Germany.“37

Für die Praxis des biographischen Schreibens ist der bereits erwähnte Feuilletonarti-kel von Volker Ullrich hilfreich. Der Autor gibt hier erste Antworten auf die Frage: „Was macht eine gute historische Biografie aus?“38 Im vorliegenden Fall zeigt sich anschau-lich, wie journalistisches Gespür Diskussionen der Fachwissenschaft aufgreift39 und zu weiterem Austausch anregen kann.40 Einige der von dem promovierten Historiker Ullrich formulierten Thesen sollen auch hier kurz diskutiert werden, da sie für die vor-liegende biographische Arbeit – aber auch für die geschichtswissenschaftliche Biogra-phieforschung allgemein – eine anregende und zugleich hilfreiche Referenz darstellen.41

Eine Biographie müsse Entwicklung, Denken und Handeln einer historischen Per-son oder einer Gruppe von Personen in Beziehung setzen zu den bewegenden Kräften und Tendenzen ihrer Zeit, so Ullrich. Dabei komme es auf die Wechselwirkung zwi-schen dem Individuum und den überindividuellen Strukturen und Prozessen an.42

Diese vielfach erhobenen Forderungen sind unstrittig,43 vielmehr würde eine Nichtbeachtung Kritik hervorrufen. In der gegenwärtig kulturgeschichtlich geprägten

sind Geschichtswissenschaft und Soziologie: Auch auf dem Feld der Biographik sind Methoden wie die soziologische Lebenslaufforschung insbesondere bei kollektivbiographischen Ansätzen Bestandteil der historischen Biographieforschung. Allgemein zur Biographie- und Lebenslaufforschung in der Soziolo-gie siehe Werner Fuchs-Heinritz, Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden, 3. Aufl., Wiesbaden 2005; Reinhold Sackmann, Lebenslaufanalyse und Biografieforschung. Eine Ein-führung, Wiesbaden 2007; Wolfgang Voges (Hg.), Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung, Opladen 1987; Gabriele Rosenthal, Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung, Weinheim 2005; dies., Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen, Frankfurt a.M. 1995. Zur Kollektivbiographik in der Zeitgeschichte: Alexander Gallus, Biographik und Zeitgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2005 H. 1/2, S. 40-46.

37 Simone Lässig, Toward a biographical turn? Biography in Modern Historiography – Modern Historio-graphy in Biography, in: GHI Bulletin 35 (2004), S. 147-155, hier S. 155. Siehe auch Volker Berghahn/ Simone Lässig (Hg.), Biography between structure and agency. Central European lives in international historiography, New York 2008. Vgl. Koll, Biographik, S. 99f.

38 Ullrich, Königsdisziplin.39 Die Thesen scheinen in Anlehnung an den Aufsatz von Bödeker, Biographie, entstanden zu sein.40 Auch Lässig, Biographie und Winstel, Buch beziehen sich auf den Artikel von Ullrich. Winstel erweitert

die Thesen Ullrichs zu einem „Dekalog der biographischen Moral“. Inhaltlich werden jedoch die gleichen Ansprüche an eine Biographie gestellt, vgl. Winstel, Buch, S. 15.

41 Zu den im Folgenden wiedergebenden Thesen siehe Ullrich, Königsdisziplin.42 Ebd.43 Siehe etwa Thomas Etzemüller, Die Form „Biographie“ als Modus der Geschichtsschreibung. Überle-

gungen zum Thema Biographie und Nationalsozialismus, in: Ruck, Michael/Pohl, Karl Heinrich (Hg.), Regionen im Nationalsozialismus, Bielefeld 2003, S. 71-90, hier S. 73; Bödeker, Biographie, S. 21-23; Hähner, Biographik, S. 255; Schulze, Biographie, S. 517; Imanuel Geiss, Die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte: Zwischen Überbewerten und Verdrängen, in: Bosch, Persönlichkeit, S. 10-24, hier S. 17, 20, 22f. Siehe auch Alexander Gallus, Hitlerdeutungen. Auf dem Weg zu einer Versöhnung von Per-sönlichkeit, Gesellschaft und Struktur in der NS-Forschung, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 29 (2001), S. 252-262. Vgl. Koll, Biographik, S. 67.

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Geschichtswissenschaft sieht man im Verhältnis zwischen Struktur und Individuum keine Rangordnung, sondern eine gegenseitige Abhängigkeit und gleichberechtigte Bedeutung, wenngleich das Pendel momentan mehr in Richtung der Betonung des Individuums in der Geschichte ausschlägt. Die Einbettung der Persönlichkeit in ihre historische Lebenswelt, die Betrachtung ihres Sozialisationsumfeldes mit ihren ent-sprechenden Bezugsgruppen und ihrer individuellen Prägungen vor dem Hintergrund der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Gesellschaftsentwicklung macht aber erst die Autonomie des historischen Subjekts und deren Grenzen deutlich. Hier liegt die Innovationskraft der neueren Biographieforschung.44

Ullrich stellt als weitere These auf, dass eine historisch-wissenschaftliche Biogra-phie dann gelinge, wenn sie sich gegen psychoanalytische Theorien und Einsichten nicht ignorant verhalte. Sie stelle, methodisch umsichtig gehandhabt, das unentbehr-liche Rüstzeug für die Ergründung von psychischen Dispositionen, von Charakterei-gentümlichkeiten und Handlungsmotivationen zur Verfügung.45

Eine alleinige Beschränkung auf die psychoanalytische Untersuchung einer histo-rischen Person mag im Einzelfall erhellend sein,46 kann aber schnell die Erkenntnis auf psychologische Befunde eingrenzen und verliert damit geschichtswissenschaftli-che Fragen aus dem Blickfeld. Die vorliegende Studie nutzt psychologische Deutun-gen daher zurückhaltend und orientiert sich stärker an der Soziologie, die versucht, Handlungen und Verhalten von ‚außen‘ – und nicht von ‚innen‘ – zu erkennen und zu rekonstruieren.47

Ullrich postuliert ferner, dass der Historiker gut daran tue, sich von der Fiktion der Kohärenz, die zumeist einem retrospektiven Wunschdenken entspräche, zu verab-schieden. Er müsse seine Sinne schärfen für die Brüche und Widersprüche, die Viel-falt der Erfahrungen und das Geflecht von Motiven, aus denen sich nur selten ein einziges dominantes herausschälen lasse.48 Die Frage der Kohärenz einer Lebensge-schichte hat Pierre Bourdieu in seinem Aufsatz über ‚Die biographische Illusion‘ auf die Agenda gesetzt und damit die biographische Forschung zugleich erschüttert und befruchtet.49 Das Leben als eine Geschichte zu organisieren und dabei eine kohärente 44 Vgl. Bödeker, Biographie, S. 19-21.45 Ullrich, Königsdisziplin.46 Siehe etwa Erik Erikson, Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie, 5. Aufl.,

Frankfurt a.M. 2003.47 Zu psychologischen Ansätzen in der geschichtswissenschaftlichen Biographik siehe Hedwig Röckelein,

Der Beitrag der psychohistorischen Methode zur ‚neuen historischen Biographie‘, in: dies., Biographie, S. 17-38; Thomas Kornbichler, Tiefenpsychologische Biographik, Berlin 1987; ders., Zu einer tiefenpsy-chologischen Theorie der Biographie, in: ders. (Hg.), Klio und Psyche, Pfaffenweiler 1990, S. 41-48. Von Seiten der Strukturgeschichte hat sich Hans-Ulrich Wehler schon in den 1970er Jahren kritisch mit dem Verhältnis von Geschichte und Psychoanalyse auseinandergesetzt. Mit der Begründung des Primats der Gesellschaftsgeschichte hat er aber tiefenpsychologische Ansätze nutzende historische Studien als Unter-suchungen von zweitrangigem Interesse direkt wieder ins Abseits gestellt. Hans-Ulrich Wehler, Vorwort, in: ders., Geschichte, S. 5f.; ders., Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse, in: ebd., S. 7-26.

48 Ullrich, Königsdisziplin.49 Pierre Bourdieu, L’Illusion biographique, in: Actes de la recherches en sciences sociales 62/63 (1986),

S. 69-72. Erstmalige deutsche Übersetzung: Pierre Bourdieu, Die biographische Illusion, in: BIOS 3

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Erzählung zu produzieren, bedeutet nach Bourdieu, „sich einer rhetorischen Illusion zu unterwerfen.“50 Allerdings können weiterführende Erkenntnisse über eine Person ge-wonnen werden, befragt man diese unter einem speziellen, für das gesamte Leben rele-vanten Gesichtspunkt. Auf diese Weise können zugleich Widersprüche wie auch Brüche thematisiert und analysiert werden. Zu den unverzichtbaren Aufgaben des Biographen gehöre es, so eine weitere Forderung Ullrichs, der Überlieferungs- und Rezeptionsge-schichte seines Protagonisten nachzugehen. So könne gezeigt werden, wie sich dessen Bild gewandelt habe, von welchen Faktoren diese Wandlungen abhängig seien und worin sich die eigene Deutung von anderen unterscheide.51

Die Rezeptionsgeschichte zur Person Karl Friedrich Kolbows kann an dieser Stelle kurz in wenigen Punkten beschrieben werden: Bereits im August 1945 begannen erste Bemühungen, den früheren, sich noch in Kriegsgefangenschaft befindenden Landes-hauptmann mit Hilfe von gesammelten Leumundszeugnissen verschiedener Verfasser zu rehabilitieren. Diese fanden später Berücksichtigung bei seinem Entnazifizierungs-verfahren, das Kolbow posthum als Mitläufer einstufte. Das im Urteil „quasi offiziell ‚genehmigte‘ Kolbow-Bild“52 bildete das Fundament für weitere Schriften der 1950er und 1960er Jahre, die Kolbow einseitig darstellten. Neben dieser zunehmenden Ver-klärung aus den Kreisen ehemaliger Mitarbeiter, aus Bekanntschaft und Verwandt-schaft sowie aus den Reihen der westfälischen Heimatbewegung erlangte Kolbow nach seinem Tod in dem von ihm mitinitiierten Sternbergkreis eine geradezu mythi-sche Verehrung. Erst die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Landeshauptmann brachte eine neue Beurteilung.53

1.4. Verortung: Biographieforschung in kulturgeschichtlicher Erweiterung

Die vorliegende Biographie Karl Friedrich Kolbows beschreitet keinen herkömmli-chen biographischen Pfad. In einer kulturgeschichtlich erweiterten Biographie wird der Protagonist unter einer speziellen Perspektive betrachtet: Die biographische Stu-die nutzt den Ansatz der Männlichkeitengeschichte sowie neuere Forschungen zur nationalsozialistischen ‚Volksgemeinschaft‘, um das Handeln und Verhalten eines na-tionalsozialistischen Täters auf eine breitere Erklärungsgrundlage zu stellen. Beide Ansätze werden dazu über das gesellschaftliche Leitbild von Kameradschaft, das so-wohl Männlichkeits- als auch Gemeinschaftsideal war, zusammengeführt.54

(1991), S. 75-81; siehe auch Lutz Niethammer, Kommentar zu Pierre Bourdieu: Die biographische Illusi-on, in: BIOS 3 (1991), S. 91-93.

50 Zitiert nach: Pierre Bourdieu, Die biographische Illusion, in: Erika Hoerning (Hg.), Biographische Sozi-alisation, Stuttgart 2000, S. 51-59, hier S. 52f., Zitat S. 53. Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser These Bourdieus bei Kraus, Geschichte, S. 324f.

51 Ullrich, Königsdisziplin.52 Walter, Kolbow, S. 206.53 Ausführlich zur Rezeptionsgeschichte: Dröge, Lebensgeschichte.54 Vgl. Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahr-

hundert, Göttingen 2006, S. 97-105.

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Die zentralen Thesen der vorliegenden Untersuchung gehen davon aus, dass der Na-tionalsozialist Kolbow durch die zeitgenössischen Männlichkeitsvorstellungen sozi-alisiert wurde. Für Kolbows Denken und Handeln sowie für sein Weltbild war das Konzept der nationalsozialistischen ‚Volksgemeinschaft‘ von wesentlicher Bedeutung: ‚Volk‘ und ‚Volkstum‘ waren zentrale Kategorien im Weltbild Kolbows, sodass das „völkisch-rassische Denken als Paradigma für die Beurteilung des nationalen und persönlichen Handelns“55 seiner Person berücksichtigt werden muss. Seine Entwürfe von Männlichkeit und seine Vorstellungen einer nationalsozialistischen ‚Volksgemein-schaft‘ lassen sich über den methodischen Ansatz einer Individualbiographie gut be-schreiben und tiefergehend analysieren.

Eine eingehende individualbiographische Untersuchung wurde einer vergleichen-den kollektivbiographischen Einordnung vorgezogen, da von einer einzelbiographi-schen Feinanalyse im konkreten Fall ein tiefergehender Ertrag für die Forschung zu erwarten ist.56 Nach einer Sondierung verschiedener in Frage kommender Personen zeigte sich, dass kein gleichwertiges Quellenmaterial für einen gruppenbiographi-schen Vergleich vorlag: Die sehr gute Quellenlage, die mit den Tagebüchern Kolbows existiert, wäre vergeben worden zugunsten eines weiteren, stärker quantifizierenden Sozialprofils westfälischer Verwaltungsbeamter.57 Zugleich wäre es dann sinnvoll ge-wesen, zeitlich über den Zeitraum 1933-1945 auszugreifen, um Kontinuitäten nach-zuforschen – Kolbow verstarb jedoch 1945. Ebenso wurde eine kollektivbiographi-sche Studie, die Landeshauptmann Kolbow unter generationellen Gesichtspunkten einordnet,58 nicht gewählt, weil er nicht eindeutig in einer der von der Forschung aufgezeigten Generationeneinteilungen zu verorten ist: Obwohl Kolbow 1918 noch Soldat geworden war, teilte er aufgrund seiner Erlebnisse auf dem östlichen Kriegs-schauplatz nicht die einer ‚Frontgeneration‘ zugeschriebenen Erfahrungen des Schüt-zengrabenkriegs. Und da er doch noch als Soldat am Krieg teilnahm, kann er nicht ohne Einschränkung der ‚Kriegsjugendgeneration‘ zugeordnet werden, was wiederum eine grundlegende Voraussetzung dafür gewesen wäre, ihn vergleichend unter den Vorzeichen der von Michael Wildt postulierten ‚Generation des Unbedingten‘ zu ana-lysieren.59

55 Walter, Kolbow, S. 238.56 Vgl. Bajohr, Biographie, S. 192. Zu Kollektivbiographien in der Zeitgeschichte siehe Gallus, Biographik.57 Als unerlässlich für Westfalen siehe exemplarisch die Kollektivbiographien von Joachim Lilla, Leitende

Verwaltungsbeamte und Funktionsträger in Westfalen und Lippe (1918-1945/46). Biographisches Hand-buch, Münster 2004; Wolfgang Stelbrink, Die Kreisleiter der NSDAP in Westfalen und Lippe. Versuch einer Kollektivbiographie mit biographischem Anhang, Münster 2003.

58 Ulrike Jureit, Generationenforschung, Göttingen 2006; dies./Michael Wildt(Hg.), Generationen. Zur Re-levanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005; Jürgen Reulecke (Hg.), Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003; grundlegend Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, in: ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hg. von Kurt Wolff, Neuwied 1964, S. 509-565, siehe dazu auch Jürgen Zinnecker, „Das Problem der Generationen“. Überlegungen zu Karl Mannheims kanonischen Text, in: Clemens Zimmermann (Hg.), Zentralität und Raumgefüge der Großstädte im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006, S. 33-58.

59 Siehe Wildt, Generation. In seiner Studie über die Kreishauptleute im besetzten Polen kommt Markus Roth zu dem Urteil, dass Tätergruppen jeden Alters radikales und gewalttätiges Verhalten gezeigt hätten,

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Eine Einordnung in die ‚Frontgeneration‘ oder ‚Kriegsjugendgeneration‘ ermöglicht es zwar, die von vielen geteilten, damit als typisch anzusehenden prägenden Erfah-rungen, die teilweise traumatisierende Erlebnisse umfassten, als mögliche Erklärung für spätere radikalisierende Weltsichten ganzer Generationen heranzuziehen. Wie aber das Beispiel Kolbow zeigt, können einzelne Personen, die in den entsprechenden Jahr-gängen geboren wurden, gleichwohl nicht eindeutig den als typisch angenommenen generationellen Erfahrungen zugeordnet werden. Die Einteilung erweist sich als zu grob. Wenn man Kolbow aber aufgrund einer generationellen Erfahrung grundlegend einordnen will, dann in die Alterskohorte, die nach der Niederlage im Ersten Welt-krieg und aufgrund des Versailler Vertrags glaubte, einen Niedergang des Vaterlandes erleben zu müssen. Dabei stand man völkischen, rassistischen und antisemitischen Erklärungsansätzen aufgeschlossen gegenüber und vertrat einen vehementen Anti-Versailles-Revisionismus. Die vermeintliche Perspektivlosigkeit ließ die Angehörigen dieser Generation nach einer neuen persönlichen wie auch nationalen Identität suchen. Zugleich war man bereit zu handeln, um vorangegangenen Generationen zu beweisen, dass der nationale Wiederaufstieg Deutschlands erreicht werden konnte.

Die tief beeindruckenden Erfahrungen, die die Kriegsniederlage sowie der Ver-sailler Vertrag bei fast allen politisch bewussten Erwachsenen hinterließen, machte auch Kolbow – allerdings in einer spezifisch persönlichen wie altersbedingten Aus-prägung. Um individuell prägende Teilelemente allgemeiner Erfahrungshintergründe für passgenaue Vergleichsaspekte zu gewinnen, die sich auf die Spezifika der Indivi-dualbiographie Kolbows beziehen, werden einzelne Versatzstücke und Vergleichska-tegorien bereits bestehender Theorieangebote, die sich mit kollektiven Erfahrungszu-sammenhängen befassen, für den besonderen Fall herangezogen, modifiziert und neu kombiniert. Bei einzelnen konkreten Stationen der Biographie Kolbows verfährt die vorliegende Untersuchung daher methodisch auf die Weise, dass der individualbiogra-phische Ansatz mit den Erkenntnissen von Studien, die kollektive und generationelle Erfahrungen bereits geschichtswissenschaftlich untersucht haben, ergänzt wird.

Die Stärken einer geschlechtergeschichtlich angelegten individualbiographischen Studie liegen darin, dass über die Erforschung der individuell ausgeprägten, mit zeitge-nössischen Kollektivvorstellungen rückgekoppelten Männlichkeit und deren Ausdruck in der sozialen Praxis ein geschichtswissenschaftlicher Ansatz gefunden ist, um alltäg-liches Handeln und Verhalten unter dieser Perspektive zu untersuchen und zu erklären. Zugleich können zeitgenössische, durchaus konkurrierende Geschlechterordnungs-vorstellungen, die die Gesellschaft sinngebend strukturierten, exemplarisch abgebildet werden, insbesondere wenn es um die binnengeschlechtliche Hierarchisierung unter Männern geht. Auf diese Weise wird eine Verschränkung von Männlichkeits- und Ge-meinschaftsvorstellungen sichtbar. So können sowohl auf individuell-biographischer Basis Kontinuitäten, Wandel und Brüche von Gemeinschaftsvorstellungen als auch

und wendet sich damit gegen den Erklärungsansatz der generationellen Lagerung, wie er etwa von Mi-chael Wildt vertreten wird. Vgl. Markus Roth, Herrenmenschen. Die deutschen Kreishauptleute im be-setzten Polen – Karrierewege, Herrschaftspraxis und Nachgeschichte, Göttingen 2009, S. 423; vgl. Koll, Biographik, S. 88. Koll regt dazu an, generell zu diskutieren, inwieweit Generationalität als ein legitimes Analyseinstrument angesehen werden kann, ebd., S. 124.

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individuelle Deutungsvarianten und Konstruktionsprozesse einer nationalsozialisti-schen ‚Volksgemeinschaft‘ untersucht werden.

Die handlungsleitenden Motive Kolbows, die in seiner Biographie analytisch erfasst werden, sind zum einen die unbewusst wirkmächtige, in den Habitus einge-schriebene Männlichkeit und zum anderen das bewusst durchdachte Konzept einer dem Aufbau des Volkstums angepassten ‚Volksgemeinschaft‘. Diese beiden Motive, die Kolbows Handeln maßgeblich bestimmten, werden genutzt, um die übergeordnete Frage nach dem Täterhandeln mit Hilfe einer Individualbiographie zu beantworten.

Eine Biographie macht soziale, ökonomische, kulturelle, politische sowie eth-nische Prozesse an einem konkreten Subjekt nachvollziehbar und gibt gleichzeitig Einblicke in alltagsgeschichtlich relevante Zusammenhänge.60 Dennoch greifen Mak-ro- und Mikroebene, also Weitwinkelperspektive und Nahaufnahme, ineinander. Eine Mikro-Geschichte individueller Erfahrungen kann auf diese Weise zum Indikator und Spiegel einer Gesellschaft und ihrer Weltbilder werden. Selbstzeugnisse historischer Subjekte, wie sie mit den Tagebüchern Kolbows vorliegen, avancieren damit zu einer wichtigen Quelle, die immer sowohl in ihren gesellschaftlich-strukturellen als auch in ihren individuellen Denk- und Entstehungszusammenhängen gelesen werden muss.61 So können mit Hilfe der Selbstzeugnisse des Nationalsozialisten Karl Friedrich Kolbow Prägungen, Leitbilder, Motivationen und Handlungsspielräume rekonstruiert werden.

1.5. Quellengrundlage: Tagebücher als Selbstzeugnisse

Die wissenschaftliche Auswertung von Tagebüchern, die die Hauptquelle dieser Unter-suchung darstellen, erfordert eine ausführlichere Quellenkritik, denn dieser Quellenty-pus besitzt eigene Spezifika.62 So stellt sich die Frage nach der subjektiven Auffassung von geschichtlichen Vorgängen ebenso wie die nach Selbststilisierung, Selbstinszenie-rung und Selbsthistorisierung des Tagebuchschreibers. Ferner muss nach dem Wahr-heitsgehalt der Quelle, also nach Authentizität und Verfälschung, gefragt werden, die der Verfasser etwa durch Selbstzensur beeinflussen kann.

Tagebücher werden als Zeugnisse der Selbstreflektion zum Quellentypus der Ego-Dokumente gezählt, die der Frühneuzeithistoriker Winfried Schulze wie folgt definiert:

„Gemeinsames Kriterium aller Texte, die als Ego-Dokumente bezeichnet werden können, sollte es sein, dass Aussagen oder Aussagenpartikel vorliegen, die – wenn auch in rudimentärer und verdeckter Form – über die freiwillige oder erzwungene Selbstwahrnehmung eines Menschen in seiner Familie, seiner Gemeinde, seinem Land oder seiner sozialen Schicht Auskunft geben oder sein Verhältnis zu diesen Systemen und deren Veränderungen reflektieren. Sie sollten individuell menschli-ches Verhalten rechtfertigen, Ängste offenbaren, Wissensbestände darlegen, Wert-vorstellungen beleuchten, Lebenserfahrungen und -erwartungen widerspiegeln.“63

60 Lässig, Biographie, S. 551f.; vgl. Koll, Biographik, S. 69.61 Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz, Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt a.M. 2008, hier S. 63.62 Zum Folgenden auch Dröge, Einleitung Kolbow, S. 19-21.63 Winfried Schulze, Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen

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Folglich lassen Ego-Dokumente Einblicke in die Selbstsicht eines Menschen sowie in dessen Bewusstseinsformung und -wandel zu.64 Aufgrund der Unschärfe des Be-griffs Ego-Dokument, der stark an die Freud‘sche Terminologie erinnert, wird in der Geschichtswissenschaft zugleich die Bezeichnung Selbstzeugnis gebraucht. Ein Selbstzeugnis gibt Beobachtungen wieder, die auf den Verfasser selbst bezogen sind, und sie bringen dabei dessen individuelle Erfahrungen zum Ausdruck.65 Während Selbstzeugnisse wie Memoiren oder Autobiographien explizit für und mit Blick auf die Nachwelt entstehen, werden Briefe oder Tagebücher meistens nicht bewusst ver-fasst, um etwas zu tradieren.66 Zu den wichtigsten Selbstzeugnissen zählen Tagebü-cher, die der Historiker Peter Hüttenberger wie folgt definiert: „Unter Tagebüchern versteht man gewöhnlich täglich niedergeschriebene, chronologisch gereihte Auf-zeichnungen, in denen ein Autor mit sich selbst Zwiegespräche über sich und die von ihm wahrgenommene oder vorgestellte Umwelt festhält.“67

Tagebücher besitzen bestimmte Merkmale, die man sich bewusst machen muss, wenn man das Fehlurteil vermeiden will, die strukturellen Besonderheiten von Tagebüchern für individuelle Eigenheiten des Tagebuchschreibers zu halten:68 Tagebucheinträge sind chronologisch aneinandergereiht, dabei muss nicht zwingend die Tageseinteilung zu Grunde liegen. Jeder Eintrag steht für sich und setzt meistens neu ein. Dies macht die Eintragungen voneinander unterscheidbar, sie bleiben aber fragmentarisch und un-systematisch. Deshalb fehlt ihnen oft ein inhaltlicher Zusammenhang, denn spätere Niederschriften müssen sich nicht auf frühere beziehen. Dabei bleibt die Perspektive eines Tagebuchs häufig offen, selten verfolgt es das Ziel, zu einem Abschluss zu kommen.

für die Tagung „Ego-Dokumente“, in: ders. (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 11-30, hier S. 28.

64 Thomas Speckmann, Die Welt als Wille und Vorstellung. Chancen und Probleme einer biografischen Geschichtsschreibung des „kleinen Mannes“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), S. 412-426, hier S. 414.

65 Ebd., S. 415.66 Eckart Henning, Selbstzeugnisse, in: Friedrich Beck/ders., Die archivalischen Quellen. Mit einer Einfüh-

rung in die historischen Hilfswissenschaften, 4. Aufl., Köln 2004, S. 119-127, hier S. 119.67 Peter Hüttenberger, Tagebücher, in: Bernd-A. Rusinek/Volker Ackermann/Jörg Engelbrecht (Hg.), Einfüh-

rung in die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt Neuzeit, Paderborn 1992, S. 27-44, hier S. 27. Die Selbsterforschung, die mit den täglichen Aufzeichnungen in ein Tagebuch verbunden ist, entstammt vorwiegend religiös-moralischen Traditionen. Im 17. Jahrhundert übten pietistische Kreise Gewissens-erforschung in der Form täglicher Niederschrift, um den Müßiggang zu überwinden und um auf diese Weise eine Vervollkommnung der Persönlichkeit anzustreben. Für diesen religiös-selbsterzieherischen Sinnzusammenhang des Tagebuchschreibens stand die Beichte Pate: Durch die tägliche Selbstbesinnung konnte der Schreiber seine moralische Erfolgsbilanz auch ohne einen Beichtvater überprüfen. Neben die-ser pietistisch-religiösen Tradition führten auch Haushalts- und Familienbücher zur Form des individuell geführten Tagebuchs. In den Haushaltsbüchern wurde Protokoll über die täglichen Ausgaben geführt, während Familienbücher wichtige Ereignisse der Familiengeschichte festhielten. Siehe dazu Rüdiger Gör-ner, Das Tagebuch. Eine Einführung. München 1986, S. 12; Werner Fuchs-Heinritz, Biographische For-schung. Eine Einführung in Praxis und Methoden, 3. Aufl., Wiesbaden 2005, S. 30-31; siehe auch Alois Hahn, Identität und Selbstthematisierung, in: ders./Volker Kapp, Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1987, S. 9-24.

68 Henning, Selbstzeugnisse, S. 119.

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Die Inhalte von Tagebüchern sind vielgestaltig: Tagebücher halten Alltagsbegeben-heiten, Erfahrungen, Empfindungen, Gedanken und Reflektionen fest, die in einer Beziehung zum Tagebuchschreiber stehen. Häufig sind die Inhalte einförmig und geben monoton Einzelheiten wieder. Jedoch können außerordentliche Vorkommnis-se unversehens neben belanglosen Begebenheiten stehen. Oft überbewertet der Ta-gebuchschreiber alltägliche Vorgänge, während er Ereignisse oder Vorkommisse, die rückschauend eine besondere Relevanz erlangen, nur selten erkennt.69 Indem Tagebü-cher die persönliche Entwicklung des Verfassers widerspiegeln, erlangen sie teilweise autobiographischen Charakter. Befassen sie sich vornehmlich mit dem Handeln an-derer Personen sowie gesellschaftlichen und politischen Ereignissen, dann rücken sie in die Nähe von Memoiren, wodurch sich der Tagebuchschreiber in seinem sozialen Kontext verortet.70

Tagebücher lassen sich in verschiedene Kategorien einteilen: Notiztagebücher enthalten Erlebnisse und Begebenheit kommentarlos in stereotyper Kürze aneinan-dergereiht, geschäftsmäßige Sachlichkeit und Stichworte herrschen vor. Dagegen er-fassen Bekenntnistagebücher die Gesichtspunkte genauer, die den Tagebuchschrei-ber innerlich bewegen. Dieser hält hier Gedanken, Empfindungen oder Werturteile in längeren reflektierenden, kommentierenden und interpretierenden Erörterungen fest. Neben diesen beiden Idealtypen existieren Mischformen. Ferner unterscheidet man Geschäftstagebücher, in denen Behörden den täglichen Postverkehr verzeichnen.71

Weiterhin können Tagebücher in die Typen privat und öffentlich differenziert wer-den: Zum einen werden Tagebücher zielgerichtet für eine konkrete – gegenwärtige und zukünftige – Öffentlichkeit geschrieben. In diesem Fall ist zu bedenken, dass der Verfasser zumeist versucht, eine bestimmte Sichtweise, Deutung und Wertung zu vermitteln. Damit legt er seine Ansichten derart kalkuliert dar, dass er den Leser in die von ihm gewünschte Richtung beeinflusst. Obwohl dieser Tagebuchtypus öffentlich ist, behält er einen bewusst inszenierten intimen Charakter. Zum anderen gibt es priva-te Tagebücher, deren Inhalt lediglich der Verfasser kennt, und die zu dessen Lebzeiten unveröffentlicht, oft geheim bleiben und höchstens – wenn überhaupt –Familienange-hörigen bekannt sind.72 Ein Tagebuch gibt Auskunft über das Innenleben seines Verfassers, über dessen pri-vate Umwelt, über die Auswirkung historischer Ereignisse auf sein privates Leben sowie über die selektive Wahrnehmung des Weltgeschehens.73 Die subjektiven Ein-drücke, die in Tagebüchern festgehalten werden, machen die Verwertung als histori-sche Quelle kritikanfällig: Einerseits sind in Tagebüchern intersubjektiv Gültiges und lediglich subjektive Informationen und Bewertungen nicht einfach voneinander zu trennen.74 Andererseits ist ihr Wahrheitsgehalt im Sinne von nachprüfbarer Richtigkeit 69 Ebd.70 Speckmann, Welt, S. 414.71 Henning, Selbstzeugnisse, S. 120.72 Hüttenberger, Tagebücher, S. 32.73 Ebd., S. 31.74 Gerhard Kleining, Heuristik zur Erforschung von Biographien und Generationen, in: Gerd Jüttemann/

Hans Thomae (Hg.), Biographische Methoden in den Humanwissenschaften, Weinheim 1999, S. 175-192, hier S. 181.