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M. SCOTT PECK Der wunderbare Weg

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Page 1: M. SCOTT PECK Der wunderbare Weg - bilder.buecher.de · die Devise des Psychotherapeuten M. Scott Peck. Erst wenn wir daran gehen, die Probleme, mit Erst wenn wir daran gehen, die

M. SCOTT PECK

Der wunderbare Weg

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Buch»Jeder ist seines Glückes Schmied«: Ungewöhnlich ist, welchen Wegder Praktiker und erfahrene Therapeut Scott Peck vorschlägt, damitjeder Mensch sein Leben wirklich selbst in die Hand nehmen kann,nämlich den Mut zur Eigenverantwortung. Erst wenn man darangeht,mit konsequenter Disziplin Probleme für sich zu lösen, erhält das Lebeneinen Sinn. Die Jubiläumsausgabe, 25 Jahre nach der Erstveröffentli-chung, macht deutlich, dass »Der wunderbare Weg« eine Entwicklungangestoßen hat, die eine ganze Generation segensreich beeinflusste undheute lebendiger und aktueller ist denn je. Dieses Buch wurde zumGrundlagenwerk einer ganzen Literaturgattung mit den KomponentenSelbsthilfe, Psychologie und Spiritualität. Die Entwicklung der Selbst-hilfebewegung in den seither vergangenen 25 Jahren ist zutiefst ver-

bunden mit dem Einfluss dieses Epoche machenden Buches.

Autor

Dr. M. Scott Peck, Jahrgang 1936, wurde in Harvard und Case WesternReserve als Psychotherapeut ausgebildet. Neben seiner langjährigenTätigkeit als klinischer Psychiater gewann seine Arbeit als Buchautorund Vortragender immer mehr Bedeutung. 1984 gehörten er und seineFrau zu den Gründern der Foundation for Community Encouragement(FCE), die sich zur Aufgabe gemacht hat, die Idee und die Prinzipien dersozialen Gemeinschaft zu verbreiten und zu fördern. Diese Organisa-

tion bietet heute weltweit Workshops an.

Dr. Peck unterhält im Internet die Websitehttp://www.mscottpeck.com.

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M. SCOTT PECK

DER WUNDERBARE WEGEine neue Psychologie

der Liebe und desspirituellen Wachstums

Mit einem Vorwortvon Thorwald Dethlefsen

Aus dem Amerikanischen vonElke vom Scheidt

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 1978unter dem Titel »The Road Less Travelled«

bei Simon & Schuster, New York.

Verlagsgruppe Random House FSC 00Das -zertifizierte Papier München Super für Taschenbücher

aus dem Goldmann Verlag liefert Mochenwangen Papier.

Jubiläumsausgabe. Vollständige Taschenbuchausgabemit einem neuen Geleitwort des Autors, Juni 2004

Arkana, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

© 1986, 2004 der deutschsprachigen Ausgabe C. Bertelsmann Verlag, München© 1978, 2002 der Originalausgabe M. Scott Peck

Umschlaggestaltung: Mary Schuck und Design Team MünchenUmschlagmotiv: Cathy BleckSatz: Uhl + Massopust, Aalen

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckWL · Herstellung: WM

Printed in GermanyISBN: 978-3-442-21666-6

www.goldmann-verlag.de

5. Auflage

1967N®

FSC®

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Inhalt

25-Jahre-Jubiläumsausgabe – Zum Geleit 9Vorwort von Thorwald Dethlefsen 15

TEIL I: DISZIPLIN 21

Probleme und Schmerz – Aufschub von Belohnungen – DieSünden der Väter – Problemlösen und Zeit – VerantwortungNeurosen und Charakterstörungen – Flucht vor der FreiheitBindung an die Realität – Übertragung: die überholte Karte

Offenheit für Herausforderungen – Zurückhalten derWahrheit – Ausgewogenheit – Die Gesundheit der Depression

Verzicht und Wiedergeburt

TEIL II: LIEBE 103

Definition der Liebe – Ver»lieben« – Der Mythosromantischer Liebe – Mehr über Ichgrenzen – AbhängigkeitBesetzung ohne Liebe – »Selbstaufopferung« – Liebe ist kein

Gefühl – Die Arbeit der AufmerksamkeitDas Verlustrisiko – Das Risiko der Unabhängigkeit

Das Risiko der Verpflichtung – Das Risiko der KonfrontationLiebe ist diszipliniert – Liebe ist Getrenntheit – Liebe und

Psychotherapie – Das Geheimnis der Liebe

TEIL III: WACHSTUM UND RELIGION 239Weltsichten und Religion – Die Religion der Wissenschaft

Der Fall Kathy – Der Fall Marcia – Der Fall Theodore – DasBaby und das Badewasser – Wissenschaftliche Tunnelsicht

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TEIL IV: GNADE 303Das Wunder der Gesundheit – Das Wunder des

Unbewussten – Das Wunder der Serendipität – Definition derGnade – Das Wunder der Evolution – Das Alpha und das

Omega – Entropie und Erbsünde – Das Problem des BösenDie Evolution des Bewusstseins – Die Natur der Macht

Gnade und geistig-seelische Krankheit: der Mythos des OrestWiderstand gegen die Gnade – Willkommenheißen der Gnade

Nachwort 405

Anmerkungen 411

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Für meine Eltern Elizabeth und David,deren Disziplin und Liebe mir Augen gaben,

die Gnade zu sehen

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25-Jahre-JubiläumsauflageZum Geleit

(übersetzt von Erika Ifang)

»Morgen wird ein Fremder mit meisterhaft gutem Sinngenau das sagen, was wir die ganze Zeit gedacht undgefühlt haben.«

Ralph Waldo Emerson

Viele Leser haben auf den Wunderbaren Weg reagiert, in-dem sie in Briefen Dankbarkeit über meinen Mut zum Aus-druck brachten, nicht, weil ich irgendetwas Neues gesagthätte, sondern weil ich über die Dinge geschrieben habe, diesie schon lange gedacht und gefühlt, über die sie sich jedochnicht zu reden getraut hätten.

Der Begriff »Mut« trifft es eigentlich nicht ganz. Richtigerwäre es wohl, von einer gewissen angeborenen Unbeküm-mertheit zu sprechen. Kurz nach Erscheinen des Buches wur-de einer meiner Patienten auf einer Cocktailparty Zeuge einerUnterhaltung zwischen meiner Mutter und einer anderenälteren Dame. Die andere Frau sagte mit Bezug auf meinBuch: »Du bist bestimmt sehr stolz auf deinen Sohn, Scotty.«Woraufhin meine Mutter erwiderte: »Stolz? Nein, nicht be-sonders. Mit mir hatte das ja gar nichts zu tun. Weißt du, esist sein Kopf. Es ist eine Gabe.« Dass meine Mutter nichts da-mit zu tun hatte, stimmt meines Erachtens nicht, aber sie hatmeine Urheberschaft am Wunderbaren Weg sicher mit Rechteiner Gabe zugeschrieben – in vieler Hinsicht.

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Um diese Begabung ein wenig zu beschreiben, muss ichweit ausholen. Meine Frau Lily und ich hatten uns mit Tomangefreundet, einem jungen Mann, der als Kind den Som-mer immer in der gleichen Feriensiedlung verbracht hattewie ich. Seine Mutter kannte mich von klein auf, und seineälteren Brüder waren damals meine Spielgefährten gewe-sen. Eines Abends, ein paar Jahre vor Erscheinen des Wun-derbaren Weges, kam Tom zum Essen zu uns. Er wohnte zujener Zeit bei seiner Mutter und hatte ihr am Vorabend ge-sagt: »Mam, morgen Abend bin ich bei Scott Peck zum Esseneingeladen. Erinnerst du dich noch an ihn?«

»Aber ja«, hatte sie geantwortet, »das war der Kleine, derimmer über die Dinge geredet hat, über die man nichtspricht.«

Sie sehen also, dass sich die Gabe schon sehr früh be-merkbar gemacht hat. Und vielleicht verstehen Sie dannauch, dass ich als junger Mensch so etwas wie ein »Fremder«war in der damals vorherrschenden Kultur.

Da ich als Autor völlig unbekannt war, wurde Der wunder-bare Weg ohne Pauken und Trompeten veröffentlicht. Eingroßer kommerzieller Erfolg wurde er nur langsam im Laufder Jahre. In die nationalen Bestsellerlisten kam er erst fünfJahre nach seiner Veröffentlichung 1978 – etwas, wofür ichzutiefst dankbar bin. Wäre er über Nacht erfolgreich gewe-sen, bezweifle ich sehr, dass ich die nötige Reife besessen hät-te, um mit dem plötzlichen Ruhm fertig zu werden. Es waralso ein Buch, das durch Mund-zu-Mund-Propaganda undfast im Verborgenen bekannt wurde.Anfangs noch langsam,verbreitete sich die Kunde davon über die unterschiedlichs-ten Kanäle. Einer davon waren die Anonymen Alkoholiker.

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Und so stand denn auch im ersten Brief meiner Fan-Post:»Lieber Dr. Peck, Sie müssen Alkoholiker sein!« Der Absen-der hatte sich offenbar nicht vorstellen können, dass ich soein Buch schreiben konnte, ohne vom Alkoholismus in dieKnie gezwungen worden und langjähriges Mitglied der AAgewesen zu sein.

Wäre Der wunderbare Weg zwanzig Jahre früher erschie-nen, bezweifle ich, dass er auch nur eine Spur von Erfolg ge-habt hätte. Die Anonymen Alkoholiker haben ihre Arbeiterst Mitte der Fünfzigerjahre richtig aufgenommen (womitich nicht sagen will, dass meine Leser anfangs überwiegendAlkoholiker waren). Und mit der Psychotherapie war es imGrunde genauso. 1978 jedoch, als Der wunderbare Weg er-schien, hatten bereits viele Männer und Frauen in den Ver-einigten Staaten aus Interesse an Psychologie und Spiritua-lität begonnen, »all den Dingen, über die man nicht spricht«,auf den Grund zu gehen. Sie hatten wohl nur auf jemandengewartet, der diese Dinge öffentlich aussprach.

So kam es, dass die Bekanntheit des Buches nach dem zö-gernden Start schneeballartig zunahm, und diese Popularitäthat bis heute angehalten. In meinem beruflichen Leben habeich viele Vorträge gehalten, und noch am Ende meiner Kar-riere als Vortragsredner habe ich meinen Zuhörern oft ge-sagt: »Sie sind nicht der repräsentative Durchschnitt Ameri-kas. Aber Sie haben verblüffende Gemeinsamkeiten. ZumBeispiel dürfte sich eine beachtliche Zahl von Ihnen im Lau-fe des Lebens einer für Sie wichtigen Psychotherapie unter-zogen haben oder noch unterziehen, entweder nach demZwölf-Schritte-Programm oder bei einem Therapeuten mitschulmedizinischer Ausbildung. Sie werden mich wohl nichtfür zudringlich halten, wenn ich jetzt alle hier Versammel-

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ten, die sich schon einmal in Therapie befunden haben odernoch befinden, bitte, die Hand zu heben.«

Meist hoben 95 Prozent meiner Zuhörer die Hand. »Dannschauen Sie sich jetzt einmal um«, sagte ich.

»Das hat deutliche Auswirkungen«, pflegte ich fortzufah-ren. »Zum Beispiel die, dass Sie eine Gruppe darstellen, diedie traditionelle Kultur transzendiert.« Mit dem Transzen-dieren der traditionellen Kultur meinte ich unter anderem,dass sie längst über die Dinge nachzudenken begonnen hat-ten, über die man nicht spricht. Und sie stimmten meist demzu, was ich dann über das »Transzendieren der traditionellenKultur« und die außerordentliche Bedeutsamkeit diesesPhänomens ausführte.

Einige haben mich einen Propheten genannt. Einen sopompösen Titel lasse ich mir nur gefallen, weil inzwischenviele Leute darauf hingewiesen haben, dass ein Prophetnicht in die Zukunft schauen kann, sondern nur jemand ist,der die Zeichen der Zeit zu deuten versteht. Der wunderbareWeg hatte vor allem deshalb Erfolg, weil er zur richtigenZeit vorlag; seine Leser haben ihn zum Erfolg geführt.

Als das Buch vor 25 Jahren erschien, malte ich mir in mei-ner Naivität aus, dass überregionale Zeitungen im ganzenLand es besprechen würden. In Wirklichkeit hatte ich Glück,dass überhaupt eine Rezension erschien – aber was für eine!Denn einen Großteil seines Erfolges verdankt das Buch, wieich an dieser Stelle einmal erwähnen muss, dieser Rezen-sentin: Phyllis Theroux. Phyllis, selbst hervorragende Auto-rin, war damals auch als Literaturkritikerin tätig und fisch-te im Büro des Literaturredakteurs der Washington Postrein zufällig einen Vorabdruck des Wunderbaren Weges aus

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einem Bücherstapel. Nachdem sie das Inhaltsverzeichnisüberflogen hatte, nahm sie das Buch mit nach Hause, und beider Rückgabe zwei Tage später bat sie darum, es besprechenzu dürfen. Der Redakteur willigte widerstrebend ein, wo-raufhin Phyllis sich fest vornahm, »eine Rezension zu schrei-ben, die das Buch zum Bestseller machen würde«, so ihreeigenen Worte. Gesagt, getan. Eine Woche nach ihrer Be-sprechung stand Der wunderbare Weg bereits in Washing-ton, D. C., auf der Bestsellerliste, obwohl es noch Jahre dau-ern sollte, bis er auch landesweit ein Erfolg wurde. Aber vonder Rezension war genau der richtige Impuls für die Ver-breitung des Buches ausgegangen.

Dankbar bin ich Phyllis noch aus einem anderen Grund.Als das Buch immer bekannter wurde, sorgte sie dafür, dassich mit beiden Füßen auf dem Erdboden blieb, indem sie sag-te: »Du weißt ja, dass es nicht allein dein Buch ist.«

Mir war sofort klar, was sie meinte. Natürlich habenweder sie noch ich damit auch nur im Entferntesten andeu-ten wollen, Der wunderbare Weg sei von Gott diktiert odersonst wie »gechannelt« worden. Ich habe ihn geschrieben,und es gibt etliche Stellen im Buch, wo ich mir wünschte, ichhätte eine bessere Wortwahl getroffen oder bessere Sätzeformuliert. Es ist nicht vollkommen, und für seine Mängelbin ausschließlich ich verantwortlich. Aber ich hatte trotzder Mängel nie den geringsten Zweifel daran, dass mir –vielleicht, weil es dringend gebraucht wurde – beim Schrei-ben in der Einsamkeit meines voll gestopften kleinen BürosHilfe zuteil wurde. Ich kann diese Hilfe nicht richtig erklä-ren, aber es handelt sich wohl kaum um eine Erfahrung, dienur ich gemacht habe. Es ist diese Art von Hilfe, die letztlichder eigentliche Gegenstand des Buches ist.

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Vorwort

Wir leben im Zeitalter der »Trimm Dich«-Bewegung – wirjoggen, laufen, wandern, saunen – wir investieren viel Zeit,Geld und noch mehr Mühe, unseren Körper gesund, fit undleistungsfähig zu machen – all dies tun wir, obwohl es sicherist, dass dieser von uns mit so viel Mühe und Einsatz ge-pflegte und trainierte Körper ins Grab sinken und dem Fra-ße der Würmer überlassen werden wird. Mit diesem Hin-weis möchte ich niemandem den Spaß an seinem Körperverderben – er ist ein großartiges Hilfsmittel in diesemLeben –, doch ich möchte auf den Kontrast hinweisen zwi-schen dem, was wir in der Regel für den Körper tun, unddem, was wir für unser Bewusstsein investieren. Ist doch dasBewusstsein jene Instanz in uns, die mit ziemlicher Sicher-heit das Grab überdauert. Alles, was wir in unsere Bewusst-heit investieren, wird nicht von den Würmern aufgefres-sen…

Unser Bewusstsein macht uns zu »Menschen« – durchunseren Körper unterscheiden wir uns nicht von der Tier-welt. Mögen wir es schaffen, unseren Körper noch so gesundund leistungsfähig zu machen, und würden wir dadurchhundert oder zweihundert Jahre alt – wir wären dennochnicht mehr als ein »gesundes Tier«. Der Weg der Mensch-werdung ist ein Weg der Bewusstwerdung, ein Weg vomNatürlichen ins Übernatürliche, vom Physischen ins Meta-

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physische. Doch unsere Kultur hat sich wohl zu stark vonden Thesen und Erfolgen einer materialistisch orientiertenNaturwissenschaft beeindrucken lassen und so die spirituel-le Seite des Menschseins lange Zeit hindurch aus dem Augeverloren. Jede Einseitigkeit hat jedoch den Vorteil, dass sie inihrem Extrem ihren eigenen Gegenpol herausfordert – dasPendel kehrt seine Richtung um. Die Zeit einer solchen Um-kehr erleben wir gerade – an allen Orten erwachen Men-schen aus ihrem materiellen Schlaf und machen sich auf dieSuche nach Spiritualität, Weisheit, Philosophie, Metaphy-sik, Religion, Esoterik. Wir haben die Materie (das Körper-liche) bis zu ihrem kleinsten Teilchen erforscht und ana-lysiert, wir sind bis zu ihrer äußersten Grenze vorgesto-ßen, um jenseits dieser Grenze »das Andere« zu finden, dasNicht-Materielle. So stehen wir heute an einem neuen An-fang und haben kaum den ersten Schritt hinter uns, hineinins riesige Gebiet des Bewusstseins; wir beginnen, die Seelezu entdecken. Das Wort ent-decken besagt ja schon, dass eshierbei lediglich darum geht, die Decke wegzunehmen, diebisher unsere Sicht verhüllte. Und so ist das, was wir jetztfinden und in nächster Zeit noch finden werden, nicht neu –andere Zeiten und Kulturen haben sich schon seit jeher in-tensiv mit dem Bewusstsein beschäftigt –, doch wir konntensie lange Zeit nicht verstehen und begreifen, waren wir dochvon unseren Erkenntnissen über die Materie zu stark beein-druckt.

Neu ist deshalb die Entdeckung über die Seele und das Be-wusstsein nur für unsere Kultur und Epoche, die, was Spiri-tualität anbelangt, noch in den Kinderschuhen steckt. Dieseneue Entwicklung bringt es mit sich, dass auch immer mehrMenschen beginnen, ihre Seele zu entdecken, und bereit

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werden, diese zu schulen und zu entwickeln. Das Ziel solcherMühen heißt Selbsterkenntnis oder Bewusstwerdung. Hin-ter diesen Begriffen verbirgt sich viel mehr, als man allge-mein in ihnen vermutet. Selbsterkenntnis ist wohl die här-teste Arbeit, die man von einem Menschen verlangen kann.Diese Arbeit ist so schwierig, dass man sie alleine kaum voll-bringen kann. Deshalb gab es seit jeher dafür bestimmteSchulen oder Zentren (Mysterienstätten, hermetische Schu-len, Orden etc.) und Lehrer oder Meister, welche den Schü-ler bei dieser Arbeit anleiteten und unterstützten. In unse-rer Zeit übernimmt diese Funktion immer mehr die Psycho-therapie. Verstand man Psychotherapie ursprünglich eherals eine Behandlungsmethode für psychisch Kranke, so hatsich dieses Verständnis immer mehr gewandelt. Man weißheute, dass jeder Mensch psychisch »nicht in Ordnung« ist,dass er Probleme hat (seien sie ihm bewusst oder unbe-wusst), dass er »neurotisch« ist. Psychisch völlig gesund seinwäre gleichbedeutend mit »erleuchtet sein«. Bis zum Errei-chen dieses (sehr fernen) Zieles gibt es immer noch etwas,das uns unbewusst ist und daher darauf wartet, bewusst zuwerden. Leben heißt bewusst werden. Deshalb sage ich häu-fig meinen Schülern und Patienten, dass der einzige Grund,warum ein Mensch in diese Welt inkarniert wurde, der ist,Psychotherapie zu machen. Diese bewusst pointierte For-mulierung will lediglich sagen, dass die Aufgabe unseres Le-bens Bewusstwerdung ist, und die intensivste und wirkungs-vollste Methode, bewusst zu werden und sich selbst besserkennen zu lernen, heißt in unserer Zeit eben »Psychothera-pie«.

Das vorliegende Buch von Scott Peck ist – so glaube ich –sehr geeignet, diese – manchem vielleicht befremdlich klin-

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gende – Behauptung näher zu bringen und nachvollziehbarwerden zu lassen. Ich habe dieses Buch des amerikanischenPsychoanalytikers Peck mit sehr viel Spaß und Interesse ge-lesen (was bei Psychologiebüchern eher selten ist) und dabeifestgestellt, dass er in diesem Buch sehr konkrete Hilfen an-bietet, ohne in billige »Rezepte« abzugleiten. Dieses Buch istdas erste »Lebenshilfe-Buch«, das ich akzeptieren kann; esbietet echte Hilfe, ohne den tiefen Problemen dabei auszu-weichen. Im Gegensatz zu allen, die meinen, man könnedurch »positives Denken«, Affirmation oder andere Sugges-tionen sich auf Dauer über die Problematik des Lebens unddes Menschseins hinwegschwindeln, weiß Peck um die un-vermeidlichen Grundprobleme des Daseins, er spricht sie an,nennt sie beim Namen, beschönigt sie nicht und zeigt aberdennoch, dass man mit Mut und Verantwortung sich diesenProblemen stellen kann und als Lohn für diese harte Arbeitdie Früchte größerer Bewusstheit warten, denen man auchden Namen »echte Liebesfähigkeit« geben könnte.

Dieses Buch setzt dort an, wo jeder Mensch ansetzen mussund kann – aber es hört nicht dort auf, wo die meisten ande-ren Bücher aufhören.

Aus jeder Zeile dieses Buches spürt man, dass Peck eingroßartiger Psychotherapeut ist, der durch persönliche Of-fenheit und eigenesWachstum jede Enge dogmatischer Schul-richtungen und Ausbildungskonzepte überwunden hat; erging den Weg von der Psychoanalyse zur Spiritualität. Undso scheute er sich auch nicht, die Frage nach Gott und Reli-gion zum zentralen Thema der Psychotherapie zu machen.Er findet Gott im Unbewussten: ein Gedanke, der für diePsychoanalyse vielleicht revolutionär ist – für esoterischesDenken nicht neu klingt.

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Der esoterisch vorgebildete Leser sollte vielleicht beach-ten, dass Peck in seiner Terminologie die Begriffe Ich undSelbst synonym gebraucht – diese unterlassene Unterschei-dung verhindert dann auch im letzten Teil des Buches, dasProblem der Sünde bzw. des Guten und des Bösen im Sinneder spirituellen Tradition zu lösen. Doch solche Feinheitentun dem Wert des Buches keinen Abbruch, denn es wird sei-nem Anspruch, den wunderbaren Weg zu Liebe und spiri-tuellem Wachstum aufzuzeigen, in vollem Umfang gerecht.Ich bin überzeugt, dass jeder aufmerksame Leser von diesemBuch sehr viel profitieren wird. Mögen möglichst viele denwunderbaren Weg finden.

München, April 1986Thorwald Dethlefsen

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TEIL I

DISZIPLIN

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Probleme und Schmerz

Das Leben ist schwierig.Das ist eine große, ja, eine der größten Wahrheiten.1 Es ist

eine große Wahrheit, weil wir sie, wenn wir sie wirklich er-kennen, transzendieren. Sobald wir ernsthaft wissen, dassdas Leben schwierig ist – es wirklich verstehen und akzep-tieren –, ist es jedoch nicht länger schwierig. Sobald nämlicheinmal die Tatsache akzeptiert ist, dass das Leben schwierigist, ist dies gar nicht mehr so wichtig.

Die meisten Menschen sehen diese Wahrheit, dass dasLeben schwierig ist, nicht klar. Statt dessen klagen sie mehroder weniger unablässig, lauthals oder unterschwellig, überdas riesige Ausmaß ihrer Probleme, ihrer Bürden undSchwierigkeiten, als sei das Leben im Allgemeinen leicht, alssolle es leicht sein. Laut oder leise geben sie ihrer Überzeu-gung Ausdruck, ihre Schwierigkeiten seien eine einzigartigeHeimsuchung, die nicht sein dürfe und die auf irgendeineWeise speziell ihnen oder ihrer Familie, ihrem Stamm, ihrerKlasse, ihrer Nation, ihrer Rasse oder sogar ihrer Spezies zu-gefügt wurde, anderen dagegen nicht. Ich kenne mich mitdiesen Klagen aus, weil auch ich meinen Teil dazu beigetra-gen habe.

Das Leben ist eine Serie von Problemen. Wollen wir da-rüber klagen oder sie lösen? Wollen wir unseren Kindernbeibringen, sie zu lösen?

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Disziplin gehört zu den Grundwerkzeugen, die wir brau-chen, um die Probleme des Lebens zu lösen. Ohne Disziplinkönnen wir nichts ausrichten. Mit nur etwas Disziplin kön-nen wir nur einige Probleme lösen. Mit totaler Disziplinkönnen wir alle Probleme lösen.

Was das Leben schwierig macht, ist, dass der Prozess, sichProblemen zu stellen und sie zu lösen, schmerzhaft ist. Prob-leme erwecken in uns, je nach ihrer Natur, Frustration oderKummer oder Trauer oder Schuldgefühle oder Reue oderZorn oder Angst oder Furcht oder Qual oder Verzweiflung.Diese Gefühle sind unangenehm, sehr unangenehm, undtun oft so weh wie physischer Schmerz, manchmal wieschlimmster physischer Schmerz. Eben wegen des Schmer-zes, den Ereignisse oder Konflikte in uns auslösen, nennenwir sie Probleme. Und da das Leben eine endlose Reihe vonProblemen stellt, ist das Leben immer schwierig und ebensovoller Schmerzen wie voller Freuden.

Aus diesem gesamten Prozess jedoch, Problemen zu be-gegnen und sie zu lösen, gewinnt das Leben seinen Sinn.Probleme sind die Scheidewand, die zwischen Erfolg undMisserfolg unterscheidet. Probleme rufen unseren Mut undunsere Weisheit auf den Plan; tatsächlich schaffen sie unse-ren Mut und unsere Weisheit. Nur durch Probleme wachsenwir. Wenn wir das Wachstum des menschlichen Geistes för-dern wollen, so fordern wir die menschliche Fähigkeit zumProblemlösen heraus und fördern sie, genauso, wie wirunseren Kindern in der Schule bewusst Probleme zu lösengeben. Durch den Schmerz, Problemen zu begegnen und siezu lösen, lernen wir. »Die Dinge, die wehtun, lehren uns et-was«, sagte Benjamin Franklin. Aus diesem Grunde lernenweise Menschen, Probleme nicht zu fürchten, sondern will-

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kommen zu heißen, gerade den mit Problemen verbundenenSchmerz zu begrüßen.

Die meisten von uns sind nicht so weise. Da wir den damitverbundenen Schmerz fürchten, versuchen wir fast alle ingrößerem oder geringerem Maße, Problemen auszuwei-chen. Wir zaudern und hoffen, sie würden von allein verge-hen. Wir ignorieren sie, vergessen sie, tun so, als existiertensie nicht. Wir nehmen sogar Drogen, damit wir sie besserignorieren können, damit wir uns gegen den Schmerz ab-stumpfen und so die Probleme vergessen können, die denSchmerz verursachen. Wir versuchen, Probleme zu umge-hen, statt sie rundheraus in Angriff zu nehmen. Wir versu-chen, aus ihnen herauszukommen, statt sie zu durchleiden.

Diese Neigung, Problemen und den ihnen innewohnen-den gefühlsmäßigen Leiden auszuweichen, ist die Haupt-grundlage aller menschlichen seelischen Krankheiten. Dadie meisten von uns in größerem oder geringerem Maßediese Neigung haben, sind die meisten von uns in größeremoder geringerem Maße seelisch krank. Einige von unsmachen außerordentliche Umwege, um Problemen und demdamit verbundenen Leid auszuweichen, sie entfernen sichweit von dem, was eindeutig gut und vernünftig ist, nur des-halb, um einen leichten Ausweg zu finden. Sie bauen sich dieraffiniertesten Phantasien auf, um darin zu leben, manchmalunter völligem Ausschluss der Realität. Die Neurose ist im-mer ein Ersatz für legitimes Leiden, schrieb C. G. Jung ein-mal.

Doch der Ersatz selbst wird am Ende schmerzhafter als daslegitime Leid, das er vermeiden sollte. Die Neurose selbstwird zum größten Problem. Viele versuchen dann, auch die-sem Schmerz und diesem Problem wieder auszuweichen,

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bauen Schicht um Schicht die Neurose auf. Einige besitzenjedoch glücklicherweise den Mut, sich ihren Neurosen zustellen, und fangen – gewöhnlich mit Hilfe der Psychothe-rapie – an zu lernen, wie man echtes Leiden erlebt. In jedemFalle weichen wir, wenn wir das echte Leiden vermeiden, dasaus dem Umgang mit Problemen folgt, auch dem Wachstumaus, das Probleme von uns fordern. Aus diesem Grundehören wir bei chronischer seelischer Krankheit auf zu wach-sen, wir bleiben stecken. Aber ohne Heilung beginnt dermenschliche Geist zu schrumpfen.

Darum wollen wir uns und unsere Kinder mit den Mittelnversehen, mit denen man spirituelles Wachstum erreicht.Damit meine ich, wir selbst und unsere Kinder sollten ler-nen, dass Leiden notwendig und wertvoll ist, dass man sichProblemen direkt stellen und den damit verbundenenSchmerz durchleben muss. Ich habe gesagt, Disziplin seieines der Grundwerkzeuge, die wir brauchen, um die Prob-leme des Lebens zu lösen. Es wird sich zeigen, dass dieseWerkzeuge Techniken des Leidens sind, Mittel, durch die wirden Schmerz von Problemen so erleben, dass wir sie durch-arbeiten und erfolgreich lösen können und dabei lernen undwachsen. Wenn wir uns selbst und unseren Kindern Diszi-plin beibringen, dann zeigen wir ihnen und uns, wie man lei-det, und auch, wie man wächst.

Was nun sind diese Werkzeuge, diese Techniken des Lei-dens, diese Mittel, den Schmerz von Problemen konstruktivzu erleben, die ich Disziplin nenne? Es sind vier: Aufschubvon Belohnungen, Akzeptieren von Verantwortung, Hinga-be an die Wahrheit und Ausgewogenheit. Es liegt auf derHand, dass dies keine komplizierten Werkzeuge sind, derenAnwendung ausgedehnte Übung erfordert. Im Gegenteil, es

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Page 26: M. SCOTT PECK Der wunderbare Weg - bilder.buecher.de · die Devise des Psychotherapeuten M. Scott Peck. Erst wenn wir daran gehen, die Probleme, mit Erst wenn wir daran gehen, die

sind einfache Werkzeuge, und fast alle Kinder sind im Altervon zehn Jahren zu ihrem Gebrauch fähig. Dennoch verges-sen selbst Präsidenten und Könige oft, sie anzuwenden – zuihrem eigenen Unglück. Das Problem liegt nicht in der Viel-schichtigkeit dieser Werkzeuge, sondern in dem Willen, siezu benutzen. Denn es sind Werkzeuge, mit denen man sichdem Schmerz stellt, statt ihm auszuweichen, und wenn manechtes Leiden vermeiden will, dann wird man auch den Ge-brauch dieser Werkzeuge vermeiden. Wenn wir daher jedesdieser Werkzeuge analysiert haben, werden wir im nächstenTeil den Willen untersuchen, sie zu gebrauchen; dieser Wil-le ist die Liebe.

Aufschub von Belohnungen

Vor einiger Zeit kam eine dreißigjährige Finanzanalytikerinzu mir; monatelang klagte sie über ihre Tendenz, bei ihrerArbeit zu zaudern und herumzutrödeln.Wir hatten ihre Ge-fühle gegenüber ihren Arbeitgebern durchgearbeitet undauch ihre Gefühle gegenüber Autorität im Allgemeinen undgegenüber ihren Eltern im Besonderen. Wir hatten ihre Ein-stellung zu Arbeit und Erfolg untersucht und wie diese sichauf ihre Ehe, ihre sexuelle Identität und ihren Wunsch aus-wirkten, mit ihrem Mann zu konkurrieren, und auch aufihre Ängste vor diesem Wettbewerb. Doch trotz all diesermühsamen psychoanalytischen Routinearbeit fuhr sie fort,bei der Arbeit zu trödeln wie immer. Eines Tages schließlichwagten wir es, dem Offenkundigen ins Gesicht zu sehen.»Mögen Sie Kuchen?« fragte ich sie. Sie bejahte. »WelchenTeil des Kuchens mögen Sie lieber«, fuhr ich fort, »den Ku-

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chen selbst oder die Glasur?« »Oh, die Glasur«, antwortetesie begeistert. »Und wie essen Sie ein Stück Kuchen?« frag-te ich und kam mir dabei wie der banalste Psychoanalytikervor, der je gelebt hat. »Natürlich esse ich die Glasur zuerst«,gab sie zur Antwort.

Von ihren Gewohnheiten beim Kuchenessen kamen wirzur Untersuchung ihrer Arbeitsgewohnheiten, und wie zuerwarten, entdeckten wir, dass sie an jedem beliebigen Ar-beitstag die erste Stunde dem interessanteren Teil ihrerArbeit widmete und die restlichen sechs Stunden damit zu-brachte, sich um den weniger interessanten Rest zu drücken.Ich schlug ihr vor, sie solle sich zwingen, den unangenehmenTeil ihrer Arbeit in der ersten Stunde zu erledigen, damit siedann die Freiheit habe, in den restlichen sechs Stunden dieinteressanten Dinge zu tun. Mir scheine, sagte ich, eineStunde Schmerz, gefolgt von sechs angenehmen Stunden,sei besser als eine angenehme Stunde, gefolgt von sechs un-angenehmen. Sie stimmte mir zu, und da sie im Grunde einMensch mit starkem Willen ist, trödelt sie nicht mehr he-rum.

Der Aufschub von Belohnungen besteht darin, Schmerzund Vergnügen im Leben so einzuteilen, dass das Vergnügengrößer ist, wenn man dem Schmerz zuerst begegnet, ihn er-lebt und hinter sich bringt. Das ist die einzig anständige Artzu leben.

Dieses Werkzeug oder dieser Prozess des Aufschiebens er-werben bzw. erlernen die meisten Kinder recht früh im Le-ben, manchmal schon mit fünf Jahren. So kann etwa einfünfjähriges Kind, das mit einem Gefährten ein Spiel spielt,diesem vorschlagen, den Anfang zu machen, damit es selbstsich darauf freuen kann, später an die Reihe zu kommen. Im

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Alter von sechs Jahren kann ein Kind anfangen, zuerst denKuchen zu essen und zuletzt die Glasur. Während der gan-zen Grundschulzeit wird diese Fähigkeit, Belohnungen auf-zuschieben, täglich geübt, vor allem durch die Erledigungvon Hausaufgaben. Im Alter von zwölf Jahren sind einigeKinder bereits in der Lage, sich gelegentlich ohne elterlicheAufforderung hinzusetzen und ihre Hausaufgaben zu erle-digen, ehe sie fernsehen. Im Alter von fünfzehn oder sech-zehn Jahren wird dieses Verhalten vom Jugendlichen erwar-tet und als normal betrachtet.

In diesem Alter merken jedoch zahlreiche Erzieher, dasseine beträchtliche Anzahl von Jugendlichen die Norm nichterfüllt. Bei vielen scheint die Fähigkeit, Belohnungen aufzu-schieben, gut entwickelt zu sein, manche Fünfzehn- oderSechzehnjährige aber haben sie nur wenig oder überhauptnicht ausgebildet. Das sind die Problemschüler. Trotz durch-schnittlicher oder guter Intelligenz sind ihre Noten schlecht,und zwar einfach, weil sie nicht arbeiten. Sie schwänzenStunden oder die Schule, wie es ihnen gerade einfällt. Sie sindimpulsiv, und diese Impulsivität wirkt sich auch auf ihr sozi-ales Leben aus. Sie geraten häufig in Streitereien, kommenmit Drogen in Berührung und fangen an, mit der PolizeiSchwierigkeiten zu haben. Ihr Motto ist: Spiele jetzt, zahlespäter. Also werden die Psychologen und Psychotherapeutenauf den Plan gerufen. Meist aber ist es wohl zu spät. Diese Ju-gendlichen lehnen jeden Versuch ab, in ihren impulsiven Le-bensstil einzugreifen, und selbst wenn die Ablehnung durchdie Warmherzigkeit, Freundlichkeit und nicht richtende Hal-tung des Therapeuten überwunden werden kann, ist die Im-pulsivität dieser jungen Menschen oft so stark, dass sie jedesinnvolle Teilnahme am Prozess der Psychotherapie aus-

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schließt. Sie kommen nicht zu den vereinbarten Stunden. Sievermeiden alle wichtigen und schmerzhaften Themen. Soschlägt der Versuch eines Eingreifens gewöhnlich fehl, unddiese Kinder brechen ihre Schulausbildung ab und setzen einMuster von Misserfolgen fort, das häufig zu verhängnisvol-len Ehen, zu Unfällen, in psychiatrische Kliniken oder insGefängnis führt.

Warum ist das so? Warum entwickelt die Mehrheit dieFähigkeit, Belohnungen aufzuschieben, während es einerbeträchtlichen Minderheit kaum oder gar nicht gelingt, die-se Fähigkeit auszubilden? Die Antwort ist nicht absolut undwissenschaftlich belegt. Die Rolle genetischer Faktoren istunklar. Die Variablen sind für einen wissenschaftlichen Be-weis nicht ausreichend kontrollierbar. Die meisten Anzei-chen jedoch weisen ziemlich deutlich auf die Qualität der el-terlichen Betreuung als bestimmenden Faktor hin.

Die Sünden der Väter

Es ist keineswegs so, dass es zu Hause bei diesen Kindernohne Selbstdisziplin nicht eine gewisse Art von elterlicherDisziplin gäbe. Meist sind sie während ihrer Kindheit sogarhäufig und streng bestraft worden – von ihren Eltern ge-ohrfeigt, geschlagen, getreten und geprügelt, oft für gering-fügige Vergehen. Doch diese Disziplin ist bedeutungslos,weil es sich um eine undisziplinierte Disziplin handelt.

Ein Grund für ihre Bedeutungslosigkeit liegt darin, dassauch die Eltern keine Selbstdisziplin besitzen und daher un-disziplinierte Rollenmodelle für ihre Kinder abgeben. Mankönnte die Erziehungsmethoden solcher Eltern mit dem

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Motto charakterisieren: »Du sollst tun, was ich sage, nicht,was ich tue.« Vielleicht betrinken sie sich oft in Gegenwartihrer Kinder. Vielleicht streiten sie sich in Gegenwart ihrerKinder ohne Hemmungen, Würde oder Vernunft. Vielleichtsind sie schlampig. Sie machen Versprechungen, die sie nichthalten. Häufig ist ihr eigenes Leben offenkundig in Unord-nung, und daher ergeben ihre Versuche, das Leben ihrerKinder zu ordnen, für diese Kinder wenig Sinn. Wenn derVater die Mutter regelmäßig schlägt, welchen Sinn hat esdann, wenn die Mutter den Sohn schlägt, weil dieser seineSchwester verprügelt hat? Ist es überzeugend, ihm zu sagen,er müsse lernen, seine Wut zu beherrschen? Da wir, wennwir klein sind, keine Vergleichsmöglichkeiten haben, sindunsere Eltern in unseren kindlichen Augen gottähnlicheWesen. Wenn Eltern Dinge auf eine bestimmte Weise tun,so erscheint dies den Kindern als die richtige Art, sie zu tun,ja als die Art, auf die die Dinge getan werden sollten.

Wenn ein Kind tagaus, tagein sieht, wie seine Eltern sichmit Selbstdisziplin, Zurückhaltung, Würde und der Fähig-keit verhalten, ihr eigenes Leben zu ordnen, dann wird dasKind in den tiefsten Fasern seines Seins spüren, dass diesdie Art ist, wie man leben sollte. Wenn ein Kind seine Elternaber tagein, tagaus ohne Selbstbeherrschung und Selbstdis-ziplin handeln sieht, dann wird es in den tiefsten Fasern sei-nes Seins meinen, dies sei die normale Art zu leben.

Noch wichtiger aber als Rollenmodelle ist die Liebe. Selbstin einem ungeordneten, chaotischen Zuhause ist gelegent-lich echte Liebe vorhanden, und aus einem solchen Heimkann ein Kind mit Selbstdisziplin hervorgehen. Und nichtselten entlassen recht gut gestellte Eltern – Ärzte, Rechtsan-wälte, Frauen mit regem gesellschaftlichem Leben und Phil-

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anthropen –, die ein überaus geordnetes Leben führen undsehr auf Würde halten, denen es aber an Liebe fehlt, Kinderin die Welt, die ebenso undiszipliniert, destruktiv und unor-ganisiert sind wie nur irgendein Kind aus einem verarmten,chaotischen Zuhause.

Im Grunde ist die Liebe alles. Das Geheimnis der Liebewird in einem späteren Abschnitt dieser Arbeit untersuchtwerden. Doch vielleicht ist es hilfreich, an dieser Stelle kurzdie Liebe und ihre Beziehung zur Disziplin zu erwähnen.

Wenn wir etwas lieben, ist es wertvoll für uns, und wennetwas wertvoll für uns ist, so verbringen wir Zeit damit, umuns daran zu freuen und uns darum zu kümmern. Man be-obachte einmal einen Teenager, der sein Auto liebt, und be-achte, wie viel Zeit er damit zubringt, dieses Auto zu be-wundern, zu polieren, zu reparieren und zu »frisieren«.Oder man sehe sich einen älteren Menschen an, der einenRosengarten liebt, wie oft er seine Rosen beschneidet, düngt,pflegt und studiert. So ist es auch, wenn wir Kinder lieben;wir verbringen Zeit damit, sie zu bewundern und uns um siezu kümmern. Wir geben ihnen unsere Zeit.

Gute Disziplin erfordert Zeit. Wenn wir unseren Kindernkeine Zeit geben können oder wollen, beobachten wir sienicht aufmerksam genug, um zu merken, wann sie unsererdisziplinarischen Unterstützung bedürfen. Wenn ihr Diszi-plinbedarf so deutlich erkennbar geworden ist, dass er sichunserem Bewusstsein aufdrängt, übersehen wir ihn viel-leicht dennoch, weil es einfacher ist, den Kindern ihrenWillen zu lassen – »ich habe heute einfach nicht die Energie,mich mit ihnen auseinander zu setzen«. Und wenn wir dannam Ende durch ihre Missetaten und unseren Ärger zumHandeln gezwungen sind, setzen wir oft brutal Disziplin

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durch, aber nicht aus Überlegung, sondern aus dem Zorn he-raus und ohne das Problem zu untersuchen oder auch nurzu überlegen, welche Form von Disziplin für das gegebeneProblem am besten angebracht ist.

Eltern, die sich für ihre Kinder auch dann Zeit nehmen,wenn dies nicht durch schreiendes Fehlverhalten erforder-lich ist, werden an ihnen subtile Disziplinbedürfnisse wahr-nehmen und darauf mit sanftem Druck oder Verweis oderStruktur oder Lob antworten, und dies jeweils mit Überle-gung und Sorgfalt. Sie werden beobachten, wie ihre KinderKuchen essen, wie sie lernen, wann sie kleine Lügen erzäh-len, wann sie vor Problemen davonlaufen, statt sich ihnen zustellen. Sie werden sich die Zeit nehmen, geringfügige Ver-besserungen und Anpassungen vorzunehmen, ihren Kin-dern zuhören, ihnen antworten, hier die Zügel ein wenig an-ziehen, sie dort ein wenig lockerer lassen, ihren Kindern ge-wisse Belehrungen geben und kleine Geschichten erzählen,sie in den Arm nehmen und küssen, ihnen einen kleinenVerweis erteilen, ihnen auf die Schulter klopfen.

Die Disziplin, die liebevolle Eltern ihren Kindern mitge-ben, ist also von höherer Qualität als die Disziplin liebloserEltern. Doch das ist erst der Anfang. Wenn sie sich die Zeitnehmen, die Bedürfnisse ihrer Kinder zu beobachten unddarüber nachzudenken, grübeln liebevolle Eltern häufig lan-ge über die anstehenden Entscheidungen nach und leiden soim wahrsten Sinne des Wortes mit ihren Kindern mit. Dafürsind Kinder nicht blind. Sie merken es, wenn ihre Eltern be-reit sind, mit ihnen zu leiden, und wenn sie auch vielleichtnicht mit unmittelbarer Dankbarkeit reagieren, so lernen siedoch, selbst etwas auszuhalten. »Wenn meine Eltern bereitsind, mit mir zu leiden«, so sagen sie sich, »dann kann das ja

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nicht so schlimm sein, und ich sollte bereit sein, auch selbstetwas auf mich zu nehmen.« Dies ist der Beginn der Selbst-disziplin.

Die Zeit und die Qualität der Zeit, die ihre Eltern ihnenwidmen, zeigen Kindern, in welchem Grade sie von ihren El-tern geschätzt werden. Einige Eltern, die im Grunde lieblossind, versuchen, ihre mangelnde Fürsorge dadurch zu be-mänteln, dass sie ihren Kindern häufig ihre Liebe erklären,ihnen wiederholt und mechanisch sagen, wie sehr sie sieschätzen, ihnen aber so gut wie keine wertvolle Zeit wid-men. Die Kinder solcher Eltern lassen sich von derartigenhohlen Worten nie ganz täuschen. Bewusst mögen sie anihnen hängen und sich wünschen, an das Geliebtwerden zuglauben, doch unbewusst wissen sie, dass die Taten ihrer El-tern nicht mit ihren Worten übereinstimmen.

Kinder dagegen, die wirklich geliebt werden, mögen zwarin Augenblicken des Grolls bewusst meinen oder verkün-den, sie würden vernachlässigt, wissen aber unbewusst ge-nau, dass sie geschätzt werden. Dieses Wissen ist wertvollerals Gold. Denn wenn Kinder wissen, dass sie geschätzt wer-den, wenn sie sich in ihrem tiefsten Inneren wahrhaft ge-schätzt fühlen, dann fühlen sie sich wertvoll.

Dieses Selbstwertgefühl – »ich bin ein wertvoller Mensch«– ist wesentlich für die seelische Gesundheit und ein Grund-baustein der Selbstdisziplin. Es ist ein direktes Produkt el-terlicher Liebe. Eine solche Überzeugung muss in der Kind-heit gewonnen werden; sie im erwachsenen Leben zu erwer-ben ist extrem schwierig. Wenn Kinder dagegen durch dieLiebe ihrer Eltern gelernt haben, sich wertvoll zu fühlen,dann ist es für die Wechselfälle des erwachsenen Lebens fastunmöglich, dieses Gefühl wieder zu zerstören.

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Das Gefühl, wertvoll zu sein, ist deshalb ein Grundbau-stein der Selbstdisziplin, weil man, wenn man sich selbst alswertvoll betrachtet, auch sorgfältig mit sich selbst umgeht.Selbstdisziplin ist sorgfältiger Umgang mit der eigenen Per-son. Nehmen wir zum Beispiel – da wir vom Prozess des Be-lohnungsaufschubs sprechen, der Einteilung und Ordnungder Zeit – die Frage der Zeit. Wenn wir uns selbst wertvollfühlen, dann halten wir auch unsere Zeit für wertvoll, undwenn unsere Zeit wertvoll ist, dann wollen wir sie gut nut-zen. Die Finanzanalytikerin, die herumtrödelte, schätzteihre Zeit nicht. Härte sie sie nämlich geschätzt, so hätte siesich nicht gestattet, den größten Teil ihres Tages so unglück-lich und unproduktiv zuzubringen. Es blieb nicht ohne Fol-gen für sie, dass sie während ihrer ganzen Kindheit in jedenSchulferien zu Pflegeeltern aufs Land geschickt worden war,obwohl ihre Eltern sich ohne weiteres selbst um sie hättenkümmern können, wenn sie dies nur gewollt hätten. Sieschätzten sie nicht. Sie hatten nicht den Wunsch, für sie zusorgen. Deshalb hatte sie auch nicht das Gefühl, sie sei eswert, sich selbst zu disziplinieren.Trotz der Tatsache, dass sieeine intelligente und tüchtige Frau war, benötigte sie in Be-zug auf die Selbstdisziplin die elementarsten Anweisungen,weil ihr eine realistische Einschätzung ihres eigenen Wertesund des Wertes ihrer eigenen Zeit fehlte. Erst als sie fähiggeworden war, ihre Zeit als wertvoll wahrzunehmen, ergabsich daraus die natürliche Folge, dass sie ihre Zeit organisie-ren, schützen und bestmöglich nutzen wollte. Als Folge derErfahrung beständiger elterlicher Liebe und Fürsorge wäh-rend der Kindheit treten solche glücklichen Kinder nicht nurmit einem tiefen inneren Gefühl ihres eigenen Wertes in daserwachsene Leben ein, sondern auch mit einem tiefen inne-

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ren Sicherheitsgefühl. Alle Kinder haben schreckliche Angstvor dem Verlassenwerden, und zwar aus gutem Grund. Die-se Angst vor dem Verlassenwerden beginnt ungefähr imAlter von sechs Monaten, sobald das Kind sich selbst als einvon seinen Eltern getrenntes Individuum wahrnehmenkann. Denn mit dieser Wahrnehmung, ein getrenntes Indi-viduum zu sein, kommt die Erkenntnis, dass es als Individu-um ganz hilflos ist, völlig abhängig und seinen Eltern aus-geliefert in Bezug auf seine Erhaltung und sein Überleben.Für das Kind ist Verlassenwerden durch die Eltern gleich-bedeutend mit Tod. Die meisten Eltern, auch wenn sie sonstrelativ unwissend oder dickhäutig sind, spüren instinktiv dieAngst ihrer Kinder vor dem Verlassenwerden und geben ih-nen daher tagein, tagaus, Hunderte oder Tausende von Malen,immer wieder die benötigte Versicherung: »Du weißt, dassMami und Papi dich nicht im Stich lassen«; »Natürlich kom-men Mami und Papi zurück, um dich abzuholen«; »Mamiund Papi werden dich nicht vergessen«. Wenn solche Wortedurch Taten bestätigt werden, Monat für Monat und Jahr fürJahr, dann hat das Kind im Adoleszenzalter die Angst vordem Verlassenwerden verloren und das tiefe innere Gefühlgewonnen, die Welt sei ein sicherer Ort zum Leben, undSchutz werde da sein, wenn er gebraucht wird. Mit dieseminneren Gefühl der beständigen Sicherheit der Welt ist einKind frei, Belohnungen dieser oder jener Art aufzuschieben,weil es sicher weiß, dass die Gelegenheit zur Belohnung wiedas Heim und die Eltern immer da ist, verfügbar, wenn siegebraucht wird.

Viele Kinder aber sind nicht so glücklich. Eine beträcht-liche Zahl wird in der Kindheit tatsächlich von den Elternverlassen, durch Tod, durch Fortgehen, durch schiere Ver-

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nachlässigung oder, wie im Falle der Finanzanalytikerin,durch schlichten Mangel an Fürsorge. Andere Kinder wer-den zwar nicht tatsächlich verlassen, bekommen aber vonihren Eltern nicht die Versicherung, sie würden nicht ver-lassen. Es gibt beispielsweise Eltern, die Disziplin möglichstschnell und leicht erzwingen wollen und zu diesem Zweckoffen oder verdeckt damit drohen, das Kind zu verlassen.Solche Kinder erhalten die Botschaft: »Wenn du nicht genaudas tust, was ich von dir will, dann werde ich dich nicht mehrlieb haben, und was das bedeuten könnte, kannst du dirselbst ausrechnen.« Es bedeutet natürlich Verlassenheit undTod. Solche Eltern opfern ihrem Bedürfnis nach Kontrolleund Beherrschung ihrer Kinder die Liebe auf. Belohnt wer-den sie mit Kindern, die übertriebene Angst vor der Zukunfthaben. Solche Kinder, die psychisch oder tatsächlich verlas-sen wurden, treten in das Erwachsenenalter ein ohne das tie-fe Gefühl, die Welt sei ein sicherer und schützender Platz. ImGegenteil, sie nehmen die Welt als gefährlich und Furchterregend wahr, und sie mögen keine Belohnung oder Sicher-heit in der Gegenwart gegen das Versprechen größerer Be-lohnung oder Sicherheit in der Zukunft eintauschen, weildie Zukunft für sie in der Tat eine sehr unsichere Sache ist.

Zusammengefasst: Damit Kinder die Fähigkeit entwickelnkönnen, Belohnungen aufzuschieben, brauchen sie selbst-disziplinierte Rollenmodelle, ein Selbstwertgefühl und eingewisses Vertrauen in die Sicherheit ihrer Existenz. Diese»Besitztümer« werden im Idealfall durch die Selbstdisziplinund beständige, echte Fürsorge ihrer Eltern erworben; essind die kostbarsten Gaben, die Mütter und Väter ihren Kin-dern schenken können. Wenn man diese Gaben nicht vonden eigenen Eltern bekommt, kann man sie auch aus ande-

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Page 37: M. SCOTT PECK Der wunderbare Weg - bilder.buecher.de · die Devise des Psychotherapeuten M. Scott Peck. Erst wenn wir daran gehen, die Probleme, mit Erst wenn wir daran gehen, die

ren Quellen erwerben, doch in diesem Falle ist der Vorgangihres Erwerbs immer ein anstrengender Kampf, oft von le-benslanger Dauer und oft ohne Erfolg.

Problemlösen und Zeit

Wir haben einige der Formen betrachtet, bei denen die el-terliche Liebe oder deren Fehlen die Entwicklung zur Selbst-disziplin im Allgemeinen und der Fähigkeit zum Beloh-nungsaufschub im Besonderen beeinflusst; nun wollen wireinige der subtileren, aber zerstörerischen Formen untersu-chen, bei denen sich die Schwierigkeiten mit dem Aufschubvon Belohnungen auf das Leben der Erwachsenen auswir-ken. Die meisten von uns entwickeln zwar glücklicherweisegenug Fähigkeit zum Belohnungsaufschub, um die Schuleoder die Universität zu durchlaufen und das Erwachsenenal-ter zu erreichen, ohne im Gefängnis zu landen, aber unsereEntwicklung ist dennoch oft unvollkommen und unvoll-ständig, und so ist auch unsere Fähigkeit, die Probleme desLebens zu lösen, unvollkommen und unvollständig.

Im Alter von siebenunddreißig Jahren lernte ich, Dinge zureparieren. Vorher hatten fast alle meine Versuche, kleinereInstallationsreparaturen durchzuführen, Spielsachen zu fli-cken oder Selbstbaumöbel nach den Anleitungen auf dembeigefügten hieroglyphischen Bauschema zusammenzuset-zen, in Verwirrung, Misserfolg und Frustration geendet. Ichhatte es zwar geschafft, ein Medizinstudium zu absolvierenund als mehr oder weniger erfolgreicher Arzt und Psychia-ter eine Familie zu erhalten, doch ich betrachtete mich alsmechanischen Idioten. Ich war überzeugt, mir fehle irgend-

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ein Gen, oder die Natur habe mir irgendeine geheimnisvol-le Fähigkeit vorenthalten, die für mechanische Geschicklich-keit erforderlich ist. Eines Tages gegen Ende meines sieben-unddreißigsten Lebensjahres traf ich bei einem Sonntags-spaziergang zufällig einen Nachbarn dabei an, wie er einenRasenmäher reparierte. Nachdem ich ihn begrüßt hatte, be-merkte ich: »Ich bewundere Sie wirklich. Zu solchen Sachenwar ich nie im Stande.« Mein Nachbar gab, ohne einenAugenblick zu zögern, zurück: »Weil Sie sich nicht die Zeitdazu nehmen.« Ich ging weiter, irgendwie beunruhigt durchdie guruähnliche Einfachheit, Spontaneität und Entschie-denheit seiner Antwort. »Könnte er nicht vielleicht rechthaben?« fragte ich mich. Irgendwie registrierte ich den Vor-fall, und als sich das nächste Mal die Gelegenheit zu einerkleineren Reparatur ergab, konnte ich mich an den Vorsatzerinnern, mir Zeit zu nehmen. Die Handbremse am Autoeiner Patientin klemmte, und sie wusste, dass man unterdem Armaturenbrett irgendetwas machen konnte, um siewieder freizukriegen, aber sie wusste nicht, was. Ich legtemich in ihrem Wagen vor den Vordersitzen auf den Boden.Dann nahm ich mir die Zeit, mich bequem hinzulegen. Alsich bequem lag, nahm ich mir die Zeit, die Situation anzu-schauen. Ich schaute einige Minuten lang. Zuerst erkannteich nur ein verwirrendes Durcheinander von Drähten undRöhren und Stangen, deren Bedeutung ich nicht kannte.All-mählich aber, ganz langsam, konnte ich den Bremsapparatausmachen und seinen Verlauf verfolgen. Dann wurde mirklar, dass es da einen kleinen Schnapper gab, der verhinder-te, dass sich die Bremse löste. Ich besah mir den Schnapperin aller Ruhe, bis ich erkannte, dass er sich leicht bewegenund die Bremse lösen würde, wenn ich ihn mit der Finger-

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spitze nach oben drückte. Also tat ich das. Eine einzige Be-wegung, ein ganz leichter Druck mit der Fingerspitze, unddas Problem war gelöst. Ich war ein Meister der Mechanik!

Tatsächlich verfüge ich nicht über das Wissen, das manbraucht, um die meisten mechanischen Dinge zu reparieren,und ich habe auch nicht die Zeit, dieses Wissen zu erwerben,da ich mich dafür entschieden habe, meine Zeit Dingen zuwidmen, die nichts mit Mechanik zu tun haben. Also geheich gewöhnlich noch immer in die nächste Reparaturwerk-statt. Aber ich weiß jetzt, dass das eine Wahl ist, die ich tref-fe, und dass ich weder verflucht noch genetisch defekt nochanderweitig minderbemittelt bin. Und ich weiß, dass ich undjeder andere Mensch, der nicht geistig behindert ist, jedesProblem lösen kann, wenn wir nur bereit sind, uns die Zeitdazu zu nehmen.

Dieser Punkt ist wichtig, weil viele Menschen sich einfachnicht die notwendige Zeit nehmen, um viele der intellek-tuellen, sozialen oder spirituellen Probleme des Lebens zulösen, so wie ich mir nicht die Zeit genommen habe, mecha-nische Probleme zu lösen. Vor meiner mechanischen »Er-leuchtung« hätte ich meinen Kopf ungeschickt unter das Ar-maturenbrett im Wagen meiner Patientin gesteckt, sofort anein paar Drähten gezogen, ohne auch nur die nebelhaftesteAhnung von dem zu haben, was ich da tat, und wenn nichtsKonstruktives dabei herausgekommen wäre, hätte ich dieHände gehoben und erklärt: »Das ist zu kompliziert fürmich.« Und genauso gehen viele von uns an andere Prob-leme des Alltagslebens heran. Die oben erwähnte Finanzana-lytikerin war ihren beiden kleinen Kindern eine im Grundeliebevolle und hingebende, aber ziemlich hilflose Mutter. Siewar aufmerksam und teilnehmend genug, um zu merken,

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wann ihre Kinder irgendein gefühlsmäßiges Problem hattenoder wann etwas mit ihrer Erziehung nicht klappte. Dochdann verhielt sie sich stets auf eine von zwei Arten: Entwe-der nahm sie die erstbeste Veränderung vor, die ihr binnenSekunden in den Sinn kam – den Kindern ein reichhaltige-res Frühstück zu geben oder sie früher zu Bett zu schicken –,ganz gleich, ob eine solche Veränderung irgendetwas mitdem Problem zu tun hatte, oder aber sie kam damit zu ih-rer nächsten Therapiesitzung zu mir (dem Reparateur) undklagte: »Das ist zu kompliziert für mich! Was soll ich tun?«Diese Frau besaß einen durchaus klaren und analytischenVerstand, und wenn sie nicht gerade herumtrödelte, war sieohne weiteres fähig, bei ihrer Arbeit komplexe Probleme zulösen. Wenn sie jedoch mit einem persönlichen Problemkonfrontiert war, benahm sie sich, als verfüge sie über kei-nerlei Intelligenz. Es war eine Frage der Zeit. Sobald sie sicheines persönlichen Problems bewusst wurde, fühlte sie sichso unbehaglich, dass sie eine sofortige Lösung verlangte; siewar nicht bereit, dieses Unbehagen lange genug zu ertragen,um das Problem zu analysieren. Die Lösung des Problemsstellte für sie eine Belohnung dar, doch sie war unfähig, die-se Belohnung länger als eine oder zwei Minuten aufzuschie-ben; folglich waren ihre Lösungen gewöhnlich ungeeignetund ihre Familie in chronischem Aufruhr. Zum Glück wur-de sie aufgrund ihrer eigenen Ausdauer in der Therapie all-mählich fähig zu lernen, wie sie sich selbst dazu disziplinie-ren konnte, sich für die Analyse von Familienproblemen dienotwendige Zeit zu nehmen und wohl überlegte und wirk-same Lösungen zu entwickeln.

Wir sprechen hier nicht über ganz spezielle Defekte hin-sichtlich des Problemlösens, die nur bei Menschen mit ein-

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deutigen psychischen Störungen vorkommen. Die Finanz-analytikerin steht für jeden von uns. Wer kann schon vonsich behaupten, dass er stets genügend Zeit aufbringt, umdie Probleme oder Spannungen seiner Kinder innerhalb derFamilie zu analysieren? Wer von uns hat so viel Selbstdiszi-plin, dass er angesichts familiärer Probleme niemals resig-niert sagt: »Das ist zu kompliziert für mich«?

Tatsächlich gibt es im Umgang mit Problemen, die zu lö-sen sind, einen primitiveren und destruktiveren Fehler alsden ungeduldigen und unzureichenden Versuch, rasch eineLösung zu finden, einen Fehler, der noch verbreiteter unduniversaler ist. Das ist die Hoffnung, die Probleme würdenvon allein verschwinden. Ein dreißigjähriger, lediger Ver-käufer, der in einer kleinen Stadt eine Gruppentherapie mit-machte, begann, sich mit der seit kurzem von ihrem Manngetrennt lebenden Frau eines anderes Gruppenmitgliedes,eines Bankiers, zu treffen. Der Verkäufer kannte den Bankierals einen chronisch zornigen Mann, der tiefen Groll darüberverspürte, dass ihn seine Frau verlassen hatte. Er wusste,dass er weder der Therapiegruppe noch dem Bankier gegen-über aufrichtig war, indem er seine Beziehung zur Frau desBankiers verschwieg. Er wusste auch, dass der Bankier frü-her oder später zwangsläufig von seiner Beziehung zu des-sen Frau erfahren würde. Er wusste, dass die einzige Lösungdes Problems darin bestand, die Beziehung in der Gruppe zugestehen und den Zorn des Bankiers mit Hilfe der Gruppe zuertragen. Doch er tat nichts. Nach drei Monaten erfuhr derBankier von der Freundschaft, war erwartungsgemäß wü-tend und nahm den Zwischenfall zum Anlass, die Therapiezu verlassen. Als der Verkäufer von der Gruppe mit seinemdestruktiven Verhalten konfrontiert wurde, sagte er: »Ich

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

M. Scott Peck

Der wunderbare WegEine neue spirituelle PsychologieVorwort von Thorwald Dethlefsen

Taschenbuch, Broschur, 416 Seiten, 12,5 x 18,3 cmISBN: 978-3-442-21666-6

Goldmann

Erscheinungstermin: Juni 2004

Die Quintessenz dieses Klassikers kann man beschreiben mit der Volksweisheit „Jeder istseines Glückes Schmied“. Habe Mut, Eigenverantwortung für dein Leben zu übernehmen, istdie Devise des Psychotherapeuten M. Scott Peck. Erst wenn wir daran gehen, die Probleme, mitdenen wir konfrontiert sind, anzunehmen, findet eine bewusste positive Entwicklung in unseremLeben statt.