liebe und mathematik ||

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Liebe und Mathematik

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Edward Frenkel ist Professor für Mathematik an der University of California in Berkeley. Der rus-sischstämmige Mathematiker hat an der Harvard University promoviert, ist 2002 mit dem renom-mierten Hermann-Weyl-Preis ausgezeichnet wor-den und zählt zu den treibenden Kräften des inter-nationalen Langlands-Programms. Er ist Mitglied der American Academy of Arts and Sciences, hat Artikel unter anderem in der New York Times, im Wall Street Journal und im Scientific American veröf-fentlicht und mit der französischen Filmemacherin Reine Graves den Film Rites of Love and Math ge-dreht und produziert. Frenkel lebt in Berkeley.

Website zum Buch: http://loveandmathbook.comWebsite des Autors: www.math.berkeley.edu/~frenkelFacebook: www.facebook.com/loveandmathTwitter: twitter.com/edfrenkel

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Edward Frenkel

Liebe und MathematikIm Herzen einer verborgenen Wirklichkeit

Aus dem Englischen übersetzt von Dr. Thomas Filk

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Aus dem Englischen übersetzt von Dr. Thomas Filk. Übersetzung der amerikanischen Ausgabe: Love and Math - The Heart of Hidden Reality von Edward Frenkel, erschienen bei Basic Books, A Member of the Perseus Books Group 2013, Copyright © by Edward Frenkel. Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-662-43420-8 ISBN 978-3-662-43421-5 (eBook)DOI 10.1007/978-3-662-43421-5

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Springer Spektrum© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa-tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen.

Planung und Lektorat: Frank Wigger, Stella Schmoll Redaktion: Bernhard Gerl Einbandentwurf: deblik Berlin Einbandabbildung: Elizabeth Lippman

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier

Springer Spektrum ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Mediawww.springer-spektrum.de

Edward FrenkelDepartment of MathematicsUniversity of CaliforniaBerkeley, CA, USA

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Vorwort

Da draußen gibt es eine geheime Welt. Ein verstecktes Paralleluniversum von Schönheit und Eleganz, das auf komplizierte Weise mit unserem Universum verwoben ist. Es ist die Welt der Mathematik, die aber für die meisten von uns unsichtbar ist. Dieses Buch möchte Sie einladen, diese Welt zu erkunden.

Denken Sie einmal über das folgende Paradoxon nach: Auf der einen Seite ist die Mathematik eng mit unserem Alltagsleben verknüpft. Jedes Mal, wenn wir im Internet einkaufen, eine E-Mail verschicken, einen Computer oder unser Navigationsgerät verwenden, spielen mathematische Formeln und Al-gorithmen eine Rolle. Auf der anderen Seite lassen sich die meisten Menschen von der Mathematik einschüchtern. Der Dichter Hans Magnus Enzensberger fragt in diesem Zusammenhang: „Woher kommt es, dass die Mathematik in unserer Zivilisation so etwas wie ein blinder Fleck geblieben ist, ein exterrito-riales Gebiet, in dem sich nur wenige Eingeweihte verschanzt haben?“ Es pas-siert selten, meint er, dass wir jemanden treffen, der uns mit Nachdruck ver-sichert, dass allein schon der Gedanke daran, einen Roman zu lesen oder ein Gemälde zu betrachten oder einen Film anzuschauen, für ihn eine unerträg-liche Qual bedeutet, doch selbst vernünftige und gebildete Leute behaupten oft mit einer beachtlichen Mischung aus Trotz und Stolz, dass Mathematik für sie „die reine Qual“ oder „ein Albtraum“ sei, bei dem sie gleich abschalten.

Wie ist eine solche Schieflage möglich? Ich sehe hauptsächlich zwei Grün-de. Zum einen ist die Mathematik abstrakter als andere Gebiete und daher nicht so leicht zugänglich. Zum anderen ist das, was wir in der Schule lernen, nur ein winziger Teil der Mathematik, von dem sich das Meiste bereits vor über einem Jahrtausend etabliert hat. Seit damals hat die Mathematik einen gewaltigen Fortschritt gemacht, doch die Schätze moderner Mathematik wur-den den meisten von uns vorenthalten.

Angenommen, Sie hätten in der Schule einen „Kunstunterricht“ besucht, in dem Sie nur gelernt hätten, wie man einen Zaun anstreicht. Angenommen, Sie hätten niemals die Gemälde von Leonardo da Vinci oder Picasso gesehen. Hätten Sie unter diesen Umständen eine Vorliebe für die Kunst entwickelt? Hätten Sie den Wunsch gehabt, mehr darüber zu erfahren? Ich bezweifle das. Vermutlich würden Sie sagen „Der Kunstunterricht in der Schule war reine

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VI Liebe und Mathematik

Zeitverschwendung. Wenn ich jemals meinen Zaun streichen muss, lasse ich das einen Maler für mich machen“, oder so ähnlich. Natürlich klingt das lächerlich, doch genau so wird uns die Mathematik beigebracht, und daher erscheint die Mathematik für die meisten von uns todlangweilig. Während die Gemälde der großen Meister für uns leicht zugänglich sind, bleibt die Mathematik der großen Meister für uns verschlossen.

Es ist jedoch nicht nur die ästhetische Schönheit der Mathematik, die ei-nen gefangen nehmen kann. Schon Galileo schrieb: „Die Naturgesetze sind in der Sprache der Mathematik geschrieben.“ Mit der Mathematik lässt sich die Realität beschreiben und herausfinden, wie die Welt funktioniert. Sie ist eine Universalsprache, die zum höchsten Maßstab für Wahrheit wurde. In unserer zunehmend von Wissenschaft und Technik geprägten Welt wird die Mathematik immer mehr zur Quelle der Macht, des Wohlstands und des Fortschritts. Wer daher diese Sprache fließend beherrscht, befindet sich an der Spitze des Fortschritts.

Ein weitverbreitetes Missverständnis über die Mathematik ist das Vorurteil, sie könne nur als „Hilfsmittel“ verwendet werden: Ein Biologe beispielsweise nimmt irgendwelche Beobachtungen vor und sammelt Daten, dann kann er versuchen, ein mathematisches Modell zu diesen Daten zu basteln (vielleicht mit der Unterstützung eines Mathematikers). Das mag vielleicht eine wich-tige Anwendung sein, doch die Mathematik gibt uns wesentlich mehr: Mit ihrer Hilfe können wir unsere grundlegenden Vorstellungen über die Natur anpassen oder auch verändern, wie es ohne sie nie möglich wäre. Als bei-spielsweise Albert Einstein erkannte, dass die Gravitation eine Krümmung unseres Raumes bewirkt, hat er nicht versucht, seine Gleichungen irgendwel-chen Daten anzupassen. Tatsächlich gab es solche Daten noch nicht einmal. Niemand konnte sich damals auch nur im Entferntesten vorstellen, dass un-ser Raum gekrümmt sein könnte. Jeder „wusste“, dass unsere Welt flach ist! Doch zusammen mit seiner Einsicht, dass Gravitation und Beschleunigung dieselbe Wirkung haben, erkannte Einstein hierin die einzige Möglichkeit, seine spezielle Relativitätstheorie auch auf Nicht-Inertialsysteme zu verallge-meinern. Es war eine intellektuelle mathematische Leistung höchsten Grades, und Einstein stützte sich dabei entscheidend auf die knapp fünfzig Jahre alten Arbeiten des Mathematikers Bernhard Riemann. Das menschliche Gehirn ist so verdrahtet, dass wir uns gekrümmte Räume mit mehr als zwei Dimensio-nen einfach nicht vorstellen können. Der einzige Zugang zu ihnen ist für uns die Mathematik. Und Einstein hatte Recht: Unser Universum ist gekrümmt und es dehnt sich sogar aus. Das ist die Macht der Mathematik, die ich meine!

Es lassen sich viele Beispiele wie diese finden, nicht nur aus der Physik, sondern in vielen anderen Wissenschaften (einige davon werden wir später ansprechen). Die Geschichte lehrt, dass Wissenschaft und Technik in zuneh-

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Vorwort VII

mendem Maße von mathematischen Ideen geformt werden. Selbst mathe-matische Theorien, die zunächst als sehr abstrakt und ohne Bezug zur Reali-tät galten, wurden später für bestimmte Anwendungen unverzichtbar. Auch wenn Charles Darwin sein Werk nicht auf der Mathematik aufbaute, schrieb er später in seiner Autobiographie: „Ich habe zutiefst bereut, dass ich nicht weit genug gekommen bin, um zumindest etwas von den wichtigsten Prinzi-pien der Mathematik zu verstehen, denn Menschen, die damit umgehen kön-nen, scheinen einen Extrasinn zu haben.“ Ich werte dies als einen weitsichti-gen Rat an die kommenden Generationen, mehr auf das gewaltige Potenzial der Mathematik zu setzen.

Als Junge wusste ich nichts von der versteckten Welt der Mathematik. Wie die meisten Menschen hielt ich die Mathematik für ein fades und langweiliges Gebiet. Doch ich hatte Glück: Während meines letzten Schuljahrs lernte ich einen Berufsmathematiker kennen, der mir die magische Welt der Mathema-tik eröffnete. Ich erkannte nicht nur ihre unendlichen Möglichkeiten, son-dern auch ihre Eleganz und Schönheit, ähnlich wie in der Lyrik, Kunst und Musik. Ich verliebte mich in die Mathematik.

Mit diesem Buch möchte ich dem Leser das weitergeben, was mir meine Lehrer und Mentoren vermittelt haben: Ich möchte das Schloss zur Macht und Schönheit der Mathematik für Sie öffnen und Ihnen den Eintritt in diese magische Welt ermöglichen, so wie es mir einst vergönnt war, selbst wenn Sie zu den Personen gehören sollten, welche die Worte „Mathematik“ und „Liebe“ nie in ein und demselben Satz verwendet haben. Die Mathematik wird Ihnen unter die Haut gehen, so wie mir, und Sie werden die Welt mit anderen Augen sehen.

Mathematisches Wissen unterscheidet sich von jeder anderen Art des Wis-sens. Unsere Wahrnehmung der physikalischen Welt kann verzerrt sein, nicht jedoch unsere Wahrnehmung mathematischer Wahrheiten. Es handelt sich um objektive, zeitlose und zwangsläufige Wahrheiten. Eine mathematische Formel oder ein mathematischer Satz bedeuten für alle und überall dasselbe – unabhängig von Geschlecht, Religion oder Hautfarbe; und sie werden auch in tausend Jahren noch für alle dasselbe bedeuten. Erstaunlich ist außerdem, dass uns allen diese Formeln und Sätze gehören. Niemand kann auf eine ma-thematische Formel ein Patent anmelden, wir alle können sie verwenden. Es gibt nichts derart Tiefgründiges und Erlesenes in der Welt, das uns allen so frei zur Verfügung steht. Es ist fast unglaublich, dass es ein solches Reservoir an Wissen überhaupt gibt. Es ist zu wertvoll, um es leichtfertig den „wenigen Eingeweihten“ zu überlassen, denn es gehört uns allen.

Eine der Hauptaufgaben der Mathematik besteht in einer Strukturierung der vorhandenen Informationen. Das unterscheidet den Pinselstrich eines van Goghs von einem einfachen Farbklecks. Durch die zunehmenden Möglich-

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VIII Liebe und Mathematik

keiten des 3D-Drucks erfährt die uns vertraute Realität einen radikalen Wan-del: Alles emigriert aus dem Bereich der physikalischen Gegenstände in die Welt der Information und Daten. Es wird nicht mehr lange dauern, und wir können mit Hilfe von 3D-Druckern ganz nach Belieben Information in Ma-terie umsetzen, so wie wir heute schon eine PDF-Datei in ein Buch oder eine MP3-Datei in ein Musikstück umwandeln können. In dieser schönen neuen Welt wird die Rolle der Mathematik noch zentraler: Sie bietet die Möglich-keiten, Information zu verarbeiten und zu ordnen, sowie die Verfahren, mit denen wir die Übertragung von der Information zur physikalischen Wirklich-keit vereinfachen können.

In diesem Buch werde ich eine der größten Ideen aus der Mathematik der letzten fünfzig Jahren beschreiben: das Langlands-Programm. Es wird von vielen als die Große Vereinheitlichte Theorie der Mathematik bezeichnet. Es ist eine faszinierende Theorie, in der die erstaunlichen Verbindungen zwischen scheinbar Lichtjahre voneinander entfernten mathematischen Gebieten zu ei-nem Ganzen zusammengefügt werden: Algebra, Geometrie, Zahlentheorie, Analysis und Quantenphysik. Wenn wir uns diese Gebiete wie die Kontinente der versteckten Welt der Mathematik vorstellen, dann ist das Langlands-Pro-gramm das ultimative Transportmittel, mit dem wir von einem Augenblick zum nächsten zwischen den Gebieten hin- und herspringen können.

Der Mathematiker Robert Langlands, der heute das ehemalige Büro von Albert Einstein am Institute for Advanced Study in Princeton benutzt, inni-tiierte dieses Programm in den späten 1960er Jahren. Die Wurzeln dieses Programms liegen in einer bahnbrechenden mathematischen Theorie der Symmetrie. Zwei Jahrhunderte zuvor wurden die Fundamente dieser Theorie von einem französischen Wunderkind im Alter von 20 Jahren gelegt – eine Nacht bevor er bei einem Duell ums Leben kam. Später wurde sie von einer weiteren erstaunlichen Entdeckung ergänzt, die schließlich nicht nur zum Beweis des großen Fermat’schen Satzes (den man manchmal auch den letzten Fermat’schen Satz nennt) führte, sondern auch unser ganzes Denken über Zahlen und Gleichungen veränderte. Und noch eine Einsicht trug wesentlich zu dieser Entwicklung bei: Auch die Mathematik hat ihren Rosetta-Stein vol-ler geheimnisvoller Analogien und Metaphern. Man folgte diesen Analogien wie Bächen im gelobten Land der Mathematik, und schließlich ergossen sich die Ideen des Langlands-Programms in die Landschaften der Geometrie und der Quantenphysik, und schufen aus dem scheinbaren Chaos Ordnung und Harmonie.

All dies möchte ich Ihnen vermitteln, um Ihnen eine Seite der Mathematik nahezubringen, die wir selten zu sehen bekommen: Inspiration, tiefgründi-ge Ideen und erstaunliche Enthüllungen und Einsichten. Die Mathematik schafft Möglichkeiten, die Schranken von Konventionen niederzureißen und

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auf der Suche nach Wahrheit einer grenzenlosen Phantasie Ausdruck zu ver-leihen. Der Schöpfer der Theorie des Unendlichen, Georg Cantor, schrieb einmal: „Das Wesen der Mathematik liegt in ihrer Freiheit.“ Die Mathematik lehrt uns, die Realität mit aller Strenge zu analysieren, die Fakten zu unter-suchen und ihnen zu folgen, wo auch immer sie uns hinführen. Sie befreit uns von Dogmen und Vorurteilen und schafft so den Nährboden für Neues. Sie liefert uns Werkzeuge, die weit über die ursprünglichen Anwendungen hinausreichen.

Diese Werkzeuge lassen sich im Guten wie im Schlechten einsetzen, was uns dazu zwingt, uns auch mit den Auswirkungen der Mathematik auf un-sere Welt auseinanderzusetzen. Zum Beispiel wurde die ökonomische Krise der letzten Jahre unter anderem auch durch den weitverbreiteten Gebrauch unangebrachter mathematischer Modelle in den Finanzmärkten ausgelöst. Viele der Entscheidungsträger haben diese Modelle aufgrund ihrer fehlenden mathematischen Kenntnisse nicht richtig verstanden, waren jedoch – meist aus Gier – selbstherrlich genug, sie trotzdem anzuwenden, bis diese Praxis das ganze System beinahe zum Zusammenbruch gebracht hätte. Sie nutzen den ungleichen Zugang zu Informationen und hofften, dass niemand ihren Bluff bemerkt, weil auch andere sich nicht die Mühe machten, die Anwendbarkeit der mathematischen Modelle zu hinterfragen. Hätten mehr Menschen die-se Modelle und die Zusammenhänge des Systems wirklich verstanden, hätte man uns nicht so lange an der Nase herumführen können.

Betrachten wir noch ein weiteres Beispiel: Im Jahre 1996 berief die ameri-kanische Regierung eine Kommission, die weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit die Formel zur Berechnung des Verbraucherpreisindex abän-derte. Dieser Index ist ein Maß für die Inflation und dient in den Vereinigten Staaten zur Einteilung der Steuerklassen, Festlegung von Sozialleistungen und medizinischen Zuwendungen und Ähnlichem. Viele Millionen Amerikaner waren davon betroffen, doch in der Öffentlichkeit wurde kaum über diese neue Berechnungsformel und ihre Auswirkungen diskutiert. Und vor kurzem wurde ein ähnlicher Versuch unternommen, diese obskure Formel als Hinter-tür zur Stützung der amerikanischen Wirtschaft zu missbrauchen.1

In einer mathematisch gebildeten Gesellschaft käme es zu deutlich weni-ger krummen Geschäften dieser Art. Die Mathematik ist gleich der Summe von mathematischer Strenge und intellektueller Ehrlichkeit multipliziert mit dem Vertrauen auf Fakten. Wir alle sollten Zugang zu dem mathematischen Wissen und den Hilfsmitteln haben, mit denen wir uns in einer zunehmend mathematisch getriebenen Welt vor den willkürlichen Entscheidungen der wenigen Machthaber schützen können. Wo es keine Mathematik gibt, gibt es auch keine Freiheit.

Vorwort IX

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X Liebe und Mathematik

Mathematik gehört ebenso zu unserem kulturellen Erbe wie Kunst, Litera-tur und Musik. Als Menschen drängt es uns, Neues zu entdecken, neue Be-deutungen zu finden und unser Universum und unseren Platz in ihm besser zu verstehen. Wir können heute leider keinen neuen Kontinent mehr entde-cken, wie einst Kolumbus, oder als erster Mensch unseren Fuß auf den Mond setzen. Doch ich behaupte, wir müssen nicht erst über einen Ozean segeln oder in den Weltraum fliegen, um die Wunder dieser Welt entdecken zu kön-nen. Sie liegen direkt vor uns, verwoben mit unserer heutigen Wirklichkeit – mit anderen Worten: unmittelbar in uns. Die Mathematik lenkt den Lauf des Universums, sie steckt hinter seinen Formen und Kurven, und sie herrscht über alles, angefangen bei winzigen Atomen bis hin zu den größten Sternen.

Mit diesem Buch möchte ich Sie in diese reiche und verblüffende Welt ein-laden, und Sie benötigen keinerlei mathematischen Hintergrund. Wenn Sie befürchten, die Mathematik sei zu schwer, dass Sie das alles nicht verstehen werden, wenn Sie Respekt vor der Mathematik haben, aber trotzdem neugie-rig sind, ob es hier nicht doch etwas Interessantes zu verstehen gibt – dann ist dieses Buch genau für Sie gemacht.

Es gibt den weitverbreiteten Irrtum, man müsse erst jahrelang Mathematik studiert haben, bevor man sie versteht. Manche meinen sogar, wenn es um Mathematik geht, hätten sie eine angeborene Lernschwäche. Das glaube ich nicht: Die meisten von uns haben schon von Dingen wie dem Sonnensystem, Atomen und Elementarteilchen, der Doppelhelix DNA etc. gehört und sogar ein vages Verständnis davon entwickelt, ohne deswegen Physik- oder Bio-logievorlesungen besucht zu haben. Und niemand ist überrascht, dass diese anspruchsvollen Konzepte zu einem Teil unserer Kultur, unseres kollektiven Bewusstseins geworden sind. Ganz ähnlich kann jeder die wesentlichen ma-thematischen Konzepte und Ideen verstehen, wenn sie uns nur in der richti-gen Weise vermittelt werden. Dazu muss man nicht Jahre lang Mathematik studieren. In vielen Fällen kann man gleich zum Kern der Sache vorstoßen und viele langweilige Schritte überspringen.

Das Problem ist oft Folgendes: Alle Welt spricht ständig von Planeten, Ato-men oder der DNA, doch mit großer Wahrscheinlichkeit hat Ihnen noch nie-mand von den faszinierenden Ideen moderner Mathematik erzählt, z. B. von Symmetriegruppen, neuen Zahlensystemen, in denen 2 plus 2 nicht immer 4 ist, und wunderbaren geometrischen Formen wie den Riemann’schen Flä-chen. Es ist so, als ob jemand auf eine kleine Katze zeigt und erklärt: so sieht ein Tiger aus. Doch tatsächlich ist ein Tiger ein ganz anderes Tier. Ich zeige Ihnen den Tiger in all seiner Schönheit, und Sie werden Gelegenheit haben, seine „Ehrfurcht gebietende Symmetrie“, wie William Blake es in einem Ge-dicht von 1794 ausdrückte, zu bewundern.

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Verstehen Sie mich nicht falsch: Durch das Lesen dieses Buches werden Sie nicht zu einem Mathematiker. Ich behaupte auch nicht, jeder solle Mathema-tiker werden. Sehen Sie es so: Mit nur wenigen Griffen können Sie auf einer Gitarre schon ziemlich viele Lieder spielen. Sie werden dadurch nicht zum besten Gitarrenspieler der Welt, aber es wird Ihr Leben bereichern. In diesem Buch zeige ich Ihnen einige Akkorde der modernen Mathematik, die Ihnen bisher vorenthalten wurden. Und ich verspreche Ihnen, dass dies Ihr Leben bereichern wird.

Einer meiner Lehrer, der große Israel Gelfand, sagte immer: „Die Leute glauben, sie verstünden keine Mathematik, doch es geht nur darum, wie man es ihnen erklärt. Wenn du einen Betrunkenen fragst, welche Zahl größer ist, 2/3 oder 3/5, wird er es dir vermutlich nicht sagen können. Doch wenn du die Frage anders stellst: Was ist besser, 2 Flaschen Wodka für 3 Personen oder 3 Flaschen Wodka für 5 Personen, dann wird er dir sofort antworten: Natür-lich 2 Flaschen für 3 Personen.“

Es ist mein Ziel, Ihnen die Dinge so zu erklären, dass Sie sie verstehen.Ich werde auch über meine persönlichen Erfahrungen sprechen: Was es

heißt, in der früheren Sowjetunion aufgewachsen zu sein, wo die Mathematik inmitten eines Unterdrückerregimes zu einer Insel der Freiheit wurde. Die dis-kriminierende Politik in der Sowjetunion verwehrte mir ein Studium an der staatlichen Universität von Moskau. Man versperrte mir die Türen; ich war ein Ausgestoßener. Doch ich gab nicht auf. Ich schlich mich in die Universität und hörte Vorlesungen und Seminare. Ich las Mathematikbücher, manch-mal bis spät in die Nacht. Und am Ende konnte ich das System austricksen. Durch die Vordertüre ließ man mich nicht hinein, also flog ich durch ein Fenster. Wenn man verliebt ist, wer kann einen dann aufhalten?

Zwei brillante Mathematiker nahmen mich unter ihre Fittiche und wur-den meine Mentoren. Mit ihrer Hilfe begann ich meine mathematische Forschung. Ich war damals noch Student, und doch verschob ich bereits die Grenzen des Unbekannten. Es war die aufregendste Zeit meines Lebens, und ich machte es, obwohl mir klar war, dass ich aufgrund der diskriminierenden Politik niemals eine Stelle als Mathematiker in der Sowjetunion bekommen würde.

Doch es gab eine Überraschung: Meine ersten mathematischen Artikel wurden ins Ausland geschmuggelt und dort bekannt, und mit 21 Jahren er-hielt ich eine Einladung an die Harvard Universität als Gastprofessor. Glück-licherweise hatte zur selben Zeit die Perestroika in der Sowjetunion den eiser-nen Vorhang gelüftet und Bürger durften das Land verlassen. Und so war ich plötzlich, ohne jemals promoviert zu haben, ein Professor in Harvard, und ich hatte das System wieder einmal ausgetrickst. Ich setzte meine akademische Laufbahn fort und so forschte ich schließlich an den Grenzen des Langlands-

Vorwort XI

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XII Liebe und Mathematik

Programms. Während der letzten zwanzig Jahre hatte ich die Gelegenheit, an einigen der wichtigsten Entwicklungen auf diesem Gebiet mitzuwirken. Im Folgenden werde ich über die spektakulären Ergebnisse einiger brillanter Wissenschaftler berichten, aber auch über einige der Dinge, die sich hinter den Kulissen ereigneten.

In diesem Buch geht es auch um Liebe. Ich hatte einmal die Vorstellung von einem Mathematiker, der eine „Formel der Liebe“ entwickelt, und diese Idee wurde die Grundlage für den Film Rites of Love and Math, über den ich später in diesem Buch noch sprechen werde. Immer, wenn ich diesen Film zeige, fragt mich irgendjemand: „Gibt es wirklich eine Formel der Liebe?“

Meine Antwort lautet: „Jede Formel, die wir entdecken, ist eine Formel der Liebe.“ Die Mathematik ist die Quelle eines zeitlosen und tiefgründigen Wissens. Sie trifft ins Herz aller Materie und vereint uns über alle Kulturen, Kontinente und Zeitalter hinweg. Mein Traum ist, dass wir alle irgendwann in der Lage sind, die geheimnisvolle Schönheit und die außergewöhnliche Harmonie dieser Ideen, Formeln und Gleichungen zu erkennen, zu begreifen und zu bewundern, denn dadurch gewänne unsere Liebe zu dieser Welt und zueinander sehr viel mehr an Bedeutung.

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Danksagungen

Ich danke DARPA und der National Science Foundation, die einen Teil der in diesem Buch beschriebenen Forschung gefördert haben. Zur Zeit der Fer-tigstellung dieses Buches war ich ein Miller-Professor am Miller Institute for Basic Research in Science an der University of California in Berkeley.

Ich danke meinem Herausgeber T. J. Kelleher und meiner Projektredakteu-rin Melissa Veronesi von Basic Books für ihre professionelle Anleitung.

Während ich an dem Buch arbeitete, profitierte ich von fruchtbaren Dis-kussionen mit Sara Bershtel, Robert Brazell, David Eisenbud, Marc Gerald, Masako King, Susan Rabiner, Sasha Raskin, Philibert Schogt, Margit Schwab, Eric Weinstein und David Yezzi.

Ich danke Alex Freedland, Ben Glass, Claude Levesque, Kayvan Mashayekh und Corinne Trang, die Teile des Buches während unterschiedlicher Entste-hungsphasen gelesen und mir hilfreiche Ratschläge gegeben haben. Ich danke ebenfalls Andrea Young für ihre Fotos vom „Bechertrick“ in Kap. 15.

Mein besonderer Dank gilt Thomas Farber für unzählige Einsichten und fachliche Ratschläge und Marie Levek, die das Manuskript gelesen und durch ihre gezielten Fragen die Darstellung an vielen Stellen verbessert hat. Mein Vater Wladimir Frenkel hat sämtliche Entwürfe für das Buch gelesen, und seine Anmerkungen waren von unschätzbarem Wert.

In erster Linie geht mein Dank jedoch an meine Eltern, Lidia und Wladi-mir Frenkel, deren Liebe und Unterstützung all das, was ich erreicht habe, erst möglich machten. Ihnen widme ich dieses Buch.

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Anleitung für den Leser

Ich habe mich sehr bemüht, die mathematischen Konzepte in diesem Buch in sehr einfacher und intuitiver Weise darzustellen. Trotzdem bin ich mir be-wusst, dass einige Teile dieses Buches mathematisch etwas anspruchsvoller sind (insbesondere einige Teile aus den Kap. 8, 14, 15 und 17). Es ist über-haupt kein Problem, die möglicherweise verwirrend oder schwierig erschei-nenden Teile zunächst zu überspringen (das mache ich auch oft). Wenn man später mit neu erworbenem Wissen zu diesen Teilen zurückkehrt, kann man sie oft wesentlich leichter verstehen. Doch das ist normalerweise gar nicht notwendig, um den weiteren Text verstehen zu können.

Wichtiger ist vielleicht sogar, dass es vollkommen in Ordnung ist, wenn etwas unklar ist. So geht es mir in 90 % der Zeit, in der ich mich mit Mathematik beschäftige, also – willkommen in meiner Welt! Dieses Gefühl der Verwir-rung (manchmal sogar Frustration) ist ein wesentlicher Teil des Mathema-tikerlebens. Betrachten Sie es einmal von der anderen Seite: Wie langweilig wäre unser Leben, wenn wir alles ohne jeden Aufwand verstehen könnten? Unser Leben als Mathematiker wird gerade dadurch so aufregend, weil wir diese Verwirrung klären wollen – die Dinge verstehen und das Unbekannte aufdecken wollen. Und dieses Gefühl des persönlichen Erfolgs, wenn wir die Dinge schließlich verstanden haben, ist all den Aufwand wert.

In diesem Buch konzentriere ich mich auf das Gesamtbild und die logi-schen Beziehungen zwischen verschiedenen Konzepten und Bereichen der Mathematik, nicht auf die technischen Einzelheiten. Vertiefende Zusatzin-formationen habe ich oft auf die Anmerkungen am Ende des Buches verscho-ben. Dort findet der Leser auch Literaturangaben, die ein tieferes Verständ-nis ermöglichen. Doch obwohl diese Anmerkungen dem Verständnis dienen sollen, können sie (zumindest in einem ersten Durchgang) ohne Probleme übergangen werden.

Ein Warnung zu mathematischen Fachausdrücken: Als ich dieses Buch schrieb, musste ich zu meiner eigenen Überraschung feststellen, dass die Mathematiker viele Ausdrücke in einer speziellen Weise verwenden, die sich manchmal vollkommen von dem üblichen Gebrauch unterscheidet: Ausdrü-cke wie Korrespondenz, Darstellung, Abbildung, Schleife, Mannigfaltigkeit

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XVI Liebe und Mathematik

und Theorie. Wo mir solche Unterschiede aufgefallen sind, habe ich eine Er-läuterung eingefügt. An manchen Stellen habe ich sogar besonders eigenartige mathematische Ausdrücke durch Begriffe mit einer offensichtlicheren Bedeu-tung ersetzt (beispielsweise spreche ich von der „Langlands-Beziehung“ statt von der „Langlands-Korrespondenz“). In manchen Fällen, wenn ein Begriff unklar ist, hilft vielleicht auch in Blick in die Sammlung der Fachbegriffe oder das Register am Ende des Buches.

Auf meiner Webseite http://edwardfrenkel.com finden Sie neuere Infor-mationen und weiteres Material. Scheuen Sie sich bitte auch nicht, mir eine E-Mail mit Ihren Eindrücken von diesem Buch zu schicken (meine E-Mail-Adresse finden Sie auf der Internetseite). Über Rückmeldungen freue ich mich sehr.

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Inhalt

Vorwort � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � V

Danksagungen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � XIII

Anleitung für den Lese � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � XV

1 Ein geheimnisvolles Ungeheuer � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 1

2 Das Wesen der Symmetrie � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 7

3 Das fünfte Problem � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 21

4 Kerosinka � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 33

5 Die Lösung wird geflochten � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 39

6 Der Mathematikerlehrling � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 51

7 Die Große Vereinheitlichte Theorie � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 65

8 Verzauberte Zahlen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 75

9 Der Rosetta-Stein der Mathematik � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 93

10 In der Schleife � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 107

11 Die Eroberung des Gipfels � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 125

12 Der Baum der Erkenntnis � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 133

13 Ein Ruf aus Harvard � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 143

14 Die Garben der Weisheit werden gebunden � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 155

15 Ein heikler Tanz � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 171

16 Quantendualität � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 187

17 Enthüllung verborgener Beziehungen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 209

18 Auf der Suche nach der Formel der Liebe � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 235

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XVIII Liebe und Mathematik

Nachwort � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 249

Fachbegriffe � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 251

Anmerkungen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 257

Sachverzeichnis � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 311

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1Ein geheimnisvolles Ungeheuer

Wie wird man Mathematiker? Es gibt viele Möglichkeiten, doch lassen Sie mich erzählen, wie es bei mir war.

Es wird Sie vielleicht überraschen, aber in der Schule habe ich Mathe ge-hasst. Nun, „gehasst“ geht vielleicht etwas zu weit. Also sagen wir, ich mochte es nicht. Für mich war Mathe langweilig. Ich hatte keine Probleme mit den Hausaufgaben, doch ich wusste nicht, wofür das Ganze gut sein sollte. Die Themen im Unterricht erschienen mir sinnlos und irrelevant. Außerdem war ich überzeugt, dass es keine andere Form von Mathematik gibt als die, die wir in der Schule behandeln.

Wirklich begeistert hat mich die Physik, insbesondere die Quantenphysik. Ich habe jedes allgemeinverständliche Buch, das mir zu diesem Thema in die Hände fiel, verschlungen. In Russland, wo ich aufwuchs, kam man leicht an solche Bücher.

Die Quantenwelt faszinierte mich. Seit dem Altertum haben Wissenschaft-ler und Philosophen davon geträumt, die unserem Universum zugrundelie-gende Natur beschreiben zu können – und einige von ihnen haben sogar ver-mutet, sämtliche Materie bestünde aus winzigen Teilen, die sie Atome nann-ten. Die Existenz der Atome wurde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nachgewiesen, doch ungefähr zur selben Zeit entdeckten die Wissenschaftler, dass sich ein Atom noch weiter teilen lässt. Es zeigte sich, dass jedes Atom aus einem Atomkern in der Mitte und um diesen Kern kreisenden Elektronen besteht. Der Kern wiederum besteht aus Protonen und Neutronen, wie in Abb. 1.1 dargestellt ist.1

Und was ist mit den Protonen und Neutronen? Meine populärwissen-schaftlichen Bücher sagten mir, dass sie aus Elementarteilchen bestehen, die man „Quarks“ nennt.

Ich mochte den Namen Quarks, und besonders gefiel mir, wo der Name herkam. Erfunden wurden diese Teilchen von dem Physiker Murray Gell-

E. Frenkel, Liebe und Mathematik, DOI 10.1007/978-3-662-43421-5_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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2 Liebe und Mathematik

Mann und er entnahm diesen Namen dem Buch Finnegans Wake von James Joyce, wo es den folgenden Scherzreim gibt:

Three quarks for Muster Mark!Sure he hasn’t got much of a barkAnd sure any he has it’s all beside the mark.

Ich fand es ziemlich cool, dass ein Physiker ein Teilchen nach einem Roman benennt, besonders nach einem so komplexen und schwierigen Roman wie Finnegans Wake. Ich war um die dreizehn, doch schon damals wusste ich, dass Wissenschaftler im Allgemeinen als eigenbrötlerische, weltfremde Wesen gelten, die so tief in ihrer Arbeit versunken sind, dass sie überhaupt kein Inte-resse an anderen Dingen im Leben wie Kunst oder den Geisteswissenschaften haben. So war ich nicht. Ich hatte viele Freunde, las gerne und interessier-te mich außer für die Wissenschaft noch für viele andere Dinge. Ich spielte gerne Fußball und verbrachte unzählige Stunden mit meinen Freunden auf dem Fußballplatz. Ungefähr zur selben Zeit entdeckte ich die Gemälde der Impressionisten (es begann mit einem dicken Band über Impressionismus, den ich unter den Büchern meiner Eltern fand). Mein Lieblingsmaler war van Gogh. Seine Gemälde begeisterten mich, und ich begann sogar selbst zu zeichnen. Bei all diesen Interessen hatte ich große Zweifel, ob ich wirklich als Wissenschaftler geeignet war. Als ich dann las, dass Gell-Mann, ein großer Physiker und Nobelpreisträger, unzählige verschiedene Interessen hatte (nicht nur Literatur, sondern auch Linguistik, Archäologie und vieles mehr), war ich sehr glücklich.

Nach Gell-Mann gibt es zwei verschiedene Arten von Quarks, „Up“ und „Down“, und in unterschiedlichen Zusammensetzungen geben diese den Neutronen und Protonen ihre charakteristischen Eigenschaften. Ein Neutron

6 Protonen + 6 Neutronen

Elektron

Proton

Neutron

Abb. 1.1 Ein Kohlenstoffatom. © siehe Anm. 1

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1 Ein geheimnisvolles Ungeheuer 3

besteht aus zwei Down- und einem Up-Quark und ein Proton besteht aus zwei Up- und einem Down-Quark, wie in Abb. 1.2 gezeigt.2

Das war soweit alles klar. Unklar war jedoch, wie die Physiker darauf ka-men, dass Protonen und Neutronen keine unteilbaren Teilchen sind, sondern aus noch kleineren Objekten bestehen.

Gegen Ende der 1950er Jahre hatte man eine Reihe von scheinbar elemen-taren Teilchen entdeckt, die man Hadronen nannte. Neutronen und Proto-nen sind solche Hadronen, und natürlich spielen sie als Bausteine der Materie eine wichtige Rolle im Leben. Was die anderen Hadronen betraf, so hatte niemand eine gute Idee, weshalb es sie überhaupt gab („Wer hat die denn bestellt? soll ein Wissenschaftler gesagt haben). Es waren so viele, dass der ein-flussreiche Physiker Wolfgang Pauli gewitzelt hat, die Physik würde langsam zur Botanik. Die Physiker versuchten verzweifelt, die Hadronen unter Kont-rolle zu bringen und die Prinzipien zu finden, auf denen ihr Verhalten beruhte und durch die sich ihre verrückte Vermehrung erklären ließ.

Gell-Mann und unabhängig von ihm Juval Ne’eman schlugen ein neu-artiges Klassifikationsschema vor. Beide zeigten sie, dass sich Hadronen auf natürliche Weise in Familien aufteilen lassen, von denen jede acht oder zehn Teilchen enthält. Sie nannten diese Familien Oktetts und Dekupletts. Die Teilchen innerhalb einer Familie hatten ähnliche Eigenschaften.

In meinen allgemeinwissenschaftlichen Büchern fand ich Oktett-Diagram-me wie in Abb. 1.3.

In dieser Abbildung wurde das Proton durch p gekennzeichnet, das Neu-tron durch n, und dann gibt es noch sechs weitere Teilchen mit seltsamen Namen, die durch griechische Buchstaben bezeichnet werden.

Abb. 1.2 Ein Neutron (a) besteht aus zwei Down- und einem Up-Quark, ein Proton (b) aus zwei Up- und einem Down-Quark. © siehe Anm. 2

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4 Liebe und Mathematik

Doch weshalb 8 und 10 und nicht beispielsweise 7 und 11? In meinen Bü-chern fand ich keine zufriedenstellende Antwort. Dort wurde eine geheimnis-volle Idee von Gell-Mann erwähnt, die „der achtfache Weg“ genannt wurde (mit Bezug auf den „Edlen Achtfachen Pfad“ von Buddha). Doch nirgends wurde der Versuch unternommen zu erklären, was das Ganze soll.

Diese fehlenden Erklärungen empfand ich als zutiefst unbefriedigend. Die wichtigsten Teile der Geschichte blieben verborgen. Ich wollte dieses Ge-heimnis lüften, wusste jedoch nicht wie.

Glücklicherweise erhielt ich Hilfe von einem Freund unserer Familie. Ich wuchs in einer kleinen Industriestadt namens Kolomna auf. Die Stadt zählt rund 150.000 Einwohner und liegt ungefähr 110 km südöstlich von Moskau; etwas mehr als zwei Stunden mit dem Zug. Meine Eltern arbeiteten dort als Ingenieure in einer großen Firma, die Schwermaschinen herstellte. Ko-lomna ist eine alte Stadt am Zusammenfluss zweier Ströme und wurde 1177 gegründet (nur dreißig Jahre nach der Gründung Moskaus). Es gibt immer noch einige hübsche Kirchen und eine Stadtmauer, die von der bewegten Vergangenheit Kolomnas zeugen. Es handelt sich jedoch nicht gerade um ein Zentrum für Bildung und Kultur. Es gab nur ein kleines College, das Lehrer ausbildete. Einer der dortigen Professoren, ein Mathematiker namens Jewgeni Jewgenjewitsch Petrow, war jedoch ein Freund meiner Eltern. Und eines Ta-ges traf ihn meine Mutter nach langer Zeit mal wieder auf der Straße, und sie unterhielten sich. Meine Mutter erzählte ihren Freunden gerne von mir, und so kam das Thema schließlich auch auf mich. Als er hörte, dass ich naturwis-

pn

Σ− Σ+

Ξ− Ξ0

Σ0Λ0

Abb. 1.3 Ein Oktett aus Hadronen. © in the public domain

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1 Ein geheimnisvolles Ungeheuer 5

senschaftlich interessiert sei, meinte Jewgeni Jewgenjewitsch: „Ich muss ihn treffen. Ich werde ihn für die Mathematik begeistern.“

„Oh, nein“, sagte meine Mutter, „er mag keine Mathematik. Er findet sie langweilig. Er will Quantenphysik machen.“

„Keine Angst“, meinte Jewgeni Jewgenjewitsch, „ich glaube, ich weiß, wie ich ihn überzeugen kann.“

Es wurde ein Treffen vereinbart. Ich war nicht gerade begeistert von der Idee, trotzdem besuchte ich Jewgeni Jewgenjewitsch in seinem Büro.

Es war kurz vor meinem fünfzehnten Geburtstag am Ende meines neunten Schuljahres, dem letzten der Oberstufe. (Ich war ein Jahr jünger als meine Klassenkameraden, weil ich die sechste Klasse übersprungen hatte.) Jewgeni Jewgenjewitsch war damals Anfang vierzig, und er begrüßte mich freundlich und bescheiden. Mit seiner Brille und einem Stoppelbart sah er genauso aus, wie ich mir einen Mathematiker vorgestellt hatte, und doch hatte der for-schende Blick seiner großen Augen etwas Einnehmendes. Sie strahlten eine grenzenlose Neugier in Bezug auf alles aus.

Es zeigte sich, dass Jewgeni Jewgenjewitsch tatsächlich einen sehr geschick-ten Plan hatte, wie er mich zur Mathematik bewegen wollte. Als ich sein Büro betreten hatte, fragte er mich: „Ich habe gehört, dass dich die Quantenphysik interessiert. Hast du schon von dem achtfachen Weg von Gell-Mann und dem Quarkmodell gehört?“

„Ja, ich habe darüber in mehreren allgemeinwissenschaftlichen Büchern gelesen.“

„Aber weißt du auch, was dem Modell zugrunde liegt? Wie ist er auf diese Ideen gekommen?“

„Nun…“„Hast du schon von der Gruppe SU(3) gehört?“„S-U was?“„Wie willst du das Quarkmodell verstehen, wenn du nicht weißt, was die

Gruppe SU(3) ist?“Er zog einige Bücher aus seinem Bücherregal, öffnete sie und zeigte mir

Seiten mit Formeln. Ich konnte die vertrauten Oktett-Diagramme wiederer-kennen, ähnlich wie in Abb. 1.3, doch diese Diagramme waren nicht einfach nur nette Bilder. Sie waren offensichtlich Teil einer ausführlichen und exakten Erklärung.

Obwohl ich damals mit den Formeln überhaupt nichts anfangen konnte, wurde mir sofort klar, dass hier die Antworten auf meine Fragen lagen. Es war der Augenblick der Erleuchtung. Ich war wie gebannt von dem, was ich sah und hörte; ergriffen in einer noch nie gekannten Weise; unfähig, diese Empfindungen in Worte zu fassen, und trotzdem spürte ich die Energie und die Begeisterung, die einen befällt, wenn man ein Musikstück hört oder ein

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6 Liebe und Mathematik

Gemälde sieht, das einen unvergesslichen Eindruck hinterlässt. „Toll!“, war alles, was mir dazu noch einfiel.

„Du glaubtest vermutlich, Mathematik sei das, was man euch in der Schule beibringt“, meinte Jewgeni Jewgenjewitsch. Er schüttelte seinen Kopf und sagte: „Nein, das hier“, und dabei zeigte er auf die Formeln in dem Buch „ist Mathematik. Und wenn du die Quantenphysik wirklich verstehen möchtest, dann musst du hier anfangen. Gell-Mann gelangte zu seiner Vorhersage der Quarks mithilfe einer wunderbaren mathematischen Theorie. Eigentlich han-delte es sich um eine mathematische Entdeckung.“

„Aber wo soll ich bei all dem denn überhaupt anfangen?“Das sah alles irgendwie erschreckend aus.„Keine Angst. Zunächst solltest du lernen, was das Konzept einer ‚Sym-

metriegruppe‘ ist. Das ist die Grundidee. Auf ihr beruht ein großer Teil der Mathematik wie übrigens auch der theoretischen Physik. Ich gebe dir hier ei-nige Bücher. Fang einfach mal an, sie zu lesen, und markiere die Sätze, die du nicht verstehst. Wir können uns hier jede Woche treffen und darüber reden.“

Er gab mir ein Buch über Symmetriegruppen und noch einige andere über verschiedene Themen: über sogenannte p-adische Zahlen (ein Zahlensystem, das sich vollkommen von den Zahlen, wie wir sie kennen, unterscheidet) und über Topologie (hier geht es um grundlegende geometrische Formen). Jewge-ni Jewgenjewitsch hatte einen unfehlbaren Geschmack: Er fand die perfekte Mischung von Themen, mit denen ich dieses geheimnisvolle Ungeheuer – die Mathematik – aus verschiedenen Seiten betrachten und mich dafür begeistern konnte.

In der Schule beschäftigten wir uns mit quadratischen Gleichungen, etwas Differenzial- und Integralrechnung, grundlegender euklidischer Geometrie und Trigonometrie. Ich war davon ausgegangen, dass die gesamte Mathematik sich mehr oder weniger um diese Themen drehte, dass die Probleme vielleicht etwas komplizierter wurden, aber letztendlich in demselben allgemeinen Rah-men blieben, den ich kannte. Doch die Bücher von Jewgeni Jewgenjewitsch erlaubten mir Einblicke in eine vollkommen andere Welt, deren Existenz ich mir bis dahin nicht einmal hatte vorstellen können.

Ich war sofort begeistert.

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2Das Wesen der Symmetrie

In der Vorstellung der meisten Menschen handelt die Mathematik ausschließ-lich von Zahlen. Für sie sind Mathematiker Menschen, die den ganzen Tag rechnen: mit großen Zahlen und noch größeren Zahlen, alle mit exotischen Bezeichnungen. Ich hatte das auch geglaubt, zumindest bis Jewgeni Jewgen-jewitsch mich in die Konzepte und Ideen der modernen Mathematik einge-führt hatte. Eines davon erwies sich als der Schlüssel für die Entdeckung der Quarks: das Konzept der Symmetrie.

Was ist Symmetrie? Wir alle haben eine intuitive Vorstellung – wir erken-nen sie, wenn wir sie sehen. Wenn ich Bekannte bitte, mir Beispiele von sym-metrischen Gegenständen zu nennen, dann zeigen sie auf Schmetterlinge, Schneeflocken oder den menschlichen Körper (Abb. 2.1).

Doch wenn ich sie frage, was eigentlich mit der Symmetrie eines Körpers gemeint sei, können sie es nicht sofort beantworten.

Jewgeni Jewgenjewitsch erklärte mir die Sache folgendermaßen: „Betrach-ten wir einmal diesen runden Tisch und diesen quadratischen Tisch“, dabei zeigte er auf zwei Tische in seinem Büro. „Welcher von beiden ist symmetri-scher?“

„Natürlich der runde Tisch, ist das nicht offensichtlich?“„Doch weshalb? Als Mathematiker sollte man ‚offensichtliche‘ Dinge nie

als selbstverständlich hinnehmen, sondern seine Meinung begründen. Oft ist man überrascht, dass die offensichtlichste Antwort in Wirklichkeit falsch ist.“

Als Jewgeni Jewgenjewitsch die Verwirrung in meinem Gesicht bemerkte, gab er mir einen Hinweis: „Welche Eigenschaft des runden Tisches macht ihn symmetrischer?“

Ich dachte eine Weile nach und dann kam es mir: „Ich vermute, die Sym-metrie eines Gegenstands hat damit zu tun, dass er seine Form und Lage be-hält, selbst wenn wir irgendwelche Veränderungen an ihm vornehmen.“

Jewgeni Jewgenjewitsch nickte.„Ganz genau. Betrachten wir einmal alle Transformationen der beiden Ti-

sche, bei denen sie ihre Form und Stellung behalten“, meinte er. „Bei dem runden Tisch –“

E. Frenkel, Liebe und Mathematik, DOI 10.1007/978-3-662-43421-5_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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8 Liebe und Mathematik

Ich unterbrach ihn: „Jede Drehung um den Mittelpunkt macht das. Der Tisch bleibt dabei immer in derselben Stellung. Doch wenn wir den quadra-tischen Tisch drehen, kommt er im Allgemeinen in eine andere Stellung. Nur Drehungen um 90° und Vielfache davon lassen seine Stellung unverändert.“

„Richtig! Wenn du das Zimmer für einen Augenblick verlässt und ich dre-he den runden Tisch um einen beliebigen Winkel, wirst du den Unterschied kaum bemerken. Doch wenn ich dasselbe mit dem quadratischen Tisch ma-che, siehst du es, es sei denn, ich drehe ihn um 90°, 180° oder 270° (Abb. 2.2).“

Er fuhr fort: „Solche Transformationen bezeichnet man als Symmetrien. Du siehst also, dass der quadratische Tisch nur vier Symmetrien besitzt, wo-

Abb. 2.2 Dreht man einen runden Tisch (a) um einen beliebigen Winkel, so ändert sich seine Stellung nicht, doch dreht man einen quadratischen Tisch (b) um einen be-liebigen Winkel, der nicht ein Vielfaches von 90° ist, dann ändert er seine Stellung. (Beide Tische sind hier von oben gezeichnet). © Frenkel

Abb. 2.1 Beispiele für Symmetrien: eine Schneeflocke (a) und ein Schmetterling (b). (a: © Foto von K.G. Libbrecht, b: © in the public domain)

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2 Das Wesen der Symmetrie 9

gegen der runde Tisch sehr viele hat – tatsächlich sogar unendlich viele. Des-halb sagen wir, der runde Tisch sei symmetrischer.“

Das erschien mir einleuchtend.„Das ist eine recht naheliegende Feststellung“, fuhr Jewgeni Jewgenjewitsch

fort. „Man muss kein Mathematiker sein, um das einzusehen. Doch wenn man Mathematiker ist, stellt man sich die nächste Frage: Was sind sämtliche Symmetrien eines bestimmten Gegenstands?“

Betrachten wir nochmals den quadratischen Tisch. Seine Symmetrien1 be-stehen aus den folgenden vier Drehungen um den Mittelpunkt des Tisches: Drehung um 90°, 180°, 270° und 360°, jeweils entgegen dem Uhrzeigersinn.2 Ein Mathematiker würde sagen, die Menge der Symmetrien des quadratischen Tisches besteht aus vier Elementen, entsprechend den Winkeln 90°, 180°, 270° und 360°. Jede dieser Drehungen verlegt eine bestimmte Ecke (die in Abb. 2.3 mit einem kleinen Kreis markiert wurde) zu einer der vier Ecken.

Eine dieser Drehungen ist besonders: Die Drehung um 360° hat denselben Effekt wie eine Drehung um 0°, d.  h. überhaupt keine Drehung. Dies ist eine besondere Symmetrie, weil sie den Gegenstand überhaupt nicht verän-dert: Jeder Punkt des Tisches befindet sich anschließend an genau derselben Stelle wie vorher. Wir nennen dies die identische Symmetrie oder einfach die Identität.3

Eine Drehung um einen Winkel größer als 360° hat denselben Effekt – der Mathematiker sagt dann ist äquivalent – wie eine Drehung um einen Winkel zwischen 0° und 360°. Beispielsweise ist eine Drehung um 450° äquivalent zu einer Drehung um 90°, denn 450 = 360 + 90. Aus diesem Grund betrachten wir nur Drehungen um Winkel zwischen 0° und 360°.

Nun kommt die wichtige Feststellung: Wenn wir zwei Drehungen aus der Liste {90°, 180°, 270°, 360°} hintereinander ausführen, erhalten wir wieder

180°

90°

270°

360° = 0°

Abb. 2.3 Die Symmetrien eines quadratischen Tisches. Eine Ecke wurde mit einem Kreis markiert, um die Transformationen zu verdeutlichen. © Frenkel

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10 Liebe und Mathematik

eine Drehung aus derselben Liste. Diese neue Symmetrie bezeichnen wir als die Hintereinanderausführung oder auch Verknüpfung der beiden anderen.

Das ist natürlich offensichtlich, denn jede der beiden Symmetrien lässt das Aussehen des Tisches unverändert, und damit ändert auch die Verknüpfung der beiden Symmetrien nichts. Also muss auch die Verknüpfung wieder eine Symmetrie sein. Drehen wir beispielsweise den Tisch zunächst um 90° und anschließend nochmals um 180°, dann ist das Ergebnis eine Drehung um 270°.

Schauen wir uns an, was mit dem Tisch unter diesen Symmetrien passiert. Bei einer Drehung entgegen dem Uhrzeigersinn um 90° geht die rechte Ecke des Tisches (die mit dem Kreis gekennzeichnet wurde) in die obere Ecke über. Drehen wir nun nochmals um 180°, so geht die obere Ecke in die untere Ecke über. Insgesamt geht also die rechte Ecke in die untere Ecke über. Das ist aber auch genau das Ergebnis einer Drehung um 270° entgegen dem Uhrzeiger-sinn.

Wir betrachten noch ein Beispiel:

Durch zwei Drehungen um zunächst 90° und anschließend 270° erhalten wir insgesamt eine Drehung um 360°. Doch wir hatten schon gesehen, dass eine Drehung um 360° dieselbe Wirkung hat wie eine Drehung um 0° – dies ist die identische Symmetrie.

Mit anderen Worten, die zweite Drehung um 270° macht die ursprüng-liche Drehung um 90° wieder rückgängig. Diese Eigenschaft ist sehr wichtig: Jede Symmetrie lässt sich rückgängig machen; d. h., für jede Symmetrie S gibt es eine andere Symmetrie S′, sodass ihre Hintereinanderausführung die Iden-tität ist. Man bezeichnet S′ als das Inverse der Symmetrie S. Eine Drehung um 270° ist also das Inverse zu einer Drehung um 90°. Entsprechend ist das Inverse zu einer Drehung um 180° wieder eine Drehung um 180°.

Wir sehen also, dass die zunächst sehr einfach erscheinende Liste von Sym-metrien des quadratischen Tisches – die vier Drehungen {90°, 180°, 270°, 0°} – in Wirklichkeit sehr viel innere Struktur besitzt, also Regeln, wie die Mitglieder dieser Menge zusammenwirken können.

Zunächst können wir je zwei Symmetrien hintereinanderschalten, also eine nach der anderen ausführen.

Zweitens gibt es eine besondere Symmetrie, nämlich die Identität. In unse-rem Beispiel ist das eine Drehung um 0°. Wenn wir die Identität mit irgend-einer anderen Symmetrie verbinden (also eine hinter der anderen ausführen), ist das Ergebnis wieder diese Symmetrie, z. B.

90 270 0o o o+ =

90 0 90 180 0 180o o o o o o+ = + =, usw

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2 Das Wesen der Symmetrie 11

Und drittens gibt es zu jeder Symmetrie S eine inverse Symmetrie S′, sodass die Hintereinanderausführung von S und S′ die Identität ist.

Und nun kommen wir zum wichtigsten Punkt: Die Menge der Drehungen bildet zusammen mit diesen drei Strukturen ein Beispiel für das, was der Ma-thematiker eine Gruppe nennt.

Die Symmetrien von jedem anderen Gegenstand bilden ebenfalls eine Gruppe, die in vielen Fällen aus mehr Elementen besteht – manchmal sogar aus unendlichen vielen.4

Betrachten wir dazu das Beispiel des runden Tisches. Mit der gesammel-ten Erfahrung sehen wir sofort, dass die Menge der Symmetrien des runden Tisches aus der Menge aller möglichen Drehungen (nicht nur Vielfache von 90°) besteht, und diese können wir uns wiederum als die Menge aller Punkte eines Kreises vorstellen.

Jeder Punkt auf diesem Kreis entspricht einem Winkel zwischen 0 und 360° und repräsentiert daher eine Drehung des runden Tisches entgegen dem Uhr-zeigersinn um diesen Winkel. Insbesondere gibt es einen besonderen Punkt, der einer Drehung um 0° entspricht. In Abb. 2.4 wurden dieser Punkt sowie der Punkt zu einer Drehung um 30° besonders gekennzeichnet.

Wir sollten allerdings bei den Punkten dieses Kreises nicht an die Punk-te des runden Tisches denken, sondern jeder Punkt dieses Kreises entspricht eher einer bestimmten Drehung des runden Tisches. Der runde Tisch hat im Gegensatz zu unserem Kreis keinen ausgezeichneten Punkt. Auf unserem Kreis ist jedoch der Punkt zu einer Drehung um 0° ausgezeichnet.5

Nun untersuchen wir, ob sich die drei oben erwähnten Strukturen auch auf die Menge der Punkte auf dem Kreis übertragen lassen.

30°

Abb. 2.4 Die Menge aller Drehungen entspricht einem Kreis. © Frenkel

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12 Liebe und Mathematik

Zunächst führt die Hintereinanderausführung zweier Drehungen um φ1 und φ2 Grad zu einer Drehung um φ1 + φ2 Grad. Sollte φ1 + φ2 größer als 360° sein, subtrahieren wir einfach 360° von der Summe. In der Mathematik spricht man in diesem Fall von einer Addition modulo 360. Sind beispielsweise φ1 = 195° und φ2 = 250°, dann ist die Summe der beiden Winkel gleich 445°, und eine Drehung um 445° ist dasselbe wie eine Drehung um 85°. Für die Gruppe der Drehungen eines runden Tisches gilt somit:

Zweitens gibt es einen besonderen Punkt auf dem Kreis, der einer Drehung um 0° entspricht. Hierbei handelt es sich um das Identitätselement unserer Gruppe.

Und drittens ist das Inverse einer Drehung um einen Winkel φ entgegen dem Uhrzeigersinn gleich einer Drehung um den Winkel (360° − φ) entgegen dem Uhrzeigersinn – oder einfacher: einer Drehung um den Winkel φ im Uhrzeigersinn (Abb. 2.5).

Damit haben wir die Gruppe der Drehungen eines runden Tisches be-schrieben. Wir werden sie im Folgenden die Kreisgruppe nennen. Während die Symmetriegruppe des quadratischen Tisches nur vier Elemente hatte, be-sitzt diese Gruppe unendlich viele Elemente, denn es gibt unendlich viele Winkel zwischen 0° und 360°.

Unser intuitives Verständnis einer Symmetrie wurde nun auf einen festen theoretischen Boden gestellt – wir haben es in ein mathematisches Konzept

195 250 85o o o+ =

360°-ϕϕ

Dieser Punkt entspricht einer Drehung um ϕ entgegen demUhrzeigersinn

Dieser Punkt entsprichteiner Drehung um 0 Grad (Identitätselement)

Dieser Punkt entspricht einerDrehung um den Winkel ϕ im Uhrzeigersinn

ϕ

Abb. 2.5 Die Identität und das Inverse der Gruppe der Drehungen. © Frenkel

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2 Das Wesen der Symmetrie 13

übertragen. Zunächst haben wir postuliert, dass eine Symmetrie eines gege-benen Gegenstands eine Transformation ist, die diesen Gegenstand und seine Eigenschaften unverändert lässt. Anschließend haben wir einen entscheiden-den Schritt getan: Wir konzentrierten uns auf die Menge aller Symmetrien eines bestimmten Gegenstands. Bei einem quadratischen Tisch besteht diese Menge aus vier Elementen (Drehungen um Vielfache von 90°); bei einem runden Tisch handelt es sich um eine unendliche Menge (alle Punkte auf einem Kreis). Und schließlich haben wir die besonderen Strukturen beschrie-ben, die diese Mengen von Symmetrien immer besitzen: Je zwei Symmetrien lassen sich zu einer anderen Symmetrie hintereinanderschalten, es gibt eine identische Symmetrie und zu jeder Symmetrie gibt es eine inverse Symmetrie. (Die Hintereinanderausführung von Symmetrien erfüllt zusätzlich noch die Assoziativitätseigenschaft, die in Anmerkung 4 beschrieben wurde.) Auf diese Weise gelangten wir zu dem mathematischen Konzept einer Gruppe.

Eine Symmetriegruppe ist ein abstraktes Objekt, das sich von dem kon-kreten Objekt, von dem wir ausgegangen sind, deutlich unterscheidet. Wir können die Menge der Symmetrien eines Tisches nicht berühren oder fest-halten (im Gegensatz zu dem Tisch), aber wir können sie uns vorstellen, ihre Elemente aufmalen, sie untersuchen und über sie reden. Jedes Element die-ser abstrakten Menge hat eine konkrete Bedeutung: Sie stellt eine bestimmte Transformation eines konkreten Gegenstands dar – eine seiner Symmetrien.

Die Mathematik handelt von der Untersuchung solcher abstrakter Objekte und Konzepte.

Die Erfahrung lehrt uns, dass Symmetrien für uns bei unserer Suche nach den Naturgesetzen ein wichtiges Leitprinzip darstellen. Beispielsweise besitzt eine Schneeflocke eine perfekt sechseckige Form, weil dies den niedrigsten Energiezustand ergibt, den kristallisierte Wassermoleküle einnehmen kön-nen. Die Symmetrien einer Schneeflocke sind Drehungen um Vielfache von 60°, d. h. 60°, 120°, 180°, 240°, 300° und 360° (was wiederum dasselbe wie 0° ist). Zusätzlich können wir eine Schneeflocke noch um jede ihrer sechs Achsen, die zu diesen Winkeln gehören, „umklappen“. Alle diese Drehungen und Umklappmöglichkeiten erhalten die Form und die Lage der Schneeflo-cke und bilden somit seine Symmetrien.*

Drehen wir einen Schmetterling um, die Unterseite also nach oben, so er-halten wir streng genommen keine Symmetrie von ihm, da er auf der Unter-seite Beine hat. Wenn wir von einem Schmetterling sagen, er sei symmetrisch, so meinen wir damit eigentlich eine idealisierte Form des Schmetterlings, bei

* Das Umklappen eines Tisches ist keine Symmetrie, denn das würde ihn auf den Kopf stellen – schließ-lich dürfen wir nicht vergessen, dass ein Tisch auch Beine hat. Würden wir ein Quadrat oder einen Kreis (ohne Beine) betrachten, wäre das Umklappen eine legitime Symmetrie, und wir müssten sie in die ent-sprechende Symmetriegruppe aufnehmen.

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14 Liebe und Mathematik

der Vorder- und Rückseite genau gleich sind (im Gegensatz zu einem wirkli-chen Schmetterling). In diesem Fall wird das Umklappen, bei dem der linke und rechte Flügel ihre Rollen tauschen, zu einer Symmetrie. (Wir können in Gedanken die Symmetrie auch als einen Austausch der Flügel ansehen, ohne den Schmetterling auf den Rücken zu drehen.)

Damit kommen wir zu einem wichtigen Punkt: Es gibt viele Gegenstände in der Natur, die nur näherungsweise Symmetrien besitzen. Ein tatsächlich existierender Tisch ist nie vollkommen rund oder ein perfektes Quadrat, und ein lebendiger Schmetterling hat zwischen Vorder- und Rückseite eine Asym-metrie. Auch der menschliche Körper ist nicht vollkommen symmetrisch. Doch selbst in diesen Fällen erweist es sich als nützlich, ihre abstrakten, idea-lisierten Versionen oder Modelle zu betrachten – also einen vollkommen run-den Tisch oder einen Schmetterling, bei dem wir nicht zwischen Vorder- und Rückseite unterscheiden können. Wir erkunden dann die Symmetrien dieser idealisierten Gegenstände, und was auch immer bei diesen Untersuchungen herauskommt, passen wir, sofern nötig, an die Unterschiede zwischen tatsäch-lichen Gegenständen und diesen Modellen an.

Das bedeutet nicht, dass wir Symmetrien nicht wertschätzen. Im Gegenteil, oftmals empfinden wir symmetrische Dinge als besonders schön. Doch das Hauptanliegen der mathematischen Theorie der Symmetrie liegt nicht in der Ästhetik. Es liegt darin, das Konzept der Symmetrie in seiner allgemeinsten und damit auch abstraktesten Form zu formulieren, sodass wir es in einheitli-cher Weise auf verschiedene Bereiche, wie die Geometrie, die Zahlentheorie, Physik, Chemie, Biologie etc. anwenden können. Haben wir diese Theorie einmal entwickelt, können wir auch über Mechanismen der Symmetriebre-chung sprechen. Asymmetrie wird, wenn man so will, zu einer emergenten Eigenschaft, einer Eigenschaft also, die erst entsteht. Beispielsweise erhalten Elementarteilchen ihre Massen, weil die ihnen zugrunde liegende sogenannte Eichsymmetrie (darüber sprechen wir in Kap. 16) gebrochen wird. Verant-wortlich dafür ist das Higgs-Boson, ein sehr schwer nachzuweisendes Teil-chen, das kürzlich am Large Hadron Collider in der Nähe von Genf entdeckt wurde.6 Aus solchen Mechanismen der Symmetriebrechung gewinnen wir unschätzbare Erkenntnisse über das Verhalten der fundamentalen Bausteine der Natur.

Ich möchte gerne auf einige der grundlegenden Eigenschaften der abstrak-ten Theorie von Symmetrien hinweisen, denn sie verdeutlichen sehr anschau-lich die Bedeutung der Mathematik.

Das erste Prinzip ist die Allgemeingültigkeit oder auch Universalität. Die Kreisgruppe ist nicht nur die Symmetriegruppe eines runden Tisches, son-dern aller runden Gegenstände wie Gläser, Flaschen, Säulen, etc. Tatsächlich ist es dasselbe zu sagen, ein Gegenstand sei rund, oder die Symmetriegruppe

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2 Das Wesen der Symmetrie 15

dieses Gegenstands sei die Kreisgruppe. Diese Aussage ist von großer Bedeu-tung: Wir können eine wichtige Eigenschaft eines Gegenstands („rund sein“) durch seine Symmetriegruppe (den Kreis) beschreiben. Entsprechend be-deutet „ein Quadrat sein“, dass die Symmetriegruppe gleich der Gruppe der vier oben angegebenen Elemente ist. Mit anderen Worten, dasselbe abstrakte mathematische Objekt (z. B. die Kreisgruppe) lässt sich auf viele verschiede-ne konkrete Gegenstände anwenden, und damit zeigt es die übergreifenden Eigenschaften, die all diese Gegenstände gemein haben (wie ihre Rundheit).7

Das zweite Prinzip ist Objektivität. Beispielsweise ist das Konzept einer Gruppe unabhängig von unserer Interpretation. Es bedeutet für jeden, der es gelernt hat, dasselbe. Natürlich muss man, um es verstehen zu können, die Sprache kennen, in der es ausgedrückt wird, also die mathematische Spra-che. Doch jeder kann diese Sprache lernen. Wenn Sie die Bedeutung des Satzes „Je pense, donc je suis“ von René Descartes verstehen wollen, müssen Sie Französisch können (zumindest die Worte in diesem Satz kennen); doch das kann jeder erlernen. Doch selbst wenn wir diesen Satz verstanden haben, sind immer noch viele Interpretationen möglich. Und verschiedene Personen werden unterschiedlicher Meinung sein, ob eine bestimmte Interpretation dieses Satzes richtig oder falsch ist. Im Gegensatz dazu ist die Bedeutung einer widerspruchsfreien mathematischen Aussage keine Frage der Interpretation.8 Ihr Wahrheitsgehalt ist objektiv. (Im Allgemeinen hängt die Wahrheit einer bestimmten Aussage von dem Axiomensystem ab, in dem sie betrachtet wird. Doch selbst in diesem Fall ist die Abhängigkeit von diesen Axiomen objek-tiv.) Die Aussage „die Symmetriegruppe eines runden Tisches ist ein Kreis“ ist immer richtig – für jede Person, an jedem Ort und zu jeder Zeit. Mit an-deren Worten, mathematische Wahrheiten sind notwendige Wahrheiten. In Kap. 18 werden wir nochmals darauf zurückkommen.

Das dritte, eng damit zusammenhängende Prinzip ist Beständigkeit. Kaum jemand zweifelt, dass der Satz des Pythagoras für die alten Griechen diesel-be Bedeutung hatte wie für uns heute. Und wir haben allen Grund zu der Annahme, dass er auch in der Zukunft für jeden dieselbe Bedeutung haben wird. Ganz entsprechend werden auch alle anderen wahren mathematischen Behauptungen, über die wir in diesem Buch sprechen, für ewig wahr bleiben.

Dass es ein solches objektives und zeitloses Wissen gibt (und uns allen auch zugänglich ist), kommt fast einem Wunder gleich. Es legt nahe, dass mathe-matische Konzepte in einer Welt existieren, die sich von unserer physikali-schen und mentalen Welt unterscheidet. Manchmal spricht man in diesem Zusammenhang von einer Platonischen Welt der Mathematik (im letzten Ka-pitel werden wir ausführlicher darauf eingehen). Wir verstehen immer noch nicht wirklich, worum es sich dabei handelt und was genau die Triebkraft mathematischer Entdeckungen ist. Doch es ist offensichtlich, dass diese ver-

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steckte Wirklichkeit eine immer wichtigere Rolle in unserem Leben spielen wird, insbesondere im Zusammenhang mit den neuen Computer-Techno-logien und den Möglichkeiten des 3D-Drucks.

Die vierte Eigenschaft ist die Bedeutung der Mathematik für die physika-lische Welt. Ein großer Teil des Fortschritts in der Quantenphysik der letz-ten fünfzig Jahre beruht auf der Anwendung von Symmetriekonzepten auf die Theorie der Elementarteilchen und ihren Wechselwirkungen. Aus diesem Blickwinkel gleicht ein Teilchen, wie ein Elektron oder ein Quark, dem run-den Tisch oder einer Schneeflocke: Sein Verhalten wird zu einem großen Teil durch seine Symmetrien bestimmt. (Einige dieser Symmetrien sind exakt, an-dere gelten nur näherungsweise.)

Die Entdeckung der Quarks ist hierfür ein sehr gutes Beispiel. Aus den Büchern, die Jewgeni Jewgenjewitsch mir gegeben hatte, lernte ich, dass die Grundlage für die im letzten Kapitel erwähnte Klassifikation der Hadronen von Gell-Mann und Ne’eman eine Symmetriegruppe ist. Diese Gruppe war zuvor von den Mathematikern untersucht worden, doch diese hatten keine Ahnung, dass es irgendwelche Beziehungen zu subatomaren Teilchen geben könnte. Der Name dieser Gruppe ist SU(3). Die Buchstaben S und U stehen dabei für speziell unitär. Diese Gruppe hat sehr ähnliche Eigenschaften wie die Symmetriegruppe einer Kugeloberfläche, über die wir in Kap. 10 genauer sprechen werden.

Die Mathematiker hatten zuvor die Darstellungen der Gruppe SU(3) untersucht. Darunter versteht man die verschiedenen Möglichkeiten, wie die Gruppe SU(3) als Symmetriegruppe realisiert sein kann. Gell-Mann und Ne’eman erkannten die Ähnlichkeiten zwischen den Strukturen dieser Dar-stellungen und den Mustern der Hadronen, die man gefunden hatte. Mit dieser Information konnten sie die Hadronen klassifizieren.

Der Begriff Darstellung hat in der Mathematik eine besondere Bedeutung, die sich von seinem Gebrauch im Alltag unterscheidet. Daher möchte ich kurz erläutern, was er in unserem Zusammenhang bedeutet. Vielleicht sollte ich mit einem Beispiel beginnen. Wir betrachten nochmals die Gruppe der Drehungen eines runden Tisches, also die Kreisgruppe. Nun stellen wir uns vor, die Oberfläche des Tisches würde in alle Richtungen unendlich weit aus-gedehnt. Auf diese Weise erhalten wir ein abstraktes mathematisches Objekt: eine Ebene. Zu jeder Drehung des runden Tisches um seinen Mittelpunkt können wir uns auch eine Drehung dieser Ebene um denselben Punkt den-ken. Wir erhalten so eine Vorschrift, mit der wir jedem Element der Kreis-gruppe eine bestimmte Symmetrie der Ebene (eine Drehung) zuordnen kön-nen. Mit anderen Worten, jedes Element der Kreisgruppe lässt sich durch eine Symmetrie der Ebene darstellen. Aus diesem Grund sprechen Mathematiker in diesem Zusammenhang von einer Darstellung der Kreisgruppe.

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2 Das Wesen der Symmetrie 17

Die Ebene ist zweidimensional, weil sie zwei Koordinatenachsen und somit jeder Punkt zwei Koordinaten hat (Abb. 2.6).

Daher spricht man auch von einer zweidimensionalen Darstellung der Dreh-gruppe. Das bedeutet einfach, dass jedes Element der Drehgruppe durch eine Symmetrie einer Ebene verwirklicht wurde.9

Es gibt auch Räume mit einer Dimension größer als zwei. So ist der Raum um uns herum dreidimensional. Das bedeutet, er hat drei Koordinatenach-sen, und wenn wir die Lage eines Punktes charakterisieren wollen, müssen wir seine drei Koordinaten ( x, y, z) angeben, wie in Abb. 2.7 dargestellt.

x

z

y

Abb. 2.7 Ein Punkt im dreidimensionalen Raum besitzt drei Koordinaten. © Frenkel

X

y

Abb. 2.6 Jeder Punkt in der Ebene lässt sich durch zwei Koordinaten beschreiben. © Frenkel

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18 Liebe und Mathematik

Wir können uns zwar keinen vierdimensionalen Raum vorstellen, doch die Mathematik gibt uns eine universelle Sprache an die Hand, mit der wir über Räume beliebiger Dimension sprechen können. Wir können die Punkte eines vierdimensionalen Raumes durch ein Quadrupel von Zahlen ( x, y, z, t) darstellen, genau wie wir die Punkte des dreidimensionalen Raumes durch Tripel von Zahlen ( x, y, z) dargestellt haben. Ganz entsprechend können wir die Punkte eines n-dimensionalen Raumes für jede beliebige natürliche Zahl n durch ein n-Tupel von Zahlen darstellen. Wenn Sie schon einmal mit einem Tabellenkalkulationsprogramm gearbeitet haben, sind Ihnen solche n-Tupel begegnet: Sie treten als Zeilen in einem Tabellenkalkulationsprogramm auf, wobei jede der n Zahlen einem bestimmten Attribut der gespeicherten Daten entspricht. Jede Zeile in einer solchen Tabelle bezieht sich somit auf einen Punkt in einem n-dimensionalen Raum. (In Kap. 10 werden wir mehr über Räume verschiedener Dimensionen erfahren.)

Lässt sich jedes Element einer Gruppe auf konsistente Weise10 als Symme-trie eines n-dimensionalen Raumes realisieren, dann sagen wir, diese Gruppe habe eine n-dimensionale Darstellung.

Es zeigt sich, dass eine gegebene Gruppe Darstellungen in ganz unter-schiedlichen Dimensionen haben kann. Der Grund, weshalb sich Elemen-tarteilchen in Familien von acht und zehn Teilchen zusammenfassen lassen, hängt damit zusammen, dass die Gruppe SU(3) sowohl achtdimensionale als auch zehndimensionale Darstellungen besitzt. Die acht Teilchen in jedem von Gell-Manns und Ne’emans aufgestellten Oktett (wie dem in Abb. 1.3) stehen in einem eindeutigen Zusammenhang mit den acht Koordinatenachsen eines achtdimensionalen Raumes, der eine Darstellung der SU(3) erlaubt. Das Gleiche gilt für das Dekuplett von Teilchen. (Der Grund, weshalb sich die Teilchen nicht in Familien von sieben oder elf Teilchen einteilen lassen, hängt damit zusammen, dass die Gruppe SU(3) keine sieben- oder elfdimensionalen Darstellungen besitzt.)

Zunächst hatte es sich lediglich um ein bequemes Verfahren gehandelt, Teilchen mit ähnlichen Eigenschaften zusammenzufassen. Doch Gell-Mann ging einen Schritt weiter. Er postulierte, es müsse einen tieferen Grund hin-ter diesem Klassifikationsschema geben. Im Grunde genommen behauptete er, dieses Schema funktioniere deshalb so gut, weil Hadronen aus kleineren Teilchen bestehen – manchmal aus zwei und manchmal aus drei – und diese Teilchen nannte er Quarks. Eine ähnliche Idee hatte unabhängig von ihm der Physiker George Zweig (er nannte die Teilchen „Asse“).

Dieser Vorschlag war sehr verblüffend. Zum einen entsprach er nicht der damals gängigen Meinung, wonach es sich bei Protonen und Neutronen ebenso wie bei den anderen Hadronen um unteilbare Elementarteilchen han-dele, und zum anderen sollten diese neuen Teilchen auch noch elektrische La-

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2 Das Wesen der Symmetrie 19

dungen tragen, die nur einem bzw. zwei Dritteln der elektrischen Ladung des Elektrons entsprachen. Diese Vorhersage war mehr als seltsam, denn noch nie hatte jemand solche Teilchen zuvor gesehen. Und doch konnte man Quarks kurz darauf experimentell nachweisen, und sie hatten, wie vorhergesagt, eine gebrochen rationale elektrische Ladung!

Wie waren Gell-Mann und Zweig zu ihrer Vorhersage hinsichtlich der Exis-tenz von Quarks gekommen? Dahinter steckte die mathematische Theorie der Darstellungen der Gruppe SU(3); insbesondere war es die Tatsache, dass die Gruppe SU(3) zwei verschiedene dreidimensionale Darstellungen besitzt. (Deshalb hat die Gruppe auch eine Drei in ihrem Namen.) Gell-Mann und Zweig vermuteten, dass diese beiden Darstellungen zwei Familien von funda-mentalen Teilchen beschreiben: drei Quarks und drei Anti-Quarks. Es zeigte sich dann, dass sich die acht- und die zehndimensionalen Darstellungen von SU(3) aus den dreidimensionalen Darstellungen aufbauen lassen. Und damit erhalten wir eine klare Vorschrift, wie wir Hadronen aus Quarks zusammen-setzen können – fast wie beim Lego.

Gell-Mann nannte die drei Quarks „Up“, „Down“ und „Strange“.11 Ein Proton besteht aus zwei Up-Quarks und einem Down-Quark, wohingegen das Neutron aus zwei Down-Quarks und einem Up-Quarks besteht, wie wir in Abb. 1.2 bereits gesehen haben. Beide Teilchen gehören zu einem Oktett, das in Abb. 1.3 dargestellt ist. Die anderen Teilchen in diesem Oktett ent-halten neben Up- bzw. Down-Quarks auch das Strange-Quark. Es gibt auch Oktetts von Teilchen, die aus einem Quark und einem Anti-Quark zusam-mengesetzt sind.

Die Entdeckung der Quarks ist ein schönes Beispiel für die schon im Vor-wort angesprochene herausragende Rolle der Mathematik für die Naturwis-senschaften. Diese Teilchen wurden nicht aufgrund empirischer Daten vor-hergesagt, sondern aufgrund der Muster mathematischer Symmetrien. Es handelte sich um eine rein theoretische Vorhersage, die sich aus einer aus-geklügelten mathematischen Theorie der Darstellungen der Gruppe SU(3) ergab. Manche Physiker brauchten Jahre, um diese Theorie zu meistern (und tatsächlich gab es anfänglich manche Widerstände), doch heute gehört sie zum Alltag der Elementarteilchenphysik. Sie erlaubte nicht nur eine Klassi-fikation der Hadronen, sondern sie führte auch zur Entdeckung der Quarks, die unsere Vorstellungen von der physikalischen Wirklichkeit grundlegend geändert haben.

Man stelle sich vor: Eine scheinbar esoterische mathematische Theorie ver-setzt uns in die Lage, zum Kern der Bausteine der Natur vorzudringen. Wie kann man da nicht von der zauberhaften Harmonie dieser winzigen Mate-rieklümpchen begeistert sein? Muss man nicht die Fähigkeiten der Mathe-

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20 Liebe und Mathematik

matik, die innersten Zusammenhänge in unserem Universum aufdecken zu können, zutiefst bewundern?

Als man Elsa Einstein, der Frau von Albert Einstein, davon berichtete, beim Mount Wilson Observatorium solle ein Teleskop zur Bestimmung der Struktur von Raum und Zeit aufgestellt werden, soll sie angeblich gesagt ha-ben: „Oh, mein Mann macht das auf der Rückseite eines Briefumschlags.“

Physiker brauchen teure und aufwendige Maschinen wie den Large Had-ron Collider in Genf. Aber es ist auch erstaunlich, dass Wissenschaftler wie Einstein und Gell-Mann mithilfe reiner und vollkommen abstrakter Mathe-matik die tiefsten Geheimnisse unserer Welt entschlüsseln konnten.

Wer auch immer wir sind oder an was wir glauben, wir alle teilen dieses Wissen. Es bringt uns zusammen und es gibt unserer Liebe für das Universum einen neuen Sinn.

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3Das fünfte Problem

Der Plan von Jewgeni Jewgenjewitsch ging voll auf: Ich „konvertierte“ zur Mathematik. Ich lernte schnell, und je tiefer ich in die Mathematik eintauch-te, umso mehr wuchs meine Begeisterung und umso mehr wollte ich wissen. So geht es, wenn man sich verliebt.

Ich traf mich regelmäßig mit Jewgeni Jewgenjewitsch. Er gab mir Bücher, und ich besuchte ihn einmal in der Woche an dem erziehungswissenschaft-lichen College, an dem er lehrte, und wir diskutieren über das, was ich gele-sen hatte. Jewgeni Jewgenjewitsch spielte regelmäßig Fußball, Eishockey und Volleyball, doch wie viele Männer damals in der Sowjetunion war er auch ein Kettenraucher. Noch lange Zeit später assoziierte ich die Beschäftigung mit der Mathematik mit dem Geruch von Zigaretten.

Manchmal unterhielten wir uns bis spät in die Nacht. Einmal wurden wir in einem Hörsaal eingeschlossen, weil sich der Wächter nicht vorstellen konn-te, dass es zu dieser späten Stunde dort noch jemanden gab. Und wir müssen so in unsere Unterhaltung vertieft gewesen sein, dass wir nicht hörten, wie der Schlüssel umgedreht wurde. Zum Glück befand sich der Hörsaal ebenerdig, sodass wir durch ein Fenster ausbrechen konnten.

Das alles passierte 1984, meinem letzten Schuljahr. Ich musste mich ent-scheiden, an welcher Universität ich mich bewerben wollte. Moskau hatte viele Schulen, doch es gab nur einen Ort, an dem man reine Mathematik studieren konnte: die Staatliche Universität Moskau, bekannt unter ihrer rus-sischen Abkürzung als MGU – Moskowski gossudarstwenny uniwersitet. Ihr bekanntes Mekh-Math, das Institut für Mechanik und Mathematik, war das mathematische Flaggschiff der UdSSR.

Die Aufnahmeprüfungen für Hochschulen in Russland waren nicht ver-gleichbar mit den entsprechenden Prüfungen in Amerika. Am Mekh-Math musste man vier Prüfungen ablegen: schriftliche Mathe, mündliche Mathe, Literaturaufsatz und mündliche Physik. Wer, wie ich, mit besten Noten die Oberstufe abgeschlossen hatte (in der Sowjetunion erhielt man dafür eine Goldmedaille) wurde automatisch aufgenommen, wenn man nach der ersten Prüfung eine 5 bekam, das entsprach der höchsten Note.

E. Frenkel, Liebe und Mathematik, DOI 10.1007/978-3-662-43421-5_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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22 Liebe und Mathematik

Meine Mathematikkenntnisse waren mittlerweile weit jenseits des Schul-niveaus, sodass ich überzeugt war, die Prüfungen an der MGU problemlos zu bestehen.

Doch ich war etwas zu optimistisch. Den ersten Warnschuss erhielt ich in Form eines Briefes von einer Fernschule, an der ich studiert hatte. Diese Schu-le war einige Jahre zuvor unter anderem von Israel Gelfand, dem berühmten sowjetischen Mathematiker (über den wir später noch ausgiebig sprechen werden), ins Leben gerufen worden. Die Schule wollte Schülern wie mir, die außerhalb der großen Städte wohnten und keinen Zugang zu speziellen Ma-thematikschulen hatten, helfen. Jeden Monat erhielten die Teilnehmer eine Broschüre mit Erläuterungen zum aktuellen Schulmaterial und ein wenig da-rüber hinaus. Außerdem enthielten sie einige Aufgaben, schwieriger als die Aufgaben in der Schule, die die Schüler gelöst zurückschicken sollten. Stu-denten an der Universität Moskau korrigierten gewöhnlich diese Lösungen und schickten sie benotet an die Schüler zurück. Ich war damals seit drei Jah-ren an dieser Schule eingeschrieben, ebenso noch an einer zweiten Fernschule, die etwas mehr auf Physik ausgerichtet war. Diese Informationen waren für mich sehr hilfreich, obwohl die Inhalte meinem Schulstoff ähnlich waren (im Gegensatz zu den Inhalten, die ich privat mit Jewgeni Jewgenjewitsch lernte).

Der Brief dieser Fernschule war kurz: „Wenn Sie sich an der Moskau Uni-versität bewerben wollen, kommen Sie bitte in unser Büro, und wir werden Ihnen gerne behilflich sein.“ Neben der Adresse auf dem Gelände der MGU enthielt der Brief noch die Öffnungszeiten. Kurze Zeit später nahm ich den zweistündigen Zug nach Moskau. Das Büro der Schule bestand aus einem großen Raum mit vielen Schreibtischen und ebenso vielen Leuten, die dort arbeiteten, Schriftstücke korrigierten oder tippten. Ich stellte mich vor, zeig-te meinen kurzen Brief und wurde unverzüglich zu einer zierlichen jungen Dame Anfang dreißig geleitet.

„Wie heißen Sie?“, fragte Sie mich zur Begrüßung.„Eduard Frenkel.“ (Damals verwendete ich die russische Form von Ed-

ward.)„Und Sie möchten sich an der MGU bewerben?“„Ja.“„Welches Institut?“„Mekh-Math.“„Ich verstehe.“ Sie senkte ihre Augen und fragte:„Welche Nationalität haben Sie?“Ich sagte: „russisch.“„Wirklich? Und welche Nationalität haben Ihre Eltern?“„Nun … meine Mutter ist Russin.“„Und Ihr Vater?“

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3 Das fünfte Problem 23

„Mein Vater ist Jude.“Sie nickte.Dieses Gespräch kommt Ihnen vielleicht surreal vor, und während ich die-

sen Text schreibe, klingt es auch surreal für mich. Doch in der Sowjetunion um 1984 – erinnern Sie sich an Orwell?1 – galt es nicht als abwegig, nach seiner „Nationalität“ gefragt zu werden. In dem inländischen Pass, den alle Bürger der Sowjetunion mit sich tragen mussten, gab es sogar eine besondere Zeile für „Nationalität“. Sie kam nach 1) dem Vornamen, 2) dem zweiten Vornamen, 3) dem Familiennamen und 4) dem Geburtsdatum. Aus diesem Grund nannte man sie pjataja grafa – die fünfte Zeile. Die Nationalität war auch in der Geburtsurkunde eingetragen, ebenso wie die Nationalitäten der Eltern. Waren ihre Nationalitäten verschieden, wie in meinem Fall, hatten die Eltern die Wahl, welche Nationalität sie ihrem Kind geben wollten.

Im Grunde genommen diente die fünfte Zeile lediglich dazu herauszu-finden, ob man Jude war oder nicht. (Auch gegen Personen anderer Natio-nalitäten, wie Tataren und Armenier, bestanden Vorurteile, und sie wurden verfolgt, allerdings nicht annähernd in demselben Ausmaße wie Juden; auch diese Personen wurden so herausgefischt.) Meine fünfte Zeile gab an, dass ich Russe war, doch mein Nachname – der Nachname meines Vaters und eindeu-tig jüdisch – hatte mich verraten.

Man muss dazu wissen, dass meine Familie überhaupt nicht religiös war. Mein Vater war nicht religiös erzogen worden und ebenso wenig ich. Reli-gion gab es in jenen Tagen in der Sowjetunion praktisch nicht. Die meisten christlich-orthodoxen Kirchen waren zerstört oder geschlossen. In den weni-gen existierenden Kirchen fand man gewöhnlich nur ein paar alte babuschkas (Großmütter), wie meine Großmutter mütterlicherseits. Gelegentlich ging sie in die einzige aktive Kirche meiner Heimatstadt zur Messe. Synagogen gab es noch weniger. In meiner Heimatstadt gab es keine einzige; in Moskau mit seinen nahezu zehn Millionen Einwohnern gab es offiziell nur eine Synagoge.* Der Besuch einer Messe in einer Kirche oder einer Synagoge war gefährlich: Man konnte von speziellen, in Zivil gekleideten Agenten beobachtet werden und hatte nachher eine Menge Ärger. Wenn man also von jemandem als Jude bezeichnet wurde, dann hatte das nichts mit Religion zu tun, sondern mit einer ethnischen Zugehörigkeit im Sinne von „Rasse“.

Selbst wenn ich den Nachnamen meines Vaters nicht benutzt hätte, wäre mein jüdischer Ursprung dem Aufnahmeausschuss nicht verborgen geblie-ben, denn die Antragsformulare fragten gezielt nach den vollen Namen beider

* Es war ein Jahr bevor Michail Gorbatschow in der Sowjetunion an die Macht kam, und es dauerte noch ein paar Jahre, bevor er mit seiner Perestroika begann. Das totalitäre Regime der Sowjetunion 1984 war in mehrfacher Hinsicht ein quälendes Abbild von George Orwells visionärem Buch.

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24 Liebe und Mathematik

Eltern. Diese vollen Namen bezogen sich auch auf den zweiten Vornamen, also in vielen Fällen den Vornamen des Großvaters des Bewerbers. Der zweite Vorname meines Vaters war Joseph, was in der Sowjetunion zu jener Zeit eindeutig jüdisch klang. Auch auf diese Weise wäre die Sache somit ans Licht gekommen (wenn mich sein Nachname nicht schon verraten hätte). Das Sys-tem war so konstruiert, dass man alle enttarnte, die mindestens zu einem Viertel jüdisch waren.

Nachdem offensichtlich war, dass ich nach dieser Definition ein Jude war, sagte mir die Frau: „Wissen Sie, dass Juden an der Universität Moskau nicht aufgenommen werden?“

„Wie bitte?“„Ich will damit sagen, Sie brauchen sich gar nicht erst zu bewerben. Sie

vergeuden nur Ihre Zeit. Sie lassen Sie nicht rein.“Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.„Haben Sie mir deswegen diesen Brief geschickt?“„Ja. Ich versuche nur, Ihnen zu helfen.“Ich blickte umher. Es war offensichtlich, dass jeder in dem Büro wusste,

worum es in diesem Gespräch ging, auch wenn sie nicht unmittelbar zuhör-ten. So etwas musste schon viele Dutzend Male vorgekommen sein, und jeder schien daran gewöhnt. Sie blickten alle weg, als ob ich unheilbar krank wäre. Mein Herz rutschte mir in die Hose.

Ich hatte schon früher Antisemitismus zu spüren bekommen, allerdings auf einer persönlichen Ebene, nicht institutionell. Als ich in der fünften Klasse war, hatten einige Klassenkameraden sich angewöhnt, mich mit jewrej, jewrej („Jude, Jude“) zu verspotten. Ich glaube nicht, dass sie auch nur eine Vor-stellung davon hatten, was damit gemeint war (was auch dadurch deutlich wurde, dass einige von ihnen das Wort jewrej, Jude, mit jewropejez, Europäer, verwechselten). Vermutlich hatten sie antisemitische Bemerkungen von ihren Eltern oder anderen Erwachsenen aufgeschnappt. (Leider war Antisemitis-mus in der russischen Kultur tief verwurzelt.) Ich war stark genug und hatte auch das Glück, einige gute und ehrliche Freunde zu haben, die zu mir stan-den, sodass ich von diesen Schulhofrabauken nie verprügelt wurde. Trotzdem war es eine unerfreuliche Erfahrung. Ich war zu stolz, um meinen Lehrern oder Eltern davon zu erzählen, doch eines Tages bekam ein Lehrer die Sache mit und schritt ein. Die Kinder wurden sofort zum Schulrektor befohlen und danach hörten die Schikanen auf.

Meine Eltern hatten von Diskriminierungen gegenüber Juden bei Aufnah-meprüfungen an Universitäten gehört, doch irgendwie hatten sie dem nie viel Beachtung geschenkt. In meiner Heimatstadt gab es nicht viele Juden, und außerdem bezogen sich diese angeblichen Diskriminierungen, von denen meine Eltern gehört hatten, auf Physikprogramme. Hier wurde argumentiert,

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3 Das fünfte Problem 25

Juden könnten deshalb nicht zugelassen werden, weil sich solche Program-me oft mit Kernforschung befassten und damit die nationale Sicherheit und Staatsgeheimnisse eine Rolle spielten. Die Regierung wollte keine Juden in diesen Bereichen, da Juden möglicherweise nach Israel oder in andere Länder emigrieren konnten. Nach dieser Logik hätte es keinen Grund gegeben, ein reines Mathematikstudium einzuschränken. Doch offenbar dachten manche Leute anders.

Alles an diesem Gespräch an der MGU war seltsam, und dabei meine ich nicht nur das Kafkaeske daran. Natürlich konnte man zu dem Schluss kom-men, dass die Frau, mit der ich sprach, mir und anderen Studenten einfach nur helfen wollte, indem sie uns warnte, was vermutlich auf uns zukommen würde. Doch war das wirklich der Fall? Wir sprechen über das Jahr 1984, als die kommunistische Partei und der KGB immer noch alle Aspekte des tägli-chen Lebens in der Sowjetunion kontrollierten. Nach der offiziellen Staatspo-litik hatten alle Nationalitäten gleiche Rechte, und jede dem widersprechende offizielle Äußerung konnte Ärger bringen. Und doch sprach diese Frau darü-ber in aller Ruhe mit mir, einem Fremden, den sie gerade getroffen hatte, und schien überhaupt nicht besorgt, dass jemand von ihren Kollegen etwas davon mitbekommen könnte.

Abgesehen davon fanden die Aufnahmeprüfungen an der MGU immer einen Monat früher als an den anderen Universitäten statt. Falls man also bei der MGU durchfiel, hatte man immer noch die Möglichkeit, sich anderswo zu bewerben. Warum wollte man mich davon überzeugen, es noch nicht ein-mal zu versuchen? Es klang, als ob irgendwelche mächtigen Kräfte versuch-ten, mich und andere jüdische Studenten einzuschüchtern.

Doch ich ließ mich nicht abschrecken. Nachdem ich die Sache ausführ-lich mit meinen Eltern besprochen hatte, kamen wir zu dem Schluss, dass ich nichts zu verlieren hätte. Wir beschlossen, dass ich mich trotzdem bei der MGU bewerben sollte, und hofften das Beste.

Meine erste Prüfung fand Anfang Juli statt und bestand in einem schrift-lichen Test in Mathematik. Dieser bestand wie immer aus fünf Aufgaben, wobei die fünfte Aufgabe als unlösbare Hammeraufgabe galt. Sie war wie das fünfte Element der Prüfung. Ich konnte jedoch alle Aufgaben, einschließlich der fünften, lösen. Da ich mir aber bewusst war, dass die Bewertung meiner Aufgaben vermutlich sehr zu meinen Ungunsten vorgenommen und man nach irgendwelchen Lücken in meinen Lösungen suchen würde, schrieb ich alle Einzelheiten in quälender Ausführlichkeit auf. Ich überprüfte mehrfach meine Argumente und Rechnungen und stellte sicher, dass ich keine Fehler gemacht hatte. Alles schien perfekt! Auf dem Weg nach Hause im Zug war ich gut gelaunt. Am nächsten Tag berichtete ich Jewgeni Jewgenjewitsch von

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meinen Lösungen, und er bestätigte, dass alles richtig war. Der Start schien mir gelungen zu sein.

Die nächste Hürde war eine mündliche Matheprüfung. Sie fand am 13. Juli statt – zufälligerweise ein Freitag.

Ich erinnere mich noch ziemlich genau an diesen Tag. Die Prüfung fand am frühen Nachmittag statt, und meine Mutter und ich nahmen den Zug an diesem Morgen. Ich betrat den Raum an der MGU einige Minuten vor Beginn der Prüfung. Es handelte sich um ein gewöhnliches Klassenzimmer, und es waren zwischen fünfzehn und zwanzig Studenten und vier oder fünf Prüfer anwesend. Zu Beginn musste jeder von einem großen Stapel auf einem Schreibtisch ein Blatt Papier nehmen, auf dem verdeckt zwei Fragen standen. Es war wie eine Lotterie, und so nannten wir dieses Blatt bilet – Los. Es gab insgesamt rund einhundert Fragen, die alle bekannt waren. Mir war es gleich-gültig, welches Los ich ziehen würde, denn ich kannte diesen Stoff in- und auswendig. Hatte man sein Los gezogen, musste man sich an einen der Tische setzen und die Antwort vorbereiten, wofür leere Blätter zur Verfügung gestellt wurden.

Die beiden Fragen auf meinem Los lauteten: 1) ein Kreis, der einem Drei-eck einbeschrieben ist, und die Formel für die Fläche des Dreiecks als Funk-tion des Kreisradius; 2) die Ableitung für das Verhältnis von zwei Funktionen (nur die Formel). Diese Fragen waren kein Problem, ich hätte sie im Schlaf beantworten können.

Ich setzte mich, schrieb ein paar Formeln auf ein leeres Blatt und sammelte meine Gedanken. Das dauerte vielleicht zwei Minuten. Es gab keinen Grund, noch mehr vorzubereiten. Ich war fertig und hob meine Hand. In dem Raum waren mehrere Prüfer, die alle darauf warteten, dass Studenten ihre Hände hoben. Seltsamerweise ignorierten sie mich jedoch, als ob ich gar nicht exis-tierte. Sie blickten einfach durch mich hindurch. So saß ich eine Weile da mit erhobener Hand – keine Reaktion.

Nach ungefähr zehn Minuten hoben einige andere Teilnehmer ihre Hände, und sofort eilten die Prüfer zu ihnen. Die Prüfer setzen sich auf einen Stuhl neben den Student oder die Studentin und ließen sich die Antworten geben. Teilweise waren sie ganz in meiner Nähe, und ich konnte sie hören. Die Prü-fer waren sehr höflich und nickten meist; nur gelegentlich fragten sie nach. Alles ganz normal. Hatte ein Student die Fragen auf seinem Los beantwortet (nach rund zehn Minuten), stellte der Prüfer noch eine weitere Aufgabe. In den meisten Fällen waren diese Aufgaben sehr einfach, und die Studenten konnten sie sofort lösen. Das war’s!

Die ersten Studenten hatten den Raum bereits glücklich verlassen und of-fensichtlich eine 5, die beste Note, erhalten. Ich saß jedoch immer noch da. Schließlich hielt ich einen der vorbeigehenden Prüfer auf, einen vermutlich

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frisch promovierten jungen Mann, und fragte ihn höflich: „Weshalb sprechen Sie nicht mit mir?“ Er blickte weg und sagte leise: „Entschuldigung, aber wir dürfen nicht mit Ihnen sprechen.“

Nach ungefähr einer Stunde betraten zwei Männer mittleren Alters den Raum. Sie gingen forsch zu dem Tisch an der Stirnseite und sprachen mit dem dort sitzenden Mann. Er nickte und deutete auf mich. Offensichtlich waren dies die Leute, auf die ich gewartet hatte: meine Inquisitoren.

Sie kamen zu meinem Pult und stellten sich vor. Der eine war schlank und flink, der andere etwas übergewichtig mit einem großen Schnurrbart.

„Ok“, sagte der schlanke Mann – die meiste Zeit sprach er – „schauen wir mal, was wir hier haben? Wie lautet die erste Frage?“

„Der in einem Dreieck einbeschriebene Kreis …“Er unterbrach mich: „Was ist die Definition eines Kreises?“Er war ziemlich aggressiv, ganz anders als sich die anderen Prüfer gegenüber

den Prüflingen verhalten hatten. Keiner der anderen Prüfer hatte eine Frage gestellt, bevor die Prüflinge ihre Antworten zu ihren Aufgaben nicht in vollem Umfang präsentiert hatten.

Ich sagte: „Ein Kreis ist die Menge der Punkte in einer Ebene, die von ei-nem gegebenen Punkt denselben Abstand haben.“

Das war die übliche Definition.„Falsch!“, erklärte er mir vergnügt.Wie konnte das falsch sein? Er wartete einige Sekunden und sagte dann:

„Es ist die Menge aller Punkte in der Ebene, die von einem gegebenen Punkt denselben Abstand haben.“

Das klang nach ausgiebiger Wortklauberei – das erste Zeichen des aufzie-henden Unwetters.

„Okay“, sagte der Mann. „Wie lautet die Definition eines Dreiecks?“Nachdem ich diese Definition genannt und er darüber nachgedacht hatte,

zweifellos in der Absicht, weitere Spitzfindigkeiten loslassen zu können, fuhr er fort: „Und wie lautet die Definition für einen Kreis, der einem Dreieck einbeschrieben ist?“

Das führte uns auf die Definition einer Tangente, es folgten die „Gerade“ und einige weitere Sachen, und schließlich befragte er mich zum fünften Eu-klidischen Postulat – der Eindeutigkeit paralleler Geraden. Das gehörte noch nicht einmal zum Schulstoff der Oberstufe! Wir sprachen über Dinge, die überhaupt nichts mehr mit den Fragen auf meinem Los zu tun hatten und weit über das hinausgingen, was von einem Prüfling erwartet wurde.

Jedes Wort von mir wurde infrage gestellt. Jeder Begriff musste definiert werden, und falls in der Definition ein anderer Begriff verwendet wurde, musste ich auch dieses definieren.

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Ich brauche nicht zu betonen, dass einem Prüfling mit dem Nachnamen Ivanov diese Fragen nie gestellt worden wären. Im Nachhinein wäre es das Klügste gewesen, sofort zu protestieren und den Prüfern zu sagen, dass sie die Grenzen überschritten haben. Heute ist das leicht gesagt. Ich war sechzehn, und diese Männer waren gute fünfundzwanzig Jahre älter als ich. Sie waren die Offiziellen, die das Eingangsexamen an der Staatlichen Universität von Moskau vornahmen, und ich fühlte mich verpflichtet, ihre Fragen so gut wie möglich zu beantworten.

Nach ungefähr einer guten Stunde kamen wir zu der zweiten Frage auf meinem Los. Alle anderen Prüflinge waren bereits gegangen und der Hörsaal sonst leer. Offensichtlich war ich der einzige Prüfling in diesem Raum, der einer „besonderen Behandlung“ bedurfte. Ich vermute, sie verteilten die jü-dischen Bewerber so, dass nie mehr als einer oder zwei von ihnen im selben Raum waren.

Die zweite Aufgabe bezog sich auf die Formel für die Ableitung von dem Quotienten zweier Funktionen. Es ging nicht um irgendwelche Definitionen oder Beweise. In der Aufgabe stand ausdrücklich, dass nur nach der Formel gefragt war. Natürlich bestanden meine Prüfer darauf, dass ich Ihnen ein gan-zes Kapitel aus einem Buch zur Differenzialrechnung erklären sollte.

„Wie lautet die Definition einer Ableitung?“Die übliche Definition erforderte das Konzept des Grenzwerts.„Was ist die Definition des Grenzwerts?“ Es folgte „Was ist eine Funktion?“

Und so ging es endlos weiter.Das Problem der ethnischen Diskriminierungen bei Aufnahmeprüfungen

zur MGU wurde in vielen Veröffentlichungen behandelt. In seinem auf-schlussreichen Artikel2 in den Notices of the American Mathematical Society führt der Mathematiker und Pädagoge Mark Saul meine Geschichte als Bei-spiel an. Er verglich dort sehr treffend meine Prüfung mit der Befragung von Alice in Alice im Wunderland durch die Herzkönigin. Ich wusste zwar die Ant-worten, doch dieses Spiel, bei dem alles gegen mich verdreht wurde, konnte ich unter keinen Umständen gewinnen.

In einem anderen Artikel3 in den Notices zu diesem Thema berichtete der Journalist George G. Szpiro:

Juden – oder Bewerber mit jüdisch klingenden Namen – wurden bei den Auf-nahmeprüfungen einer besonderen Behandlung unterzogen… Die Hürden wurden in den mündlichen Prüfungen sehr hoch gelegt. Unerwünschte Kan-didaten erhielten „Killer-Fragen“, die sehr anspruchsvolle Begründungen und lange Rechnungen erforderten. Einige Fragen ließen sich gar nicht beantwor-ten, wurden in zweideutiger Weise gestellt oder hatten keine richtige Antwort. Sie dienten nicht dazu, die Fähigkeiten eines Kandidaten zu testen, sondern sie

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sollten „Unerwünschte“ aussieben. Die zermürbenden, unverhohlen unfairen Befragungen dauerten oft fünf oder sechs Stunden, obwohl sie laut Anordnung auf höchsten dreieinhalb Stunden begrenzt sein sollten. Selbst wenn die Ant-worten der Kandidaten richtig waren, fanden sich immer Gründe, ihn durch-fallen zu lassen. Bei einer Gelegenheit ließ man einen Kandidaten durchfallen, weil er auf die Frage „Was ist die Definition eines Kreises?“ mit „die Menge der Punkte, die von einem gegebenen Punkt einen festen Abstand haben“ ge-antwortet hatte. Der Prüfer meinte dann, die richtige Antwort wäre gewesen: „die Menge aller Punkte, die von einem gegebenen Punkt einen festen Abstand haben“. Bei einer anderen Gelegenheit wurde die Antwort auf dieselbe Frage als falsch eingestuft, weil der Kandidat nicht deutlich gemacht hätte, dass der Abstand von null verschieden sein muss. Wurde man über die Lösungen ei-ner Gleichung befragt, wurde die Antwort „1 und 2“ als falsch gewertet, die richtige Antwort hätte „1 oder 2“ lauten müssen. (Bei wieder einer anderen Gelegenheit hatte der Prüfer genau das Gegenteil behauptet: „1 oder 2“ wurde als falsch gewertet.)

Doch zurück zu meiner Prüfung. Es vergingen weitere anderthalb Stunden, dann sagte einer der Prüfer:

„Ok. Soweit zu den Fragen. Hier ist eine Aufgabe, die Sie lösen sollen.“Die Aufgabe war ziemlich schwer. Die Lösung erforderte die sogenannte

Sturm’sche Kette, die in der Schule nicht behandelt wird.4 Ich kannte das Prinzip jedoch aus meinen Fernkursen und konnte die Aufgabe lösen. Als ich gerade die letzten Berechnungen anstellte, kam der Prüfer zurück.

„Sind Sie fertig?“„Beinahe.“Er sah, was ich geschrieben hatte, und wusste zweifellos, dass meine Lösung

richtig war und ich kurz vor dem Ende der Berechnungen war.„Wissen Sie was“, meinte er, „ich gebe Ihnen eine andere Aufgabe.“Seltsamerweise war die zweite Aufgabe doppelt so schwer wie die erste.

Trotzdem konnte ich sie lösen, doch wieder unterbrach mich der Prüfer, be-vor ich fertig wurde.

„Immer noch nicht fertig?“, sagte er, „versuch’s mit dieser.“Wäre dies ein Boxkampf gewesen, bei dem einer der Kämpfer blutig in eine

Ecke gedrängt wurde und verzweifelt versuchte, sich gegen das Trommelfeuer an Hieben zu wehren (von denen einige deutlich unterhalb der Gürtellinie lagen), dann war dies der letzte, tödliche Schlag. Die Aufgabe sah zunächst recht harmlos aus: Gegeben ein Kreis und zwei Punkte in der Ebene außer-halb des Kreises; man konstruiere einen zweiten Kreis durch die beiden Punk-te, der den ersten Kreis in einem Punkt berührt.

Tatsächlich ist die Lösung jedoch sehr kompliziert. Selbst ein professionel-ler Mathematiker könnte diese Aufgabe nicht unbedingt sofort lösen. Entwe-

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der muss man einen Trick anwenden, der als Inversion oder Kreisspiegelung bekannt ist, oder man muss eine sehr aufwendige geometrische Konstruktion durchführen. Keine der beiden Möglichkeiten wurde in einem Gymnasium behandelt, daher hätte man diese Aufgabe nie bei einer Aufnahmeprüfung stellen dürfen.

Ich kannte die Kreisspiegelung, und ich sah, dass ich sie hier anwenden konnte. Ich begann mit der Aufgabe, doch nach wenigen Minuten kamen meine Inquisitoren zurück und setzten sich neben mich. Einer von ihnen sagte:

„Wissen Sie, wir haben gerade mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Zulassungsausschusses gesprochen und über Ihren Fall berichtet. Er fragte mich, weshalb wir immer noch unsere Zeit verschwenden… Schauen Sie“, er zog ein Formular heraus, auf dem einige Kommentare geschrieben waren – ich hatte es vorher noch nie gesehen. „Zu der ersten Frage auf Ihrem Los haben Sie uns keine vollständige Antwort gegeben; Sie kannten noch nicht einmal die Definition eines Kreises. Also haben wir Ihnen ein Minus geben müssen. Bei der zweiten Frage war die Antwort wacklig, aber okay, also haben wir Minus Plus gegeben. Dann konnte Sie die erste Aufgabe nicht vollständig lösen, und auch die zweite nicht. Und die dritte? Auch die haben Sie noch nicht gelöst. Wir haben keine andere Wahl, als Sie durchfallen zu lassen.“

Ich schaute auf meine Uhr. Mehr als vier Stunden waren seit Beginn der Prüfung vergangen, und ich war erschöpft.

„Kann ich bitte meine schriftliche Prüfung sehen?“Der andere Mann ging zum Haupttisch zurück, brachte mein Examen und

legte es vor mich hin. Während ich die Seiten durchblätterte, fühlte ich mich wie in einem surrealistischen Film. Alle Antworten waren richtig, alle Lösun-gen waren richtig. Doch es gab unzählige Kommentare. Sie alle waren mit Bleistift geschrieben; vermutlich, damit man sie einfacher wieder wegradieren konnte. Die Kommentare waren lächerlich, als ob sich jemand einen dum-men Scherz mit mir machen wollte. Einer ist mir besonders aufgefallen: Im Verlauf einer Berechnung hatte ich „ 8 2> “ geschrieben. Daneben stand der Kommentar: „nicht bewiesen“. Wirklich? Die anderen Kommentare waren nicht viel besser. Und was gaben sie mir für eine Note, nachdem ich alle fünf Aufgaben gelöst hatte und alle Antworten richtig waren? Keine 5, keine 4. Es war eine 3, soviel wie „gerade eben nicht durchgefallen“. Dafür gaben sie mir eine 3?

Ich wusste, es war vorbei. Es gab keine Möglichkeit, dagegen anzugehen. Ich sagte: „Okay.“

Einer von ihnen fragte: „Wirst du Einspruch einlegen?“Ich wusste, dass es die Möglichkeit des Einspruchs gab. Doch was wäre

damit gewonnen? Vielleicht hätte ich die Note meiner schriftlichen Prüfung

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3 Das fünfte Problem 31

von 3 auf 4 anheben können, doch die mündliche Prüfung anzufechten war weitaus schwerer: Es hätte ihr Wort gegen meines gestanden. Und selbst wenn ich die Note auf 3 hätte anheben können, wäre mir geholfen? Es gab noch weitere Prüfungen, bei denen sie mich drankriegen konnten.

In den Notices schrieb George Szpiro zu diesem Thema:5

Und sollte ein Bewerber tatsächlich trotz alledem sowohl die schriftliche als auch die mündliche Prüfung bestanden haben, konnte man ihn immer noch in dem erforderlichen Aufsatz über russische Literatur mit der allgemeinen Phrase „das Thema wurde nicht hinreichend bearbeitet“ durchfallen lassen. Mit ganz wenigen Ausnahmen hatten Einsprüche gegen negative Entscheide keine Aussichten auf Erfolg. Bestenfalls wurden sie ignoriert, schlimmstenfalls wurde der Bewerber wegen „Missachtung der Prüfer“ bestraft.

Eine andere Frage war: Wollte ich mich wirklich an einer Universität ein-schreiben, die alles in ihrer Macht stehende unternahm, um mich davon ab-zuhalten? Ich sagte: „Nein. Ich möchte meine Bewerbung zurückziehen.“

Ihre Gesichter begannen zu strahlen. Kein Einspruch hieß weniger Schere-reien für sie und weniger Möglichkeiten für Ärger.

„Klar“, sagte der Sprecher, „wir können dein Zeug gleich holen.“Wir verließen den Raum und betraten den Fahrstuhl. Die Türen schlossen

sich, und wir beide waren allein. Der Prüfer war offensichtlich guter Stim-mung. Er meinte: „Du warst fantastisch. Wirklich beeindruckend. Ich frage mich: Hast du eine spezielle Matheschule besucht?“

Ich bin in einer kleinen Stadt aufgewachsen, da gab es keine speziellen Matheschulen.

„Wirklich? Sind dann vielleicht deine Eltern Mathematiker?“Nein, sie sind Ingenieure.„Interessant – Das ist das erste Mal, dass ich einem derart guten Studenten

begegne, der nicht auf einer speziellen Matheschule war.“Ich konnte kaum glauben, was er da sagte. Dieser Mann hatte mich gera-

de durchfallen lassen, nach einem unfairen, diskriminierenden, zermürben-den fünf Stunden langen Examen. Soweit ich es damals beurteilen konnte, hatte er meinen Traum zunichte gemacht, ein Mathematiker zu werden. Ein 16-jähriger Schüler, dessen einziger Fehler es war, dass er aus einer jüdischen Familie kam! Und nun machte mir dieser Kerl Komplimente und erwartete, dass ich mich ihm gegenüber öffnete?!

Doch was konnte ich machen? Ihn anschreien, ihm einen Schlag ins Ge-sicht geben? Ich stand einfach nur da, stumm und fassungslos. Er fuhr fort: „Ich möchte dir einen Rat geben. Geh zum Moskauer Institut für Öl und Gas. Es gibt dort ein ziemlich gutes Programm für angewandte Mathematik. Dort nehmen sie auch Studenten wie dich.“

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32 Liebe und Mathematik

Die Türen des Fahrstuhls öffneten sich, und eine Minute später übergab er mir meine dicke Bewerbungsmappe. Mehrere meiner Schultrophäen und Preise waren deutlich erkennbar.

„Viel Glück“, meinte er noch, doch ich war viel zu erschöpft, um antwor-ten zu können. Mein einziger Wunsch war, hier endlich wegzukommen!

Und dann war ich draußen auf der riesigen Treppe des beeindruckenden MGU-Gebäudes. Ich atmete wieder frische Sommerluft und hörte aus der Ferne den Klang der großen Stadt. Es wurde langsam dunkel, und es war fast niemand auf der Straße. Ich sah meine Eltern, die besorgt die ganze Zeit auf der Treppe auf mich gewartet hatten. Der Blick in mein Gesicht und die dicke Mappe in meiner Hand verriet ihnen gleich, was passiert war.

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4Kerosinka

An diesem Abend nach meiner Prüfung kamen meine Eltern und ich ziemlich spät nach Hause. Wir standen immer noch unter Schock und waren fassungs-los über das Geschehene.

Für meine Eltern war es eine qualvolle Erfahrung. Ich stand ihnen immer sehr nahe, und sie hatten mich immer uneingeschränkt geliebt und unter-stützt. Sie hatten mich nie dazu getrieben, mehr zu lernen oder einen be-stimmten Beruf zu ergreifen, sondern hatten mich darin ermutigt, meinen Leidenschaften nachzugehen. Und natürlich waren sie stolz auf meine Leis-tungen. Sie waren am Boden zerstört über das, was bei meiner Prüfung pas-siert war, sowohl wegen der unglaublichen Ungerechtigkeit als auch, weil sie nichts für mich tun konnten.

Dreißig Jahre zuvor, 1954, waren die Träume meines Vaters – er wollte theoretischer Physiker werden – ähnlich unbarmherzig zunichte gemacht worden, allerdings aus anderen Gründen. Wie Millionen unschuldiger Men-schen war sein Vater, mein Großvater, ein Opfer der Verfolgungen unter Jo-seph Stalin gewesen. Er wurde 1948 unter der Scheinanklage inhaftiert, das große Automobilwerk in Gorki (heute Nischni Nowgorod), wo er für die Zulieferungen zuständig war, in die Luft sprengen zu wollen. Der einzige „Beweis“ der Anklage bestand in einer Streichholzschachtel, die er zum Zeit-punkt seiner Festnahme bei sich trug. Er wurde als Zwangsarbeiter in eine Kohlenmine im Norden Russlands geschickt. Das Lager war Teil des Archipel Gulags, den Alexander Solschenizyn und andere Schriftsteller später so leb-haft beschrieben haben. Er galt als „Volksfeind“, und damit war mein Vater der „Sohn eines Volksfeinds“.

Mein Vater musste dies bei seiner Bewerbung am physikalischen Institut der Universität von Gorki angeben. Obwohl er seine Schule mit Auszeich-nung abgeschlossen hatte und eigentlich ganz selbstverständlich hätte aufge-nommen werden müssen, scheiterte er an dem Bewerbungsgespräch, dessen einzige Aufgabe darin bestand, die Angehörigen von „Volksfeinden“ heraus-zufiltern. Stattdessen musste mein Vater eine Ingenieursschule besuchen. (Wie viele andere Gefangene auch wurde sein Vater 1956 durch einen Erlass

E. Frenkel, Liebe und Mathematik, DOI 10.1007/978-3-662-43421-5_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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34 Liebe und Mathematik

Nikita Chruschtschows rehabilitiert und freigelassen, doch da war es bereits zu spät, um das Unrecht ungeschehen zu machen.)

Dreißig Jahre später musste sein Sohn eine ähnliche Erfahrung machen.Für Selbstmitleid war jedoch keine Zeit. Die nächsten Schritte mussten

rasch entschieden werden, und die erste Frage war, an welcher Universität ich mich bewerben sollte. Alle Universitäten hatten ihre Aufnahmeprüfungen zur selben Zeit im August, ungefähr zwei Wochen später, und ich konnte mich nur bei einer bewerben.

Am nächsten Morgen stand mein Vater sehr früh auf und fuhr zurück nach Moskau. Er nahm den Ratschlag meines Prüfers an der MGU ernst. Es hatte so geklungen, als wollte er mir helfen, vielleicht auch als teilweise Wiedergut-machung für das Unrecht, das er mir angetan hatte. In Moskau ging mein Vater geradewegs zum Verwaltungsgebäude des Instituts für Öl und Gas.*1Ir-gendwie schaffte er es, jemanden zu treffen, der bereit war, mit ihm unter vier Augen zu sprechen, und dem er meine Lage erklären konnte. Der Mitarbeiter kannte den Antisemitismus an der MGU, meinte aber, das Institut für Öl und Gas sei in dieser Hinsicht anders. Er sagte auch, das Niveau der Bewerber zu ihrem Programm für angewandte Mathematik sei ziemlich hoch, weil es viele Studenten wie mich gäbe, die an der MGU nicht angenommen wurden. Die Aufnahmeprüfung sei zwar kein Zuckerschlecken, doch er meinte: „Wenn Ihr Sohn so begabt ist, wie Sie behaupten, wird er auch angenommen. Bei unse-ren Aufnahmeprüfungen gibt es keine Diskriminierung gegenüber Juden.“

„Allerdings muss ich Sie warnen“, fügte er gegen Ende des Gesprächs hin-zu. „Unsere Promotionsprogramme werden von anderen Leuten geleitet und ich befürchte, Ihr Sohn wird zu diesen Programmen nicht zugelassen.“

Doch darüber konnte man sich in fünf Jahren Gedanken machen, also in ferner Zukunft.

Mein Vater besuchte noch einige weitere Universitäten in Moskau mit Pro-grammen für angewandte Mathematik, doch eine vergleichbare Einstellung wie beim Institut für Öl und Gas fand er nicht mehr. Als er an diesem Abend nach Hause kam und meiner Mutter und mir von seinen Recherchen berich-tete, entschlossen wir uns auf der Stelle, dass ich mich für das Programm für angewandte Mathematik beim Institut für Öl und Gas bewerben sollte.

Das Institut gehörte zu rund einem Dutzend Universitäten in Moskau, die Techniker für verschiedene Industriezweige vorbereiteten, wie auch das Institut für Hüttenwesen und das Institut für Eisenbahningenieure (in der So-

* Damals kannte man es unter der Bezeichnung Gubkin Institut für Petrochemie und Gas (benannt nach dem langjährigen Vorsitzenden des Ministeriums für Öl und Gas in der UdSSR, I.M. Gubkin). Während ich dort studierte, wurde es zunächst in Gubkin Institut für Öl und Gas und später in Gubkin Universität für Öl und Gas umbenannt.

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4 Kerosinka 35

wjetunion nannte man viele Universitäten „Institute“). Ende der 1960er Jahre erzeugte der Antisemitismus an der MGU einen „Markt zur Unterbringung jüdischer Studenten in der Mathematik“, schreibt Mark Saul in seinem Arti-kel.1 Das Institut für Öl und Gas „begann diesem Markt gerecht zu werden und profitierte von der antisemitischen Politik anderer Universitäten, indem es hochqualifizierte Studenten bekam.“ Mark Saul erklärt dazu:

Sein Spitzname „Kerosinka“ unterstrich ihren Stolz und Zynismus. Ein „Ke-rosinka“ ist ein Zimmerofen, der Kerosin verbrennt, also ein einfaches, aber effektives Gerät in Notzeiten. Die Studenten und Absolventen des Instituts wurden bald als „Kerosineschtschiks“ bekannt und die Universität wurde zu einem Hafen für jüdische Studenten mit einer Leidenschaft für Mathematik.Weshalb hatte das Schicksal gerade Kerosinka als Refugium für so viele Talen-te ausgewählt? Diese Frage lässt sich nicht so einfach beantworten. Wir wis-sen, dass es noch andere Institute gab, die vom Ausschluss von Juden an der MGU profitierten. Wir wissen auch, dass die Etablierung dieser Ausschluss-politik bewusst geschah, möglicherweise gegen einen gewissen anfänglichen Widerstand. Vielleicht war es für andere Institute leichter, jüdische Studenten weiterhin zu akzeptieren, als auf eine neue Politik umzuschwenken. Doch wes-halb wurde es toleriert, dass dieses Phänomen zunahm und sich eine größere Gruppe jüdischer Studenten am Kerosinka ansammelte? Es gab Gerüchte, dass die Geheimpolizei (KGB) die jüdischen Studenten an ein oder zwei Orten unter genauerer Beobachtung haben wollte. Es könnte aber auch ein positi-verer Grund dahinterstecken: Die Institutsverwaltung hatte erkannt, dass hier ein ausgezeichneter Fachbereich heranwuchs, und sie tat, was sie konnte, um diesen Trend zu fördern.

Ich glaube, dieser letzte Satz trifft die Wahrheit besser. Der Rektor des Instituts für Öl und Gas, Wladimir Nikolajewitsch Winogradow, war sehr geschickt und bekannt dafür, Professoren mit innovativen Lehr- und Forschungsme-thoden ans Institut zu holen und dort auch neuartige Unterrichtsmethoden umzusetzen. Er führte ein, dass sämtliche Prüfungen (einschließlich der Auf-nahmeprüfungen) schriftlich sein mussten. Natürlich gab es auch in diesem Fall die Möglichkeit des Missbrauchs (wie bei meiner schriftlichen Prüfung an der MGU), doch zumindest konnten solche Debakel wie bei meiner mündli-chen Prüfung an der MGU nicht mehr vorkommen. Ich wäre nicht erstaunt, wenn es Winogradows persönliche Entscheidung war, jüdische Bewerber nicht zu diskriminieren, und falls das der Fall war, erforderte es nicht nur sehr viel guten Willen sondern auch einige Zivilcourage.

Tatsächlich schien es keine Diskriminierung bei den Aufnahmeprüfungen zu geben. Ich wurde nach der ersten Prüfung (schriftliche Mathe), die ich mit der Bestnote bestanden hatte, angenommen (wer in der Schule eine Goldme-

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daille erhalten und das erste Examen mit Bestnote bestanden hatte, wurde so-fort angenommen). Aufgrund einer seltsamen Wendung der Ereignisse hatte ich diese Bestnote nicht sofort erhalten, denn meine Lösungen wurden verse-hentlich falsch in das automatische Notengebungssystem eingegeben, und da-mit hatte ich zunächst nur eine 4 (ein „gut“) bekommen. Ich erhob Einspruch und musste viele Stunden in einer langen Schlange warten, wobei mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf gingen. Doch sobald ich einmal vor dem Ausschuss meinen Einspruch vorgetragen hatte, wurde der Fehler rasch gefunden und korrigiert. Man entschuldigte sich bei mir, und das Drama um meine Aufnahmeprüfungen hatte ein Ende.

Am 1. September 1984 begannen die Vorlesungen, und ich traf meine neu-en Kommilitonen. Zu diesem Programm wurden jährlich nur fünfzig Studen-ten zugelassen (im Gegensatz zum Mekh-Math, wo es 500 waren). Viele mei-ner Mitstudenten hatten dieselben Erfahrungen wie ich gemacht. Es handelte sich um einige der gescheitesten und fähigsten Mathematikstudenten.

Außer mir und einem weiteren Studenten, Mischa Smolyak aus Kischinau, mit dem ich im Studentenwohnheim das Zimmer teilte, waren alle anderen Studenten aus Moskau. Wer nicht aus Moskau kam, konnte sich nur bewer-ben, wenn er oder sie die Schule mit einer Goldmedaille abgeschlossen hatte, was bei mir glücklicherweise der Fall war.

Viele meiner Kommilitonen hatten die besten Schulen von Moskau mit speziellen Matheprogrammen besucht: die Schulen Nr. 57, Nr. 179, Nr. 91 und Nr. 2. Einige von ihnen wurden später hauptberufliche Mathematiker und arbeiten heute als Professoren an einigen der besten Universitäten in der Welt. In meinem Jahrgang gab es einige der besten Mathematiker meiner Generation: Pascha Etingof, heute Professor am MIT; Dmitri Kleinbock, Pro-fessor an der Brandeis Universität, und Mischa Finkelberg, Professor an der Hochschule für Wirtschaft in Moskau. Es war ein sehr anregendes Umfeld.

Am Kerosinka wurde Mathematik auf einem sehr hohen Niveau gelehrt und Grundkurse wie Analysis, Funktionalanalysis und lineare Algebra waren nicht weniger anspruchsvoll als an der MGU. Doch in anderen Bereichen der reinen Mathematik, beispielsweise Geometrie oder Topologie, wurden keine Vorlesungen angeboten. Das Angebot am Kerosinka beschränkte sich auf das Programm der angewandten Mathematik, unsere Ausbildung war also auf konkrete Anwendungen ausgerichtet, insbesondere im Bereich der Erforschung und Produktion von Öl und Gas. Wir mussten einige Vorle-sung belegen, die sehr anwendungsbezogen waren: Optimierung, numerische Analysis, Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik. Wir hörten auch sehr viel Informatik.

Ich war froh, auch diese Vorlesungen zur angewandten Mathematik besu-chen zu können. Sie zeigten mir, dass die Trennung zwischen „reiner“ und

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4 Kerosinka 37

„angewandter“ Mathematik nicht immer scharf gezogen werden kann. Jede qualifizierte angewandte Mathematik beruht immer auf anspruchsvoller rei-ner Mathematik. Doch so nützlich diese Erfahrungen waren, meine wahre Liebe konnte ich nicht vergessen. Ich wusste, dass ich irgendeinen Weg fin-den musste, die am Kerosinka nicht angebotene reine Mathematik lernen zu können.

Die Lösung kam, als ich einige der anderen Studenten besser kennenlern-te, unter anderem auch welche von den renommierten und spezialisierten Matheschulen in Moskau. Wir tauschten unsere Erfahrungen aus. Wer jü-disch war (nach den angegebenen Kriterien), war bei den Aufnahmeprüfun-gen ähnlich beschämend durchgefallen wie ich, während alle nicht jüdischen Kommilitonen ohne Probleme an der MGU angenommen worden waren. Über diese anderen Studenten erfuhren wir, was am Mekh-Math passierte, welche Vorlesungen gut waren, und wann und wo diese Vorlesungen stattfan-den. Während meiner zweiten Woche am Kerosinka kam ein Kommilitone zu mir (ich glaube, es war Dmitri Kleinbock) und sagte: „Hey, wir gehen zur Vorlesung von Kirillow an der MGU. Willst Du mitkommen?“

Kirillow war ein berühmter Mathematiker, und natürlich wollte ich seine Vorlesung besuchen. Ich hatte jedoch keine Idee, wie das möglich sein sollte. Das Hauptgebäude der MGU wurde von Polizei schwer bewacht, und man benötigte einen speziellen Ausweis, um eingelassen zu werden.

„Kein Problem“, sagte mein Kommilitone, „wir klettern über den Zaun.“Das klang gefährlich und aufregend, also meinte ich: „klar!“Der Zaun an der Seite des Gebäudes war ziemlich hoch, über sechs Meter,

doch an einer Stelle war das Metall verbogen, und man konnte hindurch-schlüpfen. Und nun? Wir betraten das Gebäude durch einen Seiteneingang, liefen durch einige lange Korridore und kamen in die Küche. Möglichst ohne viel Aufmerksamkeit bei den Beschäftigten dort zu erregen, gingen wir durch die Küche zur Cafeteria und dann in die Haupteingangshalle. Wir nahmen den Aufzug in den vierzehnten Stock, wo der Hörsaal war.

Alexander Alexandrowitsch Kirillow (oder San Sanytsch, wie er liebevoll genannt wurde) war ein charismatischer Lehrer und ein großartiger Mensch, den ich Jahre später ziemlich gut kennenlernte. Ich glaube, er las damals den Grundkurs über Darstellungstheorie und hielt sich dabei im Wesentlichen an sein bekanntes Lehrbuch. Außerdem hatte er ein Doktorandenseminar, das wir ebenfalls besuchten.

Dank Kirillows Großzügigkeit ging die ganze Sache gut. Sein Sohn Schurik (heute Professor an der Stony Brook Universität) studierte an der speziellen Matheschule Nr. 179 zusammen mit meinen Kommilitonen Dmitri Klein-bock und Syoma Hawkin. Natürlich wusste San Sanytsch von den Zuständen bei den Aufnahmeprüfungen an der MGU. Viele Jahre später erzählte er mir,

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38 Liebe und Mathematik

dass er nichts dagegen tun konnte – man ließ ihn nicht einmal in die Nähe des Aufnahmeausschusses, der im Wesentlichen aus den Apparatschiks der kommunistischen Partei bestand. Er konnte uns nur dadurch helfen, dass er uns in seine Veranstaltungen schleichen ließ.

Kirillow tat alles, damit sich die Kerosinka-Studenten in seinen Vorlesun-gen wohlfühlten. Seine lebhaften Vorlesungen und Seminare gehören zu den schönsten Erinnerungen meines ersten Jahres an der Universität. Ebenfalls eine wunderbare Erfahrung waren die Vorlesungen bei Alexander Rudakow.

Zwischendurch lernte ich, was ich an Mathematik am Kerosinka lernen konnte. Ich lebte in einem Studentenheim, fuhr aber an den Wochenenden nach Hause und traf mich weiterhin alle paar Wochen mit Jewgeni Jewgen-jewitsch. Er beriet mich, welche Bücher ich lesen sollte, und ich berichtete von meinen Fortschritten. Ich erreichte jedoch bald den Punkt, an dem ich für meinen weiteren Schwung und meine Motivation einen Lehrer brauchte, mit dem ich mich regelmäßiger treffen und von dem ich nicht nur lernen konnte, sondern der mir auch ein Problem gab, an dem ich arbeiten konn-te. Da ich nicht am Mekh-Math war, konnte ich die dortigen Möglichkeiten nicht nutzen. Und um jemanden wie A. A. Kirillow anzusprechen, ob er mit mir persönlich arbeiten und mir ein Problem geben könnte, dazu war ich zu schüchtern. Ich fühlte mich wie ein Außenseiter. In meinem zweiten Jahr am Kerosinka im Frühjahrssemester 1986 setzten bei mir eine gewisse Träg-heit und Stagnation ein. Nachdem alles dagegen sprach, wuchsen bei mir die Zweifel, ob ich meinen Traum, Mathematiker werden zu können, wirklich umsetzten könnte.

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5Die Lösung wird geflochten

Ich begann langsam zu verzweifeln, als mich eines Tages während einer Vor-lesungspause am Kerosinka einer unserer angesehensten Matheprofessoren, Alexander Nikolajewitsch Wartschenko, auf dem Flur ansprach. Wartschenko war früher Student bei Wladimir Arnold, einem der führenden sowjetischen Mathematiker, und er ist selbst ein ausgezeichneter Mathematiker.

„Hätten Sie Interesse, an einem Matheproblem zu arbeiten?“, fragte er.„Ja, natürlich“, sagte ich, „was für eine Art von Problem?“ Als ob ich mich

nicht über jedes Problem gefreut hätte.„Im Rahmen meiner Forschung ist eine Frage aufgetaucht, und ich glaube,

das ist ein gutes Problem für einen guten Studenten, wie Sie es sind. Der Ex-perte auf diesem Gebiet ist Dmitri Borissowitsch Fuchs.“ Das war der Name eines berühmten Mathematikers, von dem ich schon gehört hatte. „Ich habe bereits mit ihm gesprochen, und er ist einverstanden, einen Studenten, der daran arbeiten möchte, zu betreuen. Hier ist seine Telefonnummer. Rufen Sie ihn einfach an. Er wird Ihnen sagen, was zu tun ist.“

Es ist ganz normal, dass erfahrene Mathematiker wie Wartschenko im Rahmen ihrer Forschung auf alle möglichen ungelösten Probleme stoßen. Hätte Wartschenkos Problem eng mit seinem eigenen Forschungsprogramm zusammengehangen, hätte er vermutlich versucht, es selbst zu lösen. Doch kein Mathematiker macht alles allein, sodass sie oft irgendwelche ungelösten Probleme (typischerweise solche, die sie für einfacher einschätzen) an ihre Studenten weiterleiten. Manchmal liegt ein Problem außerhalb der unmit-telbaren Interessen des Professors, trotzdem ist er oder sie neugierig auf die Antwort, und so war es auch in diesem Fall. Daher hatte mich Wartschenko an Fuchs verwiesen, der auf diesem Gebiet ein Experte war. Im Großen und Ganzen war dies im sozialen Netzwerk der Mathematiker ein durchaus übli-cher Vorgang.

Ungewöhnlich war aber, dass Fuchs offiziell an keiner Universität unter-richtete. Viele Jahre lang hatte Fuchs zusammen mit einigen anderen Top-Mathematikern versucht, die Auswirkungen der Diskriminierung jüdischer Studenten an der MGU zu lindern, indem er jungen Talenten, die nicht an der MGU studieren konnten, Privatunterricht gab.

E. Frenkel, Liebe und Mathematik,DOI 10.1007/978-3-662-43421-5_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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Als Teil dieser Bemühungen hatte Fuchs mit einer Einrichtung zu tun, die als „Universität des jüdischen Volkes“ bekannt wurde. Dabei handelte es sich um eine inoffizielle Abendschule, an der er und seine Kollegen Vorlesungen für Studenten hielten. Einige dieser Vorlesungen hatten sogar am Kerosinka stattgefunden, doch das war vor meiner Zeit.

Auf die Beine gestellt hatte diese Schule eine couragierte Frau, Bella Mut-schnik Subbotowskaja, um die sich alles gedreht hatte. Unglücklicherweise hatte der KGB davon Wind bekommen und war aufgrund der ungenehmig-ten Versammlungen jüdischer Personen beunruhigt. Sie wurde schließlich vorgeladen und vom KGB verhört. Kurz nach dieser Befragung wurde sie unter sehr mysteriösen Umständen von einem Lastwagen angefahren und ge-tötet, sodass viele Leute dahinter einen kaltblütigen Mord vermuteten.1 Ohne ihre Leitung war die Schule bald am Ende.

Ich kam zwei Jahre nach dieser tragischen Kette von Ereignissen ans Ke-rosinka. Obwohl die Abendschule nicht mehr existierte, gab es immer noch ein kleines Netzwerk von Mathematikern, die unglücklichen Ausgestoßenen wie mir halfen. Sie hielten Ausschau nach vielversprechenden Studenten und gaben ihnen Rat, Unterstützung und in manchen Fällen sogar eine umfang-reiche Betreuung. Aus diesem Grund hatte Wartschenko mir das Problem gegeben, einem Studenten am Kerosinka, und nicht einem Studenten am Mekh-Math, wo er durch seine Beziehungen leicht einen willigen Hochschü-ler für diese Aufgabe hätte finden können. Und deshalb war auch Fuchs ein-verstanden, mir seine persönliche Zeit zur Betreuung zu widmen.

Ich bin sehr froh, dass es so gekommen ist. Im Nachhinein ist mir bewusst, dass ich ohne die Liebenswürdigkeit und Großzügigkeit von Fuchs niemals ein Mathematiker geworden wäre. Ich studierte zwar Mathematik am Kero-sinka, und ich hörte die Vorlesungen am MGU, doch das allein hätte nie gereicht. Für einen Studenten ist es nahezu unmöglich, ohne erfahrene Anlei-tung eigene Forschung zu betreiben. Es ist absolut notwendig, einen Betreuer zu haben.

Damals wusste ich jedoch nur, dass ich die Telefonnummer von Fuchs, einem angesehenen Mathematiker, in meiner Hand hielt und dabei war, in ein von ihm betreutes Projekt einzusteigen. Das war unglaublich! Ich wusste nicht, wo es einmal enden sollte, doch mir war sofort klar, dass etwas ganz Großes passiert war.

An diesem Abend nahm ich all meinen Mut zusammen, rief Fuchs aus einer Telefonzelle an und erklärte ihm, wer ich war.

„Ja, ich weiß“, sagte Fuchs, „ich muss Ihnen einen Artikel zum Lesen ge-ben.“

40 Liebe und Mathematik

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Wir trafen uns am nächsten Tag. Die äußerliche Erscheinung von Fuchs war die eines Riesen, nicht gerade, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Er hatte etwas von einem Geschäftsmann an sich.

„Hier“, sagte er und übergab mir die Kopie eines Artikels, „versuchen Sie, das zu lesen. Wenn Sie ein Wort nicht verstehen, rufen Sie mich an.“

Ich fühlte mich, als ob er mir gerade den Heiligen Gral übergeben hätte.Es handelte sich um einen etwas über zehn Seiten langen Artikel, den er

einige Jahre zuvor über das Thema der Zopfgruppen geschrieben hatte. Noch an diesem Abend begann ich zu lesen.

Das intensive Studium in den vergangenen drei Jahren, sowohl mit Jewge-ni Jewgenjewitsch als auch alleine, war nicht umsonst gewesen. Ich verstand nicht nur alle Worte im Titel, sondern ich konnte auch mit dem Inhalt etwas anfangen. Ich war entschlossen, den gesamten Text alleine zu lesen. Es war eine Frage der Ehre. Ich stellte mir vor, wie beeindruckt Fuchs sein würde, wenn ich ihm erzählte, dass ich alles ohne Hilfe verstanden hatte.

Ich hatte schon von „Zopfgruppen“ gehört. Sie sind wunderbare Beispiele für das Konzept einer Gruppe, das wir in Kap. 2 angesprochen haben. Jewge-ni Jewgenjewitsch hatte mich im Zusammenhang mit Symmetrien auf dieses Konzept hingewiesen, die Elemente einer Gruppe wurden also als die Sym-metrien eines Gegenstands angesehen. So bestand die Kreisgruppe aus den Symmetrien eines runden Tisches (oder jedes anderen runden Gegenstands). Sobald wir das Konzept der Gruppe einmal kennen, können wir nach weite-ren Beispielen suchen. Es zeigt sich, dass es viele Beispiele für Gruppen gibt, die nichts mit Symmetrien zu tun haben, also unserer ursprünglichen Motiva-tion, diesen Begriff überhaupt einzuführen. Das ist in der Mathematik oft der Fall. Zunächst entwickelt man einen mathematischen Formalismus aufgrund einer konkreten Problemstellung oder Erscheinung in einem bestimmten Be-reich der Mathematik (oder der Physik oder den Ingenieurswissenschaften etc.), doch später zeigt sich, dass er auch in anderen Bereichen sehr nützlich ist.

Viele Gruppen bestehen zunächst nicht aus Symmetrien irgendwelcher Objekte und dazu zählen auch die Zopfgruppen. Damals wusste ich noch nichts von den Anwendungen der Zopfgruppen außerhalb der Mathematik, beispielsweise der Kryptografie, Quantencomputern oder auch der Biologie, über die wir noch sprechen werden. Ich war jedoch wie gebannt von der in-neren Schönheit dieser mathematischen Abstraktionen.

Zu jeder natürlichen Zahl n = 1, 2, 3,… gibt es eine Zopfgruppe. Wir kön-nen die Zopfgruppen also durch diese Zahlen kennzeichnen. Allgemein be-zeichnen wir sie als B nn . Zu = 1 gibt es also die Gruppe B1, zu n = 2 die Gruppe B2 und so weiter.

5 Die Lösung wird geflochten 41

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Zur Charakterisierung der Gruppe beschreiben wir zunächst ihre Ele-mente, ähnlich wie bei den Drehsymmetrien des runden und quadratischen Tisches. Die Elemente der Gruppe sind die sogenannten n-strängigen Zöpfe (Zöpfe mit n Strängen). Abbildung 5.1 zeigt einen solchen Zopf für n = 5. Wir stellen uns zwei durchsichtige Platten mit jeweils fünf Nägeln vor, und jeder Nagel der einen Platte ist über einen Seilstrang mit einem Nagel in der anderen Platte verbunden. Da diese Platten durchsichtig sind, können wir die Stränge vollständig sehen. Jeder einzelne Strang kann sich in beliebiger Weise um die anderen Stränge herumwinden, allerdings darf er nicht mit sich selbst verwickelt bzw. verknotet sein. Außerdem ist jeder Nagel mit genau einem Strang verbunden. Die Platten bleiben fest an ihrem Ort und werden nicht verschoben.

Dieses ganze Objekt – zwei Platten mit einer bestimmten Anzahl von Strängen – entspricht einem Zopf, ebenso wie ein Auto vier Räder, ein Getrie-be, vier Türen etc. besitzt. Wir betrachten nicht die einzelnen Teile getrennt sondern den Zopf als Ganzes.

Damit haben wir einen n-strängigen Zopf definiert. Nun müssen wir zei-gen, dass alle n-strängigen Zöpfe eine Gruppe bilden. Das bedeutet, wir müs-sen angeben, wie man zwei Zöpfe hintereinanderschaltet. Mit anderen Wor-ten, aus jedem beliebigen Paar von n-strängigen Zöpfen müssen wir einen weiteren n-strängigen Zopf erzeugen, so wie wir zwei Drehungen zu einer dritten Drehung zusammengesetzt haben. Anschließend müssen wir nach-weisen, dass diese Form der Verknüpfung die Eigenschaften erfüllt, die wir in Kap. 2 besprochen haben.

Angenommen, wir haben zwei Zöpfe. Wir erhalten daraus einen neuen Zopf, indem wir einfach den einen Zopf auf den anderen stellen, wie in

Abb. 5.1 Ein Zopf mit fünf Strängen. © Frenkel

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Abb. 5.2a gezeigt. Anschließend entfernen wir die mittleren Platten und ver-binden die oberen Stränge mit den entsprechenden unteren (Abb. 5.2b).

Der so entstandene Zopf ist doppelt so hoch, doch das ist kein Problem. Wir kürzen die Stränge einfach, sodass der neue Zopf dieselbe Höhe wie die beiden Ausgangszöpfe hat, wobei wir die Art und Weise, wie die Stränge mit-einander verflochten sind, nicht verändern. Das war’s! Wir haben mit zwei Zöpfen begonnen und daraus einen neuen erzeugt. Dies ist die Vorschrift zur Verknüpfung zweier Zöpfe in unserer Zopfgruppe.

Da die Zopfgruppe nicht von einer Symmetrie herrührt, kann man statt an eine „Hintereinanderausführung“ der Elemente (was bei Symmetriegruppen sehr naheliegend war) auch an eine „Addition“ oder „Multiplikation“ denken, ähnlich wie bei den ganzen Zahlen. In dieser Sichtweise sind Zöpfe wie Zah-len – man könnte, wenn man so will, von „haarigen Zahlen“ sprechen.

Aus je zwei ganzen Zahlen können wir eine neue Zahl bilden, indem wir sie addieren. Entsprechend erhalten wir nach der oben angegebenen Regel aus zwei Zöpfen einen neuen Zopf. Wir können uns das wie eine „Addition“ von zwei Zöpfen vorstellen.

Wir müssen nun nachweisen, dass diese Addition der Zöpfe alle Eigen-schaften (alle Axiome) einer Gruppe erfüllt. Zunächst benötigen wir ein Eins-element. Bei der Kreisgruppe ist das der Punkt, der einer Drehung um 0 Grad entspricht. Bei der Zopfgruppe ist das der Zopf, bei dem alle Stränge gerade

Abb. 5.2 Die Verknüpfung zweier Zöpfe. © Frenkel

5 Die Lösung wird geflochten 43

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von oben nach unten verlaufen, ohne dass sich die Stränge in irgendeiner Weise umwinden. Dies ist in Abb. 5.3 dargestellt. Hierbei handelt es sich um eine Art „trivialen“ Zopf, bei dem tatsächlich nichts verflochten ist.2

Nun müssen wir noch den inversen Zopf zu einem gegebenen Zopf b fin-den (bei der Kreisgruppe war das eine Drehung um denselben Winkel, aber in umgekehrter Richtung). Dieser Zopf sollte die Eigenschaft haben, dass er, sofern er nach der oben angegebenen Vorschrift zu dem Zopf b addiert wird, insgesamt den trivialen Zopf ergibt.

Diesen inversen Zopf erhalten wir aus einer Spiegelung von b an der unte-ren Platte. Setzen wir diesen gespiegelten Zopf mit dem ursprünglichen Zopf entsprechend unserer Vorschrift zusammen, können wir alle Stränge so umle-gen, dass wir schließlich den trivialen Zopf erhalten.

An diesem Punkt muss ich eine wichtige Zusatzbemerkung machen, die ich bisher unterschlagen habe: Wir erachten zwei Zöpfe als gleich, wenn wir den einen aus dem anderen dadurch erhalten können, dass wir an den Strän-gen ziehen, sie schrumpfen lassen oder sie dehnen oder beliebig umlegen, so-lange wir sie nicht durchschneiden oder neu vernähen. Mit anderen Worten, die Stränge bleiben an denselben Nägeln, sie sollen auch nicht durcheinander hindurchgehen, aber sonst können wir sie ganz nach Belieben umlegen. Man könnte an eine Art „Pflege“ der Zöpfe denken. Wenn wir das machen, bleibt der Zopf derselbe (er wird nur schöner!). In diesem Sinne ist die Addition ei-nes Zopfes zu seinem Spiegelbild „dasselbe“ wie der triviale Zopf; es ist nicht derselbe im wörtlichen Sinne, sondern erst nachdem wir die Stränge entspre-chend behandelt und umgelegt haben.3

Wir sehen also, dass die Axiome einer Gruppe – Verknüpfung (oder Ad-dition), Einselement und inverses Element – erfüllt sind. Wir haben damit bewiesen, dass die n-strängigen Zöpfe eine Gruppe bilden.4

Abb. 5.3 Der triviale Zopf, das Einselement der Zopfgruppe. © Frenkel

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Um ein besseres Gefühl für die Zopfgruppen zu erhalten, betrachten wir die einfachste Gruppe B2 – die Zopfgruppe mit zwei Strängen – etwas genau-er. (Die Gruppe B1 mit einem Strang besitzt nur ein einziges Element, sodass es hier nicht viel zu diskutieren gibt.5) Wir ordnen jedem solchen Zopf eine ganze Zahl N zu. Unter einer ganzen Zahl verstehe ich eine natürliche Zahl: 1, 2, 3,…, die 0 oder eine negative natürliche Zahl: −1, −2, −3,…

Zunächst ordnen wir dem trivialen Zopf – der Identität – die Zahl 0 zu. Dem Zopf, bei dem der Strang, der am linken Nagel der oberen Platte be-ginnt, hinter dem anderen Strang zum rechten unteren Nagel verläuft, ordnen wir die 1 zu. Windet sich dieser Strang einmal um den anderen, erhält der Zopf die Zahl 2, und so weiter (Abb. 5.4).

Verläuft der Strang, der am linken oberen Nagel beginnt, vor dem ande-ren Strang zur rechten Seite, erhält dieser Zopf die Zahl −1, windet er sich in dieser Form um den anderen Strang, erhält er die Zahl −2, und so weiter (Abb. 5.5).

Wir nennen die Zahl, die wir auf diese Weise einem Zopf zugewiesen ha-ben, die Überlappungszahl des Zopfes. Zwei Zöpfe mit derselben Überlap-pungszahl können wir durch eine Adjustierung der Stränge immer ineinan-der überführen. Mit anderen Worten, der Zopf ist vollständig durch seine Überlappungszahl festgelegt. Wir erhalten auf diese Weise eine eineindeutige Beziehung zwischen den zweisträngigen Zöpfen und den ganzen Zahlen.

Ich sollte an dieser Stelle etwas betonen, was wir gewöhnlich immer als selbstverständlich annehmen: Die Menge aller ganzen Zahlen bildet selbst eine Gruppe! Wir können die Elemente dieser Gruppe addieren, die Zahl 0 ist das „Einselement“ und zu jeder Zahl N gibt es das „inverse Element“ −N. Es

Abb. 5.4 Die beiden Zöpfe zu den Zahlen 1 (a) und 2 (b). © Frenkel

5 Die Lösung wird geflochten 45

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gilt ja N N+ =0 und N N+ − =( ) .0 Damit sind alle Gruppeneigenschaften aus Kap. 2 erfüllt.

Wir haben also gerade gezeigt, dass die Gruppe der zweisträngigen Zöpfe dieselbe Struktur wie die Gruppe der ganzen Zahlen hat.6

Nun ist in der Gruppe der ganzen Zahlen die Summe von zwei Zahlen a und b unabhängig von ihrer Reihenfolge:

Das gilt auch für die Zopfgruppe B2. Gruppen mit dieser Eigenschaft bezeich-net man als kommutativ oder abelsch (zu Ehren des norwegischen Mathema-tikers Niels Henrik Abel).

Bei einem Zopf mit drei oder mehr Strängen können diese Stränge weitaus komplizierter verflochten sein als bei einem Zopf mit nur zwei Strängen. Die Verflechtungen lassen sich nicht mehr einfach durch die Anzahl der Überlap-pungen beschreiben (man betrachte dazu nochmals den fünfsträngigen Zopf in Abb. 5.1). Nun ist auch das genaue Muster dieser Überlappungen wichtig. Außerdem zeigt sich, dass die Addition von zwei Zöpfen mit drei oder mehr Strängen von der Reihenfolge der Zöpfe abhängt (also welcher der beiden Zöpfe in Abb.  5.2 oben auf den anderen Zopf gesetzt wird). Mit anderen Worten, in der Gruppe Bn mit n = 3, 4, 5,… gilt im Allgemeinen

Solche Gruppen bezeichnet man als nicht-kommutativ oder nicht-abelsch.

a b b a+ = + .

a b b a+ ≠ + .

Abb. 5.5 Die Zöpfe zu den Zahlen −1 (a) und −2 (b). © Frenkel

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Zopfgruppen haben viele wichtige praktische Anwendungen. Beispielswei-se lassen sich mit ihrer Hilfe sehr effiziente und robuste Public-Key-Verschlüs-selungsalgorithmen konstruieren.7

Auch für den Bau von Quantencomputern könnten sie nützlich sein. Man erzeugt dabei die komplexen Zöpfe mit Quantenteilchen, die man als Anyo-nen bezeichnet. Ihre Bahnen winden sich umeinander und ihre Überlappun-gen werden schließlich zu den „logischen Schaltelementen“ des Quantencom-puters.8

Es gibt auch Anwendungen in der Biologie. Für einen n-strängigen Zopf nummerieren wir zunächst die Nägel an den beiden Platte von 1 bis n, jeweils von rechts nach links. Anschließend verbinden wir die Enden der jeweiligen Stränge miteinander, die bei den beiden Platten an Nägeln mit denselben Nummern enden. Dadurch entsteht das, was Mathematiker eine Verflechtung nennen: eine Verbindung von Schleifen, die sich umeinander winden.

In dem Beispiel in Abb. 5.6 gibt es nur eine Schleife. Mathematiker be-zeichnen dies als einen Knoten. Im Allgemeinen erhält man mehrere mitein-ander verknotete Schleifen.

Die mathematische Theorie solcher Verflechtungen und Knoten wird unter anderem in der Biologie angewendet, beispielsweise um Bindungen der DNA an Enzyme zu untersuchen.9 Fassen wir die DNA und das Enzymmolekül als zwei Stränge auf, dann können sie sich auf sehr komplizierte Weise mitein-ander verknoten, was die DNA verändern kann. Solche Verknotungen sind daher von großer Bedeutung. Die mathematischen Untersuchungen solcher Verknotungen können zum Verständnis der DNA-Rekombinationen beitra-gen.

Abb. 5.6 Durch Verbindung der Stränge an gegenüberliegenden Nägeln wird aus dem Zopf (a) ein Knoten (b). © Frenkel

5 Die Lösung wird geflochten 47

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In der Mathematik sind Zöpfe auch wegen ihrer geometrischen Interpre-tation von Bedeutung. Betrachten wir dazu n Punkte in einer Ebene. Die Punkte seien verschieden, d. h., je zwei Punkte in der Ebene befinden sich an verschiedenen Orten. Zu Beginn können wir beispielsweise die n Punkte auf einer geraden Linie anordnen, wobei benachbarte Punkte immer denselben Abstand haben sollen. Nun denken wir uns jeden dieser Punkte als einen kleinen Käfer. Sobald wir die Musik anstellen, werden die Käfer lebendig und krabbeln über die Ebene. Stellen wir uns die Zeit in vertikaler Richtung vor, dann erscheint die Trajektorie von jedem Käfer wie ein Strang. Wenn die Kä-fer zu jedem Zeitpunkt an verschiedenen Orten sind, d. h., die Käfer sollen nicht zusammenstoßen, dann schneiden sich diese Stränge auch nie. Solange die Musik spielt, können die Käfer beliebig umherlaufen, wie die Stränge unserer Zöpfe. Sobald die Musik jedoch nach einer bestimmten Zeit aufhört, müssen sich die Käfer wieder entlang der ursprünglichen Linie aufstellen, sie können allerdings ihre Positionen untereinander getauscht haben. Die Wege all dieser Käfer zusammen erscheinen wie ein n-strängiger Zopf.

Wir können uns daher Zöpfe mit n Strängen auch als die Wege von n ver-schiedenen Punkten auf einer Ebene vorstellen.10

Das Problem, das Wartschenko mir gegeben hatte, und über das ich zu-sammen mit Fuchs arbeiten sollte, bezog sich auf einen Teil der Zopfgruppe, den man als Kommutator-Untergruppe (oder auch einfach Kommutatorgrup-pe) bezeichnet. Erinnern wir uns an die zweisträngigen Zöpfe, bei denen wir die Überlappungszahl definiert hatten. Eine ähnliche Zahl können wir auch einem Zopf mit einer beliebigen Anzahl von Strängen zuordnen.11 Mit dieser Zahl können wir die Kommutator-Untergruppe einer n-strängigen Zopf-gruppe definieren. Sie besteht aus allen Zöpfen, bei denen die Überlappungs-zahl insgesamt null ist.12

Von dieser Gruppe sollte ich die sogenannten Betti-Zahlen berechnen. Aus diesen Zahlen lassen sich wichtige Eigenschaften dieser Gruppe ablesen, die auch für Anwendungen von großer Bedeutung sind. Denken wir als Ana-logie an einen physikalischen Gegenstand wie ein Haus. Es besitzt viele cha-rakteristische Eigenschaften, von denen einige sehr offensichtlich sind – z. B. die Anzahl der Stockwerke, Zimmer, Türen, Fenster, etc. – und andere sind weniger offensichtlich, beispielsweise die Bausubstanz, aus der das Haus be-steht. Entsprechend hat auch eine Gruppe verschiedene Kenngrößen, und diese bezeichnet man als Betti-Zahlen.13 Fuchs hatte schon früher die Betti-Zahlen der Zopfgruppe Bn selbst berechnet. Er gab mir seinen Artikel, sodass ich mir die Grundlagen zu diesem Thema aneignen konnte.

Innerhalb einer Woche konnte ich den gesamten Artikel von Fuchs eigen-ständig lesen, nachdem ich einige mir unbekannte Konzepte und Definitio-

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nen in meiner mittlerweile recht umfangreichen Sammlung von Mathematik-büchern nachgeschlagen hatte. Ich rief Fuchs an.

„Oh, du bist es“, sagte er. „Ich hatte mich schon gewundert, weshalb du nicht anrufst. Hast du schon angefangen, den Artikel zu lesen?“

„Ja, Dmitri Borissowitsch. Ich bin sogar schon fertig.“„Fertig?“ Fuchs klang überrascht. „Nun, dann sollten wir uns treffen. Ich

möchte erfahren, was du gelernt hast.“Fuchs schlug vor, dass wir uns am nächsten Tag an der MGU im Anschluss

an ein Seminar, das er besuchen wollte, treffen sollten. Während ich mich auf das Treffen vorbereitete, ging ich den Artikel nochmal genau durch und überlegte mir die Antworten zu möglichen Fragen, die Fuchs mir vielleicht stellen würde. Ein derart bekannter Mathematiker wie Fuchs nimmt sich ei-nes neuen Studenten nicht einfach nur aus Mitleid an. Es stand viel auf dem Spiel. Mir war bewusst, dass mein erstes Gespräch mit Fuchs vergleichbar mit einem musikalischen Vorspiel war. Deshalb war ich so wild entschlossen, einen guten Eindruck zu hinterlassen.

Wir trafen uns zum verabredeten Zeitpunkt und liefen durch die Flure der Mekh-Math auf der Suche nach einer Bank, wo man uns nicht stören wür-de. Nachdem wir uns gesetzt hatten, erzählte ich Fuchs, was ich aus seinem Artikel gelernt hatte. Er hörte aufmerksam zu und stellte gelegentlich eine Frage. Ich glaube, dass er sehr zufrieden war mit dem, was ich ihm erzählte. Er wurde neugierig, woher ich das ganze Zeug kannte, und ich erzählte ihm von meinen Treffen mit Jewgeni Jewgenjewitsch, meinen Mathebüchern und den Vorlesungen am Mekh-Math, die ich heimlich besucht hatte. Wir sprachen sogar über meine Aufnahmeprüfung am MGU (diese Dinge waren für Fuchs natürlich nichts Neues).

Glücklicherweise verlief unser Treffen sehr gut. Fuchs schien von meinem Kenntnisstand beeindruckt. Er meinte, ich sei bereit, das Problem von Wart-schenko anzugehen, und er würde mir dabei helfen.

Als ich die MGU an diesem Nachmittag verließ, war ich bester Dinge. Ich war drauf und dran, mit der Arbeit an meinem ersten Matheproblem zu be-ginnen, und wurde dabei von einem der besten Mathematiker der Welt unter-stützt. Noch nicht einmal zwei Jahre waren seit meiner Aufnahmeprüfung am Mekh-Math vergangen, und ich war wieder im Rennen.

5 Die Lösung wird geflochten 49

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Ein mathematisches Problem zu lösen ähnelt einem Puzzle, allerdings weiß man vorher nie, wie das Bild schließlich aussehen wird. Das Problem könn-te schwer oder leicht sein, es könnte aber auch unlösbar sein. Man weiß es nicht, bis man die Lösung tatsächlich hat (oder erkennt, dass es nicht lösbar ist). Diese Unsicherheit ist vielleicht das Schwierigste am Dasein eines Ma-thematikers. In anderen Gebieten kann man improvisieren, andere Lösungen finden oder sogar die Spielregeln ändern. Manchmal ist noch nicht einmal klar definiert, was überhaupt als Lösung zählt. Hätte man uns beispielsweise beauftragt, die Produktivität einer Firma zu verbessern, wäre noch nicht ein-mal das Erfolgsmaß eindeutig gewesen. Reicht eine Verbesserung um 20 %? Wie steht es mit 10 %? In der Mathematik ist ein Problem immer klar defi-niert und auch hinsichtlich der Lösung gibt es keine Willkür. Entweder man löst das Problem, oder man löst es nicht.

Fuchs hatte mir die Aufgabe gestellt, die Betti-Zahlen der Gruppen zu berechnen. Die Bedeutung dieser Aufgabe war eindeutig. Für jemanden, der mit der Sprache der Mathematik vertraut ist, bedeutet sie heute dasselbe wie 1986, als ich zum ersten Mal vor diesem Problem stand, und es wird auch in hundert Jahren noch dasselbe bedeuten.

Ich wusste, dass Fuchs ein ähnliches Problem gelöst hatte, und ich wusste auch, wie er es gemacht hatte. Ich bereitete mich daher auf meine eigene Auf-gabe vor, indem ich ähnliche Probleme durcharbeitete, bei denen die Lösun-gen bereits bekannt waren. Dadurch erhielt ich eine gewisse Intuition, lernte Techniken kennen und gewann an Erfahrung. Ich konnte jedoch nicht wis-sen, welches dieser Verfahren tatsächlich zum Erfolg führen würde oder auf welchem Weg ich das Problem angehen sollte. Ich wusste noch nicht einmal, ob ich das Problem überhaupt lösen konnte, ohne ein vollkommen neues Verfahren zu entwickeln.

Vor diesem Dilemma stehen alle Mathematiker. Ein schönes Beispiel ist ei-nes der berühmtesten mathematischen Probleme: der große Fermat’sche Satz. Das Problem lässt sich sehr leicht formulieren, aber die Lösung ist alles andere als offensichtlich. Wir wählen eine natürliche Zahl n, also 1, 2, 3,… und be-trachten die Gleichung

E. Frenkel, Liebe und Mathematik, DOI 10.1007/978-3-662-43421-5_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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wobei x, y und z ebenfalls natürliche Zahlen sein sollen.Für n = 1 erhalten wir die Gleichung

die sicherlich viele Lösungen für natürliche Zahlen besitzt: Man wähle eine beliebige Zahl x und eine beliebige Zahl y und setze z x y= + . Man beachte, dass wir hier die Addition von natürlichen Zahlen verwenden, die wir im letzten Kapitel besprochen hatten.

Für n = 2 erhalten wir die Gleichung

Auch diese Gleichung hat viele Lösungen im Bereich der natürlichen Zahlen, z. B.:

All das war bereits in der Antike bekannt. Nicht bekannt war jedoch, ob diese Gleichung irgendwelche Lösungen (im Bereich der natürlichen Zahlen) für n größer als 2 hat. Das klingt sehr einfach – oder nicht? Wie schwer kann die Beantwortung einer solchen Frage schon sein?

Die Lösung erwies sich schließlich als außerordentlich schwierig. Der fran-zösische Mathematiker Pierre Fermat hinterließ im Jahre 1637 in einem alten Buch eine Randnotiz, wonach es für n größer als 2 zu dieser Gleichung keine Lösungen in Form von natürlichen Zahlen x, y und z geben könne. Mit ande-ren Worten, es gibt keine drei natürlichen Zahlen x, y und z, sodass

Ebenso wenig gibt es natürliche Zahlen x, y, z, sodass

und so weiter.Fermat schrieb, er habe einen einfachen Beweis dieser Behauptung für alle

n größer als 2 gefunden, „doch ist der Rand hier zu schmal, um ihn zu fassen.“ Diese Anmerkung Fermats wurde von vielen professionellen Mathematikern wie auch Amateuren zum Anlass genommen, diesen „Beweis“ zu finden. Da-durch wurde das Problem zur berühmtesten mathematischen Herausforde-

x y zn n n+ = ,

x y z + = ,

x y z2 2 2+ = .

3 4 52 2 2+ = .

x y z3 3 3+ = .

x y z4 4 4+ =

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rung aller Zeiten. Zu seiner Lösung wurden mehrere Preise ausgesetzt. Hun-derte von Beweisen wurden formuliert und veröffentlicht, die aber wieder in sich zusammenfielen. 350 Jahre später war das Problem immer noch ungelöst.

Im Jahre 1993 verkündete der Mathematiker Andrew Wiles aus Princeton, einen eigenen Beweis für den großen Fermat’schen Satz gefunden zu haben. Dieser Beweis hatte jedoch auf den ersten Blick nichts mit dem ursprüngli-chen Problem zu tun. Statt den großen Fermat’schen Satz zu beweisen, hatte sich Wiles auf die sogenannte Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung gestürzt, bei der es um etwas ganz anderes geht und die wesentlich schwieriger zu for-mulieren ist. Einige Jahre zuvor hatte jedoch Ken Ribet, ein Mathematiker aus Berkeley, bewiesen, dass diese Vermutung auch den großen Fermat’schen Satz beinhaltet. Aus diesem Grund war ein Beweis dieser Vermutung gleich-zeitig auch ein Beweis für den großen Fermat’schen Satz. In Kap. 8 werden wir darauf genauer eingehen, hier geht es mir nur darum festzuhalten, dass ein zunächst einfach erscheinendes Problem nicht unbedingt auch eine ein-fache Lösung haben muss. Heute gilt es als sicher, dass Fermat den nach ihm benannten Satz nicht bewiesen haben kann. Es mussten erst ganz neue ma-thematische Gebiete erschlossen werden, bis dieser Beweis möglich wurde. In dieser Entwicklung steckte sehr viel Arbeit, und es waren Generationen von Mathematikern beteiligt.1

Hätte man das vorhersehen können, wenn man die harmlose Gleichung

betrachtet? Sicherlich nicht!Bei keinem mathematischen Problem weiß man vorab, was in die Lösung

alles einfließen wird. Man hofft und betet, dass man eine nette und elegante Lösung findet und vielleicht sogar nebenher noch etwas Interessantes ent-deckt. Und insbesondere hofft man, dass sich die Lösung innerhalb einer überschaubaren Zeit ergibt und man nicht 350 Jahre warten muss. Sicher ist man sich dessen jedoch nie.

Was mein Problem betraf, so hatte ich Glück: Es gab tatsächlich eine ele-gante Lösung, und ich fand sie in der vergleichsweise kurzen Zeit von rund zwei Monaten. Einfach war es für mich jedoch nicht – aber das ist es nie. Ich hatte viele verschiedene Verfahren durchprobiert. Nachdem eine nach dem anderen fehlschlug, wurde ich zunehmend frustrierter und unsicherer. Es war mein erstes Problem, und ich fragte mich unweigerlich, ob ich wirklich ein guter Mathematiker sein könnte. Diese Aufgabe war mein erster Test, ob ich geeignet war.

Neben der Arbeit an diesem Problem musste ich natürlich immer noch am Kerosinka meine Vorlesungen besuchen und Prüfungen ablegen, doch die

x y zn n n+ =

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höchste Priorität hatte das Problem, mit dem ich endlose Stunden, Nächte und Wochenenden verbrachte. Ich setzte mich viel zu sehr unter Druck. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Schlafprobleme. Die Schlafstörungen während meiner Arbeit an dem Problem waren die ersten „Nebenwirkungen“ meiner mathematischen Forschung. Noch viele Monate später verfolgten sie mich, und seit dieser Zeit versuche ich, mich nie mehr so tief in einem ma-thematischen Problem zu verlieren.

Ich traf mich wöchentlich mit Fuchs im Mekh-Math-Gebäude und erzählte ihm über meine Fortschritte oder auch Rückschläge. Mittlerweile hatte er mir einen Ausweis besorgt, sodass ich nicht mehr über den Zaun klettern musste. Fuchs unterstützte und ermutigte mich immer, und jedes Mal, wenn wir uns trafen, erklärte er mir neue Tricks oder gab mir Hinweise, die ich dann auf mein Problem anwenden konnte.

Und dann, plötzlich, hatte ich die Lösung gefunden. Sie lag vor mir in all ihrer Schönheit.

Fuchs hatte mir eines der Standardverfahren zur Berechnung von Betti-Zahlen, die sogenannte Spektralfolge, erklärt, und ich hatte es auf mein Prob-lem angewandt. Auf diese Weise konnte ich im Prinzip die Betti-Zahlen der Gruppe berechnen, sofern ich die Betti-Zahlen aller anderen Gruppen für m < n kannte. Der Nachteil war natürlich, dass ich zunächst auch diese anderen Betti-Zahlen nicht kannte.

Nun konnte ich jedoch das Problem auf eine bestimmte Weise angehen: Wenn es mir gelang, zunächst die richtige Antwort zu raten, konnte ich sie mithilfe dieses Verfahrens im Nachhinein auch beweisen.

Das ist leicht gesagt, denn um eine solche Formel raten zu können, muss man zunächst ziemlich viele Beispiele durchrechnen, die zunehmend schwie-riger werden. Lange Zeit sah ich keinerlei Regelmäßigkeiten.

Doch plötzlich, wie durch einen dunklen Zauber, war alles klar. Das Puzzle war komplett, und vor mir enthüllte sich das ganze Bild in seiner Eleganz und Schönheit. Diesen Augenblick werde ich nie vergessen. Es war ein unglaub-liches Hochgefühl, das alle schlaflosen Nächte wert war und an das ich mich stets gerne zurückerinnern werde.

Zum ersten Mal in meinem Leben besaß ich etwas, das niemand anderes auf der Welt hatte. Ich konnte etwas Neues über das Universum sagen. Es war zwar kein sicheres Heilmittel gegen Krebs, aber es war ein wertvolles Stück Wissen, das mir niemand mehr nehmen konnte.

Wer dieses Gefühl einmal erlebt hat, möchte es nicht mehr missen. Für mich war es das erste Mal, und wie der erste Kuss war es etwas ganz Be-sonderes. Ich wusste in diesem Augenblick, dass ich mich als Mathematiker bezeichnen durfte.

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Die Antwort war tatsächlich ziemlich überraschend und weitaus interes-santer, als Fuchs oder ich es uns vorgestellt hatten. Ich hatte herausgefunden, dass es zu jedem Teiler der natürlichen Zahl n (der Anzahl der Stränge in den untersuchten Zöpfen) eine Betti-Zahl der Gruppe gibt, die gleich der be-kannten Euler-Funktion dieses Teilers ist.2

Die Euler-Funktion ordnet jeder natürlichen Zahl d eine andere natürliche Zahl φ( d) zu. Dies ist die Anzahl der ganzen Zahlen zwischen 1 und d, die re-lativ zu d teilerfremd sind, also keinen gemeinsamen Teiler mit d haben (außer der Zahl 1 natürlich).

Betrachten wir als Beispiel d = 6. Die Zahl 1 ist teilerfremd zu 6, die Zahl 2 nicht (sie ist selbst ein Teiler von 6), die Zahl 3 ebenfalls nicht (sie ist auch ein Teiler von 6), die Zahl 4 ist nicht teilerfremd zu 6 (4 und 6 besitzen einen ge-meinsamen Teiler, nämlich 2), 5 ist teilerfremd zu 6 und 6 ist natürlich nicht teilerfremd zu sich selbst. Es gibt also zwischen 1 und 6 nur zwei natürliche Zahlen, die relativ zu 6 teilerfremd sind: 1 und 5. Also hat die Euler-Funktion für 6 den Wert 2. Dies schreiben wir als φ(6) = 2.

Die Euler-Funktion hat viele Anwendungen. Sie tritt unter anderem im Zusammenhang mit dem sogenannten RSA-Algorithmus auf, mit dem Kre-ditkartennummern bei Online-Geschäften verschlüsselt werden (Näheres dazu in Anmerkung 7 zu Kap. 14). Benannt ist sie nach dem Schweizer Ma-thematiker Leonhard Euler, der im achtzehnten Jahrhundert lebte.

Die Tatsache, dass die von mir gefundenen Betti-Zahlen durch die Euler-Funktion gegeben waren, deutete auf einen versteckten Zusammenhang zwi-schen Zopfgruppen und der Zahlentheorie hin. Daher hatten das Problem und seine Lösung möglicherweise Auswirkungen weit über den ursprüngli-chen Rahmen hinaus.

Natürlich war ich besessen darauf, Fuchs von meinen Ergebnissen zu be-richten. Es war bereits Juni 1986, beinahe drei Monate, nachdem wir uns zum ersten Mal getroffen hatten. Fuchs verbrachte den Sommer zusammen mit seiner Frau und zwei jungen Töchtern in seiner Datscha in der Nähe von Moskau. Zum Glück lag sie an derselben Zuglinie wie meine Heimatstadt, ungefähr auf der Hälfte, und so konnte ich ihn dort leicht auf meinem Weg nach Hause besuchen.

Nach der üblichen Tasse Tee fragte Fuchs nach meinen Fortschritten.„Ich habe das Problem gelöst!“Ich konnte meine Aufregung kaum zügeln, und ich glaube, die Beschrei-

bung meines Beweises war ziemlich umständlich. Doch Fuchs verstand die Zusammenhänge rasch und sah sehr zufrieden aus.

„Großartig“, meinte er. „Gut gemacht! Nun musst du einen Artikel darü-ber schreiben.“

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Es war das erste Mal, dass ich einen mathematischen Artikel schrieb, und es war nicht weniger frustrierend als die mathematische Arbeit selbst, mach-te aber deutlich weniger Spaß. Die Suche nach neuen Beziehungen an der vordersten Wissensfront war fesselnd und aufregend. Doch am Schreibtisch zu sitzen, die Gedanken zu ordnen und auf Papier zu bringen, war eine voll-kommen andere Sache. Später erklärte mir jemand, Artikel zu schreiben sei die Strafe für den Nervenkitzel bei der Entdeckung neuer mathematischer Zusammenhänge. Es war das erste Mal, dass ich dieser Strafe ausgesetzt war.

Ich zeigte Fuchs meine Entwürfe. Er las sie sorgfältig, wies mich auf Mängel hin und empfahl Verbesserungen. Wie immer war er mit seiner Hilfe außer-ordentlich großzügig. Von Anfang an hatte ich seinen Namen als Mitautor auf den Artikel geschrieben, doch er lehnte kategorisch ab. „Das ist dein Ar-tikel“, sagte er. Schließlich meinte Fuchs, der Artikel sei fertig und ich sollte ihn bei Functional Analysis and Applications einreichen. Diese mathematische Fachzeitschrift wurde von Israel Moissejewitsch Gelfand geführt, einem der großen Väter der Schule sowjetischer Mathematik.

Gelfand war ein gedrungener Mann Anfang siebzig mit einer charismati-schen Ausstrahlung. Und unter den Mathematikern in Moskau war er eine Legende. Er leitete ein wöchentliches Seminar im großen Hörsaal im vier-zehnten Stock des MGU-Hauptgebäudes. Seit über fünfzig Jahren gab es dieses bedeutende mathematische und soziale Ereignis, und es war auf der ganzen Welt bekannt. Fuchs war ein früherer Mitarbeiter von Gelfand (ihre Arbeit über die heute als Gelfand-Fuchs-Kohomologien bekannten Strukturen gilt allgemein als wegweisend) und einer der ältesten Mitglieder von Gelfands Seminar. (Andere Mitglieder waren A. A. Kirillow, ein früherer Student von Gelfand, sowie M. I. Graev, Gelfands langjähriger Mitarbeiter.)

Das Seminar unterschied sich von allen anderen Seminaren, die ich jemals besucht hatte. Üblicherweise hat ein Seminar eine zeitliche Begrenzung – oft eine Stunde oder anderthalb Stunden – und es gibt einen Sprecher, der vorab einen Vortrag über ein bestimmtes Thema vorbereitet hat. Gelegentlich stel-len Zuhörer einmal eine Frage. Doch im Gelfand-Seminar war alles anders. Es fand jeden Montagabend statt und begann offiziell um 19:00 Uhr. Tatsächlich begann es jedoch selten vor 19:30, meist sogar erst um 19:45 oder gar 20:00 Uhr. Während dieser Zeit vor dem eigentlichen Beginn liefen die Teilnehmer (einschließlich Gelfand selbst, der meist erst um 19:15 oder 19:30 erschien) im Hörsaal oder auch im Foyer umher und sprachen miteinander. Offenbar war das auch Gelfands Absicht. Mehr noch als ein Matheseminar handelte es sich hierbei um ein soziales Ereignis.

Viele der Mathematiker in Gelfands Seminar arbeiteten nicht an der MGU, sondern kamen von den unterschiedlichsten Stellen. Dieses Ereignis war der einzige Ort, wo man sich mit Kollegen treffen, austauschen oder auch Zu-

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sammenarbeiten vereinbaren konnte. Außerdem erfuhr man, was es Neues in der Welt der Mathematik gab. Da Gelfand selbst Jude war, galt sein Seminar als einer der „sicheren Häfen“ für Juden und wurde von vielen sogar als „die einzige Festivität“ (oder zumindest eine der wenigen) gefeiert, an der jüdische Mathematiker teilnehmen konnten. (Fairerweise sollte ich anmerken, dass es an der MGU viele andere Seminare gab, die öffentlich waren und von Leuten geleitet wurden, die keine Vorurteile gegen irgendwelche ethnischen Gruppen hatten.) Für Gelfand war dies zweifelsohne ein großer Vorteil.

Der Antisemitismus, den ich bei meinen Aufnahmeprüfungen an der MGU erfahren hatte, zog sich durch alle akademischen Bereiche in der So-wjetunion. In den 1960er oder 1970er Jahren gab es zwar schon Einschrän-kungen, oder „Quoten“, für Studenten mit jüdischem Hintergrund, doch gewöhnlich konnten sie am Mekh-Math zumindest studieren (während der 1970er und 1980er Jahre wurde es wesentlich schlimmer, sodass um 1984, als ich mich beworben hatte, nahezu keine jüdischen Studenten mehr ange-nommen wurden).3 Doch selbst damals war es für diese Studierenden nicht möglich, an einem Graduiertenprogramm teilzunehmen und zu promovie-ren. Für jüdische Studenten bestand die einzige Möglichkeit zu promovieren darin, nach dem Bachelor oder Diplom drei Jahre lang irgendwo zu arbeiten und dann von ihrem Arbeitgeber (oftmals irgendwo in der Provinz) zu den Graduiertenprogrammen geschickt zu werden. Doch selbst, wenn sie diese Hürde genommen und ihre Promotion abgeschlossen hatten, war es für sie unmöglich, in Moskau (z. B. an der MGU) im Bereich der Mathematik eine akademische Stelle zu erhalten. Entweder mussten sie sich mit einer akade-mischen Stelle irgendwo in der Provinz zufriedengeben, oder sie mussten an eines der Forschungsinstitute in Moskau gehen, wo sie praktisch nichts mehr mit Mathematik zu tun hatten. Noch schlimmer war die Lage für Studen-ten, die selbst nicht aus Moskau kamen, denn sie hatten keine Propiska, den Nachweis Moskauer Bürger zu sein, der für eine Arbeit in der Hauptstadt vorgeschrieben war.

Selbst die begabtesten Studenten wurden so behandelt. Wladimir Drin-feld, ein brillanter Mathematiker, dem später die Fields-Medaille verliehen wurde und über den wir noch sprechen werden, durfte zwar unmittelbar nach seinem Bachelor am Mekh-Math promovieren (obwohl auch das, wie ich ge-hört habe, sehr schwierig war), doch da er aus Charkiw in der Ukraine kam, bekam er in Moskau keine Stelle. Er musste sich mit einer Dozentenstelle an einer provinziellen Universität in Ufa, einer Industriestadt im Ural, zufrieden-geben. Später erhielt er eine Stelle als Forscher am Institut für Tieftemperatur-physik in Charkiw.

Wer in Moskau blieb, erhielt eine Stelle an Einrichtungen wie dem Institut für Erdbebenforschung oder dem Institut für Signalverarbeitung. Ihr Alltag

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bestand aus langweiligen Berechnungen für irgendwelche großen Firmen, mit denen ihre Institute zusammenarbeiteten (wobei manche mit ihren Fähig-keiten sogar in diesen Bereichen Neuland betreten haben). Mathematische Forschung, ihre wirkliche Leidenschaft, mussten sie als Nebentätigkeit auf ihre Freizeit verschieben.

Gelfand selbst musste seine Lehrtätigkeit am Mekh-Math 1968 aufgeben, nachdem er zusammen mit insgesamt neunundneunzig Mathematikern einen berühmten Brief unterzeichnet hatte, in dem die Freilassung des Mathema-tikers und Menschenrechtlers Alexander Jessenin-Wolpin (Sohn des Dichters Sergei Jessenin) gefordert wurde, der aus politischen Gründen in eine psych-iatrische Anstalt gesperrt worden war. Als dieser außerordentlich geschickt formulierte Brief von der BBC im Rundfunk verbreitet wurde, bewirkte die dadurch ausgelöste weltweite Entrüstung, dass die sowjetische Führung Jesse-nin-Wolpin sofort frei ließ.4 Andererseits waren die Behörden darüber ziem-lich verärgert, und so fanden sie viele Möglichkeiten, jeden Unterzeichner im Nachhinein zu bestrafen. Insbesondere wurden viele der Unterzeichner aus ihren Lehrämtern entlassen.5

Gelfand war damit kein Mathematikprofessor an der MGU mehr, aller-dings konnte er sein Seminar weiterführen, das immer noch im Hauptgebäu-de der MGU abgehalten wurde. Offiziell hatte er eine Stelle an einem von ihm gegründeten biologischen Forschungslabor der MGU. Biologie war eine weitere seiner Leidenschaften.*1Fuchs war in demselben Labor beschäftigt.

Fuchs hatte mich schon früher gedrängt, Gelfands Seminar zu besuchen, und gegen Ende des Frühjahrssemesters hatte ich an einigen Treffen teilge-nommen. Diese Treffen machten auf mich einen nachhaltigen Eindruck. Gelfand leitete sein Seminar sehr autoritär. Er entschied jede Einzelheit, und obwohl seine Seminare für einen Außenstehenden zunächst chaotisch und unorganisiert erschienen, steckte er tatsächlich sehr viel Zeit und Energie in die Vorbereitung und den Ablauf der wöchentlichen Treffen.

Drei Jahre später bat mich Gelfand, über meine eigene Arbeit zu sprechen, und bei der Gelegenheit konnte ich einen Blick hinter die Kulissen dieses Se-minars werfen. Doch zunächst beobachtete ich es aus dem Blickwinkel eines siebzehnjährigen Studenten, der seine mathematische Laufbahn gerade erst begonnen hatte.

* Interessant ist auch, dass Gelfand erst Mitte der 80er Jahre zu einem vollen Mitglied der Akademie der Wissenschaften in der UdSSR gewählt wurde, weil der mathematische Zweig der Akademie jahrzehnte-lang unter der Aufsicht von Iwan Matwejewitsch Winogradow, dem Direktor des Steklov-Instituts für Mathematik in Moskau, stand. Winogradows Spitzname war „Ober-Antisemit der UdSSR“ und er hatte drakonische antisemitische Maßnahmen sowohl an der Akademie als auch am Steklov-Institut, dem er für beinahe fünfzig Jahre vorstand, durchgesetzt.

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In mehrfacher Hinsicht war das Seminar die Bühne für einen einzigen Akteur. Offiziell gab es einen vorherbestimmten Sprecher, der über ein vor-herbestimmtes Thema vortragen sollte, doch das war meist nur ein Teil des Seminars. Gelfand kam gewöhnlich auf ganz andere Themen zu sprechen und bat andere Mathematiker, die sich nicht vorbereitet hatten, die Dinge an der Tafel zu erklären. Doch er stand immer im Mittelpunkt. Ausschließlich er lenkte den Verlauf des Seminars und hatte die absolute Macht, einen Sprecher jederzeit mit Fragen, Vorschlägen oder Bemerkungen zu unterbrechen. Ich habe immer noch sein „Daite opredelenie“ – „Gib die Definition“ – im Ohr. Es war seine Lieblingsermahnung an einen Redner.

Er hatte auch die Angewohnheit, sich in lange Tiraden über die unter-schiedlichsten Themen (oftmals ohne jeden Zusammenhang zu den gerade behandelten Inhalten) zu ergehen. Er erzählte Witze, Anekdoten, alle mögli-chen Geschichten, von denen einige sehr unterhaltsam waren. Hier hatte ich auch die im Vorwort erwähnte Geschichte von dem Trinker gehört, der zwar vielleicht nicht sagen kann, ob 2/3 oder 3/5 größer ist, der aber sehr wohl weiß, dass 2 Flaschen Wodka für 3 Personen besser sind als 3 Flaschen Wodka für 5 Personen. Gelfand hatte auch die Fähigkeit, die Fragen von anderen „umzuformulieren“, sodass die Antworten offensichtlich wurden.

Ein anderer Witz, den er gerne erzählte, bezog sich auf den drahtlosen Fernschreiber: „Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bittet jemand einen Physiker auf einer Party: Kannst du erklären, wie das funktioniert? Der Phy-siker antwortet, dies sei sehr einfach. Zunächst müsse man verstehen, wie der gewöhnliche, verdrahtete Fernschreiber funktioniere: Man stelle sich einen Hund vor, dessen Kopf in London und dessen Schwanz in Paris ist. Wenn man in Paris am Schwanz zieht, bellt der Hund in London. Der drahtlo-se Fernschreiber funktioniert ganz genauso, sagt der Physiker, nur ohne den Hund.“

Nachdem er den Witz erzählt und das Abklingen des Gelächters abgewartet hatte (selbst von den Teilnehmern, die ihn schon tausendmal gehört hatten), wandte sich Gelfand wieder dem gerade diskutierten mathematischen Prob-lem zu. Wenn er der Meinung war, dass die Lösung des Problems ganz neue Ansätze erforderte, sagte er oft: „Ich möchte damit sagen, wir sollten es ohne den Hund machen.“

Sehr oft wurde bei dem Seminar auch ein kontrol’nyj sluschatel’, ein Test-hörer, bestimmt. Gewöhnlich handelte es sich dabei um einen jüngeren Teil-nehmer, der in regelmäßigen Abständen zu wiederholen hatte, was der Spre-cher gesagt hatte. War man der Meinung, dass der Testhörer dem Vortrag gut folgen konnte, machte der Sprecher seine Sache gut. Andernfalls musste der Sprecher langsamer weitermachen und die Dinge besser erklären. Gelegent-lich blamierte Gelfand auch einen besonders unverständlichen Sprecher und

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ersetzte ihn durch einen anderen Seminarteilnehmer. (Natürlich konnte sich Gelfand auch über den Testhörer lustig machen.) All dies machte das Seminar zu einer sehr unterhaltsamen Veranstaltung.

Gewöhnlich plätschert ein Seminar einfach nur vor sich hin: Die Teilneh-mer hören brav zu (manche dösen dabei auch ein) und sind zu träge, zu höf-lich oder auch einfach zu ängstlich, dem Sprecher irgendwelche Fragen zu stellen; lernen dürften sie dabei wenig. Zweifelsohne hielt der besondere Ab-lauf und der im Allgemeinen subversive Charakter von Gelfands Seminar die Leute nicht nur wach (was nicht so einfach war, denn das Seminar dauerte oft bis Mitternacht), sondern es stimulierte sie auch auf eine Weise, die bei anderen Seminaren einfach nicht möglich war. Gelfand forderte von seinen Sprechern eine Menge. Sie arbeiteten hart, er allerdings auch. Wie auch im-mer man über Gelfands Art denken mag, die Teilnehmer verließen das Semi-nar nie mit leeren Händen.

Ich habe allerdings den Eindruck, dass ein solches Seminar nur in einer to-talitären Gesellschaft wie der Sowjetunion möglich war. Die Menschen waren diktatorisches Verhalten und Machtgehabe wie das von Gelfand gewohnt. Er konnte gegenüber anderen Menschen hart und manchmal auch beleidigend sein. Ich glaube nicht, dass irgendjemand im Westen ein solches Verhalten to-lerieren würde. Doch in der Sowjetunion war das nichts Außergewöhnliches, und niemand beschwerte sich. (Ein anderes berühmtes Beispiel dieser Art war das Seminar von Lev Landau über theoretische Physik.)

Bei einem meiner ersten Besuche des Seminars hatte Gelfand einen jun-gen Physiker namens Wladimir Kasakow gebeten, eine Reihe von Vorträgen über seine Arbeiten über sogenannte Matrixmodelle zu halten. Kasakow ver-wendete Verfahren aus der Quantenphysik und konnte damit mathematische Ergebnisse ableiten, die man in der Mathematik mit den üblichen Verfahren nicht erhielt. Gelfand hatte immer schon ein Interesse an der Quantenphysik gehabt und daher hatte dieses Thema in seinen Seminaren eine wichtige Rolle gespielt. Er war von Kasakows Arbeiten besonders beeindruckt und förderte ihre Verbreitung unter den Mathematikern. Wie viele von Gelfands Vorah-nungen erwies sich auch diese als Goldader: Einige Jahre später wurden die Arbeiten berühmt und kamen in Mode und sie führten sowohl in der Physik als auch der Mathematik zu vielen wichtigen Ergebnissen.

Bei seinen Vorträgen am Seminar versuchte Kasakow in bewundernswerter Weise, seine Ideen den Mathematikern zu vermitteln. Gelfand war ihm ge-genüber wesentlich rücksichtsvoller als sonst und unterbrach ihn seltener als andere Redner.

Während dieser Vorträge am Seminar erschien ein neuer Artikel von John Harer und Don Zagier mit einer eleganten Lösung zu einem sehr schwierigen kombinatorischen Problem.6 Zagier hat den Ruf, scheinbar unlösbare Proble-

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me zu lösen, und er ist dabei erstaunlich schnell. Es hieß, dass ihn die Lösung dieses Problems nur sechs Monate gekostet habe und dass er sehr stolz darauf sei. Beim nächsten Seminar wollte Kasakow seinen Vortrag fortsetzen, doch Gelfand bat ihn, mithilfe seiner Matrixmodelle das Harer-Zagier-Problem zu lösen. Gelfand hatte das Gefühl, dass Kasakows Verfahren für diese Art von Problemen nützlich seien, und er hatte Recht. Kasakow kannte den Artikel von Harer und Zagier nicht, und so hörte er die Frage in diesem Augenblick zum ersten Mal. Er stand an der Tafel, dachte einige Minuten darüber nach, und dann schrieb er die Lagrange-Funktion einer Quantenfeldtheorie auf, aus der sich die Antwort mit seinen Verfahren ergeben würde.

Sämtliche Teilnehmer waren verblüfft, außer Gelfand. Er fragte Kasakow mit unschuldiger Miene: „Wolodja, wie viele Jahre arbeitest du schon an die-ser Thematik?“

„Ich weiß nicht, Israel Moissejewitsch, vielleicht seit sechs Jahren.“„Also hast du zur Lösung sechs Jahre und zwei Minuten gebraucht. Don

Zagier brauchte nur sechs Monate. Hmmm… Siehst du, um wie viel besser er ist?“

Im Vergleich zu manch anderen „Scherzen“ war dieser noch sehr harmlos. Man brauchte schon eine dicke Haut, um in seiner Umgebung überleben zu können. Leider nahmen einige Redner diese Form der öffentlichen Abkanze-lungen persönlich und litten sehr darunter. Ich sollte jedoch hinzufügen, dass Gelfand seine scharfe Zunge in erster Linie gegenüber den älteren, etablierten Mathematikern einsetzte. Zu den jüngeren Mathematikern, besonders zu den Studenten, war er wesentlich freundlicher.

Gelfand sagte immer, bei seinem Seminar seien alle Studenten, alle begab-ten Doktoranden und ausschließlich brillante Professoren willkommen. Ihm war bewusst, welche Bedeutung neue Generationen von Mathematikern für das Gebiet haben, und er umgab sich gerne mit jungen Talenten. Dadurch blieb er ebenfalls jung (er selbst forschte auf aktuellen Gebieten bis ins hohe Alter von fast neunzig Jahren). Oft lud er sogar Oberstufenschüler zu seinem Seminar ein und platzierte sie in die erste Reihe, um sicherzustellen, dass sie auch aufpassten. (Natürlich waren es nicht gewöhnliche Schüler und viele von ihnen wurden später bekannte Mathematiker.)

Allem Anschein nach war Gelfand sehr großzügig gegenüber seinen Stu-denten und verbrachte regelmäßig viele Stunden mit ihnen, was nur wenige Professoren machen. Es war aber nicht leicht, sein Student zu sein. Bei aller Zuneigung war er sehr streng, und sie mussten mit vielen Schrullen und dik-tatorischen Anwandlungen zurechtkommen. Ich habe mit vielen seiner ehe-maligen Studenten gesprochen, und nach meinem Eindruck waren sie ihm gegenüber immer loyal und fühlten sich zu großem Dank verpflichtet.

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Ich war kein Student von Gelfand – eher ein „studentischer Enkel“, da meine beiden Lehrer, Fuchs und Feigin (den ich damals noch nicht kannte), zumindest teilweise seine Studenten waren. Daher betrachte ich mich zumin-dest als Teil der „Gelfand’schen mathematischen Schule“. Viele Jahre später, als er und ich in den Vereinigten Staaten waren, stellte er mir diese Frage di-rekt und als ich sie bejahte, zeigte er sich offensichtlich sehr zufrieden. Seine mathematische Schule und ihre Mitglieder waren ihm sehr wichtig.

Seine Schule, dessen Seminar ein zentraler Teil war und als Fenster zur mathematischen Welt diente, hatte nicht nur einen großen Einfluss auf die Mathematik in Moskau, sondern weltweit. Ausländische Mathematiker ka-men nach Moskau, nur um Gelfand zu treffen und sein Seminar zu besuchen, und für viele war es eine Ehre, dort vortragen zu dürfen.

Gelfands faszinierende und legendäre Persönlichkeit spielte für den Ruf des Seminars eine große Rolle. Einige Jahre später interessierte er sich auch näher für meine Arbeiten und lud mich ein, einen Vortrag zu halten. Wir unterhielten uns mehrere Stunden lang, nicht nur über Mathematik, sondern auch über viele andere Dinge. Er interessierte sich sehr für die Geschichte der Mathematik, besonders in Bezug auf seinen eigenen Nachlass. Ich erinnere mich noch lebhaft, als ich ihn das erste Mal in seiner Wohnung in Moskau besuchte (damals war ich gerade einundzwanzig). Er sagte mir damals, dass er sich als Mozart der Mathematik sähe.

„An die meisten Komponisten erinnert man sich wegen eines bestimmten Stücks, das sie geschrieben haben“, meinte er, „doch bei Mozart ist das anders. Sein Gesamtwerk macht ihn zu einem Genie.“ Er hielt kurz inne und fügte dann hinzu: „Das Gleiche gilt auch für meine mathematische Arbeit.“

Sehen wir einmal über das Fragwürdige hinweg, das sich aus einer solchen Selbsteinschätzung ergibt, halte ich den Vergleich für durchaus zutreffend. Obwohl Gelfand keine berühmten und Jahrhunderte alten Vermutungen be-wiesen hatte (wie den großen Fermat’schen Satz), ist der Einfluss seines Ge-samtwerks auf die Mathematik überwältigend. Darüber hinaus hatte Gelfand einen ausgezeichneten Sinn für schöne Mathematik sowie einen vorausschau-enden Blick für besonders interessante und vielversprechende neue Bereiche dieses Fachs. Er war wie ein Orakel und konnte vorhersagen, in welche Rich-tungen sich die Mathematik bewegen würde.

In diesem zunehmend zersplitterten Feld voller Spezialisten war er eines der wenigen Universalgenies, die noch verschiedene Gebiete überbrücken konnten. Er verkörperte die Einheit der Mathematik. Im Gegensatz zu vie-len anderen Seminaren, die auf ein mathematisches Gebiet spezialisiert sind, konnte man in Gelfands Seminar noch erkennen, wie die verschiedenen Teile zusammengehörten. Aus diesem Grund trafen wir uns alle jeden Montag im

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vierzehnten Stock des MGU-Hauptgebäudes und warteten gespannt auf das Wort des Meisters.

Und bei diesem Ehrfurcht gebietenden Mann sollte ich meinen ersten ma-thematischen Artikel einreichen. Von Gelfands Zeitschrift Functional Analysis and Applications erschienen vier dünne Ausgaben im Jahr, jeweils rund ein-hundert Seiten (für eine Zeitschrift dieser Art ein jämmerlich kleiner Um-fang, doch der Herausgeber ließ nicht mehr zu und so musste man damit zu-rechtkommen), und sie hatte weltweit einen hervorragenden Ruf. Sie wurde ins Englische übersetzt und von vielen Bibliotheken weltweit abonniert.

Es war sehr schwierig, in dieser Zeitschrift einen Artikel unterzubringen, nicht zuletzt auch wegen der strengen Seitenbegrenzung. Es wurden auch nur zwei Arten von Artikeln veröffentlicht: Forschungsartikel von jeweils rund zehn bis fünfzehn Seiten mit ausführlichen Beweisen sowie kurze Meldungen, in denen Ergebnisse ohne Beweise dargelegt wurden. Die Meldungen durften nicht länger als zwei Seiten sein. Theoretisch sollte einer derartigen Meldung später ein ausführlicherer Artikel mit allen Beweisen folgen, doch tatsächlich geschah das nicht sehr oft, da solche langen Artikel nur sehr schwer veröffent-licht werden konnten. Für einen Mathematiker in der Sowjetunion war es nahezu unmöglich, einen Artikel in einer ausländischen Zeitschrift unterzu-bringen (man musste alle möglichen Unbedenklichkeits- und Sicherheitsbe-scheinigungen einholen, was leicht über ein Jahr in Anspruch nehmen konnte und sehr viel Arbeit bedeutete). Andererseits war die Anzahl der mathemati-schen Zeitschriften in der Sowjetunion im Vergleich zu der Anzahl der Ma-thematiker sehr gering. Leider standen viele von ihnen unter dem Einfluss der verschiedensten Gruppen, sodass man als Außenseiter dort nicht publizieren konnte, und leider war bei einigen von ihnen auch ein unverhohlener Anti-semitismus verbreitet.

Aus diesen Gründen entwickelte sich in der UdSSR ein gewisser Stil für mathematische Artikel, der als „russische Tradition“ bekannt wurde: eine au-ßerordentlich straffe Schreibweise mit nur wenigen Einzelheiten. Viele Ma-thematiker außerhalb der Sowjetunion erkannten nicht, dass dieser Stil nicht freiwillig, sondern einer Not entsprungen war.

Es war diese Art einer kurzen Meldung, die Fuchs für meinen ersten Artikel vorschwebte.

Jeder Artikel, der bei Functional Analysis and Applications eingereicht wur-de, einschließlich kurzer Meldungen, wurde von Gelfand kurz überflogen. Erst wenn er zustimmte, durchlief der Artikel den üblichen Gutachterpro-zess. Das bedeutete, ich musste wegen meines Artikels Israel Moissejewitsch persönlich treffen. Vor einem der ersten Seminare im Frühjahrssemester 1986 stellte mich Fuchs daher Gelfand vor.

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Gelfand schüttelte mir die Hand, lächelte und sagte: „Es freut mich, dich zu treffen. Ich habe schon von dir gehört.“

Ich war überwältigt und hätte schwören können, um Gelfands Kopf einen Glorienschein zu sehen.

Dann wandte sich Gelfand an Fuchs und bat ihn um den Artikel, den Fuchs ihm übergab. Gelfand blätterte durch die insgesamt fünf Seiten, die ich sorgfältig (mit zwei Fingern) auf einer Schreibmaschine am Kerosinka getippt hatte. Später hatte ich die Formeln von Hand eingefügt.

„Interessant“, sagte Gelfand zustimmend und drehte sich zu Fuchs, „doch weshalb ist das wichtig?“

Fuchs erzählte irgendetwas über die Diskriminanten von Polynomen vom Grade n mit verschiedenen Wurzeln und inwiefern mein Ergebnis etwas mit der Topologie der Faser dieser Diskriminante zu tun haben könnte und … Gelfand unterbrach ihn: „Mitja“, sagte er und verwendete dabei die Verklei-nerungsform von Fuchs’ Vornamen, „weißt du, wie viele Abonnenten die Zeitschrift hat?“

„Nein, Israel Moissejewitsch, das weiß ich nicht.“„Über tausend.“ Für eine derart spezialisierte Zeitschrift war das ziemlich

viel. „Ich kann dich nicht zu jedem einzelnen Abonnenten schicken, damit du ihm erklärst, wofür dieser Artikel gut sein soll, oder?“

Fuchs schüttelte seinen Kopf.„Das muss in dem Artikel deutlich gemacht werden, okay?“ Gelfand schien

das alles zu Fuchs zu sagen, als ob es ausschließlich sein Fehler sei. Dann fügte er zu uns beiden gerichtet hinzu: „Ansonsten sieht der Artikel ganz gut aus.“

Dabei lächelte er mich nochmals an und ging dann weiter zu anderen Per-sonen.

Was für ein Wortwechsel! Fuchs wartete, bis Gelfand uns nicht mehr hören konnte, und sagte dann: „Mach’ dir keine Sorgen. Er wollte dich nur beein-drucken.“ (Und das hatte er!) „Wir ergänzen einfach zu Beginn noch einen Absatz, und dann wird er den Artikel vermutlich veröffentlichen.“

Das war das bestmögliche Ergebnis. Nachdem wir einen entsprechenden Absatz eingefügt hatten, reichte ich den Artikel offiziell ein, und er erschien schließlich in der Zeitschrift.7 Damit war mein erstes Matheprojekt abge-schlossen. Ich hatte die erste Hürde genommen und stand am Beginn eines Weges, der mich schließlich in die Welt der modernen Mathematik führte.

Und diese Welt möchte ich mit Ihnen teilen.

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7Die Große Vereinheitlichte Theorie

Die Lösung des ersten Problems war meine Aufnahmeprüfung in den Tem-pel der Mathematik. Durch einen glücklichen Umstand brachte mich mein nächstes mathematisches Projekt mit Fuchs ins Zentrum des Langlands-Pro-gramms, einer der tiefsten und aufregendsten mathematischen Theorien der letzten fünfzig Jahre. Ich werde später auf mein Projekt zu sprechen kommen, doch ich möchte in diesem Buch weit mehr als nur meine eigenen Erfah-rungen beschreiben. Ich möchte Ihnen einen Einblick in die moderne Ma-thematik geben und Sie davon überzeugen, dass es tatsächlich um Originali-tät, Vorstellungskraft, Phantasie und wegweisende Einsichten geht. Und das Langlands-Programm ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür. Für mich ist es wie eine Große Vereinheitlichte Theorie der Mathematik, denn hier werden geheimnisvolle Strukturen aufgedeckt und untersucht, die in verschiedenen Bereichen der Mathematik auftreten und daher auf tiefe, unerwartete Bezie-hungen zwischen diesen Bereichen hindeuten.

Die Mathematik besteht aus vielen Teilgebieten. Oft erscheinen sie wie verschiedene Kontinente, und die Mathematiker, die in diesen Gebieten ar-beiten, sprechen verschiedene Sprachen. Daher ist die Vorstellung einer „Ver-einheitlichung“, die all die Theorien aus den verschiedenen Gebieten zusam-menbringt, sodass man erkennt, dass sie Teil einer einzigen Geschichte sind, so verlockend. Man gewinnt den Eindruck, dass man plötzlich eine andere Sprache versteht; eine Sprache, die man bisher verzweifelt aber erfolglos zu erlernen versucht hat.

Man kann sich die Mathematik auch wie ein riesiges Puzzle vorstellen, bei dem niemand genau weiß, wie das Bild am Ende aussehen wird. Die Lösung dieses Puzzles ist ein Unterfangen, an dem Tausende von Personen teilhaben. Sie arbeiten in Gruppen: Es gibt die Algebraiker, die an ihrem Teil des Puzz-les arbeiten, dann die Zahlentheoretiker, schließlich die Differenzialgeometer, und so weiter. Jede Gruppe hat eine kleine „Insel“ in diesem großen Bild zusammengesetzt, doch im Verlauf der Geschichte der Mathematik war es immer schwer zu erkennen, wie diese Inseln schließlich zusammengehören sollen. Dementsprechend arbeiten die meisten Leute daran, die Inseln die-ses Puzzles zu vergrößern. Gelegentlich tritt aber jemand auf den Plan, der

E. Frenkel, Liebe und Mathematik, DOI 10.1007/978-3-662-43421-5_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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erkennt, wie sich die Inseln verbinden lassen. In solchen Fällen treten große Züge des Gesamtbilds in Erscheinung und verleihen dadurch den einzelnen Gebieten eine neue Bedeutung.

Genau das tat Robert Langlands (Abb. 7.1). Doch er wollte mehr als nur ein paar Inseln verbinden, und so initiierte er Ende der 1960er Jahre das Langlands-Programm. Es ist der Versuch, ein Verfahren zu finden, wie sich die Inseln mit Brücken verbinden lassen, unabhängig davon, wie weit entfernt sie zunächst erscheinen.

Heute ist Langlands emeritierter Professor für Mathematik am Institute for Advanced Study in Princeton, wo er in dem früheren Büro von Albert Ein-stein sitzt. Langlands wurde 1936 geboren und wuchs in einer kleinen Stadt in der Nähe von Vancouver auf. Seine Fähigkeiten und sein Weitblick sind erstaunlich, und beeindruckend sind auch seine Sprachkenntnisse: Englisch, Französisch, Deutsch, Russisch und Türkisch spricht er fließend, obwohl er außer Englisch keine dieser Sprachen konnte, bevor er an die Universität kam.1

Ich hatte Gelegenheit, in den letzten Jahren eng mit Langlands zusammen-zuarbeiten, und wir korrespondieren häufig in Russisch. Einmal schickte er mir eine Liste der russischen Autoren, die er im Original gelesen hatte. Die Liste war so umfangreich, dass er möglicherweise mehr russische Literatur im Original gelesen hatte als ich. Manchmal frage ich mich, ob seine ungewöhn-liche Sprachbegabung etwas mit seinen Fähigkeiten zu tun hat, verschiedene mathematische Kulturen zusammenzubringen.

Das zentrale Element im Langlands-Programm ist das uns bereits vertraute Konzept der Symmetrie. Wir hatten von Symmetrien in der Geometrie ge-sprochen: Beispielsweise ist jede Drehung eine Symmetrie eines runden Ti-sches. Die Untersuchung solcher Symmetrien führte uns auf den Begriff der Gruppe. Anschließend haben wir gesehen, dass Gruppen in der Mathematik in unterschiedlichen Formen auftreten können: als Drehgruppen, als Zopf-gruppen usw. Ich habe auch beschrieben, dass Gruppen bei der Klassifikation

Abb. 7.1 Robert Langlands in seinem Büro in Princeton 1999. © Foto von Jeff Moz-zochi

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7 Die Große Vereinheitlichte Theorie 67

der Elementarteilchen und der Vorhersage der Quarks eine wichtige Rolle gespielt haben. Die Gruppen des Langlands-Programms treten bei der Unter-suchung von Zahlen auf.

Betrachten wir dazu zunächst die Zahlen, die uns aus dem Alltag vertraut sind. Jeder von uns wurde in einem bestimmten Jahr geboren, lebt in einem Haus mit einer bestimmten Hausnummer, hat eine Telefonnummer, eine PIN für sein Handy etc. All diese Zahlen haben eines gemein: Man erhält sie, indem man die Zahl 1 oft genug zu sich selbst addiert: 1 + 1 ist 2, 1 + 1 + 1 ist 3 und so weiter. Diese Zahlen bezeichnet man als die natürlichen Zahlen.

Es gibt auch die Zahl 0 und die negativen Zahlen: −1, −2, −3, … Wie schon in Kap. 5 erwähnt, bezeichnen wir diese Zahlen als ganze Zahlen. Eine ganze Zahl ist also eine natürliche Zahl oder die Zahl 0 oder das Negative einer natürlichen Zahl.

Manchmal begegnen wir auch etwas allgemeineren Zahlen. Ein Preis in Euro und Cent kann in der Form 2,59 € dargestellt werden. Damit sind 2 € und 59 Cent gemeint. Diese Zahl bedeutet dasselbe wie eine 2 plus der Bruch 59/100 oder 59 multipliziert mit 1/100. Hierbei bezeichnet 1/100 eine Grö-ße, die einhundertmal zu sich selbst addiert die 1 ergibt. Zahlen dieser Art nennt man rationale Zahlen oder auch Brüche.

Ein schönes Beispiel für eine rationale Zahl ist ein Viertel. Mathematisch wird sie durch den Bruch 1/4 dargestellt. Allgemeiner können wir für je zwei ganze Zahlen m und n den Bruch m/n bilden. Falls m und n einen gemein-samen Teiler haben, z. B. d (das bedeutet m = dm’ und n = dn’), können wir d kürzen und statt m/n auch m’/n’ schreiben. Zum Beispiel können wir 1/4 auch als 25/100 schreiben. Deswegen sind ein viertel Euro auch dasselbe wie 25 Cent.

Die meisten der Zahlen, denen wir im Alltag begegnen, sind solche Brüche oder rationale Zahlen. Es gibt aber auch Zahlen, die nicht rational sind. Ein Beispiel ist die Quadratwurzel von 2, die wir folgendermaßen schreiben: 2 . Hierbei handelt es sich um die Zahl, deren Quadrat gleich 2 ist. Geometrisch ist 2 die Länge der Hypotenuse in einem rechtwinkligen Dreieck, dessen Katheten beide die Länge 1 haben (Abb. 7.2).

Es zeigt sich, dass wir diese Zahl nicht in der Form m/n schreiben können, wobei m und n zwei natürliche Zahlen sind.2 Wir können diese Zahl jedoch durch rationale Zahlen annähern, wenn wir die ersten Ziffern in der Dezimal-schreibweise angeben: 1,4142, dann 1,41421, dann 1,414213 und so weiter. Doch unabhängig davon, wie viele Ziffern wir mitnehmen, es handelt sich nur um eine Näherung – es gibt immer noch mehr Ziffern. Keine endliche Dezimalzahl kann der 2 jemals gerecht werden.

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Da 2 gleich der Länge der Hypotenuse im obigen Dreieck ist, wissen wir, dass es diese Zahl irgendwie gibt; doch sie passt nicht in das Zahlensystem der rationalen Zahlen.

Es gibt viele weitere Zahlen dieser Art, beispielsweise 3 oder die drit-te Wurzel aus 2. Wir benötigen ein systematisches Verfahren, wie wir diese Zahlen zu den rationalen Zahlen hinzufügen können. Stellen Sie sich vor, die rationalen Zahlen seien wie eine Tasse Tee. Wir können den Tee trinken, wie er ist, doch wir können auch unseren Horizont erweitern und Zucker, Milch, Honig oder verschiedene Gewürze hinzufügen – und diese Dinge sind wie die Zahlen 2 , 3 usw.

Also versuchen wir zunächst, die 2 unterzubringen. Das könnte man mit einem Zuckerwürfel vergleichen, mit dem wir unseren Tee süßen. Wir lassen also die 2 in die rationalen Zahlen fallen und schauen, welches Zahlensys-tem wir erhalten. Wir möchten natürlich diese Zahlen unseres neuen Systems miteinander multiplizieren können, also müssen wir alle Zahlen hinzuneh-men, die sich als Produkt von rationalen Zahlen mit 2 schreiben lassen. Diese haben die Form k

l2 . Unser Zahlensystem muss also alle Brüche m

n

(das sind alle rationalen Zahlen) und alle Zahlen der Form k

l2 enthalten.

Wir möchten diese Zahlen jedoch auch addieren können, also müssen wir auch die Summen

m

n

k

l+ 2

1

12

Abb. 7.2 Die Hypotenuse in einem rechtwinkligen Dreieck mit den Katheten 1 hat die Länge 2. © Frenkel

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mit einschließen. Die Menge all dieser Zahlen ist bereits „in sich abgeschlos-sen“, das bedeutet, wir können die üblichen Operationen – Addition, Sub-traktion, Multiplikation und Division – mit ihnen ausführen, und das Ergeb-nis ist wieder eine Zahl derselben Form.3 Dies ist unsere Tasse Tee, in der wir den Zucker vollkommen aufgelöst haben.

Wie wir gleich sehen werden, hat dieses neue Zahlensystem eine versteckte Eigenschaft, die die rationalen Zahlen nicht haben. Diese Eigenschaft wird unser Eingangstor zur magischen Welt der Zahlen. Es zeigt sich nämlich, dass dieses Zahlensystem Symmetrien besitzt.

Unter „Symmetrie“ verstehe ich hier eine Vorschrift, die jeder Zahl eine neue Zahl zuordnet. Mit anderen Worten, eine gegebene Symmetrie trans-formiert jede Zahl in eine andere Zahl desselben Zahlensystems. Vereinfacht sagen wir oft, dass eine Symmetrie eine Vorschrift ist, bei der jede Zahl in eine andere Zahl „übergeht“. Diese Vorschrift sollte mit den Operationen der Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division verträglich sein. Im Augenblick ist noch nicht klar, weshalb wir uns überhaupt um die Symme-trien eines Zahlensystems kümmern sollten. Vertrauen Sie mir, Sie werden es gleich sehen.

Unser Zahlensystem besitzt natürlich die Identität als Symmetrie, also die Vorschrift, bei der jede Zahl sich selbst zugeordnet wird. Das entspricht der Rotation eines Tisches um 0°, bei der jeder Punkt des Tisches in sich selbst übergeht.

Es zeigt sich, dass unser Zahlensystem auch eine nicht-triviale Symmetrie besitzt. Um sie zu finden, beginnen wir mit der Feststellung, dass 2 eine Lösung der Gleichung x2 = 2 ist. Wenn wir x durch 2 ersetzen, erhalten wir auf beiden Seiten der Gleichung dasselbe. Doch diese Gleichung besitzt zwei Lösungen: Eine davon ist 2 , die andere ist − 2 . Und wir haben auch bei-de Lösungen zu den rationalen Zahlen hinzugenommen, als wir unser neues Zahlensystem konstruiert haben. Der Wechsel zwischen diesen beiden Lösun-gen ist eine Symmetrie des Zahlensystems.

Wir können unsere Analogie mit der Tasse Tee entsprechend erweitern: Wir stellen uns vor, dass wir einen weißen und einen braunen Zuckerwürfel im heißen Tee verrühren. Der weiße Würfel entspricht der 2 und der brau-ne der − 2 . Natürlich können wir die beiden Würfel auch austauschen, das ändert nichts an der Tasse Tee. Ganz entsprechend ist der Austausch von 2 und − 2 eine Symmetrie unseres Zahlensystems.

Unter dieser Ersetzung bleiben die rationalen Zahlen unverändert.4 Daher

geht eine Zahl der Form m

n

k

l+ 2 in die Zahl m

n

k

l− 2 über. Mit anderen

Worten, in jeder Zahl müssen wir einfach das Vorzeichen vor 2 umdrehen und alles Übrige bleibt gleich.5

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Man erkennt, dass unser neues Zahlensystem in gewisser Hinsicht einem Schmetterling gleicht: Die Zahlen m

n

k

l+ 2 sind wie die Schuppen auf

dem Flügel eines Schmetterlings, und die Symmetrie dieser Zahlen – der

Austausch von + 2 und − 2 – entspricht der Symmetrie des Schmetter-lings bei einem Austausch seiner Flügel.

Allgemeiner können wir statt x2 = 2 auch andere Gleichungen in der Variablen x betrachten; z. B. die kubische Gleichung x x3 1 0− + = . Wenn die Lösungen solch einer Gleichung keine rationalen Zahlen sind (wie es bei den obigen Gleichungen der Fall ist), können wir sie den rationalen Zahlen hinzufügen. Wir können die rationalen Zahlen auch um Lösungen von meh-reren solcher Gleichungen gleichzeitig erweitern. Auf diese Weise erhalten wir viele verschiedene Zahlensysteme, oder, wie der Mathematiker auch sagt, Zahlenkörper. Das Wort „Körper“ bedeutet in diesem Fall, dass das Zahlensys-tem unter den Operationen der Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division abgeschlossen ist.

Wie das Zahlensystem, das wir durch die Erweiterung um 2 erhalten haben, besitzen auch allgemeine Zahlensysteme Symmetrien, die mit diesen Operationen verträglich sind. Die Symmetrien eines gegebenen Zahlenkör-pers lassen sich nacheinander anwenden (oder hintereinander ausführen) wie die Symmetrien eines geometrischen Gegenstands. Daher überrascht es nicht, dass diese Symmetrien eine Gruppe bilden. Diese Gruppe bezeichnet man als die Galois-Gruppe des Zahlenkörpers6, zu Ehren des französischen Mathema-tikers Évariste Galois (Abb. 7.3).

Die Geschichte von Galois gehört zu den romantischsten und faszinie-rendsten Geschichten über einen Mathematiker, die es gibt. Er war ein Wun-derkind und machte schon in jungem Alter fundamentale Entdeckungen in der Mathematik. Und dann starb er mit zwanzig Jahren bei einem Duell.

Abb. 7.3 Évariste Galois. © in the public domain

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Es gibt unterschiedliche Ansichten, worum es bei diesem Duell am 31. Mai 1832 ging: Einige glauben, es sei eine Frau im Spiel gewesen, andere behaup-ten, es habe mit seinen politischen Aktivitäten zu tun gehabt. Mit Sicherheit nahm Galois kein Blatt vor den Mund, wenn es um seine politischen Ansich-ten ging, und während seines kurzen Lebens hat er viele Personen gegen sich aufgebracht.

In der Nacht vor seinem Tod saß Galois in einem kerzenbeschienenen Zim-mer und schrieb wie im Wahnsinn an einem Manuskript, das seine Ideen über die Symmetrien von Zahlen skizzierte. Im Grunde genommen war es sein Liebesbrief an die Menschheit, in dem er uns seine verblüffenden Ent-deckungen mitteilte. Tatsächlich gehören die Symmetriegruppen, die Galois entdeckt hatte und die heute seinen Namen tragen, zu den Weltwundern, ähnlich wie die ägyptischen Pyramiden oder die hängenden Gärten von Ba-bylon. Der Unterschied ist, dass wir nicht in einen anderen Kontinent oder eine andere Zeit reisen müssen, um sie zu finden. Sie sind immer bei uns, wo wir auch sind. Und nicht nur ihre Schönheit ist fesselnd, sondern auch die vielfältigen Möglichkeiten ihrer Anwendung.

Galois war seiner Zeit weit voraus. Seine Ideen waren derart radikal, dass seine Zeitgenossen sie zunächst nicht verstanden. Seine Artikel wurden zwei-mal von der Französischen Akademie der Wissenschaften abgelehnt, und es dauerte nahezu fünfzig Jahre, bis seine Arbeiten schließlich veröffentlicht und von anderen Mathematikern verstanden und geschätzt wurden. Heute zählen sie zu einer der Säulen der modernen Mathematik.

Galois gelang es, die Idee der Symmetrie, die uns aus der Geometrie in-tuitiv vertraut ist, auf die Zahlentheorie zu übertragen. Noch wichtiger war jedoch, dass er uns auf die erstaunlichen Möglichkeiten von Symmetrien auf-merksam machte.

Vor Galois hatten die Mathematiker versucht, explizite Formeln für die Lösungen von Gleichungen der Art x2 2= oder x x3 1 0− + = , sogenann-ten Polynomgleichungen, zu finden. Leider werden diese Dinge heute immer noch in den Schulen gelehrt, obwohl seit Galois’ Tod fast zwei Jahrhunderte vergangen sind. Zum Beispiel müssen wir eine Formel für die Lösung einer allgemeinen quadratischen Gleichung (einer Gleichung vom Grade 2) der Form

als Funktion der Koeffizienten a, b, c auswendig lernen. Ich schreibe diese Formel jetzt nicht auf, um nicht irgendwelche unangenehmen Erinnerungen zu wecken. Wir müssen lediglich wissen, dass in dieser Formel eine Quadrat-wurzel auftritt.

ax bx c2 0+ + =

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Entsprechend gibt es eine ähnliche, allerding etwas kompliziertere Formel für die allgemeine kubische Gleichung (vom Grade 3)

ausgedrückt durch die Koeffizienten a, b, c und d. In dieser Formel tritt die dritte Wurzel auf. Die Aufgabe, eine allgemeine Formel für die Lösungen ei-ner Polynomgleichung zu finden, ausgedrückt durch Radikale (d. h. Quadrat-wurzeln, dritte Wurzeln, und so weiter) ihrer Koeffizienten, wird mit zuneh-mendem Grad rasch komplizierter.

Die allgemeine Formel für die Lösungen der quadratischen Gleichung kannte bereits im neunten Jahrhundert der persische Mathematiker al-Chwa-rizmi (das Wort „Algebra“ stammt von „al-ğabr“, das im Titel eines seiner Lehrbücher erscheint). Formeln für die Lösungen der kubischen und quar-tischen (Grad 4) Gleichungen wurden in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts entdeckt. Natürlich war die quintische Gleichung (Grad 5) das nächste Ziel. Vor Galois hatten viele Mathematiker seit nahezu 300 Jahren verzweifelt versucht, eine Formel für die Lösungen dieser Gleichung zu fin-den – vergebens. Galois erkannte, dass man die falsche Frage gestellt hatte. Stattdessen war er der Meinung, man solle sich auf den Zahlenkörper kon-zentrieren, den man erhält, wenn man die Lösungen der Gleichung zu den rationalen Zahlen hinzunimmt, und insbesondere dessen Symmetriegruppe untersuchen. Diese bezeichnen wir heute als die Galois-Gruppe.

Das Problem der Charakterisierung der Galois-Gruppe erweist sich als wesentlich handhabbarer als das Problem, eine explizite Formel für die Lö-sungen zu finden. Man kann etwas über die Eigenschaften dieser Gruppe sagen, ohne die Lösungen zu kennen. Tatsächlich konnte Galois zeigen, dass es eine Formel für die Lösungen in Form von Radikalen (also Quadratwur-zeln, kubischen Wurzeln, etc.) nur dann geben kann, wenn die zugehörige Galois-Gruppe eine besonders einfache Struktur hat: Heute bezeichnen die Mathematiker eine solche Struktur als auflösbar. Für quadratische, kubische und quartische Gleichungen sind die Galois-Gruppen immer auflösbar. Des-halb kann man die Lösungen dieser Gleichungen auch durch Radikale aus-drücken. Doch Galois zeigte, dass die Symmetriegruppe einer quintischen Gleichung (oder auch einer Gleichung von höherem Grad) im Allgemeinen nicht auflösbar ist. Daraus folgt sofort, dass es keine allgemeine Formel für die Lösungen dieser Gleichungen durch Radikale geben kann.7

Ich werde auf die Einzelheiten dieses Beweises hier nicht eingehen, aber ich möchte einige Beispiele von Galois-Gruppen betrachten, damit Sie eine Vor-stellung davon bekommen, wie diese Gruppen aussehen. Die Galois-Gruppe für die Gleichung x2 = 2 haben wir schon beschrieben. Diese Gleichung hat

ax bx cx d3 2 0+ + + = ,

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zwei Lösungen, 2 und – 2 , um die wir die rationalen Zahlen erweitern können. Die Galois-Gruppe des so konstruierten Zahlenkörpers8 besteht aus zwei Elementen: der Identität und der Symmetrie unter dem Austausch von

2 und – 2 .Als nächstes Beispiel betrachten wir eine kubische Gleichung der ange-

gebenen Art, wobei wir annehmen, dass die Koeffizienten rationale Zahlen sind, alle drei Lösungen dieser Gleichung aber irrational. Nun konstruieren wir den Zahlenkörper, indem wir die rationalen Zahlen um diese Lösungen erweitern. Das ist so ähnlich, als ob wir drei verschiedene Zutaten in unsere Tasse Tee geben: einen Zuckerwürfel, einen Schuss Milch und einen Löffel Honig. Sämtliche Symmetrien des Zahlenkörpers (der Tasse Tee mit diesen Zutaten) lassen diese kubische Gleichung unverändert, denn ihre Koeffizien-ten sind rationale Zahlen, die sich unter den Symmetrien nicht ändern. Das bedeutet, jede Lösung der kubischen Gleichung (eine der drei Zutaten) geht unter der Symmetrie in eine (meist andere) Lösung über. Das bedeutet aber, wir können die Galois-Gruppe der Symmetrien dieses Zahlenkörpers durch die Permutationen der drei Lösungen ausdrücken. Die wichtige Beobachtung ist, dass wir diese Feststellung schon treffen können, ohne irgendeine Formel für die Lösungen angeben zu müssen.9

Ganz entsprechend können wir auch die Galois-Gruppe der Symmetrien eines Zahlenkörpers, den wir durch die Hinzunahme sämtlicher Lösungen einer beliebigen Polynomgleichung erhalten, durch die Permutationen dieser Lösungen ausdrücken (eine Polynomgleichung vom Grade n hat genau n Lö-sungen, die im Allgemeinen verschieden und nicht rational sind). Auf diese Weise erhalten wir sehr viele Informationen über die Gleichung, ohne ihre Lösungen durch die Koeffizienten ausdrücken zu müssen.10

Das Ergebnis von Galois ist ein schönes Beispiel dafür, welche weitreichen-den Auswirkungen eine mathematische Einsicht haben kann. Galois löste das Problem, eine Formel für die Lösungen von Polynomgleichungen zu finden, nicht so, wie man zunächst hätte vermuten können. Er ( zer)hackte das Pro-blem! Er formulierte es neu, verbog und verdrehte es und betrachtete es aus einem vollkommen neuen Blickwinkel. Seine geniale Einsicht hat unser Den-ken über Zahlen und Gleichungen für immer verändert.

Und dann, rund 150 Jahre später, griff Langlands diese Ideen auf und führ-te sie wesentlich weiter. 1967 hatte er einige revolutionäre Einsichten, und es gelang ihm, die Theorie der Galois-Gruppen mit einem anderen Bereich der Mathematik, der harmonischen Analyse, zu verknüpfen. Diese beiden Be-reiche scheinen zunächst Lichtjahre voneinander entfernt, doch sie erwiesen sich als eng verwandt. Der damals knapp dreißigjährige Langlands fasste seine Ideen in einem Brief an den bekannten Mathematiker André Weil zusam-

7 Die Große Vereinheitlichte Theorie 73

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74 Liebe und Mathematik

men, und Kopien dieses Textes verbreiteten sich rasch unter den damaligen Mathematikern.11 Das Begleitschreiben überrascht besonders durch seine be-scheidene Untertreibung:12

Professor Weil: Als Antwort auf Ihre Einladung zu einem Vortrag verfasste ich den beigelegten Brief. Nachdem ich ihn geschrieben hatte, musste ich ein-sehen, dass kaum eine der aufgestellten Behauptungen wirklich gesichert ist. Wenn Sie geneigt sind, ihn als reine Spekulation zu lesen, würde mich das sehr freuen; falls nicht – ich bin sicher, Sie haben einen Papierkorb in Ihrer Nähe.

Es folgte der Beginn einer bahnbrechenden Theorie, die unser gesamtes Den-ken über die Mathematik verändert hat. Dies war die Geburt des Langlands-Programms.

Mehrere Generationen von Mathematikern haben ihr Leben der Suche nach Lösungen zu einigen der von Langlands formulierten Problemen gewid-met. Was hat sie so fasziniert? Die Antwort folgt im nächsten Kapitel.

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8Verzauberte Zahlen

Als wir in Kap. 2 zum ersten Mal über Symmetrien gesprochen haben, hat-ten wir gesehen, dass die Darstellungen der Gruppe mit der Bezeichnung SU(3) das Verhalten von Elementarteilchen beschreiben. Der Schwerpunkt des Langlands-Programms bezieht sich ebenfalls auf die Darstellungen einer Gruppe, allerdings diesmal der Galois-Gruppe eines Zahlenkörpers, wie wir sie im letzten Kapitel behandelt haben. Es zeigt sich, dass diese Darstellungen der „Quell-Code“ eines Zahlenkörpers sind und damit alle wichtigen Infor-mationen über Zahlen enthalten.

Langlands hatte die großartige Idee, diese Information einem vollkommen anderen Objekt zu entnehmen: den sogenannten automorphen Funktionen. Sie treten in einem Bereich der Mathematik auf, den man als harmonische Analyse bezeichnet. Die Ursprünge der harmonischen Analyse liegen in der Harmonielehre der Musik, genauer in der Untersuchung von Obertönen. Hierbei geht es um Schallwellen, deren Frequenzen Vielfache voneinander sind. Ganz allgemein ist eine Schallwelle eine Überlagerung von Tönen und Obertönen, genau wie die Klänge einer Symphonie der Zusammenklang von Harmonien sind, die von den verschiedenen Instrumenten entsprechend der vorgegebenen Noten gespielt werden. Mathematisch bedeutet dies, dass man eine gegebene Funktion auch als Überlagerung (technisch spricht man von Superposition) von Funktionen darstellen kann, die reinen Obertönen ent-sprechen, z. B. den bekannten trigonometrischen Funktionen Sinus und Ko-sinus. Automorphe Funktionen sind etwas anspruchsvollere Formen dieser vertrauten Schwingungen. Es gibt sehr effektive analytische Verfahren, wie man mit solchen automorphen Funktionen rechnen kann. Und die überra-schende Einsicht von Langlands war, dass man mithilfe dieser Funktionen auch etwas über die schwierigeren Fragen in der Zahlentheorie lernen kann. Wir entdecken so eine versteckte Harmonie der Zahlen.

Ich schrieb im Vorwort, dass eine der Grundaufgaben der Mathematik in der Strukturierung von Information besteht, oder – wie Langlands es ger-ne formuliert – „Ordnung aus scheinbarem Chaos schaffen“.1 Die Idee von Langlands ist so beeindruckend, weil wir mit ihrer Hilfe scheinbar chaotische

E. Frenkel, Liebe und Mathematik, DOI 10.1007/978-3-662-43421-5_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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76 Liebe und Mathematik

Daten aus der Zahlentheorie in geordnete Muster aus Symmetrie und Har-monie bringen können.

Denken wir uns die verschiedenen Bereiche der Mathematik als Kontinen-te, dann könnte Nordamerika der Zahlentheorie entsprechen und die har-monische Analyse Europa. Im Laufe der letzten Jahrhunderte wurden Reisen von einem Kontinent zum anderen immer einfacher und schneller. Früher benötigte man mit dem Schiff mehrere Tage, heute mit dem Flugzeug nur noch einige Stunden. Man stelle sich jedoch eine Technologie vor, mit deren Hilfe man von einem Augenblick zum nächsten von einem beliebigen Ort in Nordamerika zu einem beliebigen Ort in Europa gelangen kann. Das entsprä-che den von Langlands entdeckten Beziehungen.

Eine dieser atemberaubenden Beziehungen, die eng mit dem in Kap.  6 angesprochenen großen Satz von Fermat zusammenhängt, möchte ich nun beschreiben.

Der große Satz von Fermat lässt sich erstaunlich einfach formulieren, be-denkt man seine Tiefgründigkeit. Er besagt, dass es keine natürlichen Zahlen x, y und z gibt, welche die Gleichung

für n größer als 2 lösen.Ich hatte schon erwähnt, dass dieser Satz von dem französischen Mathe-

matiker Pierre Fermat vor über 350 Jahren, genauer 1637, vermutet wurde. Er schrieb damals an den Rand eines alten Buches, in dem er gerade las, er habe für diese Behauptung einen „wahrhaft wunderbaren“ Beweis gefunden, doch sei „der Rand hier zu schmal“, um ihn aufzuschreiben. Man könnte es einen Beweis im Twitter-Stil des siebzehnten Jahrhunderts nennen: „Habe einen wahrhaft wunderbaren Beweis für diesen Satz gefunden, kann ihn hier jedoch leider nicht aufschreiben, weil er mehr als 140 Zeiche“ – schade, kein Platz mehr.

Heute besteht kaum noch ein Zweifel, dass Fermat sich geirrt haben muss. Es dauerte mehr als 350 Jahre, bis ein wirklicher Beweis gefunden wurde, und der ist unglaublich kompliziert. Es gab zwei große Schritte: Zunächst zeigte Ken Ribet im Jahr 1986, dass sich der große Satz von Fermat aus der soge-nannten Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung ergibt.

(An dieser Stelle sollte ich vielleicht anmerken, dass eine mathematische Vermutung eine Behauptung ist, von der man erwartet, dass sie richtig ist, für die jedoch noch kein Beweis bekannt ist. Sobald ein Beweis gefunden wurde, wird aus der Vermutung ein Satz2.)

Ken Ribet hatte Folgendes gezeigt: Wenn es drei natürliche Zahlen x, y, z gäbe, die eine Lösung der Fermat’schen Gleichung sind, dann könnte man

x y zn n n+ =

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8 Verzauberte Zahlen 77

mit diesen Zahlen eine bestimmte kubische Gleichung aufstellen, die eine Eigenschaft besitzt, die von der Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung ausge-schlossen ist. (Ich werde noch erklären, um welche Gleichung es sich dabei handelt und was diese Eigenschaft ist.) Wenn wir wissen, dass die Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung richtig ist, dann kann es diese Gleichung nicht geben. Doch dann kann es auch die Zahlen x, y, z, welche die Fermat’sche Gleichung lösen, nicht geben.3

Überlegen wir uns die Logik dieses Arguments nochmals in Ruhe. Zum Beweis des großen Fermat’schen Satzes nehmen wir an, er sei falsch. Das be-deutet, wir nehmen an, es gäbe drei natürliche Zahlen x, y, z, sodass sich die Fermat’sche Gleichung erfüllen lässt. Dann bringen wir diese Zahlen mit einer kubischen Gleichung in Verbindung, von der es sich erweist, dass sie eine bestimmte unerwünschte Eigenschaft hat. Die Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung sagt uns, dass es eine solche Gleichung nicht geben kann. Doch dann kann es auch diese Zahlen x, y, z nicht geben. Damit gibt es auch kei-ne Lösungen zur Fermat’schen Gleichung. Also muss der große Fermat’sche Satz wahr sein! Schematisch sieht das Flussdiagramm des Arguments wie folgt aus (den „großen Fermat’schen Satz“ haben wir mit GFS, und die „Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung“ mit STWV abgekürzt):

Diagramm 8.1

⇒ ⇒

⇒ ⇒

Diese Art der Beweisführung bezeichnet man als Beweis durch Widerspruch. Wir beginnen mit einer Behauptung, die das Gegenteil von dem besagt, was wir beweisen wollen (in unserem Fall die Behauptung, es gäbe natürliche Zahlen x, y, z, die die Fermat’sche Gleichung lösen; das ist das Gegenteil von dem, was wir eigentlich beweisen wollen). Wenn wir nun durch eine Fol-ge von Schlüssen zu einer Behauptung gelangen, die beweisbar falsch ist (in unserem Fall die Existenz einer Gleichung, die nach der Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung verboten ist), können wir daraus folgern, dass die ursprüng-liche Behauptung falsch sein muss. Also ist die Behauptung, die wir beweisen wollten (der große Fermat’sche Satz) wahr.

Um nun den großen Fermat’schen Satz endgültig beweisen zu können, müssen wir zeigen, dass die Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung wahr ist.

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78 Liebe und Mathematik

Nachdem dies klar war (1986 durch die Arbeiten von Ribet), begann die Su-che nach einem Beweis der Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung.

Mehrfach hieß es in den folgenden Jahren, ein Beweis sei gefunden, doch die folgenden genaueren Untersuchungen zeigten, dass diese Beweise entwe-der falsch waren oder Lücken hatten. 1993 behauptete Andrew Wiles, die Vermutung bewiesen zu haben, doch einige Monate später fand man auch in seinem Beweis eine Lücke. Eine Zeitlang sah es so aus, als ob auch sein Beweis zu den vielen anderen „Nicht-Beweisen“ gehöre, deren Lücken nie geschlos-sen werden konnten.

Doch glücklicherweise konnte Wiles zusammen mit dem Mathematiker Richard Taylor die Lücke innerhalb eines Jahres schließen. Zusammen konn-ten sie den Beweis vollenden.4 In einem wunderbaren Dokumentarfilm über den großen Fermat’schen Satz zeigt sich Wiles sehr emotional, als er sich an diesen Augenblick erinnert, und man kann sich gut vorstellen, was das für ein bewegender Moment für ihn gewesen sein muss.

Die Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung ist also ein Schlüsselergebnis für den Beweis des großen Fermat’schen Satzes. Man kann darin auch einen Spezialfall des Langlands-Programms sehen, und damit ist sie ein ausgezeich-netes Beispiel für die unerwarteten Beziehungen, die von dem Langlands-Programm vorhergesagt werden.

Die Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung ist eine Behauptung über be-stimmte Gleichungen. Tatsächlich geht es der Mathematik oft um das Lösen von Gleichungen. Wir möchten wissen, ob eine gegebene Gleichung eine Lösung in einer vorgegebenen Menge hat und falls „ja“, wie wir diese Lösung finden können. Gibt es mehrere Lösungen, stellt sich die Frage „Wie viele?“ Weshalb haben manche Gleichungen Lösungen und andere nicht?

Im letzten Kapitel haben wir über Polynomgleichungen in einer Variablen gesprochen, wie z. B. x2 2= . Der große Fermat’sche Satz bezieht sich auf eine Gleichung in drei Variablen: .x y zn n n+ = Die Shimura-Taniyama-Weil-Ver-mutung bezieht sich auf eine Klasse algebraischer Gleichungen in zwei Va-riablen wie beispielsweise:

Eine Lösung dieser Gleichung besteht aus einem Zahlenpaar x, y, sodass die linke Seite gleich der rechten Seite ist.

Doch um welche Zahlen soll es sich bei x und y handeln? Es gibt viele Möglichkeiten: Es könnte sich bei x und y um natürliche Zahlen oder ganze Zahlen handeln. Eine andere Möglichkeit wären rationale Zahlen. Wir kön-nen auch nach Lösungen x, y in der Menge der reellen Zahlen suchen oder

y y x x2 3 2+ −= .

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8 Verzauberte Zahlen 79

sogar in den komplexen Zahlen – auf diese Möglichkeit gehen wir im nächs-ten Kapitel genauer ein.

Es zeigt sich, dass es noch eine weitere Möglichkeit gibt, die zunächst weni-ger offensichtlich, aber trotzdem ähnlich wichtig ist: Wir suchen nach Lösun-gen x und y „modulo N“ für eine gegebene natürliche Zahl N. Das bedeutet, wir suchen nach ganzen Zahlen x und y, sodass sich die linke Seite und die rechte Seite nur um eine Zahl unterscheiden, die durch N teilbar ist.

Betrachten wir als Beispiel Lösungen modulo N = 5 . Es gibt eine offen-sichtliche Lösung: x = 0 und y = 0 . Es gibt noch drei weitere, nicht ganz so offensichtliche Lösungen: x = 0 , y = 4 ist eine Lösung modulo 5, denn die linke Seite ist dann 20 und die rechte ist 0. Der Unterschied zwischen der linken und rechten Seite ist 20, was durch 5 teilbar ist. Also handelt es sich tatsächlich um eine Lösung der Gleichung modulo 5. In ähnlicher Weise sind auch x = 1, y = 0 und x y= =1 4, Lösungen modulo 5.

Wir haben uns mit dieser Art des Rechnens schon in Kap. 2 beschäftigt, als wir über die Drehgruppe des runden Tisches gesprochen haben. Wir haben dort gesehen, dass die Addition der Winkel immer „modulo 360“ vorgenom-men wird. Das bedeutet, wenn das Ergebnis einer Addition von zwei Winkeln größer als 360° ist, subtrahieren wir 360 und bringen es in den Bereich zwi-schen 0 und 360. Beispielsweise ist eine Drehung um 450° dasselbe wie eine Drehung um 90°, denn 450 360 90− = .

Auch bei einer Uhr begegnen wir dieser Art des Rechnens. Wenn wir um 10 Uhr morgens mit der Arbeit beginnen und 8 h lang arbeiten, wann hören wir dann auf? Da 10 8 18+ = wäre eine naheliegende Antwort: „Wir hören um 18 Uhr auf“. In Deutschland oder Frankreich ist das auch eine norma-le Antwort, da hier die Uhrzeiten oft durch Zahlen zwischen 0 und 24 an-gegeben werden (sie passt aber trotzdem nicht, denn in Frankreich hat ein Arbeitstag in der Regel nicht mehr als sieben Stunden). In den Vereinigten Staaten sagt man: „Wir hören um 6 pm auf“ (also 6 Uhr „nach Mittag“). Wie gelangen wir von 18 zur 6? Wir müssen 12 subtrahieren:18 12 6− = .

Wir verwenden also bei Stunden die gleiche Idee wie bei Winkeln. Einmal addieren wir „modulo 360“, im anderen Fall „modulo 12“ (oder „modulo 24“, wenn man die Uhrzeiten offiziell zwischen 0 und 24 angibt).

Ganz entsprechend können wir modulo jeder natürlichen Zahl N addieren. Betrachten wir die ganzen Zahlen zwischen 0 und N – 1:

Für N = 24 handelt es sich um die Menge der möglichen Stunden. Allgemein kann jede Zahl N die Rolle der 24 übernehmen, sodass uns nicht die 24, son-dern die Zahl N wieder zur 0 zurückbringt.

0 1 2 2 1, , , ..., , . N N− −{ }

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80 Liebe und Mathematik

Wir definieren die Addition auf der Menge dieser Zahlen genauso wie für Stunden. Für zwei beliebige Zahlen aus dieser Menge bilden wir die Summe, und wenn das Ergebnis größer als N ist, subtrahieren wir N und erhalten wieder eine Zahl in dieser Menge. Mit dieser Operation wird diese Menge zu einer Gruppe. Das Einselement ist die Zahl 0: Wir können sie zu jeder ande-ren Zahl addieren, ohne diese Zahl zu verändern, denn n + 0 = n. Und für jede Zahl n aus dieser Menge ist sein additiv inverses Element N – n, denn n + ( N – n) = N, und das ist nach unseren Regeln dasselbe wie 0.

Betrachten wir als Beispiel N = 3. Dann haben wir die Menge {0, 1, 2} und die Addition modulo 3. Beispielsweise gilt in diesem System:

denn 2 + 2 = 4, doch da 4 = 3 + 1, ist die Zahl 4 gleich der 1 modulo 3.Wenn also jemand behauptet: „2 plus 2 ist gleich 4“ und möchte damit

eine unumstößliche Tatsache zum Ausdruck bringen, dann können Sie (mit dem entsprechenden Lächeln, wenn Sie wollen) antworten: „Nun, das gilt aber nicht immer.“ Und wenn Sie dann gebeten werden, das zu erklären, kön-nen Sie sagen: „Wenn man modulo 3 addiert, ist 2 plus 2 gleich 1.“

Wir können je zwei Zahlen aus der angegebenen Menge auch multiplizie-ren. Das Ergebnis liegt nicht immer in dem Bereich zwischen 0 und N – 1, doch es gibt immer eine eindeutige Zahl in diesem Bereich, die von dem Ergebnis der Multiplikation um ein ganzzahliges Vielfaches von N abweicht. Trotzdem ist die Menge 1 2 1, , ..., N −{ } im Allgemeinen keine Gruppe be-züglich der Multiplikation. Es gibt zwar das Einselement: die Zahl 1. Aber nicht jedes Element besitzt ein multiplikatives Inverses modulo N. Das ist je-doch genau dann der Fall, wenn N eine Primzahl ist, also eine Zahl, die durch keine andere natürliche Zahl außer 1 und sich selbst teilbar ist.5

Die ersten Primzahlen sind 2, 3, 5, 7, 11, 13,… (üblicherweise zählt man 1 nicht zu dieser Liste). Mit Ausnahme von 2 sind gerade natürliche Zahlen niemals Primzahlen, denn sie sind durch 2 teilbar. Auch 9 ist keine Primzahl, weil sie durch 3 teilbar ist. Es gibt unendlich viele Primzahlen – egal wie groß eine Primzahl sein mag, es gibt immer eine Primzahl, die noch größer ist.6 Da Primzahlen sich nicht teilen lassen, sind sie die Elementarteilchen in der Welt der natürlichen Zahlen. Jede andere natürliche Zahl lässt sich auf ein-deutige Weise als ein Produkt von Primzahlen schreiben. Beispielsweise ist 60 = 2 · 2 · 3 · 5.

Wir wählen nun eine bestimmte Primzahl. Wie es üblich ist, bezeichnen wir sie mit dem Buchstaben p. Uns interessiert die Menge aller aufeinander-folgenden ganzen Zahlen zwischen 0 und p − 1, also:

2 2 1 3+ = ,modulo

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Auf dieser Menge betrachten wir zwei Operationen: Addition und Multipli-kation modulo p.

Wie wir gesehen haben, ist diese Menge eine Gruppe bezüglich der Additi-on modulo p. Bemerkenswert ist jedoch, dass diese Menge ohne die 0, also {1, 2, 3,…, p − 1}, auch eine Gruppe bezüglich der Multiplikation modulo p ist. Das Element 1 ist die multiplikative Identität (das ist klar), doch ich behaup-te, dass jede natürliche Zahl zwischen 1 und p − 1 auch ein multiplikatives Inverses besitzt.7

Wählen wir als Beispiel p = 5. Dann gilt:

und

sodass das multiplikative Inverse von 2 modulo 5 die 3 ist, und 4 ist sein eige-nes Inverses modulo 5. Ähnliche Beziehungen gelten allgemein.8

Im Alltag begegnen wir meist ganzen Zahlen oder auch Brüchen. Manch-mal verwenden wir Zahlen wie 2 . Doch nun haben wir ein Zahlensystem einer ganz neuen Art entdeckt: die endliche Menge der Zahlen {0, 1, 2,…, p − 1}, wobei p eine Primzahl ist. Auf dieser Menge sind die Operationen der Addition und Multiplikation modulo p definiert. Man bezeichnet sie als den endlichen Körper mit p Elementen. Diese endlichen Körper bilden eine wich-tige Inselgruppe in der Welt der Zahlen – und leider sagt den meisten von uns nie jemand, dass es diese Inselgruppe gibt.

Obwohl diese Zahlensysteme vollkommen anders aussehen als die uns ver-trauten Zahlensysteme wie die rationalen Zahlen, haben sie dieselben schönen Eigenschaften: Sie sind abgeschlossen unter den Operationen der Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division.9 Alles, was wir mit den rationalen Zahlen machen können, können wir daher auch mit diesen etwas esoterisch anmutenden endlichen Zahlenkörpern machen.

Tatsächlich gelten sie als gar nicht mehr so esoterisch, nachdem wichtige Anwendungen für sie gefunden wurden – insbesondere in der Kryptographie. Wenn wir im Internet Geschäfte abwickeln und unsere Kreditkartennum-mer eingeben, wird diese Zahl mithilfe der Arithmetik modulo Primzahlen verschlüsselt (eine Beschreibung des RSA-Verschlüsselungsalgorithmus findet man in Anmerkung 7 zu Kap. 14.)

Kehren wir zu unserem Ausgangspunkt, der kubischen Gleichung

0 1 2 3 4 2 1, , , , , ..., , . p p− −{ }

2 3 1 5⋅ = modulo

4 4 1 5⋅ = modulo ,

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82 Liebe und Mathematik

zurück. Wir suchen nach Lösungen dieser Gleichung modulo p für verschie-dene Primzahlen p. Wie wir gesehen haben, gibt es vier Lösungen modulo 5. Doch offenbar sind Lösungen modulo p = 5 nicht notwendigerweise auch Lösungen modulo anderer Primzahlen (z. B. p = 7 oder p = 11). Die Lösungen hängen also von der Primzahl p ab, modulo der wir unsere Rechnungen aus-führen.

Wir stellen uns nun die folgende Frage: Wie hängt die Anzahl der Lösun-gen dieser Gleichung – jeweils modulo p − von p ab? Für kleine Werte von p können wir sie direkt abzählen (vielleicht mithilfe eines Computers), sodass wir eine kleine Tabelle anlegen können.

Schon seit längerem wissen Mathematiker, dass die Anzahl der Lösungen einer Gleichung dieser Art modulo p ungefähr gleich p ist. Wir bezeichnen mit ap das Defizit, also die Zahl, um welche die tatsächliche Anzahl der Lö-sungen von der erwarteten Anzahl der Lösungen (nämlich p) abweicht. Das bedeutet, die Anzahl der Lösungen der obigen Gleichung modulo p ist gleich p − ap. Die Zahlen ap können für ein gegebenes p positiv oder negativ sein. Für p = 5 haben wir beispielsweise 4 Lösungen gefunden, und da 4 = 5 − 1 erhalten wir a5 1= .

Für kleine Primzahlen können wir die Zahlen ap mit einem Computer be-stimmen. Sie scheinen wie zufällig. Es scheint keine natürliche Formel oder Regel zu geben, mit der wir sie berechnen können. Noch schlimmer ist, dass die Berechnungen ziemlich schnell sehr kompliziert werden.

Was würden Sie sagen, wenn ich behaupte, dass es tatsächlich eine sehr einfache Regel gibt, mit der sich die Zahlen ap alle auf einmal erzeugen lassen?

Falls Sie sich nun fragen, was ich genau unter einer einfachen „Regel“ ver-stehe, die diese Zahlen erzeugen kann, möchte ich hier ein bekannteres Bei-spiel betrachten – die sogenannten Fibonacci-Zahlen:

Benannt sind die Zahlen nach einem italienischen Mathematiker, der sie im Jahre 1202 in seinem Buch einführte (im Zusammenhang mit dem Fortpflan-zungsverhalten von Kaninchen). Fibonacci-Zahlen sind in der Natur weit ver-breitet: Man findet sie bei der Anordnung von Blättern an Blumenstengeln ebenso wie bei den Strukturen auf der Oberfläche einer Ananas. Es finden sich auch vielfache Anwendungen, beispielsweise beim „Fibonacci Retrace-ment“ in der Analyse von Aktienmärkten.

Die Fibonacci-Zahlen sind folgendermaßen definiert: Die ersten beiden Zah-len sind gleich 1, und jede weitere Zahl ist gleich der Summe der beiden voran-

y y x x2 3 2+ = − ,

1 1 2 3 5 8 13 21 34, , , , , , , , ,…

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gegangenen Fibonacci-Zahlen. Beispielsweise ist 2 1 1 3 2 1 5 3 2= + = + = +, , und so weiter. Bezeichnen wir die n-te Fibonacci-Zahl mit Fn, dann gilt F F1 21 1= =, und

Im Prinzip können wir mit dieser Regel die n-te Fibonacci-Zahl für jedes be-liebige n bestimmen. Doch dazu müssen wir zunächst alle Fibonacci-Zahlen Fi für i zwischen 1 und n − 1 berechnen.

Es zeigt sich jedoch, dass sich diese Zahlen auch in der folgenden Weise generieren lassen. Betrachten wir die Reihe

Ausgedrückt in Worten: Wir multiplizieren eine Hilfsvariable q mit der Sum-me aller Potenzen des Ausdrucks ( q + q2). Wir multiplizieren die einzelnen Terme aus und erhalten eine unendliche Reihe:

Berechnen wir als Beispiel den Term zu q3. Beiträge dazu stammen aus q q q q, ( )+ 2 und q q q( )+ 2 2 . (Alle anderen Ausdrücke aus der definierenden Summe, z. B. q q q( ) ,+ 2 3 enthalten höhere Potenzen von q als 3.) Der erste Ausdruck enthält überhaupt kein q3 und die anderen beiden Ausdrücke ent-halten q3 jeweils einmal. Die Summe ist somit 2q3. In ähnlicher Weise können wir alle anderen Terme dieser Reihe bestimmen.

Offenbar sind die Koeffizienten vor qn der ersten Terme in dieser Reihe für n zwischen 1 und 7 gerade die n-ten Fibonacci-Zahlen Fn. Zum Beispiel haben wir 13q7 und F7 = 13. Es zeigt sich, dass dies für alle n richtig ist. Aus diesem Grund nennt der Mathematiker diese unendliche Reihe die erzeugen-de Funktion der Fibonacci-Zahlen. Aus dieser erstaunlichen Funktion erhält man eine geschlossene Formel zur Berechnung der n-ten Fibonacci-Zahl ohne Bezug auf die vorhergehenden Fibonacci-Zahlen.10 Doch selbst wenn wir die-sen rechnerischen Aspekt einmal beiseite lassen, können wir den Mehrwert einer solchen erzeugenden Funktion erkennen: Statt einer selbst-referenziel-len rekursiven Vorschrift enthält die erzeugende Funktion sämtliche Fibonac-ci-Zahlen auf einmal.

Kehren wir zu den Zahlen ap zurück, die im Wesentlichen die Anzahl der Lösungen (modulo einer Primzahl) der kubischen Gleichung angeben. In ge-wisser Hinsicht entsprechen diese Zahlen den Fibonacci-Zahlen (wir verges-

F F F nn n n= + >− −1 2 2, .

q q q q q q q q q q q q q+ + + + + + + + +…( ) ( ) ( ) ( ) .2 2 2 2 3 2 4

q q q q q q q+ + + + + + +…2 3 4 5 6 72 3 5 8 13

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sen für den Augenblick, dass die Zahlen ap durch Primzahlen p gekennzeich-net werden, die Fibonacci-Zahlen Fn aber durch die natürlichen Zahlen n).

Es scheint nahezu unglaublich, dass es eine Regel geben soll, nach der sich diese Zahlen erzeugen lassen. Und doch entdeckte der deutsche Mathema-tiker Martin Eichler eine solche Beziehung im Jahre 1954.11 Betrachten wir dazu die folgende erzeugende Funktion:

In Worten: Das ist q multipliziert mit dem Produkt aus allen Faktoren der Form (1 − qa)2, wobei a alle Zahlen der Form n und 11n durchläuft, und n = 1, 2, 3,… Wir multiplizieren wieder aus und erhalten nach den üblichen Regeln:

und nun multiplizieren wir sämtliche Faktoren. Schließlich fassen wir noch die Terme mit denselben Potenzen von q zusammen und erhalten eine unend-liche Reihe, die folgendermaßen beginnt:

wobei die Punkte für Terme stehen, bei denen die Potenz von q größer als 13 ist. Obwohl es sich um eine unendliche Reihe handelt, ist jeder Koeffizient wohldefiniert, denn er bestimmt sich aus nur endlich vielen Faktoren in dem obigen Produkt. Wir bezeichnen den Koeffizienten vor qm durch bm, sodass b b b b b1 2 3 4 51 2 1 2 1= = − = − = =, , , , usw. Man kann die ersten Koeffizien-ten leicht von Hand oder mit einem Computer berechnen.

Eichler hatte die erstaunliche Erkenntnis, dass für alle Primzahlen p der Ko-effizient bp gleich ap ist. Mit anderen Worten: a b a b a b a b2 2 3 3 5 5 7 7= = = =, , , , und so weiter.

Wir können als Beispiel überprüfen, dass diese Behauptung für p = 5 richtig ist. Für den Koeffizient von q5 erhalten wir aus der erzeugenden Funktion b5 = 1. Andererseits haben wir gesehen, dass unsere kubische Gleichung 4 Lö-sungen modulo p = 5 hat. Daher ist a5 5 4 1= − = , also tatsächlich a b5 5= .

Unser Ausgangspunkt war ein Problem von scheinbar unendlicher Kom-plexität: die Suche nach der Anzahl der Lösungen der kubischen Gleichung

modulo p für alle Primzahlen p. Und doch steckt alle Information über dieses Problem in einer einzigen Zeile:

q q q q q q q q q1 1 1 1 1 1 1 12 11 2 2 2 22 2 3 2 33 2 4 2 44−( ) −( ) −( ) −( ) −( ) −( ) −( ) −( ))2

...

1 1 2 1 1 22 2 11 2 11 22−( ) = − + −( ) = − +q q q q q q, , ...

q q q q q q q q q q q q− + + + + + +− − − − −2 2 2 2 2 2 2 42 3 4 5 6 7 9 10 11 12 13 ...,

y y x x2 3 2+ = −

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8 Verzauberte Zahlen 85

Diese eine Zeile ist ein Geheimcode, der alle Informationen über die Anzahl der Lösungen der kubischen Gleichung modulo aller Primzahlen enthält.

Als nützliche Analogie könnte man sich die kubische Gleichung wie einen komplizierten biologischen Organismus vorstellen und die Lösungen dieser Gleichung als die verschiedenen Eigenschaften dieses Organismus. Wir wis-sen, dass sämtliche Eigenschaften im DNA-Molekül des Organismus ver-schlüsselt sind. Entsprechend steckt die gesamte Komplexität unserer kubi-schen Gleichung in einer einzigen erzeugenden Funktion, die wie eine DNA dieser Gleichung ist.

Noch erstaunlicher ist, dass die obige unendliche Summe für Werte von q mit einem Absolutwert kleiner als 1 gegen eine wohldefinierte Zahl kon-vergiert. Wir erhalten also eine Funktion in q, und es zeigt sich, dass diese Funktion eine sehr spezielle Eigenschaft hat, die ähnlich der Periodizität der bekannten trigonometrischen Funktionen Sinus und Kosinus ist.

Die Sinus-Funktion sin( x) ist periodisch mit der Periode 2π, das bedeutet sin( x + 2π) = sin( x). Doch damit ist auch sin( x + 4π) = sin( x) und ganz allge-mein sin( x + 2πn) = sin( x) für jede ganze Zahl n. Wir können die Periodizität auch unter einem anderen Blickwinkel betrachten: Jede ganze Zahl n ent-spricht einer Symmetrie der reellen Zahlengeraden: Jeder Punkt x auf der Geraden wird um 2πn zu dem Punkt x + 2πn verschoben. Daher ist die Grup-pe der ganzen Zahlen auch als Symmetriegruppe der reellen Zahlengeraden realisiert. Die Periodizität der Sinus-Funktion bedeutet, dass diese Funktion invariant unter dieser Gruppe ist.

Ganz entsprechend erweist sich auch die oben angegebene erzeugende Funktion von Eichler in der Variablen q als invariant unter einer bestimm-ten Symmetriegruppe. Hier sollten wir q nicht als eine reelle Zahl, sondern als eine komplexe Zahl auffassen (auf dieses Thema gehen wir im nächsten Kapitel ein). Dann bezeichnet q nicht einen Punkt auf einer Linie wie bei der Sinus-Funktion, sondern einen Punkt innerhalb der Scheibe des Einheits-kreises in der komplexen Ebene. Die Symmetrieeigenschaft ist ganz ähnlich: Auf dieser Scheibe gibt es eine Symmetriegruppe, und unsere Funktion ist invariant unter dieser Gruppe.12 Eine Funktion mit dieser Art von Invarianz-eigenschaft bezeichnet man als Modulform.

Diese Symmetriegruppe der Kreisscheibe ist sehr ergiebig. Wir erhalten eine Vorstellung von dieser Gruppe aus Abb. 8.1, bei der die Kreisscheibe in unendlich viele Dreiecke unterteilt wurde.13

Die Symmetrien wirken auf die Kreisscheibe, indem sie die Dreiecke aus-tauschen. Tatsächlich gibt es zu je zwei Dreiecken eine Symmetrie, die die-se beiden Dreiecke ineinander überführt. Auch wenn diese Symmetrien der

q q q q q q q q q1 1 1 1 1 1 1 12 11 2 2 2 22 2 3 2 33 2 4 2 44−( ) −( ) −( ) −( ) −( ) −( ) −( ) −( ))2

...

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86 Liebe und Mathematik

Kreisscheibe sehr kompliziert erscheinen, ist die Situation durchaus vergleich-bar mit der Art, wie die ganzen Zahlen die Intervalle [2πm, 2π( m + 1)] ver-schieben. Die Sinus-Funktion ist invariant unter diesen Verschiebungssym-metrien, wohingegen die erzeugende Funktion von Eichler invariant unter den Symmetrien der Kreisscheibe ist.

Zu Beginn dieses Kapitels hatte ich erwähnt, dass die Sinus-Funktion das einfachste Beispiel einer harmonischen Funktion (im Wesentlichen einer Wel-le) ist, die bei der harmonischen Analyse der Zahlengeraden auftritt. Entspre-chend gehört die Eichler-Funktion zusammen mit anderen Modulformen zu den harmonischen Funktionen, die bei der harmonischen Analyse der Ein-heitsscheibe auftreten.

Eichler hatte die erstaunliche Erkenntnis, dass die scheinbar zufälligen Häufigkeiten von Lösungen einer kubischen Gleichung modulo Primzahlen von einer einzigen erzeugenden Funktion herrühren, und diese Funktion be-sitzt eine außergewöhnliche Symmetrie, die eine verborgene Harmonie und Ordnung in diesen Zahlen andeutet. In ähnlicher Weise ordnet das Lang-lands-Programm wie durch einen Zauber bisher unzugängliche Information in reguläre Muster und zeichnet so ein erlesenes Bild aus Zahlen, Symmetrien und Gleichungen.

Als ich zu Beginn dieses Buches über Mathematik sprach und mathemati-sche Ergebnisse als „schön“ oder „elegant“ bezeichnete, werden Sie sich viel-leicht gefragt haben, was ich damit meinte. Nun, genau das habe ich damit gemeint. Die Tatsache, dass sich diese höchst abstrakten Konzepte zu einer

Abb. 8.1 Die Symmetriegruppe der Eichler-Funktion tauscht die Dreiecke auf der komplexen Einheitsscheibe aus. © siehe Anm. 12

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8 Verzauberte Zahlen 87

derart feinen Harmonie zusammenfinden, ist absolut verblüffend. Das alles verweist auf irgendetwas Reichhaltiges und Geheimnisvolles, das unter der Oberfläche hervorblickt, als ob sich ein Vorhang gelüftet hat und wir auf einen Teil der Realität schauen, der bisher sehr sorgfältig vor uns verborgen lag. Hier liegen die Wunder der modernen Mathematik – und der modernen Welt.

Natürlich kann man sich fragen, ob diese Ergebnisse neben ihrer imma-nenten Schönheit und ihrer überraschenden Fähigkeit, scheinbar sehr weit voneinander entfernte Bereiche der Mathematik zusammenzubringen, noch irgendwelche praktischen Anwendungen haben. Die Frage ist natürlich zu-lässig, und bisher sind mir keine solchen Anwendungen bekannt. Doch ku-bische Gleichungen über endlichen Körpern mit p Elementen, wie wir sie betrachtet haben, führen auf sogenannte elliptische Kurven und finden breite Anwendung in der Kryptographie.14 Ich wäre daher nicht überrascht, wenn mathematische Beziehungen wie die von Eichler eines Tages ebenfalls bei si-cheren und allgemeinen Verschlüsselungsverfahren eingesetzt werden.

Die Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung ist eine Verallgemeinerung des Ergebnisses von Eichler. Sie besagt, dass es für jede kubische Gleichung der angegebenen Art (mit einigen schwachen Einschränkungen) eine Modulform gibt, deren Koeffizienten gleich der Anzahl der Lösungen dieser Gleichung modulo Primzahlen sind. Außerdem gibt es eine Eins-zu-Eins-Beziehung zwi-schen den kubischen Gleichungen und den Modulformen einer bestimmten Art.

Was meine ich hier mit „Eins-zu-Eins-Beziehung“? Angenommen, wir ha-ben fünf Bleistifte und fünf Kugelschreiber. Dann können wir jedem Bleistift einen Kugelschreiber zuordnen, sodass es zu jedem Bleistift genau einen Ku-gelschreiber gibt. Das bezeichnet man als eine Eins-zu-Eins-Beziehung.

Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, das zu tun. Nehmen wir jedoch einmal an, dass bei der von uns gewählten Zuordnung jeder Bleistift genau dieselbe Länge wie der ihm zugeteilte Kugelschreiber besitzt. Dann bezeich-nen wir die Länge als eine Invariante und sagen, dass unsere Zuordnung diese Invariante unverändert lässt. Wenn alle Bleistifte unterschiedliche Längen ha-ben, gibt es nur eine Eins-zu-Eins-Beziehung mit dieser Eigenschaft.

Im Fall der Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung sind die Objekte auf der einen Seite kubische Gleichungen wie oben. Dies wären unsere Bleistifte, und für jede Gleichung sind die Zahlen ap die zugehörigen Invarianten. (Wie die Länge eines Bleistifts, allerdings gibt es nun nicht nur eine Invariante, son-dern unendlich viele – zu jeder Primzahl eine.)

Die Objekte auf der anderen Seite der Beziehung sind Modulformen. Dies sind unsere Kugelschreiber, und für jede Modulform sind die Koeffizienten bp die zugehörigen Invarianten (wie die Länge der Kugelschreiber).

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88 Liebe und Mathematik

Die Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung besagt, dass es eine Eins-zu-Eins-Beziehung zwischen diesen Objekten gibt, sodass die Invarianten erhalten bleiben:

Diagramm 8.2

Kubische Gleichungen{Anzahl der Lösungen ap}

Modulformen{Koeffizienten bp}↔

Das bedeutet, zu jeder kubischen Gleichung gibt es eine Modulform, sodass ap = bp für alle Primzahlen p und umgekehrt.15

Nun kann ich die Beziehung zwischen der Shimura-Taniyama-Weil-Ver-mutung und dem großen Fermat’schen Satz erklären: Ausgehend von einer Lösung der Fermat’schen Gleichung können wir eine bestimmte kubische Gleichung konstruieren.16 Ken Ribet hatte jedoch gezeigt, dass die Anzahl der Lösungen dieser kubischen Gleichung modulo Primzahlen nicht gleich den Koeffizienten einer Modulform sein kann, deren Existenz aber von der Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung behauptet wird. Sobald diese Vermu-tung bewiesen ist, können wir daraus schließen, dass es eine solche kubische Gleichung nicht geben kann. Dann gibt es aber auch keine Lösungen der Fermat’schen Gleichung.

Die Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung ist so erstaunlich, weil die Zahlen ap aus der Untersuchungen von Lösungen einer Gleichung modulo Primzah-len stammen – sie kommen aus der Welt der Zahlentheorie –, und die Zahlen bp sind die Koeffizienten einer Modulform, aus der Welt der harmonischen Analyse. Diese zwei Welten scheinen Lichtjahre voneinander entfernt, und doch zeigt sich, dass sie ein und dasselbe beschreiben!

Die Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung lässt sich als Spezialfall des Lang-lands-Programms werten. Dazu ersetzen wir jede der kubischen Gleichungen in der Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung durch eine bestimmte zweidi-mensionale Darstellung der Galois-Gruppe. Diese Darstellung erhält man auf natürliche Weise aus der kubischen Gleichung, und die Zahlen ap lassen sich unmittelbar dieser Darstellung zuordnen (statt der kubischen Gleichung). Damit lässt sich die Vermutung als eine Beziehung zwischen zweidimensio-nalen Darstellungen der Galois-Gruppe und Modulformen ausdrücken.

(Wie schon in Kap. 2 erwähnt, ist eine zweidimensionale Darstellung einer Gruppe eine Vorschrift, die jedem Element dieser Gruppe eine Symmetrie eines zweidimensionalen Raumes, d. h. einer Ebene, zuordnet. In Kap. 2 ha-ben wir als Beispiel eine zweidimensionale Darstellung der Kreisgruppe er-wähnt.)

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8 Verzauberte Zahlen 89

Noch allgemeiner stellen einige Vermutungen des Langlands-Programms in unerwarteter und tiefgreifender Weise Beziehungen zwischen n-dime-nsionalen Darstellungen der Galois-Gruppe (welche die zweidimensionalen Darstellungen zu den kubischen Gleichungen in der Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung verallgemeinern) und den sogenannten automorphen Funk-tionen (welche die Modulformen in der Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung verallgemeinern) her:

Diagramm 8.3

Darstellungen derGalois-Gruppe automorphe Funktionen↔

Obwohl kaum jemand an der Richtigkeit dieser Vermutungen zweifelt, sind die meisten von ihnen bis heute unbewiesen, trotz enormer Anstrengungen von mehreren Mathematikergenerationen im Laufe der letzten fünfundvier-zig Jahre.

Man könnte sich fragen, wie man überhaupt auf solche Vermutungen kommen kann?

Diese Frage bezieht sich auf das Wesen mathematischer Einsicht. Die Fä-higkeit, Strukturen und Beziehungen zu sehen, die noch niemand zuvor ge-sehen hat, kommt nicht von alleine. Gewöhnlich ist sie das Ergebnis von Monaten, wenn nicht Jahren, harter Arbeit. Ganz langsam entwickelt sich zunächst eine Ahnung von einem neuen Phänomen oder einer neuen Theo-rie, und zunächst glaubt man selbst nicht daran. Doch irgendwann fragt man sich: „Könnte das wirklich wahr sein?“ Man überprüft die Idee an Beispielen. Manchmal sind die Berechnungen wirklich schwer, und man muss sich durch einen Berg von Formeln hindurcharbeiten. Die Wahrscheinlichkeit, Fehler zu machen, ist groß und wenn zunächst nicht das Richtige herauskommt, ver-sucht man es nochmals – immer wieder.

Meistens erkennt man nach einiger Zeit (einem Monat oder einem Jahr), dass die ursprüngliche Idee falsch war und man etwas anderes versuchen muss. Das sind die Augenblicke der Enttäuschung und Verzweiflung. Man hat das Gefühl, sehr viel Zeit verschwendet zu haben, ohne dass etwas gewon-nen wurde. Solche Momente sind schwer zu verdauen. Doch man darf nie aufgeben. Man kehrt an die Tafel zurück, untersucht nochmals seine Daten, lernt aus gemachten Fehlern und kommt schließlich auf eine bessere Idee. Und ab und zu scheint diese Idee zu funktionieren. Es ist so, als ob man den ganzen Tag vergeblich mit einem Surfbrett auf dem Meer herumgepaddelt ist, und dann erwischt man plötzlich eine Welle: Man versucht sie zu halten und so lange wie möglich auf ihr zu reiten. In solchen Augenblicken muss man sei-

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90 Liebe und Mathematik

ner Phantasie freien Lauf lassen und sich von der Welle so weit es geht tragen lassen, selbst wenn die Idee zunächst vollkommen verrückt klingt.

Die Aussage der Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung muss für ihre Schöp-fer zu Beginn ebenfalls verrückt geklungen haben. Wie kann es anders sein? Natürlich hatte die Vermutung ihre Wurzeln in früheren Ergebnissen, wie dem von Eichler, über das wir schon gesprochen haben (und das später von Shimura verallgemeinert wurde). Daher wusste man, dass für manche kubi-schen Gleichungen die Anzahl der Lösungen modulo p in den Koeffizienten einer Modulform steckt. Doch die Idee, dass dies für jede kubische Gleichung gelten soll, muss damals vollkommen ungeheuerlich geklungen haben. Dies war ein gedanklicher Sprung, der zum ersten Mal von dem japanischen Ma-thematiker Yutaka Taniyama gemacht wurde. Er formulierte die Vermutung in Form einer Frage, die er öffentlich auf dem Internationalen Symposium über Algebraische Zahlentheorie in Tokio im September 1955 stellte.

Ich habe mich immer gefragt: Wie kam er zu der Annahme, dass dies keine verrückte Idee sei, sondern Wahrheit? Woher nahm er den Mut, diese Ver-mutung öffentlich zu äußern?

Wir werden es nie wissen. Mit gerade einunddreißig Jahren nahm sich Ta-niyama nicht lange nach seiner großartigen Entdeckung im November 1958 das Leben. Und kurz darauf machte auch die Frau, die er heiraten wollte, ihrem Leben ein Ende und hinterließ die Zeilen:

Wir hatten uns versprochen, dass wir uns niemals trennen werden, wohin wir auch gehen. Nun, da er von uns gegangen ist, muss auch ich gehen, um ihn wiederzutreffen.

Die Vermutung wurde schließlich von Taniyamas Freund und Kollegen Goro Shimura, einem weiteren japanischen Mathematiker, genauer formuliert. Shi-mura hat den Großteil seines Lebens an der Princeton University gearbeitet und ist heute dort Emeritus. Auf ihn gehen herausragende Beiträge zur Ma-thematik zurück, von denen viele mit dem Langlands-Programm zusammen-hängen, und mehrere grundlegende Konzepte in diesem Gebiet tragen seinen Namen (beispielsweise die „Eichler-Shimura-Kongruenzrelation“ und die „Shimura-Varietäten“).

In einem einfühlsamen Aufsatz über Taniyama schreibt Shimura17:

Obwohl er alles andere als ein laxer Typ war, hatte er die besondere Gabe, viele Fehler zu machen, aber in die richtige Richtung. Ich beneidete ihn darum und versuchte vergeblich, ihn nachzuahmen, empfand es aber als sehr schwierig, gute Fehler zu machen.

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8 Verzauberte Zahlen 91

Nach den Worten von Shimura war Taniyama „nicht sehr sorgfältig“, als er auf dem Symposium in Tokio im September 1955 sein Problem formulierte.18 Ein paar Dinge mussten noch nachgebessert werden. Und doch handelte es sich um eine revolutionäre Einsicht, die zu einer der bedeutendsten Errun-genschaften der Mathematik des zwanzigsten Jahrhunderts führten.

Die dritte Person, deren Namen mit der Vermutung verknüpft ist, ist An-dré Weil (Abb. 8.2), den ich schon erwähnt hatte. Er gehört zu den Giganten der Mathematik des zwanzigsten Jahrhunderts. Bekannt war er nicht nur auf-grund seiner Brillanz, sondern auch wegen seiner streitbaren Natur. Geboren wurde er 1906 in Frankreich, doch während des 2. Weltkriegs emigrierte er in die Vereinigten Staaten. Nachdem er an verschiedenen amerikanischen Uni-versitäten akademische Stellen innehatte, ließ er sich schließlich 1958 am In-stitute for Advanced Study in Princeton nieder und blieb dort bis zu seinem Tod im Jahre 1998. 

André Weil ist für das Langlands-Programm von besonderer Bedeutung, nicht nur wegen des an ihn gerichteten berühmten Briefs, in dem Robert Langlands seine Ideen zum ersten Mal formulierte, oder wegen der Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung. Das Langlands-Programm lässt sich am besten durch das Prisma des „großen Bilds“ einschätzen, das André Weil in einem Brief an seine Schwester gezeichnet hat. Das wird im nächsten Kapitel unser Ausgangspunkt sein, um das Langlands-Programm in den Bereich der Geo-metrie zu übertragen.

Abb. 8.2 André Weil, 1981. © Foto von Herman Landshoff. Aus dem Shelby White und Leon Levy Archives Center, Institute for Advanced Study, Princeton).

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9Der Rosetta-Stein der Mathematik

Während des Zweiten Weltkriegs, genauer im Jahr 1940, war André Weil in Frankreich im Gefängnis, weil er sich geweigert hatte, in der Armee zu die-nen. Die Zeitschrift The Economist schrieb später in ihrem Nachruf dazu: 1

[Weil] war tief erschüttert… über den Schaden, den der Erste Weltkrieg der Mathematik in Frankreich zugefügt hatte, als „falsche Vorstellungen von Gleichheit in Bezug auf die Opfer“ zur Vernichtung der jungen wissenschaft-lichen Elite dieses Landes führte. Unter diesem Eindruck hielt er es für seine Pflicht, nicht nur sich selbst gegenüber, sondern auch gegenüber der Zivilisa-tion, sein Leben der Mathematik zu widmen. Er war der Überzeugung, es sei eine Sünde, sich von diesem Thema abbringen zu lassen. Als man ihm entge-genhielt „wenn sich alle so verhalten würden…“ antwortete er, dass ihm diese Möglichkeit derart unplausibel erschien, dass er sich nicht genötigt fühlte, sie zu berücksichtigen.

Aus dem Gefängnis schrieb Weil einen Brief an seine Schwester Simone Weil, eine berühmte Philosophin und Humanistin. Dieser Brief ist ein bemerkens-wertes Dokument. In ihm versucht er in vergleichsweise einfachen Worten (die selbst ein Philosoph versteht – wenn Sie den Scherz erlauben) ein „großes Bild“ der Mathematik, wie er sie sah, zu zeichnen. Dieses Beispiel könnte al-len anderen Mathematikern ein Vorbild sein. Manchmal sage ich im Scherz, man sollte vielleicht einige der führenden Mathematiker ins Gefängnis ste-cken und sie zwingen, ähnlich wie Weil ihre großen Ideen in verständlicher Weise zum Ausdruck zu bringen.

Weil schreibt in dem Brief über die Bedeutung der Analogie in der Mathe-matik, und er erläutert dies durch die Analogie, die ihn am meisten interes-sierte: zwischen der Zahlentheorie und der Geometrie.

Diese Analogie erwies sich für die Entwicklung des Langlands-Programms als außerordentlich wichtig. Wie schon erwähnt, liegen die Wurzeln des Langlands-Programms in der Zahlentheorie. Langlands vermutete, dass sich gewisse schwere Fragen aus der Zahlentheorie, beispielsweise das Abzählen von Lösungen von Gleichungen modulo Primzahlen, mit Methoden aus der harmonischen Analyse – genauer der Untersuchung automorpher Funktio-

E. Frenkel, Liebe und Mathematik, DOI 10.1007/978-3-662-43421-5_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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94 Liebe und Mathematik

nen – beantworten lassen. Das ist sehr spannend, denn zum einen gibt es uns Verfahren an die Hand, zunächst scheinbar unlösbare Probleme zu lösen, und zum anderen deutet es auf einen tiefen und fundamentalen Zusammenhang zwischen verschiedenen Bereichen der Mathematik. Natürlich möchten wir gerne wissen, was hier wirklich vor sich geht: Weshalb sollte es diese ver-steckten Beziehungen geben? In vollem Umfang haben wir es immer noch nicht verstanden. Es dauerte schon sehr lange, nur die Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung zu beweisen. Und das ist nur ein Spezialfall der allgemeinen Langlands-Vermutungen. Es gibt Hunderte oder Tausende ähnlich lautender Aussagen, die immer noch nicht bewiesen sind.

Wie sollen wir an diese schwierigen Vermutungen herangehen? Eine Mög-lichkeit ist, sehr hart zu arbeiten und zu hoffen, dass man auf neue Ideen und Einsichten stößt. Das ist geschehen und auf diese Weise gelangte man zu wichtigen Ergebnissen und Fortschritten. Eine andere Möglichkeit wäre, das Langlands-Programm noch weiter auszudehnen. Da es auf wichtige Struktu-ren in der Zahlentheorie und der harmonischen Analyse und auf Beziehun-gen zwischen diesen beiden Bereichen hindeutet, könnte es sein, dass sich ähnliche Strukturen und Beziehungen auch zwischen anderen Bereichen der Mathematik finden lassen.

Genau das war auch der Fall. Nach und nach erkannte man, dass die glei-chen geheimnisvollen Strukturen auch in anderen mathematischen Gebie-ten auftreten, beispielsweise in der Geometrie und sogar in der Quantenme-chanik. Wenn wir etwas über diese Strukturen in einem Bereich verstanden haben, erhalten wir dadurch Hinweise auf ihre Bedeutung in anderen Be-reichen. Ich habe zu Beginn geschrieben, dass das Langlands-Programm so etwas wie eine Große Vereinheitlichte Theorie der Mathematik ist. Damit meine ich, dass das Langlands-Programm quer durch die unterschiedlichsten Bereiche der Mathematik auf einige universelle Phänomene sowie Beziehun-gen zwischen diesen Phänomenen hindeutet. Ich glaube, dass hier auch die Antworten auf die Frage liegen, was Mathematik eigentlich ist, bzw. wovon Mathematik eigentlich handelt, weit über die ursprünglichen Vermutungen von Langlands hinaus.

Das Langlands-Programm umfasst heute ein umfangreiches Gebiet. Sehr viele Personen arbeiten an diesem Programm, in verschiedenen Bereichen: Zahlentheorie, harmonische Analyse, Geometrie, Darstellungstheorie, ma-thematische Physik. Auch wenn sie mit ganz unterschiedlichen Objekten ar-beiten, beobachten sie doch sehr ähnliche Phänomene. Und in diesen Phäno-menen stecken Hinweise, wie die verschiedenen Bereiche zusammenhängen, wie die Teile eines riesigen Puzzles.

Mein Einstieg in das Langlands-Programm erfolgte über meine Arbeiten an Kac-Moody-Algebren, auf die ich in den nächsten Kapiteln genauer eingehen

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9 Der Rosetta-Stein der Mathematik 95

werde. Doch je mehr ich über das Langlands-Programm erfuhr, umso mehr faszinierte mich, wie allgegenwärtig es in der Mathematik zu finden ist.

Man kann sich die verschiedenen Bereiche der Mathematik wie Sprachen vorstellen. Wir kennen Sätze aus unterschiedlichen Sprachen, von denen wir überzeugt sind, dass sie dasselbe bedeuten. Wir vergleichen die Sätze mitein-ander und langsam entwickelt sich daraus ein Lexikon, mit dem wir die Sätze aus den verschiedenen Bereichen der Mathematik übersetzen können. André Weil hat uns einen geeigneten Rahmen vermittelt, mit dem wir die Beziehun-gen zwischen der Zahlentheorie und der Geometrie verstehen können, wie ein „Rosetta-Stein“ der modernen Mathematik.

Auf der einen Seite haben wir die Objekte der Zahlentheorie, die wir im letzten Kapitel besprochen haben: rationale Zahlen und Zahlenkörper, die wir beispielsweise durch die Erweiterung der rationalen Zahlen um 2 er-halten, oder auch ihre Galois-Gruppen.

Auf der anderen Seite haben wir sogenannte Riemann’sche Flächen. Das einfachste Beispiel ist die Kugeloberfläche (Abb. 9.1).2

Das nächste Beispiel ist der Torus, die Oberfläche eines Donuts (Abb. 9.2). Ich möchte hier betonen, dass wir nur die Oberfläche des Donuts betrachten und nicht sein Inneres.

Unser nächstes Beispiel ist die Oberfläche einer Brezel auf dem nächsten Bild (Abb. 9.3).

Der Torus hat ein „Loch“, und die Brezel hat zwei „Löcher“.*1Es gibt auch Flächen mit n Löchern für alle n = 3, 4, 5,… Der Mathematiker nennt die Anzahl der Löcher das Geschlecht der Riemann’schen Fläche. Benannt sind die

* Mein Herausgeber sagt mir, dass deutsche Brezeln, wie er sie nicht weit von seinem Haus bekommt, vom Geschlecht 3 sind (und ausgezeichnet).

Abb. 9.1 Die Kugeloberfläche ist die einfachste Riemann’sche Fläche. © siehe Anm. 2

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Flächen nach dem deutschen Mathematiker Bernhard Riemann, der im neun-zehnten Jahrhundert lebte. Seine Arbeiten eröffneten der Mathematik mehre-re bedeutende neue Richtungen, und seine Theorie der gekrümmten Räume, die wir heute als Riemann’sche Geometrie bezeichnen, bildet die Grundlage der Einstein’schen allgemeinen Relativitätstheorie. Die Einstein’schen Glei-chungen beschreiben die Gravitation durch den sogenannten Riemann’schen Tensor, der die Krümmung der Raumzeit angibt.

Auf den ersten Blick hat die Zahlentheorie nichts mit Riemann’schen Flä-chen gemein, und doch gibt es viele Analogien zwischen ihnen. Der wichtige Punkt ist, dass es zwischen diesen beiden Bereichen noch eine weitere Klasse von Objekten gibt.

96 Liebe und Mathematik

Abb. 9.3 Die Oberfläche einer Brezel ist ebenfalls eine Riemann’sche Fläche. © siehe Anm. 2

Abb. 9.2 Auch der Torus ist eine Riemann’sche Fläche. © siehe Anm. 2

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Dazu zeigen wir zunächst, wie sich eine Riemann’sche Fläche durch eine al-gebraische Gleichung beschreiben lässt. Betrachten wir als Beispiel nochmals eine kubische Gleichung wie

Bevor wir von den Lösungen einer solchen Gleichung sprechen können, müs-sen wir – wie schon erwähnt – zunächst festlegen, zu welchem Zahlensystem die Lösungen gehören sollen. Dafür gibt es viele Möglichkeiten, und aus die-sen ergeben sich wiederum verschiedene mathematische Theorien.

Im letzten Kapitel haben wir Lösungen modulo Primzahlen betrachtet, und das ist eine Theorie. Wir können aber auch nach Lösungen in den kom-plexen Zahlen suchen. Das ist eine andere Theorie, und sie führt uns auf die Riemann’schen Flächen.

Viele Menschen schreiben diesen Zahlen beinahe mystische Eigenschaften zu, als ob es sich um unvorstellbar komplizierte Objekte handelte. In Wahr-heit sind diese Zahlen nicht komplizierter als die Zahlen des letzten Kapitels, als wir der Quadratwurzel von 2 einen Sinn gegeben haben.

Ich möchte das etwas näher erläutern. Im letzten Kapitel haben wir die ra-tionalen Zahlen um zwei Lösungen der Gleichung x2 = 2 erweitert, die wir 2 und – 2 genannt haben. Nun betrachten wir statt der Gleichung x2 2= die Gleichung x2 = –1. Sieht sie so viel komplizierter aus? Nein. Sie besitzt kei-ne Lösungen in den rationalen Zahlen, doch das macht uns keine Angst. Wir erweitern die rationalen Zahlen um die beiden Lösungen dieser Gleichung. Nennen wir sie −1 und – −1. Sie lösen die Gleichung x2 1= − , : d. h.

Es gibt zum vorherigen Fall nur einen kleinen Unterschied. Die Zahl 2 ist zwar nicht rational, aber sie ist eine reelle Zahl, wir müssen also den Bereich der reellen Zahlen nicht verlassen, wenn wir sie zu den rationalen Zahlen hinzufügen.

Wir können uns die reellen Zahlen folgendermaßen geometrisch veran-schaulichen. Wir zeichnen eine Gerade und kennzeichnen zwei Punkte auf dieser Geraden, die den Zahlen 0 und 1 entsprechen sollen. Dann kenn-zeichnen wir einen weiteren Punkt rechts von der 1 in einem Abstand, der gleich dem Abstand zwischen 0 und 1 ist. Dieser Punkt entspricht der Zahl 2. Auf diese Weise können wir alle anderen ganzen Zahlen auf der Geraden darstellen. Im nächsten Schritt markieren wir rationale Zahlen, indem wir die Intervalle zwischen den Punkten zu den ganzen Zahlen entsprechend unter-teilen. Beispielsweise liegt die Zahl 1 2 genau in der Mitte zwischen 0 und

y y x x2 3 2+ = − .

− = − − − = −1 1 1 12 2 , ( ) .

9 Der Rosetta-Stein der Mathematik 97

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1; die Zahl 7 3 liegt um ein Drittel hinter der 2 auf dem Weg zur 3, und so weiter. Intuitiv stehen die reellen Zahlen in einer Eins-zu-Eins-Beziehungen mit allen Punkten auf dieser Geraden (Abb. 9.4).3

Erinnern wir uns, dass die Zahl 2 der Länge der Hypotenuse in einem rechtwinkligen Dreieck mit den Kathetenlängen 1 entspricht. Wir markieren die 2 auf der reellen Zahlengeraden bei dem Punkt zur Rechten von 0, dessen Abstand von 0 gerade gleich der Länge dieser Hypotenuse ist. Entspre-chend können wir auf dieser Geraden auch die Zahl π markieren4, die gleich dem Umfang eines Kreises vom Durchmesser 1 ist.

Andererseits hat die Gleichung x2 1= − keine Lösungen in den rationa-len Zahlen und auch keine Lösungen in den reellen Zahlen. Tatsächlich ist das Quadrat jeder reellen Zahl immer positiv oder 0, also kann es nicht − 1 sein. Anders als bei 2 und − 2 handelt es sich bei den Zahlen −1 und − −1 nicht um reelle Zahlen. Doch was soll’s? Wir gehen wieder denselben Weg, über den wir die Zahlen 2 und − 2 eingeführt haben. Und wir ver-wenden dieselben Rechenregeln auch für diese neuen Zahlen.

Überlegen wir uns nochmals, wie wir vorher argumentiert haben: Wir hat-ten festgestellt, dass die Gleichung x2 = 2 keine Lösungen in den rationalen Zahlen hat. Also haben wir zwei Lösungen dieser Gleichung erzeugt, die wir

2 und − 2 genannt haben, und sie den rationalen Zahlen hinzugefügt. Auf diese Weise erhielten wir ein neues Zahlensystem (das wir Zahlenkörper genannt haben). Ganz entsprechend nehmen wir nun die Gleichung x2 = −1 und stellen fest, dass diese Gleichung keine Lösungen in den rationalen Zah-len besitzt. Also erzeugen wir zwei Lösungen dieser Gleichung, bezeichnen sie mit −1 und − −1 , und fügen sie den rationalen Zahlen hinzu. Es ist derselbe Weg! Weshalb sollte dieses neue Zahlensystem komplizierter sein als unser altes Zahlensystem, das die 2 enthält?

Der Grund ist rein psychologisch: Während wir 2 als die Länge einer Seite eines rechtwinkligen Dreiecks darstellen können, kennen wir keine so offensichtliche geometrische Darstellung für −1 . Doch wir können mit

−1 algebraisch ebenso umgehen wie mit 2 .Die Elemente des neuen Zahlensystems, das wir durch Hinzufügung von −1 zu den reellen Zahlen erhalten, bezeichnet man als komplexe Zahlen.

Jede solche Zahl lässt sich folgendermaßen schreiben:

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0 1 2 3-1

12

73√2 π

Abb. 9.4 Die Zahlengerade der reellen Zahlen. © Frenkel

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wobei r und s reelle Zahlen sind. Man vergleiche dies mit der Gleichung auf Seite 67, also der allgemeinen Darstellung der Elemente des Zahlensystems, das wir durch Hinzunahme von 2 erhalten haben. Wir können je zwei Zahlen dieser Form addieren, indem wir getrennt den r- und den s-Teil ad-dieren. Wir können zwei solche Zahlen auch multiplizieren, indem wir die Klammern auflösen und dann ausnutzen, dass −1 · −1 = − 1 ist. Ganz ähnlich können wir diese Zahlen auch voneinander subtrahieren oder durch-einander teilen.

Gewöhnlich verwendet man statt −1 auch das Symbol i (für „imagi-när“), doch ich ziehe hier die alte Bezeichnung vor, um die algebraische Be-deutung dieser Zahl deutlich zu machen: Sie ist einfach die Quadratwurzel aus − 1, nicht mehr und nicht weniger. Das ist genauso konkret wie die Qua-dratwurzel aus 2 und ebenso wenig geheimnisvoll.

Um ein Gefühl für diese Zahlen zu bekommen, stellen wir sie geometrisch dar. Die reellen Zahlen lassen sich geometrisch als Punkte auf einer Geraden darstellen, ganz entsprechend können wir die komplexen Zahlen als Punkte in einer Ebene darstellen. Wir wählen für die komplexe Zahl r + s −1 als Punkt in der Ebene den Punkt mit den Koordinaten r und s (Abb. 9.5).5

Kehren wir nun zu unserer kubischen Gleichung

zurück und suchen Lösungen für x und y in den komplexen Zahlen.

r s+ − ,1

y y x x2 3 2+ = −

9 Der Rosetta-Stein der Mathematik 99

S

r

r + s √−1

Abb. 9.5 Die komplexe Zahl r + s −1 als Punkt in der Ebene. © Frenkel

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Es mag zunächst überraschend sein, doch die Menge aller solcher Lösungen entspricht genau der Menge der Punkte auf einem Torus wie in Abb. 9.2. Mit anderen Worten, jeder Punkt des Torus entspricht genau einem Paar komple-xer Zahlen x, y, welche die obige kubische Gleichung lösen, und umgekehrt.6

Wenn Sie noch nie mit komplexen Zahlen gearbeitet haben, ist dies der Punkt, wo Sie vermutlich Kopfschmerzen bekommen. Das ist vollkommen normal. Es ist schon schwierig genug, sich überhaupt eine komplexe Zahl vorzustellen – und dann gleich Paare komplexer Zahlen, die irgendeine Glei-chung lösen? Es ist überhaupt nicht offensichtlich, dass diese Paare in einer Eins-zu-Eins-Beziehung zu den Punkten auf der Oberfläche eines Donuts ste-hen, also seien Sie nicht enttäuscht, wenn Ihnen das nicht sofort einleuchtet. Vermutlich hätten viele professionelle Mathematiker ihre Schwierigkeiten, dieses überraschende und nicht-triviale Ergebnis zu beweisen.7

Um uns trotzdem davon zu überzeugen, dass die Lösungen algebraischer Gleichung etwas mit geometrischen Formen zu tun haben, betrachten wir eine einfachere Situation: die Lösungen in den reellen statt den komplexen Zahlen. Als Beispiel wählen wir die Gleichung

und wir kennzeichnen ihre Lösungen als Punkte auf der Ebene mit den Ko-ordinaten x und y. Die Menge all dieser Lösungen bildet einen Kreis vom Radius eins um den Mittelpunkt. Ganz entsprechend lassen sich auch die Lösungen anderer algebraischer Gleichungen in zwei reellen Variablen x und y als Kurven in dieser Ebene darstellen.8

In gewisser Hinsicht sind komplexe Zahlen das Doppelte von reellen Zah-len (jede komplexe Zahl ist durch ein Paar reeller Zahlen bestimmt), also ist es nicht überraschend, dass die Lösungen solcher algebraischer Gleichungen in komplex-wertigen Variablen x und y Riemann’sche Flächen bilden. (Wie in Kap. 10 erörtert wird, ist eine Kurve eindimensional und eine Riemann’sche Fläche zweidimensional.)

Neben den reellen und komplexen Lösungen können wir auch nach Lö-sungen x und y dieser Gleichungen suchen, die Werte in einem endlichen Körper {0, 1, 2,…, p − 2, p − 1} annehmen, wobei p eine Primzahl ist. Das bedeutet, wenn wir x und y in der obigen Gleichung durch diese Zahlen erset-zen, werden die rechte und linke Seite dieser Gleichung zu ganzen Zahlen, die bis auf ein ganzzahliges Vielfaches von p gleich sind. Auf diese Weise erhalten wir ein Objekt, das die Mathematiker eine Kurve über einem endlichen Körper nennen. Natürlich handelt es sich nicht wirklich um Kurven. Die Sprechwei-se beruht darauf, dass die Lösungen in den reellen Zahlen tatsächlich Kurven in der Ebene sind.9

x y2 2 1+ = ,

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Die tiefe Erkenntnis von Weil bezog sich darauf, dass in diesem Fall das fundamentale Objekt eine algebraische Gleichung ist, ähnlich wie die obige kubische Gleichung. Je nach dem Bereich, in dem wir nach Lösungen suchen, liefert dieselbe Gleichung einmal eine Oberfläche, einmal eine Kurve und ein-mal einen Haufen einzelner Punkte. Doch dabei handelt es sich nur um die Avatare eines unbeschreibbaren Wesens, nämlich der Gleichung, ähnlich wie der Gott Vishnu im Hinduismus zehn Inkarnationen oder Avataras besitzt. Zufälligerweise hatte André Weil in seinem Brief an seine Schwester auch die Bhagavad Gita erwähnt,10 einen heiligen Hindu-Text, in dem die Lehre von den Avataras von Vishnu vermutlich zum ersten Mal auftaucht.11 Weil beschreibt poetisch, was passiert, wenn die Ahnung einer Analogie zwischen zwei Theorien zu konkretem Wissen wird:12

Verschwunden sind beide Theorien, verschwunden ihre Konflikte und köst-lichen gegenseitigen Reflektionen, ihre versteckten Liebkosungen, ihre un-erklärbaren Streitereien; es gibt nur noch die eine Theorie, deren majestätische Schönheit uns nicht mehr reizen kann. Nichts ist fruchtbarer als diese verbo-tenen Beziehungen; nichts macht dem Kenner mehr Vergnügen… Das Ver-gnügen entspringt der Illusion und der Entfachung der Sinne; sobald diese Illusion verschwindet und das Wissen gewonnen ist, kehrt wieder Gleichmut ein; in der Gita gibt es einige Verse zu diesem Thema, jeder deutlicher als seine Vorgänger. Doch ich möchte zu den algebraischen Funktionen zurückkehren.

Der Zusammenhang zwischen Riemann’schen Flächen und Kurven über end-lichen Körpern sollte nun deutlich werden: Beide stammen von derselben Art von Gleichungen ab, aber wir suchen nach Lösungen in verschiedenen Bereichen, entweder endlichen Körpern oder komplexen Zahlen. Auf der anderen Seite lässt sich „jedes Argument oder Ergebnis der Zahlentheorie Wort für Wort übersetzen“ in Kurven über endlichen Körpern, wie Weil es in seinem Brief formuliert.13 Weils Idee war daher, dass die Kurven über end-lichen Körpern die Objekte sind, die zwischen der Zahlentheorie und den Riemann’schen Flächen vermitteln.

Wir haben somit eine Brücke gefunden, oder einen „Drehtisch“, wie Weil es nennt, zwischen der Zahlentheorie und den Riemann’schen Flächen, und das ist die Theorie der algebraischen Kurven über endlichen Körpern. Mit anderen Worten, wir haben drei parallele Gleise oder Spalten:

Zahlentheorie Kurven über endlichen Körpern

Riemann’sche Flächen

Weil wollte dies auf folgende Weise ausnutzen: Man nehme eine Aussage in einer der drei Spalten und übersetze sie in Aussagen in den anderen Spalten. An seine Schwester schrieb er:14

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Meine Arbeit besteht in der Entzifferung eines dreisprachigen Textes; in jeder der drei Spalten habe ich nur ungleichartige Bruchstücke; ich habe einige Vor-stellungen von jeder der drei Sprachen: Aber ich bin mir auch bewusst, dass es große Bedeutungsunterschiede zwischen den Spalten gibt, auf die mich nichts vorher vorbereitet hat. In den vielen Jahren, die ich daran gearbeitet habe, habe ich wenige Teile des Lexikons gefunden.

Weil fand schließlich eine der beeindruckendsten Anwendungen seines Ro-setta-Steins: die sogenannten Weil-Vermutungen. Der Beweis dieser Ver-mutungen15 hat die Entwicklung der Mathematik in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nachhaltig vorangetrieben.

Kehren wir zum Langlands-Programm zurück. Die ursprünglichen Ideen von Langlands bezogen sich auf die linke Spalte von Weils Rosetta-Stein, also die Zahlentheorie. Langlands schaffte eine Verbindung zwischen den Darstel-lungen der Galois-Gruppen von Zahlenkörpern, also Objekten der Zahlen-theorie, zu automorphen Funktionen, das sind Objekte in der harmonischen Analyse – einem Bereich der Mathematik, der sehr weit von der Zahlentheo-rie entfernt ist (und ebenso von den anderen Spalten des Rosetta-Steins). Nun können wir nach ähnlichen Beziehungen fragen, wenn wir die Galois-Grup-pen durch Objekte in der mittleren und rechten Spalte von Weils Rosetta-Stein ersetzen.

Langlands’ Beziehungen lassen sich vergleichsweise leicht auf die mittlere Spalte übertragen, denn alle notwendigen Zutaten sind bereits vorhanden. Die Galois-Gruppen der Zahlenkörper sollten durch die Galois-Gruppen der relevanten Kurven über endlichen Körpern ersetzt werden. Außerdem gibt es einen Zweig der harmonischen Analyse, der sich mit den passenden auto-morphen Funktionen beschäftigt. Langlands hatte bereits in seiner ursprüng-lichen Arbeit die Darstellungen der Galois-Gruppen und die automorphen Funktionen der mittleren Spalte zugeordnet.

Es ist jedoch überhaupt nicht offensichtlich, wie diese Beziehung auf die rechte Spalte des Rosetta-Steins zu übertragen ist. Dazu müssten wir in der Theorie der Riemann’schen Flächen geometrische Gegenstücke zu den Galois-Gruppen und den automorphen Funktionen finden. Als Langlands seine Ideen aufschrieb, war der erste Teil bekannt, doch der zweite blieb ein großes Rätsel. Erst in den 1980er Jahren entdeckte man die geeigneten Konzepte, und die Basis lieferten die Pionierarbeiten des brillanten russischen Mathe-matikers Wladimir Drinfeld. Damit war man in der Lage, die Langlands-Be-ziehungen auf die dritte Spalte des Rosetta-Steins zu übertragen.

Ich möchte zunächst auf das geometrische Gegenstück zur Galois-Gruppe eingehen. Es handelt sich dabei um die sogenannte Fundamentalgruppe einer Riemann’schen Fläche.

102 Liebe und Mathematik

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Die Fundamentalgruppe ist eines der wichtigsten Konzepte in einem Zweig der Mathematik, den man als Topologie bezeichnet, und der sich mit be-stimmten offensichtlichen Eigenschaften geometrischer Formen beschäftigt (beispielsweise der Anzahl der Löcher in einer Riemann’schen Fläche).

Wir untersuchen als einfaches Beispiel einen Torus. Auf seiner Fläche wäh-len wir einen Punkt P und betrachten alle geschlossenen Wege, die an diesem Punkt beginnen und dort auch wieder enden. Zwei solche Wege erkennt man in Abb. 9.6.

Ganz entsprechend besteht die Fundamentalgruppe einer gegebenen Rie-mann’schen Fläche aus allen geschlossenen Wegen auf dieser Fläche, die an einem vorgegebenen Punkt P beginnen und enden.16

Zu zwei Wegen, die bei P beginnen und enden, konstruieren wir einen neuen Weg: Wir bewegen uns zunächst entlang des ersten Wegs und anschlie-ßend entlang des zweiten. Auf diese Weise erhalten wir einen neuen Weg, der ebenfalls bei P beginnt und endet. Es zeigt sich, dass diese „Addition“ von geschlossenen Wegen alle in Kap. 2 geforderten Eigenschaften einer Gruppe besitzt. Wir sehen also, dass diese Wege tatsächlich eine Gruppe bilden.17

Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass die Vorschrift zur Addition von We-gen in der Fundamentalgruppe der Addition von Zöpfen in der Zopfgruppe gleicht, die wir in Kap. 5 definiert haben. Das ist kein Zufall. Wie in Kap. 5 schon erwähnt wurde, lassen sich n-strängige Zöpfe auch als Wege in dem Raum aller möglichen Lagen von n Punkten auf der Ebene interpretieren. Tatsächlich ist die Zopfgruppe Bn genau die Fundamentalgruppe dieses Rau-mes.18

Es zeigt sich, dass die beiden Wege auf dem abgebildeten Torus mitein-ander kommutieren, d. h., wir erhalten dasselbe Element der Fundamental-gruppe, wenn wir die beiden Wege in umgekehrter Reihenfolge addieren.19 Das allgemeinste Element der Fundamentalgruppe des Torus besteht daher aus dem Weg, der zunächst M-mal dem ersten Weg und anschließend N-mal dem zweiten Weg folgt, wobei M und N ganze Zahlen sind (wenn M negativ ist, folgt man dem ersten Weg M-mal in umgekehrter Richtung, und ent-sprechend für negative N). Da die zwei einfachen Wege miteinander kommu-tieren, spielt es keine Rolle, in welcher Reihenfolge wir diesen Wegen folgen. Das Ergebnis ist dasselbe.

Für andere Riemann’sche Flächen ist die Struktur der Fundamentalgrup-pe komplizierter.20 Verschiedene Wege kommutieren nicht notwendigerweise miteinander. Wie wir in Kap. 5 gesehen haben, war das bei den Zöpfen mit mehr als zwei Strängen ähnlich, die ebenfalls nicht mehr kommutierten.

Man wusste schon seit Langem, dass es eine tiefe Beziehung zwischen den Galois-Gruppen und den Fundamentalgruppen gibt.21 Damit erhalten wir eine Antwort auf unsere erste Frage: Was entspricht den Galois-Gruppen

9 Der Rosetta-Stein der Mathematik 103

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in der rechten Spalte des Rosetta-Steins? Es ist die Fundamentalgruppe der Riemann’schen Fläche.

Unsere nächste Aufgabe besteht darin, geeignete Gegenstücke zu den auto-morphen Funktionen zu finden, also den Objekten, die auf der anderen Seite der Langlands-Relationen stehen. An dieser Stelle müssen wir einen riesigen Sprung machen. Die guten alten Funktionen erweisen sich als unzureichend. Sie müssen durch etwas kompliziertere Objekte der modernen Mathematik ersetzt werden, die man als Garben bezeichnet, und die wir in Kap 14 be-schreiben werden.

Dieser Sprung gelang Wladimir Drinfeld in den 1980er Jahren. Er gab dem Langlands-Programm eine neue Formulierung, die für die mittlere und

104 Liebe und Mathematik

P

P

Abb. 9.6 Zwei geschlossene Wege auf einem Torus, die am Punkt P beginnen und enden. © Frenkel

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rechte Spalte gilt, und die sich auf Kurven über endlichen Körpern und Rie-mann’schen Flächen bezieht. Diese Formulierung wurde als geometrisches Langlands-Programm bekannt. Insbesondere fand Drinfeld die geeigneten Gegenstücke zu den automorphen Funktionen in der rechten Spalte des Ro-setta-Steins.

Ich traf Drinfeld im Frühjahr 1990 an der Harvard University. Damals hat er mich für das Langlands-Programm begeistert, und darüber hinaus mein-te er, ich könnte bei dieser Entwicklung eine wichtige Rolle spielen. Drin-feld sah eine Beziehung zwischen dem geometrischen Langlands-Programm und der Arbeit, die ich als Student in Moskau gemacht hatte. Die Ergebnisse dieser Arbeit spielten für Drinfelds neuen Weg eine wichtige Rolle, und das wiederum hatte einen großen Einfluss auf mein mathematisches Leben: Seit damals spielt das Langlands-Programm in meiner Forschung eine vorherr-schende Rolle.

Also kehren wir nach Moskau zurück und zu meinem Werdegang, nach-dem ich meinen ersten Artikel über Zopfgruppen beendet hatte.

9 Der Rosetta-Stein der Mathematik 105

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10In der Schleife

Im Frühjahr 1986 in Moskau studierte ich im dritten Jahr am Kerosinka. Nachdem der Artikel zu den Zopfgruppen abgeschlossen und eingereicht war, fragte mich Fuchs: „Was willst du als Nächstes machen?“

Natürlich wollte ich ein neues Problem lösen. Wie sich zeigte, hatte Fuchs seit mehreren Jahren zusammen mit seinem früheren Studenten Boris Feigin an Darstellungen von Lie-Algebren gearbeitet. Er meinte, es handele sich um ein sehr lebendiges Gebiet mit vielen ungelösten Problemen und engen Bezie-hungen zur Quantenphysik.

Das ließ mich aufhorchen. Auch wenn ich durch Jewgeni Jewgenjewitsch zur Mathematik „übergetreten“ war und mich die Mathematik mittlerweile faszinierte, hatte ich doch meine Begeisterung für die Physik aus Kindertagen nicht ganz verloren. Dass die Welten der Mathematik und der Quantenphy-sik zusammenkommen könnten, war für mich eine spannende Vorstellung.

Fuchs gab mir einen achtzig Seiten langen Artikel, den er und Feigin ge-schrieben hatten.

„Zuerst wollte ich dir ein Lehrbuch zu Lie-Algebren geben“, meinte er, „doch dann dachte ich, weshalb nicht gleich diesen Artikel?“

Sorgfältig steckte ich den Artikel in meinen Rucksack. Er war zu dieser Zeit noch nicht veröffentlicht, und dank der scharfen Kontrollen der sowjetischen Behörden (die befürchteten, die Leute könnten Kopien verbotener Literatur – z. B. der Bücher von Solschenizyn oder Doktor Schiwago – machen) über alle Arten von Fotokopierern gab es auf der ganzen Welt nur eine Handvoll Kopien des Artikels. Nur sehr wenige Personen hatten diesen Artikel zu sehen bekom-men und Feigin scherzte später, dass ich möglicherweise die einzige Person sei, die ihn von Anfang bis Ende gelesen hatte.

Er war auf Englisch verfasst und sollte in einer Artikelsammlung in den Vereinigten Staaten erscheinen. Doch der Herausgeber schaffte die Organi-sation nicht, und das Buch erschien schließlich etwa fünfzehn Jahre später. Zu diesem Zeitpunkt waren die meisten Ergebnisse schon an anderen Stellen veröffentlicht, und damit wurde es kaum noch gelesen. Trotzdem wurde der Artikel berühmt und Feigin und Fuchs erhielten die verdiente Anerkennung.

E. Frenkel, Liebe und Mathematik, DOI 10.1007/978-3-662-43421-5_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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108 Liebe und Mathematik

Ihr Artikel wurde in der Literatur oft zitiert (als ein „Moskau Preprint“), und man sprach sogar von den „Feigin-Fuchs-Darstellungen“, wenn es um die neuartigen Darstellungen von Lie-Algebren ging, die in diesem Artikel unter-sucht wurden.

Als ich begann, den Artikel zu lesen, fragte ich mich zuerst: Was sind das für Objekte, die diesen seltsamen Namen tragen: „Lie-Algebren“? Der Artikel von Feigin und Fuchs setzte ziemlich viele Vorkenntnisse über Dinge voraus, mit denen ich mich nie beschäftigt hatte. Also ging ich in einen Buchladen und kaufte alle Lehrbücher über Lie-Algebren, die ich finden konnte. Und was ich nicht finden konnte, lieh ich mir in der Bibliothek der Kerosinka aus. All diese Bücher las ich parallel zum Feigin-Fuchs-Artikel. Diese Erfahrung prägte auch meinen Lernstil. Seit damals bin ich nie zufrieden mit nur einer Quelle, ich versuche immer, alle möglichen Quellen zu finden und zu ver-dauen.

Bevor ich erklären kann, was Lie-Algebren sind, muss ich Ihnen zunächst etwas über Lie-Gruppen erzählen. Beide sind nach dem norwegischen Mathe-matiker Sophus Lie benannt, der sie erfand.

Mathematische Konzepte bevölkern das Reich der Mathematik ähnlich wie verschiedene Tierarten das Reich der Tiere: Es gibt Verbindungen zwischen ihnen, sie bilden Familien und Unterfamilien, und oft verheiraten sich zwei Konzepte und zeugen Nachkommen.

Das Konzept der Gruppe ist dafür ein gutes Beispiel. Man kann sich Grup-pen ähnlich wie Vögel vorstellen, die im Reich der Tiere (den Animalia) eine eigene Klasse (die Aves) bilden. Diese Klasse wird in etwas über zwanzig Ord-nungen unterteilt, jede Ordnung wiederum verzweigt sich in Familien und jede Familie in Gattungen. Zum Beispiel zählt der Afrikanische Fischadler zur Ordnung der Accipitriformes (der Greifvögel), der Familie der Accipitridae (der Habichtartigen) und der Gattung der Haliaeetus (die Seeadler). Im Ver-gleich zu diesen Namen klingen „Lie-Gruppen“ nicht mehr so exotisch! Ganz entsprechend bilden auch Gruppen eine große Klasse von mathematischen Konzepten, und innerhalb dieser Klasse gibt es verschiedene Ordnungen, Fa-milien und Gattungen.

Zum Beispiel gibt es eine Ordnung von endlichen Gruppen, die alle Gruppen mit endlich vielen Elementen umfasst. Die Symmetriegruppe eines quadratischen Tisches, die wir in Kap. 2 besprochen haben, besteht aus vier Elementen und ist daher eine endliche Gruppe. Ebenso ist die Galois-Grup-pe eines Zahlenkörpers, den man durch Hinzunahme der Lösungen einer Polynomgleichung zu den rationalen Zahlen erhält, eine endliche Gruppe (wenn es sich um eine quadratische Gleichung handelt, besteht diese Grup-pe aus zwei Elementen). Die Klasse der endlichen Gruppen lässt sich weiter

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10 In der Schleife 109

in Familien unterteilen, beispielsweise die Familie der Galois-Gruppen. Eine andere Familie besteht aus den kristallografischen Gruppen, also den Sym-metriegruppen von Kristallen.

Daneben gibt es unter den Gruppen noch die Ordnung der unendlichen Gruppen. Beispielsweise ist die Gruppe der ganzen Zahlen unendlich, ebenso die in Kap. 5 diskutierte Zopfgruppe Bn für jedes feste n = 2, 3, 4, … ( Bn be-steht aus Zöpfen mit n Strängen; es gibt unendlich viele solcher Zöpfe). Die Drehgruppe eines runden Tisches, die aus allen Punkten auf einem Kreis be-steht, gehört ebenfalls zu den unendlichen Gruppen.

Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied zwischen der Gruppe der gan-zen Zahlen und der Kreisgruppe. Die Gruppe der ganzen Zahlen ist diskret. Das bedeutet, ihre Elemente lassen sich nicht auf natürliche Weise zu einer zusammenhängenden geometrischen Figur verbinden. Wir können nicht ste-tig von einer ganzen Zahl zu nächsten übergehen, sondern wir müssen sprin-gen. Im Gegensatz dazu können wir den Drehwinkel kontinuierlich zwischen 0 und 360° verändern. Zusammengenommen bilden alle Winkel eine geo-metrische Form: den Kreis. Solche Formen bezeichnen die Mathematiker als Mannigfaltigkeiten.

Die Gruppe der ganzen Zahlen und die Zopfgruppen gehören zur Fami-lie der diskreten unendlichen Gruppen im Reich der Mathematik. Und die Kreisgruppe gehört zu einer anderen Familie, den Lie-Gruppen. Etwas ver-einfacht ist eine Lie-Gruppe eine Gruppe, deren Elemente Punkte auf einer Mannigfaltigkeit sind. Dieses Konzept ist daher ein Nachkomme aus der Verbindung zweier mathematischer Konzepte: Gruppe und Mannigfaltigkeit (Abb. 10.1).

Abbildung 10.2 zeigt den Baum der gruppenbezogenen Konzepte, die wir in diesem Kapitel betrachten (einige dieser Konzepte wurden bisher noch nicht eingeführt, werden es aber später in diesem Kapitel).

Viele Symmetrien in der Natur werden durch Lie-Gruppen beschrieben, deshalb sind sie so wichtig. Beispielsweise ist die Gruppe SU(3) aus Kap. 2

Mannigfaltigkeit Gruppe

Lie-Gruppe

Abb. 10.1 Lie-Gruppen sind Gruppen, deren Elemente gleichzeitig eine Mannigfal-tigkeit bilden. © Frenkel

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110 Liebe und Mathematik

eine Lie-Gruppe, die sich bei der Klassifikation der Elementarteilchen als nützlich erwiesen hat.

Ein weiteres Beispiel für eine Lie-Gruppe ist die Drehgruppe einer Kugel-oberfläche. Eine Drehung eines runden Tisches ist durch ihren Winkel fest-gelegt. Doch bei einer Kugeloberfläche gibt es mehr Freiheiten: Neben einem Drehwinkel müssen wir noch eine Achse festlegen, wie in Abb. 10.3 gezeigt. Diese Achse kann jede beliebige Gerade sein, die durch den Mittelpunkt der Kugel verläuft.

Die Drehgruppe einer Kugeloberfläche hat in der Mathematik einen eige-nen Namen: spezielle orthogonale Gruppe des dreidimensionalen Raumes; üblicherweise abgekürzt als SO(3). Wir können uns die Symmetrien einer Kugeloberfläche als Transformationen des dreidimensionalen Raumes vorstel-len, in den die Kugel eingebettet ist. Diese Transformationen bezeichnet man als orthogonal, das bedeutet, die Abstände zwischen zwei beliebigen Punkten

Gruppen

endliche GruppenunendlicheGruppen

diskrete GruppenLie-Gruppen

unendlich-dimensional

Loop-Gruppen(Schleifengruppen)

endlich-dimensional

Abb. 10.2 Der Stammbaum der Gruppen in diesem Kapitel. © Frenkel

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10 In der Schleife 111

bleiben erhalten.1 Damit erhalten wir im Sinne der Überlegungen aus Kap. 2 eine dreidimensionale Darstellung der Gruppe SO(3).

Ganz entsprechend bezeichnet man die oben angesprochene Drehgruppe des runden Tisches als SO(2). Hierbei handelt es sich um spezielle orthogo-nale Transformationen der Ebene, die zweidimensional ist. Also erhalten wir eine zweidimensionale Darstellung der Gruppe SO(2).

Die Gruppen SO(2) und SO(3) sind nicht nur Gruppen, sondern auch Mannigfaltigkeiten (also geometrische Gebilde). Die Gruppe SO(2) ist ein Kreis und somit ist SO(2) sowohl eine Gruppe als auch eine Mannigfaltigkeit. In diesem Sinne ist sie eine Lie-Gruppe. Ganz entsprechend bilden auch die Elemente der Gruppe SO(3) eine Mannigfaltigkeit, allerdings ist es schwe-rer, sich diese Mannigfaltigkeit vorzustellen. (Es handelt sich nicht um eine Kugeloberfläche.) Erinnern wir uns, dass jede Drehung der Kugel durch eine Drehachse und einen Drehwinkel festgelegt ist. Außerdem legt jeder Punkt der Kugeloberfläche eine Drehachse fest: Die Gerade durch diesen Punkt und den Mittelpunkt der Kugel. Und der Drehwinkel entspricht einem Punkt auf dem Kreis. Also ist ein Element der Gruppe SO(3) durch einen Punkt auf der Kugeloberfläche (er definiert die Drehachse) und einen Punkt auf einem Kreis (er definiert den Drehwinkel) festgelegt.

Vielleicht sollten wir mit einer einfacheren Frage beginnen: Welche Di-mension hat die Gruppe SO(3)? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir

Abb. 10.3 Eine beliebige Drehung einer Kugel ist durch einen Drehwinkel und eine Achse festgelegt. © Edward Frenkel & Stan Wagon

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112 Liebe und Mathematik

erst klären, was genau die Bedeutung von Dimension ist. Bereits in Kap. 2 hatten wir festgestellt, dass die Welt um uns herum dreidimensional ist. Das bedeutet, für die Festlegung der Lage eines Punktes im Raum müssen wir drei Zahlen oder Koordinaten ( x, y, z) vorgeben. Andererseits ist eine Ebene zweidimensional: Die Lage eines Punktes auf der Ebene wird durch zwei Ko-ordinaten ( x, y) bestimmt. Eine Gerade ist eindimensional: Es gibt nur eine Koordinate.

Doch was ist die Dimension eines Kreises? Man ist zunächst geneigt zu sagen, ein Kreis sei zweidimensional, denn wir zeichnen einen Kreis gewöhn-lich in der Ebene, die zweidimensional ist. Jeder Punkt des Kreises, aufgefasst als Punkt einer Ebene, wird durch zwei Koordinaten beschrieben. Doch die mathematische Definition der Dimension eines gegebenen geometrischen Objekts (z. B. eines Kreises) bezieht sich auf die Anzahl der unabhängigen Koordinaten, die wir benötigen, um diesen Punkt auf diesem Objekt lokalisie-ren zu können. Diese Anzahl hat nichts mit der Dimension der Landschaft zu tun, in die wir das Objekt einbetten (beispielsweise der Ebene). Tatsächlich können wir einen Kreis auch in einen dreidimensionalen Raum einbetten (man denke nur an einen Hula-Hoop-Reifen) oder auch in Räumen noch höherer Dimension. Wichtig ist, dass sich ein Punkt auf dem Kreis durch eine einzige Zahl – den Winkel – festlegen lässt. Das ist die einzige Koordinate auf einem Kreis und daher ist der Kreis eindimensional.

Um jedoch von einem Winkel sprechen zu können, benötigen wir einen Bezugspunkt auf dem Kreis, der dem Winkel 0 entspricht. Ebenso benöti-gen wir auf einer Geraden, auf der wir einen Punkt durch die Koordinate x kennzeichnen, einen Bezugspunkt, der x = 0 entspricht. Wir können auf viele verschiedene Weisen auf einem geometrischen Objekt ein Koordinatensystem festlegen, doch alle diese Koordinatensysteme haben dieselbe Anzahl von Ko-ordinaten, und diese Zahl bezeichnen wir als die Dimension dieses Objekts.

Wenn wir das Bild vergrößern und eine immer kleinere Umgebung eines Punktes auf dem Kreis betrachten, wird die Krümmung immer schwächer und verschwindet fast. Es gibt praktisch keinen Unterschied zwischen einer winzigen Nachbarschaft zu einem Punkt auf dem Kreis und zu demselben Punkt auf der Tangente an diesen Kreis. Eine Tangente ist eine Gerade, die in der Nähe eines Punktes die beste Näherung an den Kreis darstellt. Das zeigt nochmals, dass der Kreis und die Gerade dieselbe Dimension haben (Abb. 10.4).2

Ganz entsprechend ist eine Kugeloberfläche zwar in einen dreidimensio-nalen Raum eingebettet, doch ihre innere Dimension ist zwei, denn es gibt zwei unabhängige Koordinaten auf einer Kugeloberfläche: den Längen- und den Breitengrad. Diese Koordinaten sind uns vertraut, denn mit ihnen be-schreiben wir die Lage von Orten auf der Erde, die näherungsweise die Form

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einer Kugel hat. Das Liniennetz auf der Kugel in Abb. 10.3 besteht aus den Kreisen, bei denen der Längen- bzw. Breitengrad jeweils einen festen Wert hat. Da es auf der Kugeloberfläche zwei Koordinaten gibt, ist sie zweidimen-sional.

Wie steht es mit der Lie-Gruppe SO(3)? Jeder Punkt der SO(3) entspricht einer Drehung der Kugel, also haben wir drei Koordinaten: Die Drehachse (die durch einen Punkt auf der Kugeloberfläche bestimmt ist) wird durch zwei Koordinaten festgelegt, und der Drehwinkel ist die dritte Koordinate. Also ist die Dimension der Gruppe SO(3) gleich drei.

Es kann ziemlich kompliziert werden, sich eine Lie-Gruppe oder allgemei-ner eine Mannigfaltigkeit von mehr als drei Dimensionen vorzustellen. Unser Gehirn ist so verdrahtet, dass wir uns nur Bilder von geometrischen Formen oder Mannigfaltigkeiten in bis zu drei Dimensionen machen können. Schon die Vorstellung einer vierdimensionalen Kombination aus Raum und Zeit kann zu einem geistigen Kraftakt werden: Wir nehmen Zeit (die vierte Di-mension) einfach nicht als gleiche Dimension wie die drei Raumdimensionen wahr. Wie steht es mit höheren Dimensionen? Wie können wir fünf- oder sechs- oder einhundertdimensionale Mannigfaltigkeiten untersuchen?

Hier hilft vielleicht eine Analogie: Künstler zeichnen zweidimensiona-le Projektionen von Objekten auf eine Leinwand und verwenden dazu die Technik des perspektivischen Zeichnens, um in ihren Bildern die Illusion von Tiefe, der dritten Dimension, zu erzeugen. Genauso können wir uns auch vierdimensionale Objekte vorstellen, indem wir ihre dreidimensionalen Pro-jektionen untersuchen.

Eine andere Möglichkeit, sich eine vierte Dimension zu veranschaulichen, besteht darin, sich vierdimensionale Gegenstände als Aneinanderreihung

Abb. 10.4 Je mehr wir die Umgebung eines Punktes auf einem Kreis vergrößern, umso näher rücken der Kreis und seine Tangente an diesem Punkt zusammen. © Frenkel

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114 Liebe und Mathematik

ihrer dreidimensionalen „Schnitte“ vorzustellen. Man denke an einen drei-dimensionalen Brotlaib, der in so dünne Scheiben geschnitten wurde, dass diese Scheiben nahezu zweidimensional sind.

Ist die vierte Dimension die Zeit, dann bezeichnet man diese dreidimen-sionalen Schnitte als Fotografie. Eine Aufnahme von einer sich bewegenden Person ist wie ein dreidimensionaler Schnitt eines vierdimensionalen Objekts, das eine Person in der vierdimensionalen Raumzeit darstellt (dieser Schnitt wird dann nochmals in eine Ebene projiziert). Legen wir mehrere solche Bil-der hintereinander und lassen diese Bilder schnell vor unseren Augen „laufen“, sehen wir die Bewegung. Genau das ist natürlich die Grundidee des Films.

Wir können auch den Eindruck einer Bewegung vermitteln, indem wir die Bilder übereinanderlegen. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nahmen sich Künstler dieser Idee an und nutzten sie, um die vierte Dimension in ihre Bilder einzubauen und ihnen dadurch eine Dynamik zu verleihen. Ein Meilenstein in dieser Richtung war das Gemälde Nude Descending a Staircase, No. 2 (Akt, eine Treppe herabsteigend, Nr. 2) von Marcel Duchamp aus dem Jahr 1912 (Abb. 10.5).

Interessanterweise entstand Einsteins Relativitätstheorie, in der Raum und Zeit untrennbar miteinander verwoben sind, etwa um dieselbe Zeit. Sie brachte den Begriff des vierdimensionalen Raumzeit-Kontinuums in die Phy-sik. Zur gleichen Zeit erforschten Mathematiker wie Henri Poincaré die Ge-

Abb. 10.5 Marcel Duchamp, Nude Descending a Staircase, No. 2, 1912. © Philadelphia Museum of Art.

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heimnisse höherdimensionaler Geometrie und überwanden damit die Denk-muster der euklidischen Geometrie.

Duchamp war sowohl von der Vorstellung einer vierten Dimension als auch von nicht-euklidischen Geometrien fasziniert. Er las E.P. Jouffrets Buch Traité élémentaire de géométrie à quatre dimensions et introduction à la géométrie à n dimensions (Elementare Abhandlung über vierdimensionale Geometrie und Einführung in die Geometrie in n Dimensionen), das besonders die bahn-brechenden Ideen von Poincaré darlegt. In diesem Zusammenhang hinterließ er folgende Anmerkung:

Der Schatten einer vierdimensionalen Figur in unseren Raum ist ein dreidi-mensionaler Schatten (siehe Jouffret – Geom. 4 dimensions, Seite 186, letzte drei Zeilen) … ganz ähnlich, wie Architekten einen Plan von jedem Stock-werk eines Hauses zeichnen, lässt sich auch eine vierdimensionale Figur durch dreidimensionale Schnitte (in jedem seiner Stockwerke) darstellen. Diese ver-schiedenen Stockwerke sind in der vierten Dimension miteinander verbunden.

Die Kunsthistorikerin Linda Dalrymple Henderson schreibt dazu:3 „Du-champ empfand an den neuen Geometrien, die so viele lang geglaubte ‚Wahr-heiten‘ infrage stellten, etwas köstlich Subversives.“ Ihrer Meinung nach war das Interesse von Duchamp und anderen Künstlern jener Zeit an der vierten Dimension einer der Gründe, die schließlich zur Geburt der abstrakten Kunst führten.

So hat die Mathematik die Kunst mitgeprägt. Sie ermöglichte es Künstlern, versteckte Dimensionen zu sehen und inspirierte sie, einige grundlegende Wahrheiten über unsere Welt in erstaunlich ästhetischer Weise zu offenbaren. Die von ihnen geschaffenen Werke moderner Kunst trugen zu einer neuen Art der Wahrnehmung von Wirklichkeit bei und wirkten so auf unser kol-lektives Bewusstsein. Das wiederum beeinflusste die nächste Generation von Mathematikern. Der Wissenschaftsphilosoph Gerald Holton beschreibt dies in eloquenter Form:4

Eine Kultur bleibt durch die Wechselwirkung all ihrer Teile am Leben. Ihr Fortschritt ist ein alchemistischer Fortschritt, bei dem sich all die verschie-denen Bestandteile zu neuen Edelsteinen verbinden können. Ich könnte mir vorstellen, dass Poincaré und Duchamp in dieser Hinsicht mit mir und unter-einander übereinstimmen, nachdem sie sich mittlerweile sicherlich irgendwo in jenem Hyperraum getroffen haben, den sie, jeder auf seine Weise, so geliebt haben.

Die Mathematik ermöglicht es uns, die Geometrie in all ihren Inkarnatio-nen, Gestalten und Formen wahrzunehmen. Sie ist eine universelle Sprache,

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116 Liebe und Mathematik

die gleichermaßen für alle Dimensionen gilt, ob wir uns die entsprechenden Gegenstände vorstellen können oder nicht, und sie ermöglicht es uns, weit über unsere begrenzten visuellen Vorstellungen hinauszugehen. Charles Dar-win schrieb in diesem Zusammenhang sogar, dass die Mathematik uns mit „einem zusätzlichen Sinn“ ausstattet.5

Wir können uns keinen vierdimensionalen Raum vorstellen, doch wir können ihn mathematisch verwirklichen. Wir stellen die Punkte in diesem Raum einfach als Quadrupel von Zahlen ( x, y, z, t) dar, so wie wir Punkte des dreidimensionalen Raumes durch Tripel von Zahlen ( x, y, z) darstellen. Ganz entsprechend können wir uns auch die Punkte eines n-dimensionalen flachen Raumes für jede beliebige Zahl n als n-Tupel von Zahlen vorstellen (diese können wir untersuchen wie die Spalten einer Zahlentabelle, wie wir in Kap. 2 gesehen haben).

Vielleicht sollte ich erklären, weshalb ich diese Räume als flach bezeichne. Eine Gerade ist offensichtlich flach und ebenso eine Ebene. Es ist jedoch nicht so selbstverständlich, dass wir uns den dreidimensionalen Raum als flach vorstellen sollten. (Man beachte, dass ich hier nicht über verschiedene gekrümmte Mannigfaltigkeiten spreche, die in den dreidimensionalen Raum eingebettet werden können, wie eine Kugeloberfläche oder einen Torus. Ich spreche über den dreidimensionalen Raum selbst.) Der Grund ist, dass die-ser Raum keine Krümmung hat. Die genaue mathematische Definition von Krümmung ist nicht ganz einfach (sie stammt von Bernhard Riemann, dem Schöpfer der Riemann’schen Flächen), und da sie für unsere unmittelbaren Ziele nicht sehr wichtig ist, möchte ich hier nicht auf die Einzelheiten einge-hen. Etwas vereinfacht kann man aber sagen, dass der dreidimensionale Raum drei unendliche Koordinatenachsen besitzt, die senkrecht aufeinander stehen, ebenso wie die Ebene zwei unendliche Koordinatenachsen hat, die senkrecht zueinander stehen. Ganz entsprechend hat ein n-dimensionaler Raum mit n senkrecht aufeinander stehenden Koordinatenachsen keine Krümmung und ist daher flach.

Jahrhundertelang waren die Physiker überzeugt, dass wir in einem drei-dimensionalen flachen Raum wohnen. Doch wie schon in der Einleitung er-wähnt, zeigte Einstein in seiner allgemeinen Relativitätstheorie, dass die Gra-vitation zu einer Krümmung des Raumes führt (die Krümmung ist sehr klein, sodass wir sie im Alltag nicht wahrnehmen, aber sie ist nicht null). Daher ist unser Raum tatsächlich ein Beispiel für eine gekrümmte dreidimensionale Mannigfaltigkeit.

Das bringt uns zu der Frage, wie es einen dreidimensionalen gekrümmten Raum geben kann, ohne dass dieser in einen flachen Raum höherer Dimen-sion eingebettet ist, ähnlich wie eine Kugeloberfläche in einen dreidimensio-nalen Raum eingebettet ist. Wir denken uns den Raum, in dem wir leben,

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gewöhnlich als flach, daher scheinen in unserer Alltagsvorstellung gekrümmte Räume immer in einen flachen Raum eingebettet. Das ist jedoch nicht richtig und in erster Linie das Ergebnis unserer engen Wahrnehmung von Wirk-lichkeit. Als eine Ironie des Schicksals kommt hinzu, dass unser Raum gar nicht flach ist! Die Mathematik zeigt uns einen Weg aus dieser Sackgasse: Wie Riemann beweisen konnte, gibt es gekrümmte Räume auch intrinsisch, als Objekte für sich, ohne einen flachen Raum, in den sie eingebettet sind. Um einen solchen Raum definieren zu können, benötigen wir eine Vorschrift, wie wir den Abstand zwischen je zwei Punkten dieses Raumes messen kön-nen (diese Vorschrift muss noch bestimmte natürliche Bedingungen erfüllen). Eine solche Vorschrift bezeichnen die Mathematiker als Metrik. Die mathe-matischen Konzepte der Metrik und des Krümmungstensors, wie Riemann sie eingeführt hat, bilden die Grundpfeiler von Einsteins allgemeiner Relativi-tätstheorie.6

Formen oder Mannigfaltigkeiten mit einer Krümmung können beliebig viele Dimensionen haben. Denken wir an einen Kreis, der als die Menge der Punkte in einer Ebene mit demselben Abstand von einem gegebenen Punkt definiert ist (oder, wie meine Prüfer am MGU insistierten, die Menge aller Punkte). Entsprechend ist eine Kugeloberfläche definiert als die Menge aller Punkte im dreidimensionalen Raum, die denselben Abstand von einem ge-gebenen Punkt haben. Nun können wir ein höherdimensionales Analogon zu einer Kugeloberfläche – manche nennen sie eine Hypersphäre – als die Menge der Punkte definieren, die von einem gegebenen Punkt im n-dimensionalen Raum denselben Abstand haben. Diese Bedingung liefert uns eine Ein-schränkung an die n Koordinaten, daher hat die Hypersphäre in einem n-dimensionalen Raum die Dimension ( n − 1). Natürlich können wir auch die Lie-Gruppe sämtlicher Drehungen dieser Hypersphäre untersuchen.7 Diese bezeichnet man als SO(n).

Im Hinblick auf eine Systematik der Gruppen im Reich der Mathematik lässt sich die Familie der Lie-Gruppen noch in zwei Gattungen unterteilen: die endlich-dimensionalen Lie-Gruppen (wie die Kreisgruppe oder die Grup-pe SO(3)) und die unendlich-dimensionalen Lie-Gruppen. Man beachte hier, dass jede endlich-dimensionale Lie-Gruppe bereits unendlich viele Elemente besitzt, also eine unendliche Gruppe ist. Zum Beispiel hat die Kreisgruppe unendlich viele Elemente (nämlich alle Punkte auf einem Kreis). Doch sie ist eindimensional, weil sich all ihre Elemente durch eine einzige Koordinate (den Winkel) beschreiben lassen. Für eine unendlich-dimensionale Lie-Grup-pe benötigen wir unendlich viele Koordinaten, um ihre Elemente zu beschrei-ben. Diese Art von „Doppel-Unendlichkeit“ lässt sich nur schwer vorstellen. Und doch gibt es solche Gruppen in der Natur und deshalb müssen wir sie auch untersuchen. Ich möchte nun ein Beispiel einer unendlich-dimensiona-

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118 Liebe und Mathematik

len Lie-Gruppe beschreiben, die man als Loop-Gruppe oder Schleifengruppe bezeichnet.

Dazu betrachten wir zunächst Schleifen im dreidimensionalen Raum. Ein-fach gesagt, ist eine Schleife eine geschlossene Kurve wie auf der linken Seite von Abb. 10.6. Wir sind solchen Schleifen bereits im Zusammenhang mit den Zopfgruppen begegnet (damals nannten wir sie „Knoten“).8 Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass Kurven, die nicht geschlossen sind, wie die auf der rechten Seite von Abb. 10.6, keine Schleifen sind.

Ganz ähnlich können wir auch Schleifen (d. h. geschlossene Kurven) in einer beliebigen Mannigfaltigkeit M betrachten. Den Raum aller solcher Schleifen bezeichnet man als den Schleifenraum (oder Loop-Raum) von M.

Wie wir in Kap. 17 noch ausführlicher sehen werden, spielen solche Schlei-fen oder Loops eine sehr wichtige Rolle in der Stringtheorie. In der gewöhnli-chen Quantenphysik sind die fundamentalen Objekte Elementarteilchen, wie Elektronen oder Quarks. Dabei handelt es sich um punktförmige Objekte ohne innere Struktur; d.  h., sie sind nulldimensional. In der Stringtheorie geht man davon aus, dass die fundamentalen Objekte der Natur eindimensio-nale Strings sind.9 Ein geschlossener String ist nichts anderes als eine Schleife, die in eine Mannigfaltigkeit M (die Raumzeit) eingebettet ist. Deshalb sind Schleifenräume das tägliche Brot der Stringtheorie.

Betrachten wir nun den Schleifenraum der Lie-Gruppe SO(3). Seine Ele-mente sind Schleifen, also geschlossene Kurven, in SO(3). Wir konzentrie-ren uns nun auf eine solche Schleife. Zunächst einmal ist sie ähnlich wie die Schleife in Abb. 10.6. Denn da SO(3) dreidimensional ist, ähnelt sie auf sehr kleinen Skalen einem dreidimensionalen flachen Raum. Außerdem ist jeder Punkt der Schleife ein Element von SO(3), also eine Drehung der Kugelober-fläche. Unsere Schleife ist also ein kompliziertes Gebilde: Es handelt sich um eine einparametrige Ansammlung von Drehungen der Kugeloberfläche. Zu zwei solchen Schleifen können wir eine dritte konstruieren, indem wir die entsprechenden Drehungen der Kugeloberfläche hintereinanderschalten. Auf

Abb. 10.6 a Dies ist eine Schleife. b Dies ist keine Schleife. © Frenkel

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diese Weise wird der Schleifenraum der SO(3) zu einer Gruppe. Diese be-zeichnen wir als die Schleifengruppe der SO(3).10 Sie ist ein schönes Beispiel einer unendlich-dimensionalen Lie-Gruppe: Wir können ihre Elemente tat-sächlich nicht durch endlich viele Koordinaten beschreiben.11

Die Schleifengruppen zu beliebigen Lie-Gruppen (beispielsweise zu der Gruppe SO(n) der Drehungen einer Hypersphäre) sind ebenfalls unendlich-dimensionale Lie-Gruppen. Diese Schleifengruppen treten als Symmetrie-gruppen in der Stringtheorie auf.

Das zweite Konzept, das für den Artikel von Feigin und Fuchs für mich von Bedeutung war, ist das Konzept einer Lie-Algebra. Jede Lie-Algebra ist in gewisser Hinsicht eine vereinfachte Form einer gegebenen Lie-Gruppe.

Der Ausdruck „Lie-Algebra“ erzeugt zunächst vermutlich einige Verwir-rung. Bei dem Wort „Algebra“ denken wir an bestimmte Dinge aus der Schu-le, beispielsweise das Lösen quadratischer Gleichungen. Hier jedoch wird das Wort „Algebra“ in einem anderen Zusammenhang verwendet: Als Teil des untrennbaren Ausdrucks „Lie-Algebra“ bezieht es sich auf mathematische Objekte mit bestimmten Eigenschaften. Trotz der Bezeichnung bilden diese Objekte keine Familie in der Klasse aller Algebren, so wie Lie-Gruppen eine Familie in der Klasse aller Gruppen bilden. Das soll uns im Augenblick nicht weiter stören, wir müssen mit dieser uneinheitlichen Terminologie einfach leben.

Bevor ich erklären kann, was eine Lie-Algebra ist, muss ich zunächst etwas über das Konzept des Tangentialraumes erzählen. Hier geht es um eine der Grundideen der Differenzialrechnung, die man auch als Linearisierung be-zeichnen könnte: Wir approximieren gekrümmte Formen durch lineare oder flache Formen.

Beispielsweise ist der Tangentialraum zu einem Kreis an einem gegebenen Punkt die Gerade, die durch diesen Punkt geht und die unter allen Geraden durch diesen Punkt dem Kreis am nächsten liegt. Wir sind der Tangente be-reits bei der Diskussion über die Dimension des Kreises begegnet. Die Tan-gente berührt den Kreis an diesem Punkt gerade eben, wogegen alle anderen Geraden durch diesen Punkt den Kreis noch an einem weiteren Punkt schnei-den (Abb. 10.7).

Entsprechend lässt sich jede Kurve (also jede eindimensionale Mannigfal-tigkeit) in der Nähe eines gegebenen Punktes durch eine Tangente annähern. René Descartes veröffentliche 1637 seine Géométrie und beschrieb dort ein ef-fizientes Verfahren zur Berechnung solcher Tangenten. In diesem Zusammen-hang schrieb er:12 „Ich kann behaupten, dass dies nicht nur das nützlichste und allgemeinste Problem in der Geometrie ist, das ich kenne, sondern von dem ich auch jemals das Bedürfnis hatte, es zu kennen.“ In ähnlicher Weise

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lässt sich auch eine Kugeloberfläche an einem gegebenen Punkt durch eine Tangentialebene annähern. Denken Sie an einen Fußball: Wenn wir einen Fußball auf den Boden legen, berührt er den Boden in einem Punkt und der Boden wird zur Tangentenebene an diesem Punkt.13 Und eine n-dimensionale Mannigfaltigkeit lässt sich an einem gegebenen Punkt durch einen flachen n-dimensionalen Raum annähern.

In jeder Lie-Gruppe gibt es einen besonderen Punkt, der dem Einselement dieser Gruppe entspricht. Wir betrachten den Tangentialraum an die Lie-Gruppe in diesem Punkt und – voilà, das ist die Lie-Algebra zu dieser Lie-Gruppe. Jede Lie-Gruppe besitzt somit ihre eigene Lie-Algebra wie eine Art jüngere Schwester.14

Zum Beispiel ist der Kreis eine Lie-Gruppe und das Einselement dieser Gruppe ist ein bestimmter Punkt auf diesem Kreis15 zu dem Winkel 0. Die Tangente an diesem Punkt ist daher die Lie-Algebra der Kreisgruppe. Leider können wir kein Bild der Gruppe SO(3) zusammen mit ihrem Tangentialraum zeichnen, da beide dreidimensional sind. Doch die mathematische Theorie dieser Tangentialräume funktioniert in allen Dimensionen gleichermaßen. Wenn wir uns eine Vorstellung machen möchten, können wir mit ein- oder zweidimensionalen Beispielen arbeiten (wie dem Kreis oder der Kugeloberflä-che). Wir verwenden also Mannigfaltigkeiten mit niedrigen Dimensionen als Metaphern für kompliziertere, höherdimensionale Mannigfaltigkeiten. Doch dazu besteht kein Zwang: Die Sprache der Mathematik erlaubt es uns, über unsere begrenzten visuellen Möglichkeiten hinauszugehen. Mathematisch ist die Lie-Algebra einer n-dimensionalen Lie-Gruppe ein n-dimensionaler fla-cher Raum, der auch als Vektorraum bekannt ist.16

Es kommt aber noch etwas hinzu. Die Operation der Multiplikation (oder Hintereinanderschaltung) auf einer Lie-Gruppe erlaubt die Definition einer Operation auf ihrer Lie-Algebra: Zu je zwei Elementen der Lie-Algebra kön-nen wir ein drittes konstruieren. Die Eigenschaften dieser Verknüpfung sind

Abb. 10.7 Eine Tangente berührt einen Kreis in einem Punkt. Alle anderen Geraden durch diesen Punkt schneiden den Kreis in einem weiteren Punkt. © Frenkel

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schwieriger zu beschreiben als die Eigenschaften der Multiplikation in einer Lie-Gruppe, doch sie sind für uns an dieser Stelle auch nicht von Bedeutung.17 Ein Beispiel, das einigen Lesern vertraut sein dürfte, die sich mit Vektorrech-nung beschäftigt haben, ist das Kreuzprodukt von Vektoren im dreidimensio-nalen Raum.18 Wenn Sie diese Verknüpfung einmal gesehen haben, werden Sie sich vielleicht über die seltsamen Eigenschaften gewundert haben. Doch diese Verknüpfung macht den dreidimensionalen Raum zu einer Lie-Algebra!

Es zeigt sich, dass dies genau die Lie-Algebra zu der Lie-Gruppe SO(3) ist. Die esoterisch erscheinende Verknüpfung des Kreuzproduktes ist somit eine Hinterlassenschaft der Hintereinanderschaltung von Drehungen der Kugel-oberfläche.

Sie werden sich fragen, weshalb wir uns mit Lie-Algebren beschäftigen, wenn die Verknüpfung dort so kompliziert ist. Weshalb sind wir nicht mit Lie-Gruppen zufrieden? Der Hauptgrund ist, dass Lie-Algebren im Gegen-satz zu Lie-Gruppen, die meist gekrümmt sind (wie ein Kreis), einen flachen Raum bilden (wie eine Gerade, eine Ebene und so weiter). Dadurch wird die Untersuchung von Lie-Algebren wesentlich einfacher als die Untersuchung von Lie-Gruppen.

Und nun kommen wir schließlich zu den Lie-Algebren von Schleifengrup-pen.19 Bei diesen Lie-Algebren sollten man an vereinfachte Versionen der Schleifengruppen denken. Man bezeichnet sie auch als Kac-Moody-Algebren, benannt nach zwei Mathematikern: Victor Kac (in Russland geborener und in die Vereinigten Staaten emigrierter Mathematiker, heute Professor am MIT) und Robert Moody (in England geborener und nach Kanada emigrier-ter Professor, heute an der University of Alberta). Unabhängig voneinander begannen sie um 1968 diese Lie-Algebren zu untersuchen. Seit dieser Zeit wurde die Theorie der Kac-Moody-Algebren zu einem der aufregendsten und aktivsten Forschungsgebiete der Mathematik.20

Diese Kac-Moody-Algebren hatte Fuchs als Thema für mein nächstes For-schungsprojekt vorgeschlagen. Als ich mich in das Gebiet einarbeitete, wurde mir klar, dass ich noch sehr viel lernen musste, bis ich irgendeinen eigenen Beitrag dazu leisten konnte. Doch das Thema faszinierte mich.

Fuchs lebte im Nordosten von Moskau, nicht weit von einem Bahnhof, von wo ich einen Zug in meine Heimatstadt nehmen konnte. Ich fuhr jeden Freitag über das Wochenende nach Hause, und so hatte Fuchs vorgeschlagen, dass ich jeden Freitag gegen 17 Uhr zu ihm komme und im Anschluss an unser Treffen den Zug nach Hause nehme. Gewöhnlich arbeitete ich mit ihm ungefähr drei Stunden lang (und während dieser Zeit bekam ich von ihm auch ein Abendessen), anschließend nahm ich den letzten Zug und erreichte mein Zuhause um Mitternacht. Diese Treffen spielten in meiner mathemati-

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schen Ausbildung eine wichtige Rolle. Wir trafen uns jede Woche, das gesam-te Herbstsemester 1986 und auch das Frühlingssemester 1987.

Erst im Januar 1987 hatte ich mich endlich durch den langen Artikel von Feigin und Fuchs hindurchgearbeitet und fühlte mich bereit, meine eigene Forschungsarbeit zu beginnen. Mittlerweile hatte ich einen Ausweis für die Moskauer Wissenschaftsbibliothek erhalten, die eine riesige Sammlung von Büchern und Zeitschriften hatte; nicht nur in Russisch (diese gab es auch oft in der Bibliothek von Kerosinka), sondern auch in anderen Sprachen. In regelmäßigen Abständen ging ich dorthin und wühlte mich durch ein gutes Dutzend mathematischer Fachzeitschriften auf der Suche nach Artikeln über Kac-Moody-Algebren und verwandten Themen.

Ich wollte auch mehr über die Anwendungen dieser Algebren in der Quan-tenphysik erfahren, was für mich natürlich eine große Anziehungskraft aus-übte. Wie schon erwähnt, spielen Kac-Moody-Algebren eine wichtige Rolle in der Stringtheorie, sie treten aber auch als Symmetrien von Modellen einer zweidimensionalen Quantenphysik auf. Wir leben in einem dreidimensio-nalen Raum, realistische Modelle sollten unsere Welt daher dreidimensional beschreiben. Nehmen wir noch die Zeit hinzu, erhalten wir vier Dimensio-nen. Mathematisch hindert uns jedoch nichts, Modelle für Welten in anderen Dimensionen zu formulieren und zu untersuchen. Modelle in weniger als drei Dimensionen sind einfacher und daher ist die Wahrscheinlichkeit, sie lösen zu können, größer. Dabei lernen wir viel, was wir dann für die anspruchsvol-leren drei- und vierdimensionalen Modelle nutzen können.

In der Tat ist das eine der Grundideen der sogenannten mathematischen Physik – die Untersuchung von Modellen in unterschiedlichen Dimensionen, die zwar nicht unmittelbar auf unsere physikalische Welt anwendbar sind, aber einige wesentliche Züge mit realistischen Modellen teilen.

Für einige dieser niedrig-dimensionalen Modelle gibt es tatsächlich auch Anwendungen. Beispielsweise verhält sich eine sehr dünne Metallschicht wie ein zweidimensionales System und lässt sich daher effektiv durch ein zwei-dimensionales Modell beschreiben. Ein berühmtes Beispiel ist das sogenann-te Ising-Modell wechselwirkender Teilchen, die auf den Gitterpunkten eines zweidimensionalen Gitters sitzen. Die exakte Lösung des Ising-Modells durch Lars Onsager ermöglichte wertvolle Erkenntnisse über das Phänomen des Ferromagnetismus (spontane Magnetisierung). Im Zentrum von Onsagers Berechnungen stand eine versteckte Symmetrie dieses Modells, woraus noch-mals die herausragende Rolle von Symmetrien für das Verständnis physika-lischer Systeme deutlich wird. Viele Jahre später wurde gezeigt, dass diese Symmetrie durch eine sogenannte Virasoro-Algebra beschrieben wird, und diese ist eine enge Cousine der Kac-Moody-Algebren.21 (Das Hauptthema der Arbeit von Feigin und Fuchs, mit der ich mich beschäftigte, war sogar diese Virasoro-Algebra.) Es gibt eine große Klasse von Modellen dieser Art,

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bei denen die Symmetrien durch die eigentlichen Kac-Moody-Algebren be-schrieben werden. Die mathematische Theorie der Kac-Moody-Algebren ist wesentlich für das Verständnis dieser Modelle.22

Die Bibliothek von Kerosinka hatte eine Zeitschrift mit Namen Referatiwni Schurnal – Review-Journal – abonniert. Diese Zeitschrift erschien monatlich und enthielt, nach Themen sortiert, eine kurze Besprechung und Zusammen-fassung zu allen neuen Artikeln in allen Sprachen. Ich las diese Zeitschrift regelmäßig, und sie erwies sich für mich als wertvolle Informationsquelle. Jeden Monat erschien ein neuer Band zu mathematischen Artikeln, und ich durchsuchte die wichtigen Abschnitte nach interessant klingenden Arbeiten. Wenn ich etwas gefunden hatte, notierte ich mir den Literaturverweis und versuchte, den Artikel bei meinem nächsten Besuch in der Moskauer Wis-senschaftsbibliothek zu bekommen. Auf diese Weise stieß ich auf sehr viele interessante Arbeiten.

Eines Tages, als ich wieder im Referatiwni Schurnal blätterte, stolperte ich über die Zusammenfassung eines Artikels von einem japanischen Mathema-tiker namens Minoru Wakimoto, der in einer der Zeitschriften veröffentlicht war, auf die ich besonders achtete: Communications in Mathematical Physics. Die Übersicht besagte nicht sehr viel, doch der Titel bezog sich auf die Kac-Moody-Algebra zu der Drehgruppe der Kugeloberfläche, also der SO(3). Also notierte ich mir die Referenz und las den Artikel bei meinem nächsten Besuch in der Wissenschaftsbibliothek.

In diesem Artikel konstruierte der Autor neuartige Realisierungen der Kac-Moody-Algebra zur SO(3). Um ganz grob andeuten zu können, worum es sich dabei handelt, verwende ich die Sprache der Quantenphysik (die hier wesent-lich ist, denn Kac-Moody-Algebren beschreiben Symmetrien von Modellen in der Quantenphysik). Realistische Quantenmodelle zur Beschreibung der Wechselwirkungen von Elementarteilchen sind ziemlich kompliziert. Doch man kann weitaus einfachere, idealisierte Modelle mit freien Feldern konst-ruieren, in denen es keine oder fast keine Wechselwirkung gibt. Die Quan-tenfelder dieser Modelle sind „frei“, also unabhängig voneinander, daher der Name.23 Oft ist es möglich, ein kompliziertes und daher interessanteres Quantenmodell innerhalb solcher Modelle mit freien Feldern zu realisieren. Auf diese Weise kann man die komplizierten Modelle zerlegen und ausei-nandernehmen und Berechnungen anstellen, die andernfalls nicht möglich wären. Solche Realisierungen sind sehr nützlich. Für Quantenmodelle mit Kac-Moody-Algebren als Symmetrien gab es jedoch kaum bekannte Realisie-rungen dieser Art.

Als ich Wakimotos Artikel las, erkannte ich sofort die Bedeutung seiner Arbeit. Es ging zwar nur um die einfachste Kac-Moody-Algebra (die zur Gruppe SO(3)), aber er hatte dafür die allgemeinste Realisierung durch Mo-

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delle mit freien Feldern gefunden. Natürlich fragte ich mich: Woher kam diese Realisierung? Und gibt es eine Möglichkeit, sie zu anderen Kac-Moody-Algebren zu verallgemeinern? Ich fühlte mich bereit, diese Fragen anzugehen.

Ich kann kaum beschreiben, wie aufgeregt ich wurde, als ich diese wunder-bare Arbeit sah und ihre Potenzial erkannte. Man muss sich vorstellen, dass man nach einer langen Wanderung plötzlich in voller Schönheit einen Berg-gipfel vor sich erblickt. Man hält den Atmen an, genießt die majestätische Pracht und ist sprachlos. Es ist der Augenblick der Offenbarung. Man ist noch nicht auf dem Gipfel, man weiß noch nicht einmal, welche Hindernisse einem noch bevorstehen, doch der Zauber ist unwiderstehlich und man sieht sich bereits ganz oben. Nun muss man den Berg nur noch erobern. Doch hat man auch die Kraft und die Ausdauer?

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Bis zum Anfang des Sommers war ich dann schließlich so weit, meine Ent-deckungen mit Fuchs teilen zu können. Ich war mir sicher, dass er ebenso begeistert über den Artikel von Wakimoto sein würde wie ich es war. Ich fuhr zu seiner Datscha, doch als ich dort ankam, erzählte mir Fuchs, es gäbe ein kleines Problem: Er habe sich sowohl mit mir als auch mit seinem Mitarbeiter und ehemaligen Studenten Boris Feigin gleichzeitig verabredet – versehent-lich, sagte er, obwohl ich ihm nicht glaubte (sehr viel später bestätigte Fuchs mir, dass tatsächlich eine Absicht dahinter gesteckt hatte).

Fuchs hatte mich Feigin schon vor einigen Monaten vorgestellt. Das war vor einem der Seminare von Gelfand, kurz nachdem ich meinen Artikel über Zopfgruppen beendet und den Artikel von Feigin und Fuchs zu lesen begon-nen hatte. Auf Anregung von Fuchs hatte ich Feigin damals gefragt, was ich sonst noch lesen sollte. Boris Lwowitsch, wie ich ihn nannte, war damals drei-unddreißig Jahre alt, aber bereits einer der großen Stars unter den Moskauer Mathematikern. Er trug Jeans und ausgetretene Turnschuhe und schien sehr schüchtern. Seine Augen wurden von dicken Brillengläsern verdeckt, und während unserer Unterredung blickte er meist nach unten und vermied jeden Augenkontakt. Natürlich war ich ebenfalls schüchtern und verunsichert: Ich war ein Student und noch Anfänger, aber er bereits ein berühmter Mathema-tiker. Diese Begegnung war daher nicht allzu aufregend. Gelegentlich hob er jedoch seinen Blick und sah mich mit einem entwaffnenden Lächeln an, und das brach schließlich das Eis. Ich spürte seine ungekünstelte Freundlichkeit.

Feigins erster Vorschlag verblüffte mich jedoch: Er meinte, ich solle das Buch Statistische Physik von Landau und Lifschitz lesen. Diese Vorstellung empfand ich damals als absolut fürchterlich, nicht zuletzt auch wegen der Ähnlichkeit, sowohl in Größe als auch Gewicht, zwischen diesem dicken Band und dem Lehrbuch über die Geschichte der kommunistischen Partei, das wir in der Schule lernen mussten.

Zu Feigins Verteidigung muss ich sagen: Sein Ratschlag war durchaus sinn-voll – es handelt sich um ein wichtiges Buch und später ging meine Forschung genau in diese Richtung (obwohl ich zu meiner Schande gestehen muss, das Buch immer noch nicht gelesen zu haben). Damals konnte ich dieser Idee

E. Frenkel, Liebe und Mathematik, DOI 10.1007/978-3-662-43421-5_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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jedoch nichts abgewinnen, und vielleicht war das auch der Grund, weshalb unsere erste Unterhaltung keinen nachhaltigen Eindruck hinterließ. Abgese-hen von einem flüchtigen „Hallo!“ bei den Seminaren von Gelfand sprach ich auch nie mehr mit Feigin bis zu jenem Tag in der Datscha von Fuchs.

Kurz nach meiner Ankunft sah ich durch das Fenster Feigin von seinem Fahrrad steigen. Nach der Begrüßung und etwas Small Talk setzen wir uns an einen runden Tisch in der Küche und Fuchs fragte mich: „Also, was gibt es Neues?“

„Nun … Ich habe da einen interessanten Artikel von einem japanischen Mathematiker namens Wakimoto gefunden.“

„Hmm …“, Fuchs wandte sich an Feigin: „Hast du schon davon gehört?“Als Feigin seinen Kopf schüttelte, meinte Fuchs zu mir: „Er weiß immer

alles … Aber es ist gut, dass er den Artikel noch nicht gesehen hat, dann wird es auch für ihn interessant, zuzuhören, was du zu erzählen hast.“

Ich begann, den Artikel von Wakimoto zu beschreiben. Wie zu erwarten, waren beide sehr interessiert. Es war das erste Mal, dass ich mit Feigin mathe-matische Konzepte in aller Tiefe diskutieren konnte, und ich hatte sofort das Gefühl, dass wir auf einer Wellenlänge waren. Er hörte aufmerksam zu und stellte genau die richtigen Fragen. Offensichtlich verstand er die Bedeutung dieser Sachen, und obwohl seine Mine entspannt und ruhig blieb, schien er innerlich sehr erregt. Fuchs schaute meist nur zu, und ich bin sicher, er freute sich, dass sein geheimer Plan, Feigin und mich näher zusammenzubringen, so gut aufging. Es war wirklich eine erstaunliche Unterhaltung. Ich hatte den Eindruck, als ob ich auf irgendetwas sehr Wichtiges gestoßen war.

Fuchs schien derselben Meinung. Als ich ging, sagte er: „Gut gemacht! Ich wünschte, es wäre dein Artikel. Aber ich glaube, du kannst nun einen Schritt weiter gehen.“

Ich fuhr nach Hause und beschäftigte mich mit den Fragen, die Waki-motos Artikel aufgeworfen hatte. Wakimoto gab keine Erklärungen für seine Formeln an. Ich suchte wie ein Kriminalkommissar nach den Spuren eines Gesamtbildes hinter seinen Formeln.

Einige Tage später begann sich ein Bild zusammenzufügen. Während ich in meinem Zimmer auf und ab ging, erkannte ich wie in einem Geistesblitz, dass Wakimotos Formeln aus der Geometrie kamen. Das war überraschend, denn Wakimotos Zugang war rein algebraisch – es gab keinerlei Hinweise auf Geometrie.

Meine geometrische Interpretation kann ich am besten an der Lie-Gruppe SO(3), der Symmetriegruppe der Kugeloberfläche, und ihrer Schleifengruppe erläutern. Wie im letzten Kapitel erläutert, beschreibt ein Element der Schlei-fengruppe von SO(3) eine Folge von Elementen der SO(3) – ein Element der SO(3) für jeden Punkt der Schleife. Jedes dieser Elemente der SO(3) wirkt

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auf die Kugeloberfläche in Form einer bestimmten Drehung. Das bedeutet, jedes Element der Schleifengruppe von SO(3) impliziert eine Symmetrie des Schleifenraumes der Kugeloberfläche.1

Ich erkannte, dass ich aus dieser Information eine Darstellung der Kac-Moody-Algebra zur SO(3) erhalten konnte. Damit war ich noch nicht ganz bei Wakimotos Formeln. Dazu musste ich die Formeln noch auf eine radikale Weise umformen. Man kann sich das wie einen Mantel vorstellen, den man auf Links dreht. Wir können das mit jedem Mantel machen, doch in den meisten Fällen wird das Kleidungsstück unbrauchbar – wir können in der Öffentlichkeit kaum damit herumlaufen. Es gibt jedoch Mäntel, die man auf beiden Seiten tragen kann. Und genau das galt auch für Wakimotos Formeln.

Mit dieser neuen Einsicht begann ich, Wakimotos Formeln für andere, kompliziertere Kac-Moody-Algebren zu verallgemeinern. Der erste, geomet-rische Schritt funktionierte gut, wie bei der SO(3). Doch als ich die Formeln „umdrehen“ wollte, erhielt ich Unsinn. Die Mathematik ergab einfach nicht das richtige Ergebnis. Ich versuchte, mit den Formeln herumzuspielen, konn-te das Problem jedoch nicht umgehen. Ich musste einsehen, dass dieses Ver-fahren nur für SO(3) funktionierte, nicht aber für allgemeinere Kac-Moody-Algebren. Es war nicht klar, ob das Problem überhaupt eine Lösung hatte, und falls ja, ob sich diese Lösung mit den vorhandenen Möglichkeiten auch finden ließ. Ich musste so hart wie möglich arbeiten und auf das Beste hoffen.

Eine Woche ging vorbei, und es war Zeit, mich wieder mit Fuchs zu tref-fen. Ich wollte ihm über meine Berechnungen erzählen und ihn um Rat fra-gen. Als ich bei seiner Datscha ankam, erzählte mir Fuchs, dass seine Frau in Moskau einige Dinge zu erledigen habe, und er sich um seine beiden kleinen Töchter kümmern müsse.

„Aber weißt du was“, sagte er, „Feigin war gestern hier. Er war ganz begeis-tert von den Dingen, die du uns letzte Woche erzählt hast. Weshalb besuchst du ihn nicht – seine Datscha liegt nur eine Viertelstunde von hier entfernt. Ich habe ihm schon gesagt, dass ich dich heute zu ihm schicken werde, er erwartet dich also.“

Er beschrieb mir den Weg, und ich ging zu Feigins Datscha.Feigin hatte mich tatsächlich erwartet. Er begrüßte mich herzlich und stelle

mich seiner charmanten Frau Inna und seinen drei Kindern vor: zwei leb-haften Jungen, Roma und Schenja, im Alter von acht und zehn, und einer reizenden zweijährigen Tochter Lisa. In diesem Augenblick konnte ich noch nicht wissen, dass ich dieser wunderbaren Familie für viele Jahre sehr nahe stehen würde.

Feigins Frau bot uns Tee und Kuchen an, und wir setzten uns auf die Ter-rasse. Es war ein schöner Sommernachmittag, die Sonnenstrahlen drangen durch die Blätter der Bäume, die Vögel zwitscherten – Landidylle. Doch na-türlich wandte sich die Unterhaltung sehr bald Wakimotos Konstruktion zu.

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Es zeigte sich, dass Feigin ebenfalls über das Problem nachgedacht hatte und auch in ähnlicher Richtung. Zu Beginn unserer Unterhaltung warfen wir uns gegenseitig die Bälle zu. Es war ein besonderes Gefühl: Er verstand mich vollkommen und ich verstand ihn.

Ich erzählte ihm über mein Scheitern bei der Verallgemeinerung der Kon-struktion für andere Kac-Moody-Algebren. Feigin hörte aufmerksam zu, und nachdem er für eine Weile ruhig überlegt hatte, machte er mich auf einen wichtigen Punkt aufmerksam, der mir entgangen war. Um Wakimotos Kons-truktion verallgemeinern zu können, mussten wir eine geeignete Verallgemei-nerung der Kugeloberfläche finden – also der Mannigfaltigkeit, auf die SO(3) als Symmetriegruppe wirkt. Für die Gruppe SO(3) ist diese Wahl praktisch eindeutig. Doch für andere Gruppen gibt es mehrere Möglichkeiten. Bei mei-nen Berechnungen hatte ich wie selbstverständlich angenommen, dass die natürlichen Verallgemeinerungen der Kugeloberfläche die sogenannten pro-jektiven Räume sind. Doch das war nicht zwingend. Die Tatsache, dass ich in dieser Richtung nicht vorankam, konnte auch bedeuten, dass ich die falschen Räume gewählt hatte.

Wie schon erwähnt, musste ich schließlich meine Formeln „umkehren“. Die ganze Konstruktion beruhte auf der Erwartung, dass die daraus resul-tierenden Formeln wie durch ein Wunder wieder einen Sinn ergaben. Das war bei Wakimoto für die einfachste Gruppe SO(3) der Fall gewesen. Nach meinen Berechnungen schien das aber für die projektiven Räume nicht der Fall zu sein, doch das bedeutete nicht unbedingt, dass sich keine bessere Kon-struktion finden ließ. Feigin schlug vor, ich sollte statt dessen sogenannte Fahnenmannigfaltigkeiten versuchen.2

Die Fahnenmannigfaltigkeit zu der Gruppe SO(3) ist die vertraute Kugel-oberfläche, daher kann man diese Räume für andere Gruppen als natürliche Erweiterungen auffassen. Doch Fahnenmannigfaltigkeiten sind reichhaltiger und vielseitiger als projektive Räume. Es bestand also die Möglichkeit, dass eine Verallgemeinerung zu Wakimotos Konstruktion für diese Räume mög-lich war.

Es wurde bereits dunkel, und ich musste nach Hause. Wir verabredeten ein nächstes Treffen für die kommende Woche, dann verabschiedete ich mich von Feigins Familie und ging zum Bahnhof.

Auf der Zugfahrt nach Hause saß ich in einem leeren Zugabteil, die Fenster waren offen und ließen die warme Sommerluft hinein. Das Problem ging mir unentwegt durch den Kopf und ich wollte mich gleich an die Berechnungen machen, hier und jetzt. Ich nahm einen Stift und ein Notizblock und be-gann, die Formeln für die einfachste Fahnenmannigfaltigkeit aufzuschreiben. Der alte Waggon klapperte monoton und schaukelte hin und her. Ich konnte meinen Stift kaum gerade halten, sodass die Formeln überall verteilt waren

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und ich meine eigene Schrift kaum lesen konnte. Doch inmitten aus diesem Chaos entwuchs eine Struktur. Mit Fahnenmannigfaltigkeiten funktionierte alles wesentlich besser als mit projektiven Räumen, mit denen ich die letzte Woche erfolglos verbracht hatte.

Noch ein paar Rechnungen und … Heureka! Es funktionierte. Die „um-gedrehten“ Formeln kamen genauso gut heraus wie in dem Artikel von Waki-moto. Die Konstruktion ließ sich wunderbar verallgemeinern. Ich war über-wältigt vor Freude: Ich hatte es geschafft! Ich hatte neue Realisationen von Kac-Moody-Algebren durch freie Felder gefunden!

Am nächsten Morgen prüfte ich meine Berechnungen nochmals sorgfältig. Alles war richtig. In Feigins Datscha gab es kein Telefon, sodass ich ihn nicht anrufen und über meine Entdeckung berichten konnte. Also schrieb ich alles in Form eines Briefes auf, und als wir uns in der folgenden Woche trafen, erzählte ich ihm von meinen neuen Ergebnissen.

Dies war der Anfang unserer Zusammenarbeit. Er wurde mein Lehrer, Mentor, Betreuer und Freund. Zunächst redete ich ihn immer mit Boris Lwo-witsch an, entsprechend der alten russischen Tradition, den zweiten Vorna-men einzubeziehen. Doch später bestand er darauf, dass ich zu dem weniger förmlichen Borja wechselte.

Ich hatte mit meinen Lehrern unglaublich viel Glück. Jewgeni Jewgenje-witsch zeigte mir die Schönheit der Mathematik und entfachte meine Be-geisterung. Er brachte mir auch die ersten Grundlagen bei. Fuchs rettete mich nach dem Fiasko meiner MGU-Aufnahmeprüfung und brachte meine stockende mathematische Laufbahn richtig in Gang. Er leitete mich durch mein erstes richtiges Mathematikprojekt und vermittelte mir das Vertrauen in meine Fähigkeiten. Außerdem führte er mich in ein aufregendes Forschungs-gebiet an der Grenze zwischen Mathematik und Physik. Schließlich war ich bereit für die Oberliga. Borja erwies sich als der beste Betreuer, den ich mir in diesem Stadium meiner Reise wünschen konnte. Er war ein Turbolader für meine mathematische Laufbahn.

Borja Feigin ist zweifelsohne einer der originellsten Mathematiker seiner Generation auf der ganzen Welt, ein Visionär mit einem tiefen Sinn für Ma-thematik. Er führte mich in das Wunderland der modernen Mathematik, vol-ler zauberhafter Schönheit und vollendeter Harmonie.

Nachdem ich mittlerweile selber Studenten habe, schätze ich umso mehr, was Borja für mich getan hat (und ebenso Jewgeni Jewgenjewitsch und Fuchs zuvor). Es ist nicht leicht, ein Lehrer zu sein! In mehrfacher Hinsicht ist es wohl so ähnlich wie mit eigenen Kindern. Man muss sich aufopfern, ohne immer eine Gegenleistung erwarten zu dürfen. Natürlich kann man auch reich belohnt werden. Doch wie entscheidet man, in welche Richtung man die Studenten führt? Wann soll man ihnen hilfreich zur Seite stehen, und

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wann soll man sie ins tiefe Wasser werfen, damit sie selbst das Schwimmen lernen? Niemand kann einen diese Kunst lehren.

Borja kümmerte sich sehr intensiv um mich und meinen Weg als Mathe-matiker. Er schrieb mir nie vor, was ich zu tun hatte. Doch allein durch die Gespräche mit ihm und durch das, was ich von ihm lernte, wusste ich, was als Nächstes zu tun war. Und mit ihm an meiner Seite war ich auch immer zu-versichtlich, auf der richtigen Spur zu sein. Für mich war es ein großes Glück, ihn als Lehrer zu haben.

Es war bereits der Beginn des Herbstsemesters 1987, mein viertes Jahr am Kerosinka. Ich war neunzehn, und mein Leben war nie aufregender gewesen. Ich wohnte immer noch im Studentenwohnheim, ging mit Freunden aus, verliebte mich … Natürlich trieb ich auch mein Studium voran. Mittlerweile besuchte ich kaum noch die Vorlesungen und bereitete mich alleine auf meine Examen vor (gewöhnlich erst wenige Tage vor den Prüfungen). Ich erhielt immer noch meine glatten Einsen – die einzige Ausnahme war eine Zwei in marxistischer Volkswirtschaft (Schande über mich!).

Den meisten Leuten erzählte ich nichts über mein „zweites Leben“, das immerhin den größten Teil meiner Zeit und Energie kostete – meine mathe-matische Arbeit mit Borja.

Gewöhnlich traf ich mich zweimal die Woche mit ihm. Seine offizielle Stel-le hatte er am Institut für Festkörperphysik, doch er hatte dort nicht viel zu tun und musste nur einmal in der Woche vor Ort erscheinen. An den anderen Tagen arbeitete er im Appartement seiner Mutter, das rund zehn Gehminuten von seiner Wohnung entfernt war. Es war auch nicht weit zum Kerosinka und meinem Wohnheim. Dort trafen wir uns gewöhnlich. Meist ging ich am späten Vormittag oder frühen Nachmittag zu ihm und dann arbeiteten wir an unseren Projekten, manchmal den ganzen restlichen Tag. Gegen Abend kam Borjas Mutter von ihrer Arbeit zurück und machte uns ein Abendessen. Oft verließen wir ihre Wohnung gemeinsam gegen neun oder zehn Uhr.

Eines der ersten Dinge, die Borja und ich angingen, war eine kurze Zusam-menfassung unserer Ergebnisse zu schreiben und sie an die Zeitschrift Russian Mathematical Surveys zu schicken. Innerhalb eines Jahres wurde der Beitrag veröffentlicht – ziemlich rasch im Vergleich zu den üblichen Standards bei mathematischen Fachzeitschriften.3 Nachdem das erledigt war, gingen Borja und ich daran, unser Projekt auszuweiten. Unser Verfahren war sehr leistungs-fähig und eröffnete viele mögliche Forschungsrichtungen. Wir wollten mit unseren Ergebnissen die Darstellungen von Kac-Moody-Algebren besser ver-stehen. Außerdem ermöglichte unser Verfahren die Darstellung bestimmter zweidimensionaler Quantenmodelle durch freie Felder. Dadurch konnten wir Berechnungen durchführen, die vorher noch nicht möglich gewesen waren, wodurch bald die Physiker auf unsere Arbeit aufmerksam wurden.

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Es waren aufregende Zeiten. An den Tagen, an denen Borja und ich uns nicht trafen, arbeitete ich allein, während der Woche in Moskau und am Wo-chenende zu Hause. Ich ging immer noch regelmäßig in die Wissenschaftsbi-bliothek und verschlang die Bücher und Artikel über eng verwandte Themen. Ich lebte, aß und trank das Zeug. Es war, als ob ich in dieses wunderbare Paralleluniversum eingetaucht war, und ich wollte dort bleiben und immer tiefer in diesem Traum versinken. Mit jeder neuen Entdeckung und jeder neuen Idee wurde diese geheimnisvolle Welt mehr und mehr mein Zuhause.

Doch im Herbst 1988, als ich das fünfte und letzte Jahr meiner Studienzeit am Kerosinka begann, wurde ich auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, denn es war Zeit, an die Zukunft zu denken. Obwohl ich zu den Besten meines Jahrgangs zählte, waren meine Aussichten eher düster. Aufgrund des Antisemitismus durfte ich nicht promovieren, und damit waren mir auch die guten Berufe für promovierte Mathematiker verwehrt. Und ohne Propiska, einen festen Wohnsitz in Moskau, wurde alles noch schwieriger. Es näherte sich der Tag der Wahrheit.

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12Der Baum der Erkenntnis

Obwohl mir bewusst war, dass es mir niemals gestattet würde, eine akade-mische Laufbahn einzuschlagen, betrieb ich weiter Mathematik. Mark Saul beschreibt dies in seinem Artikel1 (wobei er die Verkleinerungsform meines Vornamens, Edik, verwendet):

Was trieb Edik und andere an weiterzumachen, wie die vielen Lachse, die stromaufwärts schwimmen? Alles deutete darauf hin, dass die Diskriminie-rung, die sie an den Universitäten erfahren hatten, auch im Berufsleben weiter-gehen würde. Weshalb also bereiteten sie sich mit einer solchen Intensität und allen Widrigkeiten zum Trotz auf eine mathematische Laufbahn vor?

Ich erwartete keinerlei Gegenleistung, außer der reinen Freude und Leiden-schaft an dieser intellektuellen Betätigung. Ich wollte mein Leben der Mathe-matik widmen, weil es mir Spaß machte, aus keinem anderen Grund.

In dem öden Leben der Sowjetunion konnten begabte Jugendliche ihre Energie nicht in ein privates Unternehmen einbringen; die Wirtschaft kannte keinen privaten Sektor. Alles stand unter strenger Aufsicht der Regierung. Und auch in den Geisteswissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und So-zialwissenschaften kontrollierte die kommunistische Ideologie alle Tätigkei-ten. Jedes Buch und jeder wissenschaftliche Artikel in diesen Bereichen muss-te mit Zitaten von Marx, Engels oder Lenin beginnen und uneingeschränkt den marxistischen Standpunkt zum jeweiligen Thema vertreten. Die einzige Möglichkeit, einen Artikel beispielsweise über andere Philosophien zu schrei-ben, bestand darin, sie als „reaktionäre Ansichten des Bürgertums“ zu ver-urteilen. Wer von diesen strengen Regeln abwich, wurde selbst verurteilt und verfolgt. Das Gleiche galt für Kunst, Musik, Literatur und Film. Alles, was auch nur im Entferntesten als Kritik an der sowjetischen Gesellschaft, Politik oder Lebensart verstanden werden konnte oder was einfach nur von den Leh-ren des „sozialistischen Realismus“ abwich, wurde kurzerhand zensiert. Die Schriftsteller, Komponisten oder Regisseure, die es wagten, ihren künstleri-schen Visionen zu folgen, wurden verbannt und ihre Arbeiten unterbunden oder zerstört.

E. Frenkel, Liebe und Mathematik, DOI 10.1007/978-3-662-43421-5_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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Selbst viele Bereiche der Naturwissenschaften unterstanden den Parteivor-gaben. Beispielsweise wurde das Gebiet der Genetik viele Jahre lang verboten, weil die Ergebnisse den Lehren des Marxismus zu widersprechen schienen. Selbst die Linguistik blieb nicht verschont: Nachdem Stalin, der sich als Ex-perte auf diesem Gebiet sah (wie auf vielen anderen Gebieten auch), seinen berüchtigten Aufsatz „Über bestimmte Probleme der Sprachwissenschaft“ ge-schrieben hatte, wurde das gesamte Gebiet auf die Interpretation dieser größ-tenteils nichtssagenden Abhandlung reduziert. Wer sich nicht daran hielt, wurde unterdrückt.

In diesem Umfeld waren die Mathematik und die theoretische Physik Oa-sen der Freiheit. Obwohl die kommunistischen Apparatschiks jeden Aspekt des Lebens kontrollieren wollten, waren diese Bereiche einfach zu abstrakt und schwierig für sie. Beispielsweise hat Stalin es nie gewagt, irgendwelche Behauptungen über die Mathematik aufzustellen. Gleichzeitig hatten die So-wjetführer die Bedeutung dieser scheinbar unverständlichen und esoterischen Bereiche für die Entwicklung von Kernwaffen erkannt und wollten sich daher in diese Gebiete nicht zu sehr einmischen. Mathematiker und theoretische Physiker, die am Atombombenprojekt arbeiteten (viele von ihnen eher wi-derstrebend, sollte ich hinzufügen), wurden deshalb geduldet und einige von ihnen vom „Großen Bruder“ sogar recht gut behandelt.

Auf der einen Seite war die Mathematik abstrakt und billig, andererseits war sie in Bereichen nützlich, die den Sowjetführern wichtig waren, insbe-sondere im Bereich der Verteidigung, die das Überleben des Regimes sicherte. Das war der Grund, weshalb Mathematiker im Großen und Ganzen ihrer Forschung nachgehen durften und nicht den Einschränkungen der meisten anderen Bereiche unterlagen (zumindest, solange sie sich nicht in die Politik einmischten, wie bei dem schon erwähnten „Brief der 99“).

Ich glaube, das war der Hauptgrund, weshalb so viele begabte junge Stu-denten Mathematiker werden wollten. Es war eines der wenigen Gebiete, in dem sie sich intellektuell frei betätigen konnten.

Doch ungeachtet meiner Leidenschaft und Freude an der Mathematik brauchte ich eine Stelle. Daher musste ich neben meiner eigentlichen mathe-matischen Forschung, die ich insgeheim mit Borja betrieb, noch „offizielle“ Forschung am Kerosinka betreiben.

Mein Betreuer am Kerosinka war Jakow Issajewitsch Churgin, ein Profes-sor im Institut für angewandte Mathematik und einer der charismatischsten und meist verehrten Fakultätsmitglieder. Jakow Issajewitsch war ein früherer Student von Gelfand und damals Ende sechzig, doch er war einer unserer „coolsten“ Professoren. Wegen seines engagierten Vorlesungsstils und seines Sinns für Humor hatten seine Kurse die höchsten Teilnehmerzahlen. Obwohl ich ab dem dritten Jahr die meisten Vorlesungen schwänzte, versuchte ich zu

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seinen Vorlesungen über Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik immer zu kommen. In meinem dritten Jahr begann ich, mit ihm zu arbeiten.

Jakow Issajewitsch war mir gegenüber sehr freundlich. Er sorgte dafür, dass ich gut behandelt wurde, und wenn ich Hilfe brauchte, war er immer für mich da. Einmal hatte ich Probleme in meinem Wohnheim, woraufhin er seine Beziehungen nutzte, um die Dinge zu regeln. Jakow Issajewitsch war ein kluger Mann, der gelernt hatte, wie man mit dem System umgehen muss: Obwohl er Jude war, hatte eine angesehene Stellung am Kerosinka; immerhin war er ordentlicher Professor und Leiter einer Abteilung, die auf vielen Gebie-ten arbeitete, von der Ölförderung bis zur Medizin.

Er verstand es auch, die Mathematik allgemein verständlich zu vermitteln, und er hatte mehrere Bücher über Mathematik für Laien geschrieben, die sich sehr gut verkauften. Eines gefiel mir ganz besonders; es hatte den Titel Ну и что?, was man im Deutschen mit „Na und?“ übersetzen könnte (Titel der deutschen Ausgabe: „Formeln, und was dann?: Gespräche eines Mathematikers mit Biologen und Nachrichtentechnikern, Ärzten und Technologen, Geologen und Ökonomen, mit Menschen verschiedener Fachgebiete und Interessen über die Ma-thematik und ihre Beziehungen zu den anderen Wissenschaften“). Es handelt von seinen Begegnungen mit Naturwissenschaftlern, Ingenieuren und Ärzten. In Form von Dialogen mit ihnen erklärt er auf verständliche und unterhaltsame Weise interessante mathematische Konzepte (meist zur Wahrscheinlichkeits-theorie und Statistik, seinem Spezialgebiet) und ihre Anwendungen. Der rus-sische Titel des Buches soll die Art der Neugier zum Ausdruck bringen, mit der ein Mathematiker Alltagsprobleme angeht. Ich war begeistert von diesen Büchern und seiner Leidenschaft, mathematische Ideen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Viele Jahre lang arbeitete Jakow Issajewitsch mit Ärzten zusammen, meist Urologen. Seine ursprüngliche Motivation dafür hatte persönliche Gründe. Als er am Mekh-Math studierte, wurde er zum Militärdienst einberufen und musste im 2. Weltkrieg an die Front. In den eisigen Schützengräben hatte er sich eine gefährliche Nierenkrankheit zugezogen. Letztendlich war es für ihn ein Glück, denn er wurde ins Krankenhaus eingeliefert – die meisten seiner mit ihm einberufenen Kommilitonen starben im Kampf. Doch seit jener Zeit hatte er Probleme mit den Nieren. In der Sowjetunion war die medizinische Versorgung zwar umsonst, doch dafür war ihre Qualität ziemlich schlecht. Wollte man eine gute Behandlung, musste man entweder persönliche Bezie-hungen zu einem Arzt haben oder ein gutes Bestechungsgeld anbieten. Doch Jakow Issajewitsch hatte etwas anzubieten, was nur wenige anbieten konnten: seine Erfahrungen als Mathematiker. Auf diese Weise lernte er die besten Spe-zialisten für Urologie in Moskau kennen.

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Für ihn war das eine tolle Sache, denn immer wenn ihm seine Nieren Pro-bleme bereiteten, erhielt er die beste Behandlung von führenden Ärzten am besten Krankenhaus in Moskau. Und auch die Ärzte profitierten davon, denn er half ihnen bei der Analyse ihrer Daten, in denen oft interessante und zuvor unbekannte Phänomene verborgen lagen. Jakow Issajewitsch meinte immer, dass die Denkweise der Ärzte sehr gut der Untersuchung einzelner Patienten und den Entscheidungen auf Einzelfallgrundlage angepasst war. Doch da-durch hatten sie manchmal Schwierigkeiten, sich auf das große Bild zu kon-zentrieren und allgemeine Regelmäßigkeiten und Prinzipien zu finden. Hier sind Mathematiker nützlich, denn ihre Denkweise ist vollkommen anders: Wir werden dazu ausgebildet, nach diesen allgemeinen Strukturen zu suchen und sie zu analysieren. Die medizinischen Freunde von Jakow Issajewitsch wussten das zu schätzen.

Als ich sein Student wurde, bezog Jakow Issajewitsch mich in seine medizi-nischen Projekte ein. In den zweieinhalb Jahren, die ich mit ihm zusammen-arbeitete, beteiligten wir uns an drei verschiedenen Projekten in der Urologie. Die Ergebnisse wurden von drei jungen Urologen für ihre Doktorarbeiten verwendet. (In Russland musste man diese Arbeit über eigene und neuartige medizinische Forschung verfassen.) Ich wurde Mitautor von Veröffentlichun-gen in medizinischen Fachzeitschriften und sogar Mitinhaber eines Patents.

Ich erinnere mich noch gut an den Beginn des ersten Projekts. Wir beide, Jakow Issajewitsch und ich, hatten uns mit einem jungen Urologen verab-redet, Alexei Welikanow, dem Sohn eines der führenden Ärzte in Moskau. Jakow Issajewitsch war mit dem älteren Welikanow befreundet (und auch sein Patient), und dieser hatte Jakow Issajewitsch gebeten, seinem Sohn zu helfen. Alexei zeigte uns ein riesiges Blatt Papier mit verschiedenen Daten, die er an rund einhundert Patienten erhoben hatte. Allen Patienten war ein Adenom der Prostata entfernt worden (das ist ein gutartiger Tumor der Prostata, der oft bei älteren Männern auftritt). Die Daten bezogen sich auf verschiede-ne Größen, wie den Blutdruck und andere Testergebnisse vor und nach der Operation. Er hoffte, aus diesen Daten Schlussfolgerungen ziehen zu können, unter welchen Bedingungen eine Operation größte Aussicht auf Erfolg hatte, und damit wiederum Empfehlungen aussprechen zu können, wann man den Tumor am besten entfernt.

Er benötigte Hilfe bei der Datenanalyse und hoffte dabei auf uns. Später erfuhr ich, dass dies eine typische Situation war. Ärzte, Ingenieure und ande-re schienen zu glauben, Mathematiker hätten eine Art Zauberstab, mit dem sie rasch irgendwelche Schlussfolgerungen aus irgendwelchen Daten hervor-zaubern konnten. Natürlich ist das reines Wunschdenken. Wir kennen zwar einige sehr leistungsfähige Verfahren der statistischen Analyse, doch häufig lassen sie sich nicht anwenden, weil die Daten nicht genau genug sind, oder

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weil es sich um verschiedene Arten von Daten handelt: einige objektiv und andere subjektiv (z. B. wie sich die Patienten „fühlen“); andere sind quantita-tiv, wie der Blutdruck und der Puls, andere wiederum qualitativ, wie Ja- oder Nein-Antworten zu bestimmten Fragen. Es ist sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich, solche verschiedenartige Daten in eine statistische Formel zu packen.

Andererseits hilft es manchmal, die richtigen Fragen zu stellen, und dann erkennt man, dass einige der Daten unwichtig sind und einfach verworfen werden sollten. Nach meiner Erfahrung wurden nur rund 10–15 % der In-formationen, die von den Ärzten eingeholt wurden, für die Diagnose oder die Wahl der Behandlung wirklich gebraucht. Doch wenn man sie fragte, gaben sie das nie unumwunden zu. Sie bestanden meist darauf, alles sei wichtig, und dachten sich dann irgendeine Situation aus, bei der sie diese Informati-on berücksichtigen würden. Meist dauerte es eine Weile, bis man sie davon überzeugt hatte, dass in all diesen Fällen tatsächlich die meisten Daten unbe-rücksichtigt blieben und ihre Entscheidungen auf nur sehr wenigen wichtigen Daten beruhten.

Natürlich gab es auch Fragen, die sich einfach beantworten ließen, indem die Daten in ein statistisches Analyseprogramm gefüttert wurden. Durch mei-ne Arbeit in diesen Projekten erkannte ich mit der Zeit, dass wir Mathemati-ker für die Ärzte weniger wegen unserer Kenntnisse der statistischen Verfah-ren nützlich sein können (diese sind oft nicht sehr schwierig, und jeder kann sie lernen), sondern wegen unserer Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen und anschließend durch eine unvoreingenommene Analyse die Antworten zu finden. Es ist diese mathematische Denkweise, die für andere, die nicht wie ein Mathematiker zu denken gelernt haben, nützlich ist.

Bei meinem ersten Projekt half uns dieser Zugang, unnütze Daten zu ver-werfen und dann einige nicht-triviale Zusammenhänge oder Korrelationen zwischen den verbliebenen Parametern zu finden. Das war nicht leicht und kostete uns einige Monate, doch wir waren mit den Ergebnissen zufrieden. Wir schrieben gemeinsam einen Artikel über unsere Untersuchungsergebnis-se, und Alexei verwendete sie in seiner Doktorarbeit. Jakow Issajewitsch und ich wurden, zusammen mit einem weiteren Studenten vom Kerosinka, Ale-xander Lifschitz, zur Verteidigung der Arbeit eingeladen. Alexander war ein guter Freund von mir und ebenfalls an dem Projekt beteiligt.

Ich erinnere mich, wie während der Verteidigung einer der Ärzte nach dem Namen des Computerprogramms fragte, mit dem die Ergebnisse gewonnen worden waren, und Jakow Issajewitsch antwortete, es hieße „Edward und Alexander“. Das stimmte: Wir hatten keinen Computer verwendet, sondern alle Berechnungen von Hand oder mit einem einfachen Taschenrechner erle-digt. Der wichtige Punkt waren nicht die Berechnungen (das war der einfache

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Teil) – es waren die richtigen Fragen, die man stellen musste. Ein bekannter Chirurg, der bei der Verteidigung anwesend war, meinte dazu, es sei sehr be-eindruckend, wie nützlich die Mathematik in der Medizin sein könne, und dass sie in der nahen Zukunft vielleicht sogar noch wichtiger würde. Unsere Arbeit wurde von den Ärzten im Allgemeinen sehr wohlwollend gewürdigt und Jakow Issajewitsch war zufrieden.

Kurz darauf bat er mich, an einem anderen Projekt in der Urologie mit-zuwirken, bei dem es um Nierentumore ging (für eine andere Doktorarbeit), und auch hier konnte ich erfolgreich helfen.

Das dritte und letzte medizinische Projekt, an dem ich beteiligt war, war auch gleichzeitig das interessanteste für mich. Ein junger Arzt, Sergei Arut-junjan, benötigte ebenfalls Hilfe bei der Analyse seiner Daten für seine Arbeit. Wir beide mochten uns auf Anhieb. Er arbeitete mit Patienten, die eine Spen-derniere erhalten hatten, die von ihrem Immunsystem abgestoßen wurde. In dieser Situation muss ein Arzt eine rasche Entscheidung fällen, ob er um die Niere kämpft oder sie entfernt. Die Konsequenzen sind weitreichend: Behält der Patient die Niere, kann er sterben, entfernt man jedoch die Niere, benö-tigt er eine neue, die oft schwierig zu finden ist.

Sergei suchte nach einer Möglichkeit, eine auf quantitativen Ultraschalldi-agnosen beruhende Empfehlung aussprechen zu können, die statistisch gese-hen den größten Erfolg versprach. Er besaß auf diesem Gebiet viel Erfahrung und hatte bereits eine Menge Daten gesammelt, bei deren Auswertung er auf meine Hilfe hoffte. Sein Ziel war es, ein objektives Kriterium zur Entschei-dungsfindung entwickeln zu können, das dann auch für andere Ärzte nützlich war. Er erzählte mir, dass dies noch niemandem gelungen sei und die meisten Ärzte das auch für unmöglich hielten. Sie verließen sich meist auf ihre Ad-hoc-Einschätzungen.

Ich warf einen Blick auf die Daten. Wie bei unseren vorangegangenen Pro-jekten gab es auch hier rund vierzig verschiedene Parameter für jeden Patien-ten. Während unserer regelmäßigen Treffen stellte ich Sergei gezielt Fragen, mit denen ich herausfinden wollte, welche dieser Daten wichtig waren und welche nicht. Doch das war nicht leicht. Wie bei anderen Ärzten auch beruh-ten seine Antworten auf Einzelfällen, was nicht sehr hilfreich war.

Ich entschied mich für einen anderen Weg. Ich dachte: „Dieser Mann fällt nahezu täglich Entscheidungen dieser Art und offensichtlich kann er das sehr gut. Könnte ich lernen, so zu denken wir er? Auch wenn ich nicht viel über die medizinischen Aspekte des Problems weiß, könnte ich versuchen, seine Methodik zu erlernen und seinen Entscheidungsprozess nachzuvollziehen, und dann könnte ich vielleicht mit diesem Wissen einen Satz von Regeln erarbeiten.“

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Ich schlug daher eine Art von Spiel vor.2 Sergei hatte Daten zu rund 270 Patienten. Ich wählte zufällig die Daten von dreißig dieser Patienten aus und legte den Rest beiseite. Dann betrachtete ich die Geschichte dieser Patienten und bat Sergei, der in der gegenüberliegenden Ecke des Büros saß, mir Fragen zu dem Patient zu stellen, die ich mithilfe der Kartei über den Patienten be-antwortete. Mein Ziel war es, eine Struktur in der Art seiner Fragen zu finden (selbst wenn ich die genaue Bedeutung dieser Fragen nicht so gut verstand wie er). Beispielsweise stellte er mir manchmal unterschiedliche Fragen oder dieselben Fragen in unterschiedlicher Reihenfolge. In solchen Fällen unter-brach ich ihn: „Beim letzten Mal hast du das nicht gefragt. Weshalb willst du es jetzt wissen?“

Und er gab mir dann zur Antwort: „Weil bei dem anderen Patienten das Volumen der Niere so und so war, und damit war diese Möglichkeit ausge-schlossen. Doch bei diesem Patienten ist es so und so, und damit wäre diese Möglichkeit durchaus wahrscheinlich.“

Ich machte mir von all diesen Dingen Aufzeichnungen und versuchte, die Information so gut es ging zu verinnerlichen. Noch heute, viele Jahre später, kann ich mich gut daran erinnern: Sergei saß in einem Sessel in der Ecke sei-nes Büros, tief in Gedanken versunken und eine Zigarette rauchend (er war Kettenraucher). Für mich war es faszinierend herauszufinden, wie er dachte – es war so, als ob man ein Puzzle auseinandernimmt um festzustellen, was die wichtigen Teile sind.

Sergeis Antworten waren für mich außerordentlich hilfreich. Nach selten mehr als drei oder vier Fragen kam er fast immer zu einer Diagnose. Dann verglich ich, was mit dem Patienten tatsächlich passiert war, und er lag immer absolut richtig.

Indem ich den einfachen Regeln folgte, die ich auf diese Weise von ihm gelernt hatte, konnte ich nach zwei Dutzend Fällen schon selbst die Diagnose treffen. Nach einem weiteren halben Dutzend war ich fast so gut wie er bei der Vorhersage des Ergebnisses. Tatsächlich steckte hinter seinen Fragen ein einfacher Algorithmus, dem Sergei in den meisten Fällen folgte.

Natürlich gab es auch immer wieder Fälle, bei denen der Algorithmus nicht half. Doch selbst wenn man einen effizienten und raschen Weg zu einer rich-tigen Diagnose in 90 bis 95 % der Patienten finden konnte, war das schon ein großer Erfolg. Sergei erklärte mir, dass man in der vorhandenen Literatur über Ultraschalldiagnosen nichts dieser Art finden konnte.

Nachdem wir unser „Spiel“ beendet hatten, entwickelte ich einen detail-lierten Algorithmus, den ich als Entscheidungsbaum in Abb. 12.1 dargestellt habe. Von jedem Knoten des Baums zweigen zwei Linien nach unten zu wei-teren Knoten ab. Die Antwort auf eine bestimmte Frage beim ersten Knoten legt fest, zu welchem der beiden möglichen Knoten der Anwender als Nächs-

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tes geht. Beispielsweise bezieht sich die erste Frage auf den parenchymalen Resistance-Index (PR) der Blutgefäße innerhalb des Transplantats. Auf diesen Parameter war Sergei im Rahmen seiner Forschung selbst gestoßen. War sein Wert größer als 0,79, dann war es sehr wahrscheinlich, dass die Niere ab-gestoßen würde, und der Patient musste sofort operiert werden. In diesem Fall gehen wir zu dem schwarzen Knoten auf der rechten Seite. Andernfalls gehen wir zu dem Knoten auf der linken Seite und stellen die nächste Frage: Wie groß ist das Volumen (V) der Niere? Und so weiter. In Abhängigkeit von den Daten eines Patienten erhält man einen eindeutigen Pfad auf die-sem Baum. Nach höchstens vier Schritten endet der Pfad (an dieser Stelle ist nicht wichtig, wofür die anderen beiden Parameter TP und MPI stehen). Der letzte Knoten eines Pfads bestimmt das Urteil entsprechend der Abbildung: Ein schwarzer Knoten bedeutet „operieren“, und ein weißer Knoten bedeutet „nicht operieren“.

Nun ging ich mit diesem Algorithmus durch die Daten der verbliebenen rund 240 Patienten, deren Karteien ich beiseite gelegt hatte. Die Überein-stimmung war erstaunlich. In ungefähr 95 % der Fälle erhielt ich eine richtige Diagnose.

PR

V

TP

MPI MPI

>0.79

>300

>2.0

>2.1>2.8

≤0.79

≤300

≤2.0

≤2.1≤2.8

Abb. 12.1 Der Entscheidungsbaum für die medizinische Diagnose (Abkürzungen und Einzelheiten im Text). © Frenkel

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Der Algorithmus beschrieb in einfacher Weise die wesentlichen Gedanken-gänge eines Arztes, der eine solche Entscheidung zu fällen hat, und er zeigte, welche Parameter zum Zustand des Patienten für die Diagnose am wichtigs-ten waren. Es waren nur vier, wodurch die anfängliche Liste von rund vierzig Parametern deutlich eingeschränkt wurde. Zum Beispiel zeigte der Algorith-mus, welche Bedeutung der von Sergei entwickelte Index des peripheren Wi-derstands hatte, der den Blutfluss durch die Niere angab. Dass dieser Para-meter eine derart wichtige Rolle für den Entscheidungsprozess spielte, war für sich genommen schon eine bedeutende Entdeckung. All dies konnte für die zukünftige Forschung auf dem Gebiet nützlich sein. Andere Ärzte konnten den Algorithmus für ihre Patienten anwenden und testen und vielleicht sogar verbessern, damit er noch effizienter wurde.

Wir verfassten einen Artikel darüber, der zur Grundlage von Sergeis Dok-torarbeit wurde. Außerdem beantragten wir ein Patent, das uns ein Jahr später zugestanden wurde.

Ich war stolz auf meine Arbeit mit Jakow Issajewitsch, und er war stolz auf mich. Trotz unserer guten Beziehungen hielt ich mein „zweites“ mathemati-sches Leben – meine Arbeit mit Fuchs und Feigin – vor ihm geheim, ebenso wie vor den meisten anderen Bekannten. Man könnte sagen, die angewandte Mathematik war meine Ehefrau und die reine Mathematik meine heimliche Geliebte.

Als die Zeit kam, zu der ich mich nach einem Beruf umsehen musste, meinte Jakow Issajewitsch, er würde versuchen, mich als Assistenten in sei-nem Labor am Kerosinka aufzunehmen. Damit hätte ich ein Jahr später die Möglichkeit gehabt, mit einer Doktorarbeit zu beginnen, womit ein klarer Weg für meine berufliche Zukunft absehbar geworden wäre. Das klang nach einem ausgezeichneten Plan, doch es gab immer noch einige Hindernisse. Nicht zuletzt wäre ich sehr wahrscheinlich wieder antisemitischen Anfein-dungen ausgesetzt gewesen, vor denen man meinen Vater schon bei seinem ersten Besuch am Kerosinka vor meiner dortigen Aufnahme gewarnt hatte.

Natürlich war sich Jakow Issajewitsch dessen bewusst. Er war seit mehreren Jahrzehnten am Kerosinka und wusste, wie die Dinge dort liefen. Der Rektor Winogradow, den Jakow Issajewitsch sehr achtete, hatte ihn sogar persönlich angeworben.

Sämtliche Angelegenheiten im Zusammenhang mit meiner Bewerbung würden von Bürokraten im Mittelbau abgewickelt, nicht von Winogradow, und sie würden mit Sicherheit sämtliche Türen für jeden versperren, dessen Nachname jüdisch klang. Doch Jakow Issajewitsch wusste, wie man mit dem System umgeht. Zu Beginn des Frühlingssemesters meines letzten Jahres am Kerosinka, als die Frage nach meiner Anstellung drängte, hatte er einen Brief aufgesetzt, mit dem er mich in sein Labor berief. Er trug diesen Brief bei sich,

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sodass er, sollte er zufällig die Möglichkeit haben, mit Winogradow über mich persönlich sprechen zu können, gut vorbereitet war.

Sehr bald ergab sich eine passende Gelegenheit. Als er das Kerosinka betrat, lief er zufällig Winogradow in die Arme. Winogradow freute sich, ihn zu se-hen und fragte: „Jakow Issajewitsch, wie geht es dir?“

„Schrecklich“, antwortete Jakow Issajewitsch erbittert (er konnte ein guter Schauspieler sein).

„Was ist passiert?“„Wir haben in meinem Labor in der Vergangenheit fantastische Dinge ge-

macht, aber das wird nicht mehr möglich sein. Ich finde keine neuen begab-ten Mitarbeiter. Ich habe diesen großartigen Studenten, der in diesem Jahr seinen Abschluss macht, doch ich kann ihn nicht einstellen.“

Ich vermute, Winogradow wollte Jakow Issajewitsch beweisen, wer hier der Chef war – genau das war auch die Absicht von Jakow Issajewitsch – und so sagte er: „Kein Problem, ich kümmere mich drum.“

In diesem Augenblick holte Jakow Issajewitsch mein Einstellungsschreiben aus der Tasche, und Winogradow hatte keine andere Wahl, als es zu unter-schreiben.

Normalerweise hätte dieser Brief von einem Dutzend Personen unterzeich-net werden müssen, bevor er überhaupt auf dem Schreibtisch von Winogra-dow gelandet wäre: von den Leitern des örtlichen kommunistischen Jugend-verbands und der kommunistischen Partei und allen möglichen anderen Bü-rokraten. Sie hätten mit Sicherheit einen Weg gefunden, den Prozess beliebig in die Länge zu ziehen, sodass es nie dazu gekommen wäre. Doch nun hatte der Brief bereits die Unterschrift von Winogradow! Was also konnten sie tun? Er war der Chef und sie konnten sich seinen Wünschen nicht widersetzen. Sie mochten mit den Zähnen knirschen und die Angelegenheit etwas verzögern, doch schließlich mussten sie alle aufgeben und unterzeichnen. Ihre Gesichter waren sehenswert, als sie Winogradows Unterschrift ganz unten entdeckten. Jakow Issajewitsch wusste eben, wie man mit dem System umgeht.

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13Ein Ruf aus Harvard

Inmitten all dieser Belastungen und Unsicherheiten erreichte mich im März 1989 ein Brief aus den Vereinigten Staaten mit dem Briefkopf der Harvard University.

Sehr geehrter Herr Dr. Frenkel,auf Empfehlung des Instituts für Mathematik möchte ich Sie einladen, im Herbst 1989 als Empfänger des Harvard Prize Fellowships die Harvard Uni-versity zu besuchen.Mit freundlichen GrüßenDerek BokPräsident der Harvard University

Ich hatte schon von der Harvard University gehört, obwohl ich zugeben muss, dass ich mir damals ihrer Bedeutung in der akademischen Welt nicht wirklich bewusst war. Trotzdem war ich hoch erfreut. Eine Einladung nach Amerika als Gewinner eines Stipendiums klang wie eine große Ehre. Immerhin schrieb mir der Präsident der Universität persönlich! Und er sprach mich mit „Dok-tor“ an, obwohl ich noch nicht einmal meinen Bachelorabschluss hatte. (Es war das letzte Semester meines Studiums am Kerosinka.)

Was war passiert? Meine Arbeit mit Borja schien die Runde zu machen. Unser erster kurzer Artikel war bereits publiziert, und wir standen vor dem Abschluss dreier weiterer, längerer Artikel (alle in Englisch). Der Physiker Lars Brink aus Schweden hatte Moskau besucht und wollte einen der Artikel in einem Sammelband herausgeben. Wir gaben ihm unseren Artikel für den Band und baten ihn, rund zwanzig Kopien anzufertigen und sie an Mathe-matiker und Physiker im Ausland, von denen wir dachten, dass sie an unserer Arbeit interessiert sein könnten, zu verschicken. Ich hatte ihre Adressen aus Veröffentlichungen, die ich an der Moskauer Wissenschaftsbibliothek gefun-den hatte, und gab Lars die Liste. Er half uns gerne, denn er wusste, wie schwierig es für uns sein würde, die Kopien selbst zu verschicken. Dieser Ar-tikel wurde recht bekannt, zum Teil auch wegen seiner Anwendungen in der Quantenphysik.

E. Frenkel, Liebe und Mathematik, DOI 10.1007/978-3-662-43421-5_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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Das war einige Jahre bevor alle durch das Internet vernetzt wurden, doch die Verbreitung wissenschaftlicher Literatur war ziemlich effizient: Die Au-toren verteilten getippte Manuskripte ihrer Artikel vor der Veröffentlichung (diese Manuskripte nennt man Preprints), und die Empfänger dieser Artikel kopierten und verteilten sie an Kollegen und Universitätsbibliotheken. Die rund zwanzig Personen, denen Lars Brink unseren Artikel geschickt hatte, mussten das Gleiche getan haben.

Mittlerweile deuteten sich in der Sowjetunion gewaltige Umwälzungen an: Es war die Zeit der von Michail Gorbatschow in die Wege geleiteten Peres-troika. Eine der Auswirkungen war, dass die Menschen leichter ins Ausland reisen durften. Vorher hatten Mathematiker wie Feigin und Fuchs viele Ein-ladungen in den Westen erhalten, teils zur Teilnahme an Konferenzen oder auch zum Besuch von Universitäten, doch Reisen ins Ausland wurden von den Behörden streng reguliert. Bevor man das übliche Einreisevisum in ein anderes Land erhalten konnte, benötigte man ein Ausreisevisum, mit dem man die Sowjetunion verlassen durfte. Es wurden nur sehr wenige Visa dieser Art ausgestellt, weil man befürchtete, die Leute würden nicht zurückkom-men (und tatsächlich kamen viele von denen, die ein Ausreisevisum erhalten hatten, nicht mehr zurück). Fast alle Gesuche wurden abgelehnt, meist aus Scheingründen, und Fuchs erzählte mir einmal, dass er es seit vielen Jahren aufgegeben hatte, ein solches Visum zu beantragen.

Doch plötzlich, im Herbst 1988, durften mehrere Personen ins Ausland reisen, unter anderem auch Gelfand. Ein weiterer begabter junger Mathe-matiker und Freund von Borja namens Sascha Beilinson reiste ebenfalls in die Vereinigten Staaten, um seinen früheren Mitautor Joseph Bernstein zu besuchen, der schon einige Jahre früher emigriert war und nun eine Professur in Harvard hatte.

Mittlerweile hatten auch Wissenschaftler im Westen erkannt, dass sich etwas geändert hatte, und sie versuchten diese Gelegenheit zu nutzen und Wissenschaftler aus der Sowjetunion einzuladen. Einer von ihnen war Ar-thur Jaffe, ein bekannter mathematischer Physiker, der damals der Leiter der mathematischen Fakultät in Harvard war. Er wollte neue Stellen für Gast-wissenschaftler, und zwar speziell für begabte junge russische Mathematiker, ins Leben rufen. Als Gelfand, der einen Ehrendoktor von Harvard hatte, im Herbst 1988 das Institut besuchte, nutzte Jaffe das für sein Anliegen. Ge-meinsam konnten sie den Präsidenten Derek Bok, den Gelfand persönlich kannte, überreden, Mittel und Unterstützung für dieses Programm zur Verfü-gung zu stellen (ein Teil der Finanzierung wurde auch von Landon Clay über-nommen, der später das Clay Mathematics Institute gründete). Jaffe nannte es das Harvard Prize Fellowship.

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Nachdem das Programm stand, lautete die Frage, wen man einladen sollte, und Jaffe bat mehrere Mathematiker um Vorschläge. Offenbar wurde mein Name gleich von mehreren Personen genannt (einschließlich Beilinson), und so wurde ich als einer der ersten Empfänger dieses Preises ausgewählt.

Dem Brief von Präsident Bok folgte sehr rasch ein längeres Schreiben von Jaffe selbst, in dem er die Modalitäten im Zusammenhang mit der Stelle nä-her erläuterte. Ich konnte für einen Zeitraum zwischen drei und fünf Mona-ten kommen. Ich wäre Gastprofessor, hätte aber keinerlei Verpflichtungen, außer dass ich gelegentlich Vorträge über meine Arbeit halten sollte. Harvard würde meine Reisekosten bezahlen, meine Unterkunft und meine Lebens-haltungskosten. Das einzige, was Harvard mir nicht geben konnte, war ein sowjetisches Ausreisevisum. Zum Glück und zu meiner großen Überraschung erhielt ich es innerhalb eines Monats.

Arthur Jaffe hatte in seinem Brief geschrieben, dass ich schon Ende August kommen und bis Ende Januar bleiben könnte. Ich entschloss mich jedoch, nur drei Monate zu bleiben, also die Mindestzeit, die in dem Schreiben an-gegeben war. Weshalb? Nun, ich hatte keine Absichten, in die Vereinigten Staaten zu emigrieren und wollte in jedem Fall zurückkommen. Außerdem hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich mich von meiner Stelle am Ke-rosinka, für die Jakow Issajewitsch sich so sehr eingesetzt hatte, beurlauben lassen musste.

Nachdem ich mein Ausreisevisum erhalten hatte, wurde mir bewusst, dass meine Reise Wirklichkeit wurde. Ich musste mit Jakow Issajewitsch ins Reine kommen und ihm über meine „Freizeitaktivitäten“ berichten: meine mathe-matische Arbeit mit Feigin und die Einladung nach Harvard. Natürlich war er sehr überrascht. Er war sich sicher, dass ich meine gesamte Energie den medizinischen Projekten widmete, an denen ich mit ihm zusammenarbeitete. Seine erste Reaktion war ziemlich negativ.

„Und wer arbeitet in meinem Labor, wenn du nach Harvard gehst?“ fragte er.

An diesem Punkt kam mir Jakow Issajewitschs Frau, Tamara Aleksejewna, die mich immer sehr warmherzig in ihrem Haus empfangen hatte, zur Hilfe:

„Jascha, du redest Unsinn“, meinte sie. „Der Junge hat eine Einladung nach Harvard. Das ist doch toll! Er soll in jedem Fall gehen, und wenn er zurück-kommt, wird er wieder mit dir arbeiten.“

Eher widerwillig stimmte Jakow Issajewitsch zu.Die Sommermonate gingen schnell vorbei, und der Tag meiner Abreise, der

15. September 1989, kam. Ich flog von Moskau zum JFK-Flughafen in New York und von dort weiter nach Boston. Jaffe konnte mich nicht persönlich am Flughafen abholen, schickte aber einen Doktoranden. Er brachte mich zu meinem Apartment, eine Dreizimmerwohnung, die von der mathemati-

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schen Fakultät für mich und einen weiteren Harvard Prize Fellow angemie-tet worden war. Mein Mitbewohner, Nikolai Reschetichin, reiste einige Tage später an. Das Apartment war Teil eines Apartmentkomplexes im botanischen Garten; es gehörte Harvard und war weniger als zehn Minuten Gehzeit vom Harvard Yard entfernt. Für mich war alles fremd und aufregend.

Als ich in mein Apartment kam, war es spät in der Nacht. Die Zeitverschie-bung machte mir zu schaffen, und ich schlief sehr schnell ein. Am nächsten Morgen ging ich zu einem Bauernmarkt in der Nähe und kaufte einige Sa-chen. Zuhause machte ich mir einen Salat und bemerkte, dass ich kein Salz hatte, also musste ich den Salat ungesalzen essen.

Kaum war ich fertig, klingelte es an der Tür. Es war Arthur Jaffe. Er schlug vor, mir in seinem Auto kurz die Stadt zu zeigen. Das war schon toll – ein ein-undzwanzigjähriger Junge wird von dem Leiter der Mathematischen Fakultät in Harvard durch die Stadt kutschiert. Ich sah Harvard Yard, den Charles River, wunderbare Kirchen und die Wolkenkratzer im Zentrum von Boston. Das Wetter war herrlich, und ich war von der Stadt sehr beeindruckt.

Auf unserem Rückweg nach einer rund zweistündigen Fahrt erzählte ich Arthur, dass ich noch etwas Salz brauchte. „Kein Problem, ich bringe dich zu einem Supermarkt.“

Er brachte mich zum Star Market am Porter Square und meinte, er würde in seinem Auto auf mich warten.

Ich war zum ersten Mal in einem Supermarkt, und es war eine berau-schende Erfahrung. Zu jener Zeit gab es eine Nahrungsmittelknappheit in Russland. In meiner Heimatstadt Kolomna konnte man nur Brot, Milch und etwas Gemüse, z. B. Kartoffeln, kaufen. Wollte man andere Nahrungsmittel, musste man nach Moskau reisen, und selbst in Moskau gab es kaum mehr als minderwertige Mortadellawürste und Käse. Jedes Wochenende, wenn ich von Moskau nach Hause fuhr, nahm ich etwas Essen für meine Eltern mit. Die unzähligen Regale mit allen möglichen Nahrungsmitteln hier im Supermarkt waren für mich unglaublich.

„Wie kann man hier jemals etwas finden?“, dachte ich. Ich ging die Gänge entlang und suchte nach Salz, konnte aber keines finden. Ich glaube, mir war schwindelig von dieser Fülle an Sachen im Supermarkt; jedenfalls sah ich noch nicht einmal die Beschriftungen über den Regalen. Ich fragte jemanden: „Wo ist Salz?“, konnte jedoch kein Wort verstehen. Mein Englisch war zwar gut genug für eine Mathematikvorlesung, doch ich hatte keinerlei Erfahrung mit der Umgangssprache. Der breite Bostoner Dialekt machte es nicht leich-ter die Leute zu verstehen.

Eine halbe Stunde war vergangen und ich verzweifelte langsam – verloren im Star Market wie in einem riesigen Labyrinth. Schließlich entdeckte ich ein Packet Salz vermischt mit Knoblauch. „Besser als nichts“, dachte ich, „nur

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raus hier.“ Ich bezahlte und verließ den Laden. Der arme Arthur hatte sich schon Sorgen gemacht und nach mir Ausschau gehalten – Was macht dieser Junge dort fünfundvierzig Minuten lang?

„Verloren im Überfluss des Kapitalismus“, dachte ich nur.Meine Umstellung auf Amerika hatte begonnen.Die anderen beiden Empfänger des Harvard Prize Fellowship, die zum

Herbstsemester kamen, waren Nikolai Reschetichin, mit dem ich meine Wohnung teilte (er kam eine Woche später an), und Boris Tsygan.* Beide waren rund zehn Jahre älter als ich und hatten bereits bedeutende Beiträge zur Mathematik geleistet. Ich kannte ihre Arbeiten, doch ich hatte sie noch nie vorher getroffen. Während dieses ersten Semesters lernten wir uns näher kennen und wurden Freunde fürs Leben.

Nikolai, oder Kolja, wie er liebevoll von vielen Freunden genannt wird, stammt aus St. Petersburg. Er war bereits ziemlich berühmt als einer der Er-finder der sogenannten Quantengruppen, das sind Verallgemeinerungen der gewöhnlichen Gruppen. Genauer sind Quantengruppen bestimmte Defor-mationen von Lie-Gruppen – den mathematischen Objekten, von denen wir schon gesprochen hatten. Mittlerweile sind Quantengruppen in vielen Ge-bieten der Mathematik und Physik ähnlich verbreitet wie Lie-Gruppen. Zum Beispiel hatten Kolja und ein weiterer Mathematiker, Wladimir Turajew, mithilfe der Quantengruppen Invarianten für Knoten und dreidimensionale Mannigfaltigkeiten konstruiert.

Borja Tsygan, ebenfalls ein Empfänger des Harvard Prize Fellowship, hatte viele Jahre mit meinem Lehrer Boris Feigin zusammengearbeitet. Ursprüng-lich stammt er aus Kiew in der Ukraine. Kurz nach seiner Zeit an der Univer-sität hatte Tsygan eine wichtige Idee, die schließlich zu einem Durchbruch auf dem Gebiet der „nicht kommutativen Geometrie“ führte. Wie viele andere jüdische Mathematiker durfte er nicht promovieren, und so musste er nach seinem Universitätsabschluss in Kiew in einer Schwermaschinenfabrik arbei-ten. Den ganzen Tag hatte er lärmende Maschinen um sich, doch in dieser alles andere als idealen Umgebung hatte er seine Entdeckung gemacht.

Viele Leute meinen, als Mathematiker arbeite man immer unter idealen Bedingungen, entweder den Blick auf einen Computerbildschirm gerichtet oder an die Decke eines sauberen Büros. Häufig hat man jedoch die besten Ideen, wenn man es am wenigsten erwartet, vielleicht sogar in einer lärmen-den Umgebung.

Oft spazierte ich im Harvard Yard und betrachtete die altehrwürdige Archi-tektur der Ziegelfassaden oder die Statue von John Harvard oder die Türme

* Vera Serganowa war die vierte Empfängerin des Harvard Prize Fellowships, doch sie kam erst im Früh-ling.

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alter Kirchen, und in solchen Momenten spürte ich unwillkürlich die beson-dere Exklusivität dieses Orts, seine lange Tradition im Streben nach Erkennt-nis und die nie endende Faszination, die von Entdeckungen ausging.

Das mathematische Institut von Harvard befand sich im Science Center, einem modernen Gebäude etwas außerhalb von Harvard Yard. Es sah aus wie ein riesiges Raumschiff, das gerade eben in Cambridge, Massachusetts, gelan-det war und sich entschlossen hatte, auch dort zu bleiben. Die Mathematik war über drei Stockwerke in diesem Gebäude verteilt. Zwischen den Büros befanden sich Räume zur allgemeinen Verfügung, ausgestattet mit Kaffeema-schinen und bequemen Sofas. Es gab auch eine gut konzipierte mathemati-sche Bibliothek und sogar eine Tischtennisplatte. Das alles schaffte eine hei-melige Atmosphäre, und selbst mitten in der Nacht traf man Leute an, jung und alt – manche arbeiteten, andere lasen in der Bibliothek oder liefen nervös die Korridore auf und ab, wieder andere waren in lebhafte Gespräche vertieft und einige lagen auch auf ihren Sofas und dösten vor sich hin… Man hatte das Gefühl, diesen Platz nie verlassen zu müssen (und es hatte den Anschein, als ob manche Leute das auch nie taten).

Im Vergleich zu anderen Instituten war das Gebäude ziemlich klein: Die Fakultät bestand lediglich aus fünfzehn ständigen Professoren und rund zehn Postdocs mit Dreijahresverträgen für die Lehre. Als ich kam, waren einige der größten Mathematiker der Gegenwart an der Fakultät, wie Joseph Bernstein, Raoul Bott, Dick Gross, Heisuke Hironaka, David Kazhdan, Barry Mazur, John Tate und Shing-Tung Yau. Sie zu treffen und von ihnen zu lernen war eine einmalige Gelegenheit. Gerne denke ich zurück an den charismatischen Raoul Bott, einen grauhaarigen freundlichen Riesen, damals Ende sechzig, wie er mich im Flur zur Seite nimmt und in seiner dröhnenden Stimme fragt: „Wie geht’s, junger Mann?“

Außerdem gab es noch rund dreißig Doktoranden, die auf dem mittleren Stockwerk kleine Arbeitskabinen hatten.

Die drei Russen – Kolja, Borja und ich – wurden von allen herzlich be-grüßt. In den folgenden Jahren begann eine Flut russischer Wissenschaftler amerikanische Universitäten zu stürmen, doch damals waren Besucher aus der Sowjetunion noch recht ungewöhnlich. Trotzdem fühlte ich mich nach ungefähr einer Woche vollkommen zu Hause. Alles schien mir natürlich und toll. Ich kaufte mir ein Paar modische Jeans und einen Walkman (das war 1989!), lief mit Kopfhörern durch die Stadt und hörte abgefahrene Musik. Wer mich nicht kannte, hielt mich vermutlich für einen typischen einund-zwanzigjährigen Studenten. Mein gesprochenes Englisch ließ allerdings noch zu wünschen übrig. Daher kaufte mich mir jeden Tag The New York Times und las sie mindestens eine Stunde lang mit einem Lexikon in der Hand (und lernte dabei, wie ich später erfuhr, einige der obskursten englischen Wörter,

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die man finden konnte). Außerdem wurde ich süchtig nach amerikanischem Late-Night-Fernsehen.

Die Show von David Letterman (die damals um 0:35 auf NBC begann) war meine Lieblingssendung. Als ich sie zum ersten Mal sah, verstand ich kein einziges Wort. Doch irgendwie war mir klar, das ist meine Show, und dass ich sie richtig gut finden würde, sobald ich nur verstehen würde, was der Moderator erzählt. Sie wurde für mich also zu einer zusätzlichen Motivation. Mit verbissener Hartnäckigkeit schaute ich mir die Show jede Nacht an und begann nach und nach die Witze, den Zusammenhang und die Hintergründe zu verstehen. Auf diese Weise erschloss sich mir die amerikanische Popkultur und ich verschlang alles. In manchen Nächten, wenn ich früh zu Bett musste, nahm ich die Show auf und schaute sie dann am Morgen während des Früh-stücks. Die Letterman-Show wurde für mich wie ein religiöses Ritual.

Obwohl wir Stipendiaten keine formalen Verpflichtungen hatten, kamen wir jeden Tag ins Institut und arbeiteten an unseren Projekten, sprachen mit Leuten und besuchten Seminare, von denen es recht viele gab. Die beiden Professoren, mit denen ich am häufigsten sprach, waren die beiden russischen Exilanten Joseph Bernstein und David Kazhdan. Beide sind erstaunliche Ma-thematiker, ehemalige Studenten von Gelfand und eng befreundet; doch man kann sich kaum zwei unterschiedlichere Persönlichkeiten vorstellen.

Joseph ist ruhig und bescheiden. Wenn man ihm eine Frage stellt, hört er aufmerksam zu, nimmt sich viel Zeit und sagt dann häufig, dass er die Ant-wort nicht kennte, erzählt dann aber, was er von der Sache hält. Dabei sind seine Erklärungen kristallklar und fundiert, und häufig erläutert er sogar die Antwort, von der er behauptete, sie nicht zu kennen. Er gibt einem immer das Gefühl, dass man kein Genie sein muss, um diese Dinge zu verstehen – für einen aufstrebenden jungen Mathematiker ein großartiges Gefühl.

David auf der anderen Seite ist ein Energiebündel – außerordentlich scharf-sinnig, originell und schnell. Er besitzt ein fast enzyklopädisches Wissen, ist etwas extravagant und zeigt gelegentlich auch deutliche Ungeduld; hierin äh-nelt er seinem Lehrer Gelfand. Wenn er bei Seminaren den Eindruck hatte, dass der Vortragende die Sache nicht gut erklärte, stand er einfach auf, ging an die Tafel, nahm dem Sprecher die Kreide aus der Hand und übernahm den Vortrag. Das zumindest war seine Reaktion, wenn er ein Thema interessant fand. Andernfalls konnte er auch schon mal einnicken. Es passierte nur selten, dass er auf eine Frage mit „das weiß ich nicht“ antwortete. Er weiß so ziemlich alles. Im Verlauf der Jahre habe ich viele Stunden mit ihm verbracht und da-bei eine Menge gelernt. Später haben wir sogar bei einem Projekt zusammen-gearbeitet, was für mich eine sehr bereichernde Erfahrung war.

Während meiner zweiten Woche in Harvard hatte ich eine weitere schick-salshafte Begegnung. Neben Harvard gibt es in Cambridge noch ein zwei-

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tes Institut, das üblicherweise unter der Abkürzung seines Namens bekannt ist – das berühmte MIT (Massachusetts Institute of Technology). Zwischen Harvard und dem MIT gab es schon immer eine gewisse Rivalität, doch in Wirklichkeit sind die beiden mathematischen Institute eng miteinander ver-bunden. Es ist nicht unüblich, dass beispielsweise ein Student von Harvard einen Professor vom MIT als Betreuer hat oder umgekehrt. Die Studenten beider Institute hören oft Vorlesungen an der jeweils anderen.

Sascha Beilinson, Borja Feigins Freund und Mitautor, war Professor am MIT, und ich besuchte seine Vorlesungen. Bei der ersten Vorlesung deutete jemand auf einen sympathischen jungen Mann Mitte Vierzig, der einige Rei-hen entfernt von mir saß. „Das ist Victor Kac.“ Puh! Das war also der Schöp-fer der Kac-Moody-Algebren sowie vieler anderer Dinge, dessen Arbeiten ich seit mehreren Jahren studiert hatte.

Nach der Vorlesung wurden wir einander vorgestellt. Victor begrüßte mich herzlich und sagte, er würde gerne mehr über meine Arbeit erfahren. Natür-lich war ich begeistert, als er mich einlud, in seinem Seminar vorzutragen. Schließlich hielt ich an drei aufeinanderfolgenden Freitagen jeweils einen Vortrag in seinem Seminar. Es waren meine ersten Vorträge auf Englisch, und ich glaube, sie waren ganz gut: Es gab viele Zuhörer und die Leute schienen interessiert und stellten viele Fragen.

Victor nahm mich unter seine Fittiche. Wir trafen uns häufig in seinem geräumigen Büro am MIT, unterhielten uns über Mathematik, und oft lud er mich zu sich nach Hause zum Abendessen ein. In der Folgezeit arbeiteten wir an mehreren Projekten zusammen.

Ungefähr einen Monat nach meiner Ankunft kam auch Borja Feigin nach Cambridge. Sascha Beilinson hatte ihm eine Einladung für zwei Monate ans MIT geschickt. Ich freute mich, dass Borja nach Cambridge kam: Er war mein Lehrer, und wir standen uns sehr nahe. Außerdem hatten wir noch eini-ge offene Matheprojekte, und hier bot sich eine großartige Gelegenheit, mit ihm daran zu arbeiten. Mir war zunächst nicht bewusst, dass sein Besuch auch eine große Unruhe in mein Leben bringen sollte.

Unter den Mathematikern von Moskau hatte sich schnell herumgespro-chen, dass die Tür zum Westen offen stand und Mathematiker frei in die Vereinigten Staaten und andere Länder reisen und dort Institute besuchen konnten. Viele Leute entschlossen sich, diese Gelegenheit zu nutzen und nach Amerika zu emigrieren. Sie schickten Bewerbungsschreiben an verschiedene Universitäten und riefen auf der Suche nach Stellen ihre Kollegen in den Ver-einigten Staaten an. Da niemand wusste, wie lange diese Politik der „Offen-heit“ anhalten würde (die meisten befürchteten, dass die Grenzen nach ein paar Monaten wieder dicht sein würden), führte das in Moskau zu einer Art

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Rausch – alle Gespräche drehten sich um dieselbe Frage: „Wie kommt man am besten raus?“

Und wie hätte es anders sein sollen? Die meisten Mathematiker in der So-wjetunion mussten sich gegen Antisemitismus und andere Hindernisse weh-ren. Sie fanden keine Arbeit in akademischen Berufen und konnten sich nur nebenher mit Mathematik beschäftigen. Und obwohl es sehr viele Mathema-tiker in der Sowjetunion gab, waren sie vom Rest der Welt doch ziemlich ab-geschnitten. Im Westen gab es großartige berufliche Möglichkeiten, die es in der Sowjetunion einfach nicht gab. Wie konnte man erwarten, dass sich diese Leute nun einem Land gegenüber loyal zeigten, das sie abgewiesen und davon abgehalten hatte, auf dem Gebiet ihrer Wahl und Leidenschaft zu arbeiten, wenn sich nun die Möglichkeiten für ein besseres Leben im Ausland anboten?

Als Borja Feigin in die Vereinigten Staaten kam, sah er sofort die Gefahr, dass ein Großteil der russischen Intelligenz abwandern würde und niemand diese Bewegung aufhalten könnte. In Russland lag die Wirtschaft am Boden, überall gab es Nahrungsmittelknappheit, und die politische Lage wurde im-mer unsicherer. In Amerika war der Lebensstandard wesentlich höher, es gab Überfluss an allem und für die Akademiker schien das Leben recht angenehm. Der Unterschied war riesig. Wie konnte irgendjemand in die Sowjetunion zurückkehren, nachdem er dieses Leben aus erster Hand erfahren hatte? Der Exodus der überwiegenden Mehrheit der herausragenden Mathematiker aus Russland – bzw. aller, die eine Stelle fanden – schien unausweichlich. Und es würde sehr rasch passieren.

Trotzdem hatte Borja sich entschlossen, nach Moskau zurückzukehren, ungeachtet der Tatsache, dass er sein ganzes Leben den Antisemitismus zu spüren bekommen hatte und sich auch keine Illusionen über die Lage in der Sowjetunion machte. Er war an der Universität von Moskau als Student an-genommen worden (er hatte sich 1969 beworben, damals waren dort immer noch einige jüdische Studenten aufgenommen worden), doch er durfte dort kein Graduiertenprogramm besuchen. Um promovieren zu können, muss-te er sich an der Universität von Jaroslawl, einer Stadt in der Provinz rund 300 km nordöstlich von Moskau, einschreiben. Anschließend hatte er große Schwierigkeiten, Arbeit zu finden, bis er schließlich eine Stelle am Institut für Festkörperphysik erhielt. Und doch empfand Borja diese Welle der Aus-wanderung als bestürzend. Er hielt es für moralisch falsch, Russland in dieser Zeit der großen Umwälzungen en masse zu verlassen wie Ratten das sinkende Schiff.

Borja war äußerst traurig, dass es die große Moskauer Schule der Mathema-tik bald nicht mehr geben würde. Die eng verbundene Gemeinschaft der Ma-thematiker, in der er viele Jahre lang gelebt hatte, verflüchtigte sich vor seinen Augen. Er wusste, dass er über kurz oder lang nahezu alleine in Moskau sein

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würde – seiner größten Leidenschaft im Leben beraubt: mit Freunden und Kollegen zusammen Mathematik betreiben zu können.

Natürlich wurde dies zum Hauptthema unserer Gespräche. Borja wollte mich davon überzeugen, zurückzukehren und nicht der Versuchung zu erlie-gen, in den Westen zu fliehen und mich der Massenhysterie, wie er es nannte, anzuschließen. Er machte sich auch Sorgen, dass ich in der amerikanischen „Konsumgesellschaft“ kein guter Mathematiker würde, denn seiner Meinung nach würde dieses Umfeld die Motivation und die Leistungsbereitschaft ab-töten.

„Schau“, meinte er zu mir, „du bist begabt, aber deine Begabung muss sich noch weiter entwickeln. Du musst hart arbeiten, wie du es in Moskau getan hast. Nur dann kannst du deine Fähigkeiten ausbauen. Hier in Amerika ist das unmöglich. Es gibt zu viele Ablenkungen und Versuchungen. Das Leben hier dreht sich nur um Spaß, Vergnügen und sofortige Bedürfnisbefriedigung. Wie kann man sich hier auf seine Arbeit konzentrieren?“

So ganz konnten mich seine Argumente nicht überzeugen. Ich wusste, dass ich unbedingt Mathematik machen wollte und sehr motiviert war. Doch ich war erst einundzwanzig und Borja war fünfzehn Jahre älter und mein Mentor. Ich hatte ihm alles zu verdanken, was ich bisher als Mathematiker erreicht hatte. Seine Worte brachten mich ins Grübeln – und wenn er doch Recht hatte?

Die Einladung nach Harvard war ein Wendepunkt in meinem Leben. Fünf Jahre zuvor war ich durch die Aufnahmeprüfung an der MGU gefallen, und damals hatte es den Anschein, als ob mein Traum, Mathematiker zu werden, unwiderruflich zunichte gemacht worden wäre. Mein Besuch in Harvard war eine Belohnung für all die harte Arbeit, die ich in Moskau während der ver-gangenen fünf Jahre geleistet hatte. Doch ich wollte nicht stehen bleiben, ich wollte neue Entdeckungen machen und als Mathematiker so gut werden wie möglich. Für mich war die Einladung nach Harvard nur eine Station auf einer langen Reise. Es war ein großer Schritt: Arthur Jaffe und andere glaubten an mich und gaben mir diese Möglichkeit. Ich konnte sie nicht enttäuschen.

In Cambridge hatte ich das Glück, von fantastischen Mathematikern wie Victor Kac unterstützt zu werden, die mich in meiner Meinung sehr bestärk-ten und mir auf jede erdenkliche Weise halfen. Ich spürte jedoch auch einen gewissen Neid von einigen Kollegen: Weshalb hat dieser Kerl so früh eine sol-che Chance bekommen? Womit hat er das verdient? Ich hatte das Bedürfnis, die in mich gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Ich wollte allen beweisen, dass meine ersten mathematischen Arbeiten kein Zufall waren und dass ich in der Mathematik noch bessere und größere Dinge leisten könnte.

Die Mathematiker bilden eine kleine Gemeinschaft, und wie alle anderen Menschen auch, lästern sie schon mal gerne über andere. Während meiner

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kurzen Zeit in Harvard hatte ich bereits viele Geschichten von Wunderkin-dern gehört, die dann früh ausgebrannt waren. Da hieß es leicht: „Erinnerst du dich noch an den und den? Seine ersten Arbeiten waren so toll. Doch in den letzten drei Jahren hat er kaum noch etwas Vergleichbares gemacht. Es ist eine Schande!“

Ich hatte Angst, dass man in drei Jahren über mich so reden könnte, also fühlte ich mich ständig unter Druck, weiterzumachen und Erfolg zu haben.

In der Zwischenzeit wurde die wirtschaftliche Lage in der Sowjetunion im-mer schlechter und die Aussichten waren ungewiss. Meine Eltern erlebten dies am eigenen Leibe und waren davon überzeugt, dass ich in der Sowjet-union keine Zukunft hätte. Also riefen sie mich in regelmäßigen Abständen an und drängten mich, nicht zurückzukommen. In jenen Tagen war es ziem-lich schwierig (und teuer) aus der Sowjetunion in die Vereinigten Staaten zu telefonieren. Meine Eltern hatten auch Sorge, dass ihr Telefon zu Hause abgehört würde, und so reisten sie nach Moskau zur Hauptpost und telefo-nierten von dort. Eine solche Reise kostete sie fast einen ganzen Tag. Aber sie waren entschlossen, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um mich davon zu überzeugen, in Amerika zu bleiben, obwohl sie mich schmerzlich vermissten. Sie waren davon überzeugt, dass dies nur zu meinem Besten wäre.

Auch Borja wollte nur mein Bestes, doch seine Grundhaltung fußte auf moralischen Überlegungen. Er schwamm gegen den Strom und dafür bewun-derte ich ihn. Doch ich musste auch zugeben, dass er es sich leisten konnte, denn er befand sich in Moskau in einer vergleichsweise angenehmen Lage (obwohl sich das nicht viel später ändern sollte und auch er gezwungen war, mehrere Monate im Jahr außer Landes zu verbringen – meist in Japan –, um seine Familie ernähren zu können). Meine Lage war eine vollkommen an-dere: Ich hatte in Moskau keine Bleibe und auch nur eine zeitlich begrenzte Propiska – eine Aufenthaltsgenehmigung. Jakow Issajewitsch hatte mir zwar eine befristete Stelle als Assistent am Kerosinka besorgt, doch das Einkom-men war mager und reichte kaum für eine Mietwohnung in Moskau. Wegen des Antisemitismus würde ich auch wieder Schwierigkeiten haben, irgendwo promovieren zu können, und die zukünftigen Aussichten auf eine Stelle sahen sogar noch düsterer aus.

Ende November rief mich Arthur Jaffe in sein Büro und bot mir an, meinen Aufenthalt in Harvard bis Ende Mai zu verlängern. Ich musste eine Entschei-dung fällen und zwar rasch, doch ich war hin- und hergerissen. Ich genoss mein Leben in Boston und hatte das Gefühl, hier hinzugehören. Mit Harvard und dem MIT war Cambridge eines der weltweit führenden Zentren der Ma-thematik. Hier waren einige der weltbesten Köpfe und ich brauchte nur an ihre Türen zu klopfen und konnte sie fragen und von ihnen lernen. Es gab auch unzählige Seminare, in denen so ziemlich über alle wichtigen aktuellen

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Entdeckungen berichtet wurde, kurz nachdem sie gemacht wurden. Und um mich herum waren die besten Studenten. Dieser Platz war die anregendste Umgebung, die man sich als junger aufstrebender Mathematiker vorstellen konnte. Moskau war einmal ein solcher Ort gewesen, aber das war lange her.

Es war für mich das erste Mal, so lange Zeit von zu Hause fort zu sein. Ich vermisste meine Familie und meine Freunde. Und mein Lehrer Borja, der mir in Cambridge am nächsten stand, beharrte darauf, dass ich wie geplant im Dezember zurückkehren sollte.

Jeden Morgen wachte ich schweißgebadet auf und dachte: „Was soll ich bloß tun?“ Im Nachhinein erscheint die Entscheidung vollkommen eindeu-tig. Doch nachdem so viele Einflüsse gleichzeitig auf mich einwirkten, fiel sie mir alles andere als leicht. Nach einigen qualvollen Überlegungen entschied ich mich schließlich, dem Rat meiner Eltern zu folgen und zu bleiben. Ich unterrichtete Jaffe von meiner Entscheidung. Meine Freunde Reschetichin und Tsygan machten dasselbe. Borja war sehr unglücklich darüber, und ich hatte das Gefühl, ihn enttäuscht zu haben. Es war ein Augenblick der Trauer und großer Verunsicherung, als ich ihn am Logan Flughafen Mitte Dezember verabschiedete und er nach Moskau zurückflog. Wir wusste beide nicht, was die Zukunft bringen würde; wir wussten noch nicht einmal, ob wir uns in naher Zeit wiedersehen würden. Ich hatte seinen Ratschlag missachtet, und ich hatte immer noch Angst, dass sich seine Befürchtungen als wahr erweisen würden.

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Im Verlauf des Sommersemesters kamen mehr Besucher nach Harvard. Unter ihnen war auch Wladimir Drinfeld, der meinem mathematischen Forschungs-gebiet und in mehrfacher Hinsicht auch meiner mathematischen Laufbahn eine neue Richtung gab. Und all dies nur wegen dem Langlands-Programm.

Ich hatte von Drinfeld schon zuvor gehört. Damals war er erst sechsund-dreißig Jahre alt, aber schon eine Legende. Sechs Monate nachdem wir uns getroffen hatten, erhielt er die Fields Medaille, eine der höchsten Auszeich-nungen in der Mathematik und durchaus vergleichbar mit dem Nobelpreis.

Drinfeld hatte seinen ersten Artikel mit siebzehn veröffentlicht, und bereits mit zwanzig hatte er im Rahmen des Langlands-Programms neue Horizonte eröffnet. Ursprünglich stammt er aus Charkow in der Ukraine, wo sein Vater schon ein bekannter Mathematikprofessor war. Drinfeld studierte Anfang der 1970er an der Universität von Moskau. (Zu dieser Zeit hatten Juden schon große Probleme, an der MGU aufgenommen zu werden, doch ein kleiner Prozentsatz von jüdischen Studenten wurde angenommen.) Als er seinen Stu-dienabschluss an der MGU erhielt, war er bereits für seine Arbeiten welt-bekannt, und so wurde er zum Promotionsprogramm angenommen, was für einen jüdischen Studenten außergewöhnlich war. Sein Betreuer war Juri Iwa-nowitsch Manin, einer der originellsten und einflussreichsten Mathematiker.

Doch selbst Drinfeld konnte dem Antisemitismus nicht vollständig entge-hen. Nach seiner Promotion erhielt er keine Stelle in Moskau und musste drei Jahre an einer Provinzuniversität in Ufa verbringen, einer Industriestadt im Ural. Die dortigen Mathematiker arbeiteten hauptsächlich über „Integrable Systeme“, was nicht viel mit seinen Interessen zu tun hatte. Trotzdem schrieb er während seiner Zeit in Ufa zusammen mit dem Mathematiker Wladimir Sokolov einen wichtigen Artikel über integrable Systeme, und heute bezeich-net man sie als Drinfeld-Sokolov-Systeme. Nach drei Jahren in Ufa erhielt Drinfeld schließlich eine Stelle in seiner Heimatstadt am Charkow Institut für Tieftemperaturphysik. Die Arbeit dort war vergleichsweise angenehm und er war nahe bei seiner Familie. Doch in Charkow war Drinfeld ziemlich iso-

E. Frenkel, Liebe und Mathematik, DOI 10.1007/978-3-662-43421-5_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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liert von der Gemeinschaft der sowjetischen Mathematiker, die hauptsächlich in Moskau und in etwas geringerer Anzahl in St. Petersburg waren.

Trotz seiner Isolation gelangen Drinfeld bewundernswerte Ergebnisse auf verschiedenen Gebieten der Mathematik und Physik. Neben dem Beweis wichtiger Vermutungen im Rahmen des Langlands-Programms und einem neuen Kapitel in der Theorie integrabler Systeme mit Sokolov entwickelte er auch eine allgemeine Theorie der Quantengruppen (die ursprünglich von Kolja Reschetichin und seinen Mitautoren gefunden worden waren). Die Breite seiner Beiträge war erstaunlich.

Es wurde versucht, Drinfeld eine Stelle in Moskau zu verschaffen. Wie ich hörte, wollte beispielsweise der Physiker Alexander Belawin Drinfeld ans Landau Institut für theoretische Physik in der Nähe von Moskau holen. Um die Erfolgschancen zu erhöhen, lösten die beiden zusammen ein wichtiges Problem bei der Klassifikation der Lösungen der „klassischen Yang-Baxter-Gleichung“, die für viele Physiker von großer Bedeutung war. Ihr Artikel wur-de in Gelfands Zeitschrift Functional Analysis and Applications veröffentlicht und löste große Begeisterung aus. (Ich glaube, es war der längste Artikel, der jemals in Gelfands Zeitschrift veröffentlich wurde, was viel über seine Bedeu-tung aussagt.) Über diese Arbeit kam Drinfeld zur Theorie der Quantengrup-pen, die viele Bereiche der Mathematik beeinflusst haben. Der Antisemitis-mus und die fehlende Propiska für Moskau waren für Drinfeld eine tödliche Kombination, und so blieb er in Charkiw und besuchte Moskau nur selten.

Drinfeld wurde für das Frühjahr 1990 nach Harvard eingeladen, und er kam Ende Januar. Für mich war das ein reiner Glücksfall. Ich hatte viel über ihn gehört und war daher zunächst etwas verschüchtert, doch er war außeror-dentlich nett und liebenswürdig. Drinfeld sprach mit leiser Stimme, bedachte jedoch seine Worte sehr sorgfältig und war ein Vorbild an Klarheit, wenn er über Mathematik sprach. Wenn er jemandem etwas erklärte, tat er das nie in einer selbstherrlichen Weise, als ob er ein großes Geheimnis lüftete, das man ohne ihn nie hätte verstehen können (was leider bei anderen Kollegen, die ich jetzt nicht nennen möchte, durchaus der Fall ist). Im Gegenteil, er konnte die Dinge immer auf die einfachste und klarste Weise darstellen, sodass man nachher den Eindruck hatte, im Grunde genommen schon alles gewusst zu haben (Abb. 14.1).

Wichtiger war aber, dass Drinfeld mir sofort sagte, er sei an meiner Arbeit mit Feigin interessiert, und er wolle sie für ein neues Projekt im Zusammen-hang mit dem Langlands-Programm nutzen.

Erinnern wir uns an André Weils Rosetta-Stein aus Kap. 9:

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Zahlentheorie Kurven über endlichen Körpern

Riemann’sche Flächen

Das Langlands-Programm wurde ursprünglich für die linke und die mittlere Spalte entwickelt: Zahlentheorie und Kurven über endlichen Körpern. Die Idee war, eine Beziehung zwischen den Darstellungen einer Galois-Gruppe und automorphen Funktionen herzustellen. Das Konzept der Galois-Gruppe ist für die linke und die mittlere Spalte des Rosetta-Steins sinnvoll, und es gibt auch geeignete automorphe Funktionen in einem anderen Bereich der Mathematik, nämlich der harmonischen Analyse.

Vor Drinfelds Arbeiten war jedoch nicht bekannt, ob es auch ein Gegen-stück zum Langlands-Programm für die rechte Spalte gibt, die Theorie der Riemann’schen Flächen. Die mathematischen Mittel, Riemann’sche Flächen mit einzubeziehen, wurden erst zu Beginn der 1980er aus den Arbeiten von Drinfeld entwickelt, sowie aus den späteren Beiträgen des französischen Ma-thematikers Gérard Laumon. Sie erkannten, dass es eine geometrische Um-formulierung des Langlands-Programms gibt, die sowohl für die mittlere als auch die rechte Spalte in André Weils Rosetta-Stein sinnvoll ist.

Für die linke und die mittlere Spalte des Rosetta-Steins liefert das Lang-lands-Programm die Beziehung zwischen den Galois-Gruppen und den auto-morphen Funktionen. Die Frage war daher, was die Gegenstücke zu den Galois-Gruppen und den automorphen Funktionen in der geometrischen Theorie der Riemann’schen Flächen sein sollten. Bereits in Kap. 9 hatten wir gesehen, dass die Rolle der Galois-Gruppen in der geometrischen Theorie von der Fundamentalgruppe einer Riemann’schen Fläche übernommen werden

Abb. 14.1 Wladimir Drinfeld. © Wladimir Drinfeld

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kann. Bisher habe ich jedoch noch nichts zu den geometrischen Analoga der automorphen Funktionen gesagt.

Es zeigt sich, dass die richtigen geometrischen Entsprechungen keine Funk-tionen sind, sondern sogenannte Garben.

Um erklären zu können, um was es sich dabei handelt, betrachten wir zunächst einfache Zahlen. Es gibt die natürlichen Zahlen: 1, 2, 3, … und natürlich haben sie viele Anwendungen. Unter anderem können sie die Di-mensionen bezeichnen. Wie wir in Kap. 10 gesehen haben, ist eine Gerade eindimensional, eine Ebene zweidimensional, und für jede natürliche Zahl n gibt es einen n-dimensionalen flachen Raum, den man auch als Vektorraum bezeichnet.1 Nun stellen wir uns eine Welt vor, in der die natürlichen Zahlen durch Vektorräume ersetzt werden. Das bedeutet, statt der Zahl 1 betrachten wir eine Gerade, statt der Zahl 2 eine Ebene, und so weiter.

Die Addition von Zahlen wird in dieser neuen Welt durch die sogenannte direkte Summe von Vektorräumen ersetzt. Gegeben zwei Vektorräume, jeder mit seinem Koordinatensystem, dann können wir einen neuen Vektorraum erzeugen, der die Koordinaten der zwei Vektorräume vereint, sodass die Di-mension des neuen Vektorraumes gleich der Summe der ursprünglichen Di-mensionen ist. Zum Beispiel hat eine Gerade eine Koordinate und eine Ebene hat zwei. Die Summe dieser beiden ist ein Vektorraum mit drei Koordinaten. Dies ist unser dreidimensionaler Raum.

Die Multiplikation der natürlichen Zahlen wird durch eine andere Ver-knüpfung von Vektorräumen ersetzt: Sind zwei Vektorräume gegeben, so können wir einen dritten konstruieren, den man als das Tensorprodukt der beiden Vektorräume bezeichnet. Ich werde hier das Tensorprodukt nicht im Einzelnen definieren, wichtig ist jedoch, dass das Tensorprodukt zweier Vek-torräume mit den Dimensionen n und m die Dimension m⋅n hat.

Wir haben also für Vektorräume zwei Verknüpfungen definiert, die der Operation der Addition und der Multiplikation bei den natürlichen Zahlen entsprechen. Diese parallele Welt der Vektorräume ist jedoch sehr viel reich-haltiger als die Welt der natürlichen Zahlen! Eine gegebene natürliche Zahl hat keine innere Struktur. Beispielsweise hat die Zahl 3 für sich genommen keinerlei Symmetrien, im Gegensatz zu einem dreidimensionalen Raum. Wir hatten z. B. schon gesehen, dass jedes Element der Lie-Gruppe SO(3) zu einer Drehung des dreidimensionalen Raumes gehört. Die Zahl 3 ist lediglich ein Schatten des dreidimensionalen Raumes und spiegelt nur eine seiner Eigen-schaften wieder – seine Dimension. Den vielen anderen Eigenschaften von Vektorräumen wie z. B. ihren Symmetrien wird diese Zahl nicht gerecht.

In der modernen Mathematik erschaffen wir eine neue Welt, in der Zahlen in Form von Vektorräumen zum Leben erweckt werden. Jede Zahl führt ein reiches und erfülltes persönliches Leben, und auch die Beziehungen zwischen

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ihnen sind vielfältiger und lassen sich nicht auf die reine Addition und Mul-tiplikation zurückführen. Zum Beispiel können wir eine 1 nur auf eine Weise von der 2 subtrahieren. Es gibt jedoch unzählige Möglichkeiten, eine Gerade in eine Ebene einzubetten.

Die natürlichen Zahlen bilden eine Menge, doch Vektorräume bilden eine weitaus komplexere Struktur, die von den Mathematikern Kategorie genannt wird. Eine gegebene Kategorie besitzt „Objekte“, wie zum Beispiel Vektor-räume, zusätzlich gibt es jedoch sogenannte Morphismen von jedem Objekt zu jedem anderen Objekt.2 Beispielsweise sind die Morphismen von einem Objekt zu sich selbst im Wesentlichen seine Symmetrien, die innerhalb dieser Kategorie erlaubt sind. In der Sprache der Kategorien beschränken wir uns daher nicht nur auf die Objekte selbst, sondern beschäftigen uns insbesondere auch mit der Art, wie die verschiedenen Objekte in Beziehung zueinander stehen. Aus diesem Grund erweist sich die mathematische Kategorientheorie als besonders gut geeignet für die Informatik.3 Die Entwicklung funktionaler Programmiersprachen wie Haskell ist nur eines von unzähligen Beispielen für derartige Anwendungen.4 Es scheint unvermeidbar, dass die nächste Ge-neration von Computern mehr auf der Kategorientheorie als auf der Men-gentheorie aufbauen wird, und Kategorien werden auch unser Alltagsleben beeinflussen, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht.

Der Paradigmenwechsel von Mengen zu Kategorien ist auch eine der trei-benden Kräfte in der modernen Mathematik. Man bezeichnet ihn oft als Ka-tegorifizierung. Im Wesentlichen erschaffen wir uns eine neue Welt, in der die vertrauten Objekte auf eine höhere Ebene gehoben werden. Beispielswei-se werden Zahlen durch Vektorräume ersetzt. Die nächste Frage lautet: Was wird in dieser neuen Welt aus den Funktionen?

Betrachten wir nochmals genauer den Begriff einer Funktion. Wir begin-nen mit einer geometrischen Form, z. B. einer Kugeloberfläche, einem Kreis oder der Oberfläche eines Donuts, und wir nennen diesen Raum S. Wie schon erwähnt, bezeichnen die Mathematiker solche geometrischen Formen als Mannigfaltigkeiten. Eine Funktion f auf einer Mannigfaltigkeit S ist eine Vorschrift, die jedem Punkt s in S eine Zahl zuordnet, die man den Wert der Funktion f am Punkt s nennt. Wir schreiben dafür f ( s).

Ein Beispiel für eine solche Funktion ist die Temperatur, wobei unsere Mannigfaltigkeit S einfach der uns vertraute dreidimensionale Raum ist. An jedem Punkt s können wir die Temperatur messen und erhalten eine Zahl. Wir erhalten so eine Vorschrift, die jedem Punkt eine Zahl zuordnet, also eine Funktion. Genauso definiert auch der Luftdruck eine Funktion.

Als etwas abstrakteres Beispiel wählen wir nun für S den Kreis. Jeder Punkt des Kreises lässt sich durch einen Winkel angeben, den wir wie zuvor mit φ bezeichnen. Sei f zum Beispiel die Sinus-Funktion. Dann ist der Wert dieser

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Funktion an dem Punkt des Kreises, der dem Winkel φ entspricht, gerade sin(φ ). Ist φ = 30° (oder π/6, wenn wir Winkel in Radiant – Bogenlängen des Einheitskreises – statt Grad messen), dann ist der Wert der Sinus-Funk-tion gerade 1/2. Ist φ = 60° (oder π/3), ist der Wert 3 2/ , und so weiter.

Nun ersetzen wir Zahlen durch Vektorräume. Eine Funktion wird nun zu einer Vorschrift, die jedem Punkt s in einer Mannigfaltigkeit S statt einer Zahl einen ganzen Vektorraum zuordnet. Eine solche Vorschrift bezeichnet man als Garbe. Bezeichnen wir eine Garbe mit dem Symbol F, dann nennen wir den Vektorraum, der dem Punkt s zugeordnet wird, F ( s).

Der Unterschied zwischen Funktionen und Garben besteht somit in dem Objekt, das wir einem Punkt unserer Mannigfaltigkeit S zuordnen: Für Funk-tionen ordnen wir den Punkten Zahlen zu, und für Garben ordnen wir ih-nen Vektorräume zu. Für eine gegebene Garbe können diese Vektorräume für verschiedene Punkte s unterschiedliche Dimensionen haben. In Abb. 14.2 sind die meisten dieser Vektorräume Ebenen (also zweidimensionale Vektor-räume), doch an einem Punkt ist es eine Gerade (also ein eindimensionaler Vektorraum). Garben sind Kategorifizierungen von Funktionen, ebenso wie Vektorräume Kategorifizierungen von Zahlen sind.

Tatsächlich ist eine Garbe mehr als nur eine unzusammenhängende Ver-einigung von Vektorräumen, die den Punkten unserer Mannigfaltigkeit zuge-ordnet werden. Die Fasern einer gegebenen Garbe an verschiedenen Punkten müssen über ganz bestimmte Regeln miteinander zusammenhängen.5 Einzel-heiten würden jedoch weit über den Rahmen dieses Buches hinausgehen.

Abb. 14.2 Beispiel einer Garbe: Jedem Punkt einer Linie wird ein Vektorraum zuge-ordnet. © Frenkel

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Für uns ist an dieser Stelle nur wichtig, dass es eine tiefere Beziehung zwi-schen Funktionen und Garben gibt, die von dem großen französischen Ma-thematiker Alexander Grothendieck entdeckt wurde.

Der Einfluss von Grothendieck auf die moderne Mathematik ist beispiel-los. Stellt man die Frage, wer in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhun-derts der größte Mathematiker war, werden die meisten Mathematiker ohne Zögern Grothendieck nennen. Er hat nicht nur mehr oder weniger eigen-ständig die moderne algebraische Geometrie geschaffen, sondern er hat auch unsere Vorstellungen von der Mathematik als Ganzes verändert. Das Lexikon zwischen Funktionen und Garben, das wir bei der geometrischen Neuformu-lierung des Langlands-Programms verwenden, ist ein ausgezeichnetes Beispiel für die tiefen Einsichten, die für Grothendiecks Arbeit charakteristisch sind.

Ich möchte Ihnen einen kleinen Eindruck von Grothendiecks Ideen geben und erinnere dazu nochmals an den Begriff des endlichen Körpers aus Kap. 8. Zu jeder Primzahl p gibt es einen endlichen Körper mit p Elementen: {0, 1, 2,…, p − 1}. Wie schon besprochen bilden diese p Elemente ein Zahlensys-tem, für das die Operationen der Addition, Multiplikation, Subtraktion und Division modulo p erklärt sind, und diese erfüllen dieselben Regeln wie die entsprechenden Operationen auf den rationalen und reellen Zahlen.

Diese Zahlensysteme haben jedoch noch eine besondere Eigenschaft. Wenn man irgendein Element des endlichen Körpers {0, 1, 2,…, p − 1} zur p-ten Po-tenz erhebt – im Sinne der behandelten Rechenregeln modulo p – erhält man wieder dieselbe Zahl! Mit anderen Worten:

Diese Gleichung hat Pierre Fermat bewiesen, derselbe Mathematiker, auf den auch der große Fermat’sche Satz zurückgeht. Im Gegensatz zu dem Beweis seines großen Satzes ist der Beweis der obigen Formel recht einfach. Er würde sogar auf den Rand einer Buchseite passen. Ich habe ihn in den Anhang ge-steckt.6 Zur Unterscheidung dieser Beziehung von dem großen Fermat’schen Satz bezeichnet man sie als kleinen Fermat’schen Satz.

Sei beispielsweise p = 5, dann besteht unser endlicher Körper aus den Zah-len {0, 1, 2, 3, 4}. Wir nehmen nun von jeder dieser Zahlen die fünfte Potenz. Natürlich ist eine beliebige Potenz von 0 wieder 0 und eine beliebige Potenz von 1 ist wieder 1 – das überrascht kaum. Betrachten wir nun die fünfte Potenz von 2, das ist die Zahl 32. Doch 32 = 2 + 5⋅6, und das bedeutet modu-lo 5 gleich 2 – wie versprochen erhalten wir also wieder die 2. Nun nehmen wir die fünfte Potenz von 3 und erhalten 243, das ist 3 + 5⋅48, also gleich 3 modulo 5. Wieder erhalten wir die Zahl, von der wir ausgegangen sind. Und schließlich betrachten wir noch 4: die fünfte Potenz ist 1024, was wiederum

a a pp = ⋅modulo

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gleich 4 modulo 5 ist. Bingo! Versuchen Sie mal, die Beziehungen a3 = a mo-dulo 3 und a7 = a modulo 7 zu überprüfen (für größere Primzahlen hilft ein Taschenrechner bei der Überprüfung des kleinen Fermat’schen Satzes).

Bemerkenswert an dieser einfachen Beziehung ist auch, dass eine sehr ähn-liche Gleichung die Grundlage für das RSA-Verschlüsselungssystem bildet, das heute bei Online-Geschäften weitverbreitet ist.7

Die Formel ap = a ist weitaus mehr als nur eine nette Entdeckung – sie be-deutet, dass die Operation, bei der Zahlen zur p-ten Potenz erhoben werden, also a zu ap wird, ein Element der Galois-Gruppe des endlichen Körpers ist. Man bezeichnet sie als Frobenius-Symmetrie oder manchmal auch einfach nur als Frobenius. Es zeigt sich, dass die Galois-Gruppe des endlichen Körpers aus p Elementen von diesem Frobenius erzeugt wird.8

Kehren wir zu Grothendiecks Idee zurück. Wir beginnen in der mittleren Spalte von Weils Rosetta-Stein. Dort untersuchen wir Kurven über endlichen Körpern und allgemeiner Mannigfaltigkeiten über endlichen Körpern. Wie in Kap. 9 besprochen, werden diese Mannigfaltigkeiten durch Systeme aus Polynomgleichungen definiert wie z. B.:

Angenommen, über einer solchen Mannigfaltigkeit sei eine Garbe gegeben, also eine Vorschrift, die jedem Punkt der Mannigfaltigkeit einen Vektorraum zuordnet. Dahinter steckt jedoch eine größere Struktur. Das Konzept einer Garbe ist so definiert, dass jede Symmetrie des Zahlensystems, über dem die Mannigfaltigkeit definiert wurde – in diesem Fall also ein endlicher Körper – zu einer Symmetrie dieses Vektorraumes führt. Insbesondere führt also der Frobenius, der ein Element der Galois-Gruppe eines endlichen Körpers ist, notwendigerweise zu einer Symmetrie (wie einer Drehung oder Streckung) dieses Vektorraumes.

Aus einer Symmetrie auf einem Vektorraum können wir eine Zahl gewin-nen. Dafür gibt es ein Standardverfahren. Ist beispielsweise unser Vektorraum eine Gerade, dann ist die Symmetrie dieses Raumes, die wir aus dem Frobe-nius erhalten, eine Streckung: Jedes Element z geht in A∙z über, wobei A eine Zahl ist, und diese Zahl A ordnen wir dieser Symmetrie zu. Bei Vektorräu-men, deren Dimension größer ist als eins, nehmen wir die sogenannte Spur der Symmetrie.9 Durch die Spur des Frobenius auf dem Raum F ( s) ordnen wir dem Punkt s eine Zahl zu.

Im einfachsten Fall wirkt der Frobenius als Einselement auf den Vektor-raum; dann ist seine Spur gleich der Dimension des Vektorraumes, und wir ordnen durch die Spur des Frobenius dem Vektorraum seine Dimension zu. Ist jedoch der Frobenius nicht das Einselement, ordnet dieses Verfahren ei-

y y x x2 3 2+ = − .

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nem Vektorraum eine andere Zahl zu, die noch nicht einmal eine natürliche Zahl sein muss.

Zusammenfassend bedeutet dies also Folgendes: Wenn wir eine Mannigfal-tigkeit S über einem endlichen Körper {0, 1, 2,…, p − 1} gegeben haben (das bezieht sich auf die mittlere Spalte von Weils Rosetta-Stein), und wir haben eine Garbe F auf S gegeben, dann können wir jedem Punkt s von S eine Zahl zuordnen. Wir sehen also, wie wir in der mittleren Spalte von Weils Rosetta-Stein von Garben zu Funktionen gelangen können.

Grothendieck nannte dies ein „Garben-zu-Funktionen-Lexikon“. Dabei handelt es sich allerdings um ein seltsames Lexikon. Das oben angedeutete Verfahren erlaubt uns einen Übergang von Garben zu Funktionen. Außerdem entsprechen natürlichen Operationen auf den Garben wiederum natürliche Operationen auf Funktionen. Beispielsweise entspricht der direkten Summe von zwei Garben, die ähnlich wie die direkte Summe von Vektorräumen defi-niert ist, der Summe von zwei Funktionen.

Es gibt jedoch keinen selbstverständlichen Weg von Funktionen zurück zu den Garben.10 Dies ist nur für einige Funktionen möglich, aber nicht für alle. Doch in den Fällen, in denen es möglich ist, enthält die zugehörige Garbe sehr viele Zusatzinformationen, die man der Funktion zunächst nicht ansah. Mit diesen Informationen kann man dann ins Herz der Funktion vorstoßen. Bemerkenswerterweise stammen die meisten Funktionen, die im Langlands-Programm auftreten (in der zweiten Spalte von Weils Rosetta-Stein), von Garben.

Funktionen untersucht man in der Mathematik seit Jahrhunderten; sie stellen einen der zentralen Begriffe dar. Dieses Konzept können wir uns ver-gleichsweise leicht veranschaulichen, indem wir an Temperatur oder Druck denken. Vor Grothendieck war den Mathematikern jedoch nicht klar, dass wir im Zusammenhang von Mannigfaltigkeiten über endlichen Körpern (wie den Kurven über endlichen Körpern) über Funktionen hinausgehen und stattdessen mit Garben arbeiten können.

Wenn man so will, gehören Funktionen zu den Konzepten der klassischen Mathematik und Garben sind die Konzepte der modernen Mathematik. Gro-thendieck zeigte, dass Garben in mehrfacher Hinsicht fundamentaler sind – die guten alten Funktionen sind lediglich ihre Schatten.

Diese Entdeckung war ein großer Ansporn für die Entwicklung der Ma-thematik in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Garben sind weitaus wichtiger und vielseitiger und enthalten wesentlich mehr Strukturen. Beispielsweise kann eine Garbe Symmetrien haben. Wenn wir eine Funktion zu einer Garbe anheben, können wir diese Symmetrien ausnutzen und da-durch viel mehr lernen als nur mithilfe der Funktion allein.

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Für uns ist jedoch besonders wichtig, dass Garben sowohl in der mittleren als auch der rechten Spalte von Weils Rosetta-Stein sinnvolle Konzepte sind. Damit ergibt sich im Rahmen des Langlands-Programms ein Weg von der mittleren zur rechten Spalte.

In der rechten Spalte des Rosetta-Steins betrachten wir Mannigfaltigkeiten über den komplexen Zahlen. Zum Beispiel untersuchen wir Riemann’sche Flächen wie die Kugeloberfläche oder die Oberfläche eines Donuts. In die-sem Zusammenhang ergeben die automorphen Funktionen, die in der linken und mittleren Spalte von Weils Rosetta-Stein auftreten, keinen Sinn. Doch Garben ergeben einen Sinn. Sobald wir also die Funktionen in der mittleren Spalte durch Garben ersetzen (was wir mithilfe von Grothendiecks Lexikon können), erhalten wir wieder die Analogie zwischen der mittleren und rech-ten Spalte von Weils Rosetta-Stein.

Fassen wir zusammen: Wenn wir von der mittleren Spalte in Weils Rosetta-Stein zur rechten Spalte wechseln möchten, müssen wir auf beiden Seiten einige Veränderungen an den Beziehungen, wie sie im Langlands-Programm gedacht waren, vornehmen. Der Grund ist, dass die Begriffe der Galois-Grup-pe und der automorphen Funktionen im Bereich der Riemann’schen Flächen keine unmittelbaren Gegenstücke haben. Zunächst muss die Galois-Gruppe durch die Fundamentalgruppe einer Riemann’schen Fläche ersetzt werden, wie schon in Kap. 9 besprochen. Zweitens verwenden wir das Grothendieck-Lexikon und betrachten statt der automorphen Funktionen Garben, deren Eigenschaften den Eigenschaften automorpher Funktionen entsprechen. Wir bezeichnen sie als automorphe Garben.

Tabelle 14.1 fasst diese Beziehungen nochmals zusammen. Wir erkennen dort die drei Spalten des Rosetta-Steins sowie in jeder Spalte zwei Reihen mit den Namen der Objekte, die auf den beiden Seiten der Langlands-Beziehun-gen für diese Spalte spezifisch sind. 

Die Frage war nun, wie man diese automorphen Garben konstruieren kann. Das erwies sich als ein sehr schwieriges Problem. Anfang der 1980er Jahre hatte Drinfeld eine solche Konstruktion für den einfachsten Fall vorge-schlagen (dabei baute er auf eine unveröffentlichte frühere Arbeit von Pierre Deligne auf ). Die Ideen von Drinfeld wurden dann einige Jahre später von Gérard Laumon weitergeführt.

Tab. 14.1 Der Rosetta-Stein der Langlands-Beziehungen

Zahlentheorie Kurven über endlichen Körpern

Riemann’sche Flächen

Galois-Gruppe Galois-Gruppe Fundamentalgruppe

Automorphe Funktionen Automorphe Funktionen oder automorphe Garben

Automorphe Garben

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Als ich Drinfeld traf, erzählte er mir, er habe ein vollkommen neues Ver-fahren zur Konstruktion automorpher Garben gefunden. Doch diese neue Konstruktion, die ihm vorschwebte, hing von einer bestimmten Vermutung ab, von der er glaubte, dass sie sich aus meiner Arbeit mit Feigin über Kac-Moody-Algebren ableiten lassen könnte. Ich konnte es kaum glauben: Meine Arbeit sollte für das Langlands-Programm nützlich sein?

Durch die Aussichten, etwas im Zusammenhang mit dem Langlands-Pro-gramm machen zu können, wollte ich alles darüber lernen, was bekannt war. In diesem Frühjahr belästigte ich Drinfeld fast täglich in seinem Büro in Har-vard mit Fragen über das Langlands-Programm, die er auch geduldig beant-wortete. Umgekehrt befragte er mich zu vielen Einzelheiten meiner Arbeit mit Feigin, die für seine Absichten wichtig waren. Den Rest des Tages versuchte ich alles zu lesen, was ich in der Bibliothek von Harvard über das Langlands-Programm finden konnte. Das Thema war dermaßen verlockend, dass ich jede Nacht so schnell wie möglich einschlafen wollte, um mich am nächsten Morgen wieder in dieses Programm vertiefen zu können. Ich wusste, dass ich dabei war, mich auf eines der wichtigsten Projekte meines Lebens einzulassen.

Gegen Ende des Sommersemesters passierte etwas, das mir meine kafkaes-ken Erfahrungen bei meiner Aufnahmeprüfung an der Moskau Universität wieder in Erinnerung rief.

Eines Tages rief mich Victor Kac zu Hause in Cambridge an und erzählte mir, dass irgendjemand Anatoli Logunow, den Rektor der Moskau Univer-sität, zu einem Vortrag im physikalischen Institut am MIT eingeladen hät-te. Kac und viele seiner Kollegen waren empört darüber, dass MIT diesem Mann, der direkt für die Diskriminierung von jüdischen Studenten bei den Aufnahmeprüfungen an der MGU verantwortlich war, die Möglichkeit für einen Vortrag gab. Kac und die anderen empfanden das Verhalten von Logu-now als kriminell und hielten daher die Einladung für skandalös.

Logunow war ein sehr mächtiger Mann: Er war nicht nur der Rektor der MGU, sondern auch der Direktor des Instituts für Hochenergiephysik und Mitglied des Zentralkomitees der kommunistischen Partei der UdSSR und vieles mehr. Doch weshalb sollte irgendjemand am MIT ihn einladen? Je-denfalls protestierten Kac und mehrere seiner Kollegen und baten darum, die Einladung zurückzunehmen und den Vortrag abzusagen. Nach einigen Ver-handlungen kam man überein, dass Logunow seinen Vortrag halten könnte, nach dem Vortrag jedoch eine öffentliche Diskussion über die Lage an der MGU stattfinden sollte, bei der die Leute die Möglichkeit hatten, ihn mit diesen Diskriminierungen zu konfrontieren. Das Ganze hätte den Charakter einer Bürgerversammlung.

Natürlich bat Kac mich, zu diesem Treffen zu kommen. Es wäre eine Gele-genheit, meine Geschichte als direkten Beweis hinsichtlich der Vorkommnis-

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166 Liebe und Mathematik

se an der MGU unter Logunows Führung vorzubringen. Ich hatte zunächst Bedenken, denn ich war mir sicher, dass Logunow von „Assistenten“ begleitet würde, die alles aufzeichnen würden. Man bedenke, es war Mai 1990, also über ein Jahr vor dem fehlgeschlagenen Putschversuch von 1991, wodurch schließlich die Sowjetunion auseinanderfiel. Und ich wollte den Sommer über nach Hause reisen. Irgendetwas im entferntesten Sinne Blamables über einen derart prominenten sowjetischen Funktionär wie Logunow zu äußern, hätte mir leicht große Probleme bereiten können. Zumindest hätte man mich daran hindern können, die Sowjetunion wieder zu verlassen und nach Har-vard zurückzukehren. Trotzdem konnte ich Kac’ Bitte nicht ausschlagen. Ich wusste, wie wichtig meine Aussage bei diesem Treffen sein konnte, also sagte ich Victor meine Teilnahme zu und versprach, sofern notwendig, meine Ge-schichte zu erzählen. Kac versuchte mich zu beruhigen.

„Keine Angst, Edik“, sagte er, „wenn sie dich dafür ins Gefängnis werfen, werde ich alles tun, um dich da wieder herauszuholen.“

Die Nachricht von dem bevorstehenden Ereignis verbreitete sich rasch, und der Hörsaal für Logunows Vortrag war brechend voll. Die Leute wa-ren nicht gekommen, um von diesem Vortrag irgendetwas zu lernen. Jeder wusste, dass Logunow ein schlechter Physiker war, der seine Laufbahn seinem Versuch verdankte, die Relativitätstheorie Einsteins zu widerlegen (man fragt sich, weshalb). Wie erwartet, hatte sein Vortrag – über seine „neue“ Theorie der Gravitation – nur wenig Substanz. Doch er war in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Zunächst einmal sprach Logunow kein Englisch, sondern hielt seinen Vortrag auf Russisch, das simultan von einem großen Mann in schwarzem Anzug und Krawatte in perfektes Englisch übersetzt wurde. Er hätte ebenso gut in großen Buchstaben „KGB“ auf seiner Stirn geschrieben haben können. Sein „Doppelgänger“ (wie in dem Film Matrix) saß im Publi-kum und schaute in die Runde.

Vor dem Vortrag wurde Logunow von einem seiner Gastgeber am MIT auf sehr eigenartige Weise vorgestellt. Er projizierte eine Folie mit der ersten Seite eines in Englisch geschriebenen Artikels an die Wand, bei dem Logunow einer der Autoren war. Der Artikel war schon vor rund zehn Jahren veröffent-licht worden. Ich glaube, man wollte zeigen, dass Logunow kein vollkomme-ner Idiot war, sondern tatsächlich einige Veröffentlichungen in begutachteten Zeitschriften vorweisen konnte. Noch nie hatte ich es erlebt, dass jemand auf diese Weise vorgestellt wurde. Es war offensichtlich, dass Logunow nicht wegen seiner wissenschaftlichen Leistungen ans MIT eingeladen worden war.

Während des Vortrags kam es zu keinerlei Protesten, obwohl Kac Kopien von einigen kompromittierenden Dokumenten unter den Anwesenden ver-

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teilt hatte. Eines davon war ein rund zehn Jahre alter Leistungsnachweis eines jungen Mannes mit jüdischem Familiennamen. Er hatte in allen Bereichen die Höchstnoten erhalten und wurde trotzdem während seines letzten Jahrs an der MGU wegen „akademischen Misserfolgs“ der Universität verwiesen. In einer kurzen Notiz hieß es, dass dieser Student von speziell dafür abgeord-neten Agenten bei der Moskauer Synagoge gesehen worden war.

Nach dem Vortrag gingen die Leute in einen anderen Raum und setzen sich um einen großen viereckigen Tisch. Logunow saß auf einer Seite am Tischende, umgeben von seinen wohlgekleideten „Assistenten“, die alles übersetzten, und Kac und andere saßen ihnen direkt gegenüber. Ich saß mit einigen Freunden ruhig am anderen Tischende auf Logunows Seite, sodass er uns keine besondere Aufmerksamkeit schenkte.

Zunächst sprachen Kac und andere und sagten, sie hätten viele Geschich-ten über jüdische Studenten gehört, die nicht an der MGU zugelassen worden seien. Sie fragten Logunow als Rektor der Moskauer Universität, ob er sich zu diesen Vorwürfen äußern könne. Natürlich stritt er alles ab, was diesbezüglich vorgebracht wurde. Irgendwann meinte einer der wohlgekleideten Begleiter von Logunow auf Englisch: „Sie müssen wissen, Professor Logunow ist sehr bescheiden und daher würde er Ihnen das nie sagen. Aber ich sage es Ihnen: Tatsächlich hat er vielen jüdischen Studenten bei ihrer Karriere geholfen.“

Daraufhin sagte der andere wohlgekleidete Typ zu Kac und den anderen: „Sie sollten entweder konkret werden oder den Mund halten. Wenn Sie be-stimmte Fälle kennen, über die Sie sprechen wollten, dann nennen Sie sie. Andernfalls ist Professor Logunow sehr beschäftigt und muss sich um andere Sachen kümmern.“

Daraufhin sagte Kac natürlich: „Tatsächlich haben wir einen konkreten Fall, den wir mit Ihnen besprechen möchten.“ Und dann deutete er auf mich.

Ich stand auf. Alle wandten sich mir zu, einschließlich Logunow und seine „Assistenten“, und in ihren Gesichtern las ich eine gewisse Nervosität. Nun stand ich Logunow direkt gegenüber.

„Sehr interessant“, sagte Logunow auf Russisch – es wurde für die anderen ins Englische übersetzt – und dann wandte er sich an seine Assistenten und sagte leise, aber so, dass ich es hören konnte: „Vergesst nicht, seinen Namen zu notieren.“

Ich muss gestehen, dass ich große Angst hatte, aber an diesem Punkt gab es kein Zurück mehr. Ich stellte mich vor und sagte: „Vor sechs Jahren bin ich durch die Aufnahmeprüfung am Mekh-Math gefallen.“

Und dann beschrieb ich kurz, was damals bei den Prüfungen passiert war. Im Raum wurde es vollkommen still. Dies war der Bericht eines „konkreten“ Augenzeugen, vorgetragen von einem der Opfer von Logunows Politik, und er hatte keine Möglichkeit abzustreiten, dass es sich so zugetragen hatte.

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168 Liebe und Mathematik

„Sie hatten also an der MGU nicht bestanden. Und wo haben Sie sich an-schließend beworben?“, fragte einer von ihnen.

„Ich ging ans Institut für Öl und Gas“, sagte ich.„Er ging ans Kerosinka“, übersetzte der Assistent, woraufhin Logunow

energisch nickte – ja, klar, das war einer der wenigen Orte in Moskau, wo man Studenten wie mich noch aufnahm.

„Nun“, fuhr der Assistent fort, „vielleicht waren die Anforderungen beim Institut für Öl und Gas nicht so hoch wie an der MGU. Vielleicht sind Sie deshalb bei der einen Universität angenommen worden und nicht bei der anderen?“

Das war falsch: Ich wusste genau, dass die Anforderungen am Mekh-Math für diejenigen, die nicht diskriminiert wurden, nicht besonders hoch waren. Ich hatte gehört, dass man mit einem B und drei C in den vier Prüfungen aufgenommen wurde. Demgegenüber waren die Aufnahmeprüfungen am Kerosinka ziemlich schwierig. An dieser Stelle unterbrach Kac: „Schon als Student hat Edward wegweisende mathematische Arbeiten geschrieben, und mit einundzwanzig wurde er als Gastprofessor nach Harvard berufen, weniger als fünf Jahre, nachdem er an der MGU durchfiel. Wollen Sie sagen, dass die Anforderungen für eine Stelle in Harvard niedriger sind als die Aufnahme-prüfungen an der MGU?“

Es folgte eine lange Pause. Plötzlich kam Leben in Logunow.„Ich bin entsetzt!“, schrie er. „Ich werde der Sache nachgehen und diejeni-

gen bestrafen, die dafür verantwortlich sind, dass dieser junge Mann durch-gefallen ist. Ich werde es nicht zulassen, dass solche Dinge an der MGU pas-sieren!“

Einige Minuten lang ging es so weiter.Was konnte man dagegen machen? Niemand an diesem Tisch glaubte, dass

Logunows Aufregung ehrlich gemeint war und dass er tatsächlich irgendetwas unternehmen würde. Logunow war sehr gerissen. Indem er seine Entrüstung in diesem einen Fall vortäuschte, lenkte er von einer viel größeren Sache ab: den Tausenden anderer Studenten, die man im Rahmen einer sorgfältig orga-nisierten Politik der Diskriminierung, die offensichtlich von höheren Stellen an der MGU einschließlich dem Rektor selbst gebilligt wurde, rücksichtslos durchfallen ließ.

Es war unmöglich, all diese Fälle bei diesem Treffen anzuführen und zu beweisen, dass es eine abgestimmte Politik des Antisemitismus bei den Auf-nahmeprüfungen am Mekh-Math gab. Es zeigte sich bei den Anwesenden zwar eine gewisse Zufriedenheit, dass ich meinem Peiniger direkt gegenüber-stehen und ihn dazu bringen konnte, ein Fehlverhalten seiner Untergebenen

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mir gegenüber zuzugeben, doch wir alle wussten, dass die eigentliche Frage unbeantwortet geblieben war.

Logunows Gastgeber waren sichtlich beschämt durch den negativen Wir-bel um seinen Besuch, und sie wollten die Angelegenheit so schnell wie mög-lich beenden. Sie beendeten das Treffen und brachten ihn weg. Eingeladen wurde Logunow nie wieder.

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15Ein heikler Tanz

Im Herbst 1990 wurde ich Doktorand an der Harvard Universität. Ich musste meine Promotion nachholen, um von einer Gastprofessur zu einer dauerhaf-teren Stelle übergehen zu können. Joseph Bernstein war bereit, mein offiziel-ler Betreuer zu werden. Mittlerweile hatte ich bereits mehr als genug Stoff für eine Doktorarbeit, und Arthur Jaffe konnte den Dekan davon überzeugen, in meinem Fall auf die übliche Anforderung einer mindestens zweijährigen Im-matrikulation zu verzichten, sodass ich meinen Abschluss in einem Jahr ma-chen konnte. Aus diesem Grund dauerte meine „Herabstufung“ von einem Professor zu einem Doktoranden nicht allzu lange.

Tatsächlich schrieb ich meine Doktorarbeit über ein neues Projekt, das ich während dieses Jahres abschloss. Es begann mit meinen Diskussionen mit Drinfeld im Frühjahr über das Langlands-Programm. Es folgt eine typische Unterhaltung in Form eines Drehbuchs.

FADE IN:

INNEN – DRINFELDS BÜRO IN HARVARD

DRINFELD geht vor einer Tafel hin und her. EDWARD sitzt in einem Sessel und macht Aufzeichnungen. Neben ihm auf dem Schreibtisch steht eine Teetasse.

DRINFELDAlso, die Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung gibt uns eine Be-ziehung zwischen kubischen Gleichungen und Modulformen, doch Langlands ging wesentlich weiter als das. Ihm schwebte eine allgemeinere Beziehung vor, bei der die Rolle der Modulformen von automorphen Darstellungen einer Lie-Gruppe ersetzt werden.

EDWARDWas ist eine automorphe Darstellung?

DRINFELD(nach langer Pause)Die genaue Definition ist jetzt nicht wichtig. Außerdem kannst

E. Frenkel, Liebe und Mathematik, DOI 10.1007/978-3-662-43421-5_15, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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172 Liebe und Mathematik

Abb. 15.1 Der Bechertrick (Reihenfolge von links nach rechts und von oben nach unten). © Frenkel, Fotos von Andrea Young.

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15 Ein heikler Tanz 173

du sie in einem Buch nachschlagen. Wichtig ist, dass es eine Darstellung einer Lie-Gruppe G ist – beispielsweise der Gruppe SO(3) der Drehungen einer Kugel.

EDWARDOkay. Und mit was sollen diese automorphen Darstellungen zu-sammenhängen?

DRINFELDNun, das ist der wichtigste Teil: Langlands behauptet, dass sie mit den Darstellungen der Galois-Gruppe in einer anderen Lie-Gruppe zusammenhängen.1

EDWARDIch verstehe. Du meinst, diese Lie-Gruppe ist nicht dieselbe Gruppe G?

DRINFELDNein! Es ist eine andere Lie-Gruppe, die man als die Langlands-duale Gruppe von G bezeichnet.

DRINFELD schreibt das Symbol LG an die Tafel.

EDWARDSteht das L für Langlands?

DRINFELD(Anflug von Lächeln)Nun, ursprünglich wollte Langlands die sogenannten L-Funktio-nen besser verstehen, also nannte er diese Gruppe eine L-Grup-pe...

EDWARDMal sehen, ob ich das verstanden habe. Zu jeder Lie-Gruppe G gibt es eine andere Lie-Gruppe, die man mit LG bezeichnet. So-weit richtig?

DRINFELDJa. Und sie tritt in der Langlands-Beziehung auf, die schema-tisch folgendermaßen aussieht.

DRINFELD zeichnet ein Diagramm an die Tafel:2

Diagramm 15.1

↔Darstellungen derGalois-Gruppe in

automorphe Darstellungender Gruppe G

LG

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174 Liebe und Mathematik

EDWARDIch verstehe das nicht ... zumindest noch nicht. Vielleicht zu-nächst eine einfachere Frage: Was ist z. B. die Langlands-duale Gruppe von SO(3)?

DRINFELDDas ist einfach: Es ist die doppelte Überlagerungsgruppe von SO(3). Hast du schon mal den Bechertrick gesehen?

EDWARDDen Bechertrick? Oh ja, ich erinnere mich ...

SCHNITT AUF:

INNEN - EINE HAUSPARTY VON HARVARD-DOKTORANDEN

Rund ein Dutzend Studenten Anfang bis Mitte zwanzig. Sie reden, trinken Bier und Wein. EDWARD spricht mit einer STUDENTIN.

STUDENTINSo geht’s.

Die STUDENTIN nimmt einen Kunststoffbecher mit Wein und setzt ihn auf die offene Innenfläche ihrer rechten Hand. Sie beginnt ihre Handfläche und ihren Arm zu drehen (wie auf der Bilderfolge in Abb. 15.1). Nachdem sie eine volle Drehung (360 Grad) aus-geführt hat, ist ihr Arm verdreht. Sie hält den Becher weiter-hin aufrecht, nimmt den Arm etwas hoch und dreht ihn nochmals um eine volle Drehung weiter – Überraschung! – ihr Arm und der Becher sind wieder in der anfänglichen, unverdrehten Lage.3

EIN ANDERER STUDENTIch habe gehört, dass es auf den Philippinen einen traditio-nellen Weintanz geben soll, bei dem sie das mit beiden Händen machen.4

Er nimmt zwei Becher Bier und versucht beide gleichzeitig zu drehen, doch seine Hände wackeln zu sehr und er verschüttet aus beiden Bechern Bier. Alles lacht.

SCHNITT AUF:

INNEN - ZURÜCK IN DRINFELDS BÜRO

DRINFELDDer Trick verdeutlicht, dass es einen geschlossenen Weg in der Gruppe SO(3) gibt, der nicht-trivial ist, doch wenn wir diesen Weg zweimal durchlaufen, erhalten wir den trivialen Weg.5

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15 Ein heikler Tanz 175

EDWARDIch verstehe. Die erste volle Drehung des Bechers verdreht deinen Arm, und das entspricht einem nicht-trivialen Weg in der SO(3).

Er nimmt die Tasse Tee auf dem Schreibtisch und macht die Be-wegungen der ersten Drehung.

EDWARDMan könnte meinen, bei der zweiten Drehung verdrillt sich der Arm noch mehr. Stattdessen macht die zweite Drehung die Ver-drillung wieder rückgängig.

EDWARD vollendet die Bewegung.

DRINFELDGenau.6

EDWARDUnd was hat das mit der Langlands-dualen Gruppe zu tun?

DRINFELDDie Langlands-duale Gruppe von SO(3) ist eine doppelte Über-lagerung von SO(3), also ...7

EDWARDAlso gibt es für jedes Element von SO(3) zwei Elemente der Langlands-dualen Gruppe.

DRINFELDUnd deswegen hat die neue Gruppe keine nicht-trivialen ge-schlossenen Wege.

EDWARDDer Übergang zur Langlands-dualen Gruppe ist somit eine Mög-lichkeit, diese komische Verdrillung loszuwerden.

DRINFELDRichtig.8 Auf den ersten Blick erscheint das vielleicht wie ein unbedeutender Unterschied, doch tatsächlich hat er gro-ße Auswirkungen, zum Beispiel auch für das unterschiedliche Verhalten der Bausteine unserer Materie wie Elektronen und Quarks; oder auch für die Teilchen, welche die Wechselwirkun-gen zwischen ihnen vermitteln, wie die Photonen. Für allge-meinere Lie-Gruppen sind die Unterschiede zwischen der Gruppe und ihrer Langlands-dualen Gruppe sogar noch ausgeprägter. Tatsächlich gibt es in manchen Fällen keine offensichtliche Beziehung zwischen den beiden dualen Gruppen.

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176 Liebe und Mathematik

Die Langlands-Dualität stellt eine paarweise Beziehung zwischen Lie-Grup-pen her: Zu jeder Lie-Gruppe G gibt es die Langlands-duale Lie-Gruppe LG, und das Duale von LG ist wieder G.9 Es ist schon überraschend, dass das Lang-lands-Programm zwei verschiedene Arten von Objekten (eines aus der Zah-lentheorie und eines aus der harmonischen Analyse) in Beziehung setzt, doch die Tatsache, dass die beiden dualen Gruppen G und LG auf den beiden Seiten dieser Beziehung auftreten wie in dem Diagramm 15.1, ist schon verblüffend.

Wir haben darüber gesprochen, wie das Langlands-Programm verschiede-ne Kontinente in der Welt der Mathematik verbindet. Um bei dem Bild zu bleiben, nehmen wir an, diese Kontinente seien Europa und Nordamerika, und es gäbe eine Zuordnung von jeder Person in Europa zu einer Person in Nordamerika und umgekehrt. Außerdem nehmen wir an, dass unter dieser Zuordnung Eigenschaften wie Gewicht, Größe und Alter perfekt zueinander passen, aber die Geschlechter verschieden sind: Jeder Mann ist einer Frau zu-geordnet und umgekehrt. So ähnlich könnte man sich im Rahmen des Lang-lands-Programms die Zuordnung zwischen einer Lie-Gruppe und ihrer Lang-lands-dualen Gruppe vorstellen.

Tatsächlich ist dieser Wechsel zwischen den beiden Gruppen der rätsel-hafteste Aspekt des Langlands-Programms. Wir kennen mehrere Mechanis-men, die beschreiben, wie die duale Gruppe in Erscheinung tritt, doch wir haben immer noch nicht verstanden, weshalb das so ist. Diese Erkenntnis-lücke ist einer der Gründe, weshalb wir versuchen, die Ideen des Langlands-Programms auf andere Bereiche der Mathematik auszudehnen (über den Ro-setta-Stein von Weil) und schließlich auch zur Quantenphysik, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden. Wir möchten weitere Beispiele finden, bei denen die Langlands-duale Gruppe auftritt, und hoffen, auf diese Weise neue Indizien zu erhalten, weshalb das so ist und was es bedeutet.

Wenden wir uns nun eingehender der rechten Spalte von Weils Rosetta-Stein zu, der sich auf die Riemann’schen Flächen bezieht. Wie wir im letzten Kapitel gesehen haben (vgl. Tab. 14.1), wird in dieser Spalte die Rolle der automorphen Funktionen (oder automorphen Darstellungen) zu einer Lie-Gruppe G in der Langlands-Beziehung durch „automorphe Garben“ über-nommen. Es zeigt sich, dass diese automorphen Garben auf einem bestimm-

EDWARDWeshalb tritt die duale Gruppe bei den Langlands-Beziehungen auf? Scheint wie ein Zauber ...

DRINFELDSo richtig wissen wir das nicht.FADE OUT

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15 Ein heikler Tanz 177

ten Raum „leben“, der mit der Riemann’schen Fläche X und der Gruppe G verknüpft ist, der sogenannte Modulraum von G-Bündeln auf X. Für den Augenblick ist nicht wichtig, worum es sich dabei handelt.10 Im anderen Teil dieser Beziehung wird die Rolle der Galois-Gruppe durch die Fundamental-gruppe der Riemann’schen Fläche übernommen, wie wir in Kap. 9 gesehen haben. Diagramm 15.1 entnehmen wir somit, dass die geometrische Lang-lands-Beziehung (oder geometrische Langlands-Korrespondenz) schematisch folgendermaßen aussehen sollte:

Diagramm 15.2

Darstellungen derFundamentalgruppe von

X in

automorphe Garben überdem Modulraum von G-

Bündeln auf X↔

GL

Das bedeutet, wir sollten jeder Darstellung der Fundamentalgruppe in LG eine automorphe Garbe zuordnen können. Und Drinfeld hatte eine vollkom-men neue Idee, wie man das erreichen könnte.

FADE IN:

INNEN - DRINFELDS BÜRO

DRINFELDWir müssen also einen gezielten Weg finden, wie man diese auto-morphen Garben konstruiert.

EDWARDUnd weshalb?

DRINFELDWir befinden uns nun in der Welt der Riemann’schen Flächen. Eine solche Fläche kann einen Rand haben, der aus Schleifen besteht.

DRINFELD zeichnet ein Bild an die Tafel (Abb. 15.2).

DRINFELDDie Schleifen auf einer Riemann’schen Fläche geben uns einen Bezug zu Schleifengruppen und damit zu Kac-Moody-Algebren. Über diese Beziehung können wir Darstellungen einer Kac-Moody-Algebra in Garben auf dem Modulraum von G-Bündeln über unserer Riemann’schen Fläche übertragen. Wenn wir die Einzelheiten außer Acht lassen, könnte ich mir das schematisch so vorstel-len.

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178 Liebe und Mathematik

Irgendwie fühlte ich mich wie Neo im Film Matrix, wie er mit Morpheus spricht. Es war alles sehr aufregend, aber auch unheimlich. Bin ich wirklich in der Lage, etwas Neues zu diesem Gebiet beizutragen?

Bevor ich erklären kann, wie ich das Problem anging, muss ich Ihnen ein effizientes Verfahren zur Konstruktion von Darstellungen der Fundamental-gruppe einer Riemann’schen Fläche vorstellen. Ausgangspunkt sind Differen-zialgleichungen.

Eine Differenzialgleichung ist eine Gleichung, bei der eine Funktion und ihre Ableitungen in Beziehung gesetzt werden. Als Beispiel betrachten wir ein Auto, das auf einer geraden Straße dahinfährt. Die Straße hat eine Ko-ordinate, die wir mit x bezeichnen. Der Ort des Autos zu einem Zeitpunkt t

Er zeichnet ein Diagramm an die Tafel:

Diagramm 15.3

DRINFELDDie Bedeutung des zweiten Pfeils ist mir klar. Die eigentliche Frage ist, wie man den ersten Pfeil konstruieren kann. Feigin hat mir über deine Arbeit über Darstellungen von Kac-Moody-Al-gebren erzählt. Ich denke, das könnte hier nützlich sein.

EDWARDDoch dann müssten die Darstellungen der Kac-Moody-Algebra von G irgendwie von der Langlands-dualen Gruppe LG „wissen“.

DRINFELDDas ist richtig.

EDWARDWie ist das möglich?

DRINFELDDas ist genau die Frage an dich.

FADE OUT

eine Darstellung derFundamentalgruppe in

eine Darstellung derKac-Moody-Algebra

von G

→ →

eine automorphe Garbeauf dem Modulraum der

G-Bündel

GL

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15 Ein heikler Tanz 179

lässt sich dann durch eine Funktion x( t ) angeben. Es könnte beispielsweise x( t ) = t2 sein.

Die Geschwindigkeit des Autos ist das Verhältnis aus der Wegstrecke, die das Auto in einem kurzen Zeitintervall t zurücklegt, zu diesem Zeitintervall:

Würde sich das Auto mit einer konstanten Geschwindigkeit bewegen, spielte die Dauer des Zeitintervalls Δt keine Rolle. Wenn das Auto jedoch seine Ge-schwindigkeit verändert, ist die Geschwindigkeit in einem Augenblick t umso genauer, je kleiner wir Δt wählen. Um den exakten Wert der Geschwindigkeit in einem Augenblick t zu erhalten, müssen wir den Grenzwert dieses Verhält-nisses betrachten, wenn Δt gegen 0 geht. Dieser Grenzwert ist die Ableitung von x( t ) und man bezeichnet ihn mit x′( t ).

Ist beispielsweise x( t ) = t 2, dann ist x t t′ =( ) 2 , und wenn allgemeiner x t t n( ) = ist, dann folgt x t nt n′ =( ) −1. Es ist nicht schwer, diese Formeln ab-zuleiten, doch das ist für uns nicht wichtig.

Viele Naturgesetze lassen sich als Differenzialgleichungen ausdrücken, also Gleichungen, in denen die Funktionen und ihre Ableitungen auftreten. Bei-spiele sind die Maxwell’schen Gleichungen für den Elektromagnetismus, über die wir im nächsten Kapitel sprechen werden, und ebenso die Einstein’schen Gleichungen für die Gravitation. Tatsächlich werden die meisten mathemati-schen Modelle (sei es in der Physik, der Biologie, der Chemie oder auch der Theorie der Finanzmärkte) durch Differenzialgleichungen ausgedrückt. Selbst die einfachsten Fragen zu Geldangelegenheiten wie die Berechnung von Zin-sen und Zinseszinsen führen sehr rasch auf Differenzialgleichungen. Hier ist ein Beispiel für eine Differenzialgleichung:

Die Funktion x( t ) = t 2 ist eine Lösung dieser Gleichung, denn x t t′ =( ) 2 und 2 2 22x t t t t t( ) / / .= = Wenn wir also x t t( ) = 2 auf beiden Seiten dieser Glei-chung einsetzen, erhalten wir denselben Ausdruck 2t. Außerdem kann man

x t t x tt

( ) ( )+ −∆∆

.

x tx t

t′ =( )

( )2.

Loop Loop

Abb. 15.2 Eine Rie-mann’sche Fläche mit zwei Schleifen ( Loops) als Rand. © Frenkel

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180 Liebe und Mathematik

zeigen, dass jede Lösung dieser Gleichung von der Form x t Ct( ) = 2 ist, wobei C eine von t unabhängige reelle Zahl ist ( C steht für „constant“). Zum Bei-spiel ist auch x t x( ) = 5 2 eine Lösung.

Ganz entsprechend sind die Lösungen der Differenzialgleichung

durch die Beziehung x( t ) = Ctn gegeben, wobei C wieder eine beliebige reelle Zahl ist.

Nichts spricht dagegen, für n auch negative ganze Zahlen zuzulassen. Die Gleichung ist immer noch sinnvoll, und auch die Formel x( t ) = Ctn ist noch gültig, allerdings ist diese Funktion bei t = 0 nicht mehr definiert, weil das auf einen Term 1/t führen würde, der dann unendlich groß wäre. Also schließen wir t = 0 von unseren Überlegungen aus. Doch in diesem Fall können wir für n auch eine beliebige rationale Zahl oder sogar eine beliebige reelle Zahl zu-lassen.

Es folgt ein weiterer Schritt: Bei der ursprünglichen Formulierung dieser Differenzialgleichung hatten wir t als Zeit interpretiert, diesen Parameter also als reelle Zahl aufgefasst. Doch nun nehmen wir an, t sei eine komplexe Zahl, also von der Form r s+ −1 , wobei r und s reelle Zahlen sind. Wie schon in Kap. 9 erwähnt (vgl. Abb. 9.4), lassen sich komplexe Zahlen als Punkte in der Ebene mit den Koordinaten r und s darstellen. Lassen wir für t komplexe Werte zu, wird x( t ) effektiv eine Funktion auf der Ebene – genauer gesagt, der Ebene außer einem Punkt. Da wir festgestellt hatten, dass x( t ) möglicherwei-se an dem Punkt t = 0 nicht definiert ist, also dem Ursprung auf dieser Ebene (bei dem beide Koordinaten r und s gleich null sind), ist x( t ) in Wirklichkeit eine Funktion auf der Ebene ohne einen Punkt, nämlich ohne den Ursprung.

Nun kommt die Fundamentalgruppe ins Spiel. Wie in Kap. 9 besprochen, sind die Elemente der Fundamentalgruppe geschlossene Wege. Betrachten wir die Fundamentalgruppe der Ebene, bei der ein Punkt entfernt wurde. Dann hat jeder geschlossene Weg eine Windungszahl: Sie gibt an, wie oft der Weg um den entfernten Punkt herumläuft. Verläuft der Weg entgegen dem Uhrzeigersinn, zählen wir diese Anzahl mit einem positiven Vorzeichen, verläuft er im Uhrzeigersinn, ist das Vorzeichen negativ.11 Die geschlossenen Wege mit der Windungszahl + 1 und − 1 sind in Abb. 15.3 dargestellt.

Ein Weg, der sich zweimal um den Punkt herumwindet, sich dabei selbst kreuzt und schließlich wieder an seinen Ausgangspunkt zurückkehrt, hat je nach Umlaufrichtung eine Windungszahl von + 2 oder − 2, und Entsprechen-des gilt für kompliziertere Wege.

x tnx tt

′ =( )( )

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15 Ein heikler Tanz 181

Kehren wir nun zu unserer Differenzialgleichung zurück:

wobei n eine beliebige reelle Zahl ist und t nun Werte in den komplexen Zah-len annimmt. Eine Lösung diese Gleichung ist x t t n( ) = . Hier gibt es jedoch eine Überraschung: Wenn n keine ganze Zahl ist und wir die Lösung entlang eines geschlossenen Weges auf der Ebene auswerten, kann es passieren, dass der Wert der Lösung am Endpunkt (der gleichzeitig unser Ausgangspunkt war) nicht notwendigerweise identisch ist zu dem Wert, mit dem wir begon-nen haben. Er wurde mit einer komplexen Zahl multipliziert. In einer solchen Situation sagt man, dass die Lösung entlang des Weges eine Monodromie be-sitzt.

Die Aussage, beim Durchlaufen eines vollen Kreises würde sich etwas än-dern, scheint uns zunächst nicht plausibel oder gar in sich widersprüchlich zu sein. Es hängt jedoch alles davon ab, was wir unter dem „Durchlaufen eines vollen Kreises“ verstehen. Wir können in Bezug auf eine bestimmte Eigenschaft, beispielsweise dem Ort im Raum, einen geschlossenen Weg durchlaufen und zu unserem Ausgangspunkt zurückkommen. Andere Eigenschaften können sich dabei jedoch ändern.

Betrachten wir folgendes Beispiel. Rick hat Ilsa am 14. März 2010 bei einer Dinnerparty kennengelernt und sich sofort in sie verliebt. Ilsa war zunächst von Rick nicht besonders angetan, trotzdem hat sie sich nochmals mit ihm getroffen. Und dann wieder, und wieder… schließlich begann Ilsa Rick zu mögen. Weshalb? Nun, er ist witzig und geistreich und kümmert sich viel um sie. Irgendwann hat sich Ilsa dann auch verliebt. Sie änderte sogar ihren Status bei Facebook zu „in einer Beziehung“, das Gleiche tat Rick. Die Zeit verging rasch, und schon bald war wieder der 14. März, der Jahrestag, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Betrachtet man den Kalender und bezieht

x tnx tt

′ =( )( )

,

a b

Abb. 15.3 Geschlossene Wege um den Ursprung. (a) Windungszahl + 1. (b) Windungs-zahl − 1. © Frenkel

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182 Liebe und Mathematik

sich dabei nur auf den Monat und den Tag und ignoriert das Jahr, so haben Rick und Ilsa einen Vollkreis durchlaufen. Doch es hat sich einiges geändert. An dem Tag, als sie sich trafen, war Rick verliebt, Ilsa jedoch nicht. Ein Jahr später ist das nicht mehr der Fall; sie können ähnlich verliebt sein, oder viel-leicht ist Ilsa über alle Maßen verliebt, Rick aber nur ein wenig. Es wäre sogar möglich, dass Rick gar nicht mehr in Ilsa verliebt ist und sich heimlich mit einer anderen Frau trifft. Wir wissen es nicht. Für uns ist wichtig, dass sie zwar zu demselben Datum auf dem Kalender zurückgekehrt sind, dem 14. März, dass sich ihre Liebe füreinander jedoch geändert haben kann.

Mein Vater meinte dazu, dieses Beispiel sei verwirrend, weil man den Ein-druck gewinnen soll, Rick und Ilsa seien zu demselben Punkt in der Zeit zu-rückgekehrt, was natürlich nicht möglich ist. Doch ich konzentriere mich auf bestimmte Attribute: insbesondere den Tag und den Monat. In diesem Sinne entspricht der Fortgang vom 14. März 2014 zum 14. März 2015 tatsächlich einem Kreis.

Vielleicht sollte man jedoch besser einen geschlossenen Weg im Raum be-trachten. Angenommen, Rick und Ilsa haben während ihrer gemeinsamen Zeit eine Weltreise unternommen. Im Verlauf der Reise hat sich ihre Bezie-hung entwickelt, und als sie an den Ausgangspunkt ihrer Reise zurückkamen – demselben Punkt im Raum – hat sich ihre Liebe füreinander verändert.

Im ersten Fall haben wir einen geschlossenen Weg in der Zeit (genauer bezüglich eines Monate-und-Tage-Kalenders), im zweiten Fall einen geschlos-senen Weg im Raum. Die Schlussfolgerungen sind jedoch ähnlich: Eine Be-ziehung kann sich entlang eines geschlossenen Weges ändern. Beide Beispiele verdeutlichen ein Phänomen, das man als die „Monodromie der Liebe“ be-zeichnen könnte.

Mathematisch können wir Ricks Liebe zu Ilsa durch eine Zahl x darstel-len, und Ilsas Liebe zu Rick durch eine Zahl y. Dann wird der Zustand ihrer Beziehung in jedem Augenblick durch einen Punkt in der Ebene mit den Koordinaten ( x, y) beschrieben. An dem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal begegneten, war dies der Punkt (1,0). Später, als sie sich entlang eines geschlossenen Weges bewegten (sei es in der Zeit oder im Raum), hat sich die Lage dieses Punktes verändert. Die Entwicklung ihrer Beziehung wird also durch eine Trajektorie in der x-y-Ebene wiedergegeben. Die Monodromie ist einfach der Unterschied zwischen dem Anfangspunkt und dem Endpunkt dieser Trajektorie.

Es folgt ein weniger romantisches Beispiel. Angenommen, Sie steigen eine Wendeltreppe hinauf und machen dabei eine volle Umdrehung. Wenn wir nur die Projektion ihres Ortes auf den Boden betrachten, haben sie einen Vollkreis durchlaufen. Eine andere Eigenschaft – ihrer Höhe – hat sich jedoch geändert: Sie sind um ein Stockwerk nach oben gegangen. Auch das ist eine

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Monodromie. Hier besteht eine Ähnlichkeit zu unserem ersten Beispiel, denn der Kalender ist wie eine Wendeltreppe: Die 365 Tage des Jahres entsprechen einem Vollkreis auf dem Boden, und das Jahr ist wie die Höhe. Das Vor-rücken von einem bestimmten Datum wie dem 14. März 2014 zum selben Datum ein Jahr später lässt sich daher mit dem Aufstieg auf einer Wendel-treppe vergleichen.

Kehren wir nun zur Lösung unserer Differenzialgleichung zurück. Ein ge-schlossener Weg auf der Ebene ist wie der geschlossene Weg unserer Projek-tion auf den Boden. Der Wert der Lösung entspricht der Höhe ihrer Position auf der Wendeltreppe über dem Boden. Unter diesem Blickwinkel sollte es nicht mehr überraschen, dass der Wert der Lösung nach einer vollen Umdre-hung nicht mehr identisch zum Anfangswert sein muss.

Aus dem Verhältnis dieser beiden Werte erhält man die Monodromie der Lösung entlang des Weges. Es zeigt sich, dass wir diese Monodromie als ein Element der Kreisgruppe interpretieren können.12 Zur Erklärung dafür muss ich etwas ausholen. Es gibt in verschiedenen Ländern stabförmige Zucker-stangen, oft in weißer und roter Farbe, wobei sich der rote Streifen wie ein Band um die Zuckerstange windet. Stellen Sie sich nun vor, Sie könnten eine solche Zuckerstange verbiegen, sodass sie die Form eines Donuts erhält. Nun folgen Sie dem roten Streifen. Die Bewegung entlang der Zuckerstange ist wie ein geschlossener Weg in unsere Ebene, und der rote Streifen ist unse-re Lösung. Wenn wir entlang der Zuckerstange einen Vollkreis durchlaufen haben, endet der rote Streifen im Allgemeinen an einem anderen Punkt, als er begonnen hat. Die Differenz ist wie die Monodromie unserer Lösung. Sie entspricht einer Verdrillung der Stange um einen bestimmten Winkel.

Die Berechnung aus Anmerkung 12 zeigt, dass die Monodromie entlang eines geschlossenen Weges mit der Windungszahl + 1 ein Element der Kreis-gruppe ist, die einer Drehung um 360° · n entspricht. (Ist beispielsweise n gleich 1/6, dann ordnen wir diesem Weg die Drehung um 360°/60 = 60° zu.) Ganz entsprechend ist die Monodromie entlang eines Weges mit der Win-dungszahl w gleich einer Drehung um 360° · w · n.

Als Ergebnis dieser Diskussion halten wir fest, dass die Monodromien ent-lang verschiedener Wege in der Ebene, bei der ein Punkt entfernt wurde, eine Darstellung der Fundamentalgruppe dieser Ebene in der Kreisgruppe lie-fern.13 Allgemeiner erhalten wir Darstellungen der Fundamentalgruppe von jeder Riemann’schen Fläche (bei der möglicherweise einige Punkte entfernt wurden, ähnlich wie bei der Ebene), indem wir die Monodromie von Dif-ferenzialgleichungen auf dieser Fläche auswerten. Die Gleichungen sind im Allgemeinen komplizierter, doch lokal, also in einer kleinen Umgebung eines Punktes auf der Fläche, gleichen sie den obigen Formeln. Mithilfe der Mo-nodromie der Lösungen von noch komplexeren Gleichungen können wir in

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184 Liebe und Mathematik

ähnlicher Form auch Darstellungen der Fundamentalgruppe einer gegebenen Riemann’schen Fläche in anderen Lie-Gruppen (nicht nur der Kreisgruppe) konstruieren. Zum Beispiel erhalten wir auf diese Weise auch Darstellungen der Fundamentalgruppe in der Gruppe SO(3).

Kehren wir zu dem Problem zurück, dem ich mich gegenübersah: Wir be-ginnen mit einer Lie-Gruppe G und betrachten die zugehörige Kac-Moody-Algebra. Falls Drinfelds Vermutung stimmte, sollte es eine Beziehung zwi-schen Darstellungen dieser Kac-Moody-Algebra und Darstellungen der Fun-damentalgruppe in der Langlands-dualen Gruppe LG geben.

In einem ersten Schritt werden die Darstellungen der Fundamentalgruppe durch geeignete Differenzialgleichungen ersetzt, deren Monodromien Werte in LG annehmen. Dadurch wird die Frage algebraischer und ist damit näher an der Welt der Kac-Moody-Algebren. Die in diesem Zusammenhang wichti-gen Differenzialgleichungen wurden schon früher von Drinfeld und Sokolov während Drinfelds „Exil“ in Ufa eingeführt (es sind ähnliche Gleichungen, wie wir sie im Fall der Ebene ohne einen Punkt besprochen haben). Beilinson und Drinfeld hatten diese Arbeiten später für beliebige Riemann’sche Flä-chen verallgemeinert und die entsprechenden Differenzialgleichungen Opers genannt. Das Wort „Oper“ ist eine Kurzform von „Operator“, es handelt sich aber auch teilweise um einen Scherz, denn im Russischen ist dies auch eine umgangssprachliche Bezeichnung für einen Polizisten, ähnlich wie „Bulle“.

In meiner Doktorarbeit konnte ich auf meine Arbeiten mit Borja in Mos-kau aufbauen und Darstellungen der Kac-Moody-Algebra von G finden, die durch die Opers, die zu der Langlands-dualen Gruppe LG gehören, paramet-risiert werden. Dass es überhaupt eine Beziehung zwischen diesen beiden gab, grenzte an ein Wunder: Irgendwie „wusste“ die Kac-Moody-Algebra zu G von der Langlands-dualen Gruppe LG, wie Drinfeld es vorhergesagt hatte. Damit konnte sein Plan entsprechend des folgenden Schemas umgesetzt werden:14

Diagramm 15.4

eine Darstellung derFundamentalgruppe von

X in

ein Oper auf derRiemann’schen

Fläche X→ →

→eine Darstellungder Kac-Moody-Algebra von G

eine automorphe Garbeauf dem Modulraum von

G-Bündeln über X

GL

Mein Beweis dafür war technisch ziemlich aufwendig. Ich konnte zwar er-klären, wie die Langlands-duale Gruppe ins Spiel kommt, doch selbst heute, zwanzig Jahre später, empfinde es ich immer noch als rätselhaft, weshalb sie

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15 Ein heikler Tanz 185

ins Spiel kommt. Ich hatte das Problem zwar gelöst, doch letztendlich war ich nicht zufrieden, dass hier irgendetwas wie aus dem Nichts auftauchte. Seit damals wird meine Forschung zum Teil davon motiviert, dass ich eine bessere Erklärung finden möchte.

So etwas passiert häufiger. Man beweist einen Satz, andere bestätigen den Beweis, und aufbauend auf diesem neuen Ergebnis erfährt das Gebiet einen Fortschritt. Doch bis man die Bedeutung dieses Satzes wirklich verstanden hat, kann es Jahre oder Jahrzehnte dauern. Mir ist bewusst, dass, sollte ich die Antwort nicht finden, neue Generationen von Mathematikern diese Aufgabe übernehmen werden, die irgendwann die Antwort entdecken. Lieber würde ich natürlich selbst den tieferen Grund finden.

Beilinson und Drinfeld verwendeten später den Satz aus meiner Doktor-arbeit für ihre wunderbare Konstruktion der geometrischen Langlands-Be-ziehung (in der rechten Spalte von Weils Rosetta-Stein, vgl. Diagramm 14.1). Ihre Arbeit erregte viel Aufsehen und war der Anfang eines neuen Kapitels im Langlands-Programm. Sie führte zu einer Fülle an frischen Ideen und Ein-sichten und erweiterte das Programm nochmals beträchtlich.

Später habe ich meine Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet (einiges in Zusammenarbeit mit Borja, anderes mit Dennis Gaitsgory) in meinem Buch Langlands Correspondence for Loop Groups (Cambridge University Press) zu-sammengefasst.15 Es erschien 2007, genau zwanzig Jahre nachdem ich die ers-ten Gleichungen für die Realisationen von Kac-Moody-Algebren durch freie Felder während einer Nachtfahrt im Zug von Borjas Datscha nach Hause aufgeschrieben hatte. Damals konnte ich nicht wissen, dass mit diesen Be-rechnungen meine lange Reise in das Langlands-Programm begonnen hatte.

Als Epigraf für mein Buch wählte ich damals die folgenden Zeilen aus ei-nem Gedicht von 1931 von E. E. Cummings, einem meiner Lieblingsdichter:

Concentric geometries of transparency slightlyJoggled sink through algebras of proudInwardlyness to collide spirally with iron arithmetics.(Konzentrische Geometrien einer leicht geschüttelten Transparenzsinken durch Algebren stolzer Innerlichkeit und kollidieren inSpiralen mit eiserner Arithmetik …)

Für mich klingt das wie eine poetische Metapher für das, was wir im Lang-lands-Programm zu erreichen versuchen: eine Einheit von Geometrie, Algeb-ra und Arithmetik (d. h. Zahlentheorie). Eine moderne Alchemie.

Die Arbeit von Beilinson und Drinfeld löste einige alte Probleme, sie warf aber auch neue Fragen auf. So ist es in der Mathematik: Jedes neue Ergeb-nis zieht den Schleier über dem Unbekannten etwas zurück, doch das neue

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186 Liebe und Mathematik

Wissen umfasst nicht nur Antworten, sondern auch Fragen, von denen wir vorher nicht wussten, wie man sie stellen sollte, und zeigt uns neue Richtun-gen, von denen wir nicht wussten, dass man sie erkunden kann. So regt uns jede Entdeckung zu neuen Schritten an und lässt uns bei unserer Suche nach Erkenntnis immer unbefriedigt.

Im Mai 1991 fand an der Harvard University meine Promotionsfeier statt. Dieses Ereignis hatte für mich nochmals eine besondere Bedeutung, weil der Sprecher bei dieser Feier Eduard Schewardnadse war, einer der Architekten der Perestroika in der Sowjetunion. Er war kurz zuvor aus Protest gegen die Gewalt in den Baltischen Republiken von seinem Amt als Außenminister zu-rückgetreten und hatte vor einer bevorstehenden Diktatur gewarnt.

Es waren turbulente Zeiten. Noch ahnten wir nichts von den Tumulten, die noch kommen sollten: dem Putsch im August des Jahres, dem anschließen-den Zerfall der Sowjetunion und dem Elend, das die meisten Leute im Zuge der wirtschaftlichen Reformen ertragen mussten. Und auch Schewardnadses umstrittene Rolle als Oberhaupt seines Heimatlands, der Republik Georgien, war damals noch nicht absehbar. An diesem wunderbaren Tag im Harvard Yard wollte ich diesem Mann, der mich und Millionen meiner Landsleute vom kommunistischen Regime befreit hatte, einfach nur „Danke“ sagen.

Nach seiner Rede ging ich zu ihm und erzählte ihm, dass ich gerade mei-nen Doktorgrad von der Harvard University erhalten hatte, und dass dies ohne Perestroika nie möglich gewesen wäre. Er lächelte und sagte mit seinem charmanten georgischen Akzent in Russisch: „Ich freue mich, das zu hören. Ich wünsche Ihnen für Ihre Arbeit viel Erfolg.“ Er hielt einen Augenblick inne und fügte dann hinzu: „Und Glück in Ihrem Privatleben.“

Am nächsten Morgen flog ich nach Italien. Victor Kac hatte mich zu einer Konferenz eingeladen, die er mit seinem italienischen Kollegen Corrado de Concini in Pisa organisiert hatte. Von Pisa reiste ich nach Korsika zu einem weiteren Treffen, und anschließend zu einer Konferenz in Kyoto in Japan. Auf diesen Konferenzen kamen Physiker und Mathematiker zusammen, die an Kac-Moody-Algebren und ihren Anwendungen in der Quantenphysik inter-essiert waren. Ich trug über meine Arbeiten vor, die ich gerade abgeschlossen hatte. Es war das erste Mal, dass die meisten Anwesenden vom Langlands-Programm hörten, und sie schienen davon sehr begeistert. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, bin ich selbst erstaunt, wie viel sich seither getan hat. Das Langlands-Programm wird heute als ein Grundpfeiler der modernen Mathe-matik angesehen und ist in vielen Gebieten allgemein bekannt.

Es war das erste Mal, dass ich frei durch die Welt reisen konnte. Ich ent-deckte unterschiedliche Kulturen und erkannte, wie unsere gemeinsame Spra-che – die Mathematik – uns näher zusammenbringt. Alles war neu und auf-regend, die Welt – ein Kaleidoskop unendlicher Möglichkeiten.

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16Quantendualität

Wir haben gesehen, welches Echo das Langlands-Programm in den verschie-denen Bereichen der Mathematik erzeugte, von der Zahlentheorie und Kurven über endlichen Körpern zu Riemann’schen Flächen. Sogar Darstellungen von Kac-Moody-Algebren wurden in diese Mixtur einbezogen. Durch die Brille des Langlands-Programms sehen wir dieselben Strukturen und dieselben Phä-nomene in all diesen verschiedenen mathematischen Bereichen. Sie zeigen sich auf unterschiedliche Weise, doch einige Gemeinsamkeiten (wie das Auftreten der Langlands-dualen Gruppen) lassen sich immer erkennen. Alles deutet auf eine geheimnisvolle tieferliegende Struktur – man könnte sagen, den Quell-code – in der gesamten Mathematik. In diesem Sinne sprechen wir vom Lang-lands-Programm als einer Großen Vereinheitlichten Theorie der Mathematik.

Einige der bekanntesten und eingängigsten Konzepte, die wir aus der Schu-le kennen, Zahlen, Funktionen, Gleichungen, haben wir in neuem Licht gese-hen – verdreht, verzerrt und manchmal sogar zerstört. Viele erwiesen sich bei Weitem nicht so grundlegend wie zunächst angenommen. In der modernen Mathematik treffen wir auf Konzepte und Ideen, die weitaus tiefgründiger und vielseitiger sind: Vektorräume, Symmetriegruppen, das Rechnen modulo Primzahlen, Garben. Daher gibt es in der Mathematik weitaus mehr, als man zunächst meint, und das Langlands-Programm erlaubt es uns, Beziehungen zu erkennen, die wir vorher nicht sahen. Bisher konnten wir nur einen flüch-tigen Blick auf diese versteckte Wirklichkeit werfen. Und nun versuchen wir wie Archäologen vor einem zerbrochenen bemalten Gefäß, die Einzelteile, die wir finden konnten, zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Jedes Teil des Puz-zles führt zu neuen Einsichten und neuen Mitteln, das Geheimnis zu lüften. Und jedes Mal sind wir erneut erstaunt über die scheinbar unerschöpfliche Vielfalt in dem sich abzeichnenden Bild.

Ich fand meinen eigenen Zugang zu dieser magischen Welt, als Drinfeld meine Arbeit über Kac-Moody-Algebren mit dem Langlands-Programm in Verbindung brachte. Seitdem fasziniert mich dieses unermessliche Thema und seine Allgegenwärtigkeit in der Mathematik. Ich war wie besessen, mehr über die verschiedenen in diesem Buch angesprochenen Seiten dieses Programms zu erfahren, und seither hat sich der Großteil meiner Forschung entweder un-

E. Frenkel, Liebe und Mathematik,DOI 10.1007/978-3-662-43421-5_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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188 Liebe und Mathematik

mittelbar auf das Langlands-Programm bezogen oder war doch zumindest in der ein oder anderen Form davon beeinflusst. Dadurch war ich gezwungen, durch verschiedene mathematische Kontinente zu reisen, verschiedene Kultu-ren kennenzulernen und ihre Sprachen zu erlernen.

Wie jeder Weltenbummler war auch ich erstaunt über das, was ich ent-deckte. Und nun kommen wir zu einer der größten Überraschungen: Es zeigt sich, dass das Langlands-Programm auch untrennbar mit der Quantenphysik verknüpft ist. Der Schlüssel ist die Dualität, sowohl in der Physik als auch der Mathematik.

Es erscheint zunächst vielleicht seltsam, in der Physik nach Dualität zu suchen, doch in gewisser Hinsicht sind wir mit diesem Konzept bereits sehr vertraut. Betrachten wir als Beispiel die Elektrizität und den Magnetismus. Obwohl diese beiden Kräfte ganz verschieden zu sein scheinen, lassen sie sich dennoch durch eine einzige mathematische Theorie beschreiben, die man Elektromagnetismus nennt. Diese Theorie besitzt eine versteckte Dualität, bei der elektrische und magnetische Kräfte vertauscht werden. (Auf die Ein-zelheiten gehe ich noch ein.) In den 1970er Jahren versuchte man in der Physik, diese Dualität auf sogenannte nicht-abelsche Eichtheorien zu verall-gemeinern. Dies sind die Theorien, mit denen wir die Kernkräfte beschreiben: die starke Kraft, welche die Quarks in den Protonen, Neutronen und anderen Elementarteilchen zusammenhält; und die schwache Kraft, die beispielsweise für den radioaktiven Zerfall verantwortlich ist.

Den Kern jeder Eichtheorie bildet eine Lie-Gruppe, die man als die Eich-gruppe bezeichnet. In gewisser Hinsicht ist der Elektromagnetismus die ein-fachste aller Eichtheorien, und die Eichgruppe ist in diesem Fall unser alter Freund, die Kreisgruppe (die Gruppe der Drehungen eines runden Gegen-stands). Diese Gruppe ist abelsch, d. h., die Multiplikation von zwei belie-bigen Elementen hängt nicht von ihrer Reihenfolge ab: a · b = b · a. Doch in den Theorien der starken und schwachen Wechselwirkungen sind die entspre-chenden Eichgruppen nicht abelsch, d. h., für Elemente der Eichgruppe gilt im Allgemeinen a · b ≠ b · a. Aus diesem Grunde nennt man sie nicht-abelsche Eichtheorien.

In den 1970er Jahren entdeckten die Physiker, dass es auch in nicht-abel-schen Eichtheorien ein Analogon zu der elektromagnetischen Dualität gibt, allerdings mit einer überraschenden Einschränkung: Wenn wir mit einer Eichtheorie mit der Eichgruppe G beginnen und dann die duale Theorie konstruieren, so erhalten wir eine Eichtheorie mit einer anderen Eichgruppe. Und – man höre und staune – diese Gruppe ist genau die Langlands-duale Gruppe LG, das zentrale Element im Langlands-Programm!

Man stelle sich einmal folgendes Bild vor: Mathematik und Physik seien wie zwei verschiedene Planeten, beispielsweise Erde und Mars. Auf der Erde

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16 Quantendualität 189

entdecken wir eine Beziehung zwischen verschiedenen Kontinenten, bei der jeder Person in Europa eine Person in Nordamerika zugeordnet ist, wobei ihre Größen, Gewichte und Alter gleich sind. Sie haben jedoch jeweils unterschied-liche Geschlechter (wie bei dem Wechsel von einer Lie-Gruppe zu ihrer Lang-lands-dualen Gruppe). Eines Tages erhalten wir Besuch von einem Marsbe-wohner, und der erzählt uns, dass man auf dem Mars eine ganz entsprechende Beziehung zwischen ihren Kontinenten entdeckt hat. Jeder Marsbewohner auf einem ihrer Kontinente kann einem Marsbewohner auf einem anderen ihrer Kontinente zugeordnet werden, sodass ihre Größen, Gewichte und Alter die-selben sind, aber… ihre Geschlechter entgegengesetzt (wer hätte gedacht, dass Marsbewohner wie wir Geschlechter haben?). Wir können kaum glauben, was wir hören: Es hat den Anschein, als ob die Beziehungen auf der Erde und die Beziehungen auf dem Mars irgendwie zusammengehören. Doch weshalb?

Und da die Langlands-dualen Gruppen sowohl in der Mathematik als auch in der Physik auftreten, ist es nur natürlich anzunehmen, dass es eine Verbin-dung zwischen dem Langlands-Programm in der Mathematik und der elek-tromagnetischen Dualität in der Physik gibt. Seit dreißig Jahren wird danach gesucht, aber sie wurde noch nicht gefunden.

Bei mehreren Gelegenheiten in den vergangenen Jahren habe ich über die-ses Problem mit Edward Witten, Professor am Institute for Advanced Study in Princeton, gesprochen. Ed Witten zählt zu den größten lebenden theoreti-schen Physikern. Eine seiner erstaunlichen Fähigkeiten besteht darin, mithilfe der anspruchsvollsten Formalismen der Quantenphysik zu überraschenden Entdeckungen und Vermutungen in der reinen Mathematik zu gelangen. Mehrere Generationen von Mathematikern wurden durch seine Arbeiten in-spiriert, und so wurde er der erste Physiker, der die Fields Medaille erhalten hat, einen der begehrtesten Preise in der Mathematik (Abb. 16.1).

Abb. 16.1 Edward Witten. © Edward Witten

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190 Liebe und Mathematik

Auch Witten fand die mögliche Verbindung zwischen den Quantenduali-täten und dem Langlands-Programm sehr interessant, und so erkundigte er sich von Zeit zu Zeit bei mir über die Fortschritte. Wir diskutierten darüber in meinem Büro in Harvard, wenn er Harvard oder das MIT besuchte, oder auch in seinem Büro in Princeton, wenn ich mal dort war. Diese Diskussio-nen waren immer sehr anregend, doch sehr weit sind wir nicht gekommen. Es war offensichtlich, dass noch irgendetwas Wesentliches fehlte und darauf wartete, entdeckt zu werden.

Und dann erhielten wir Hilfe aus einer sehr ungewöhnlichen Ecke.Während einer Konferenz in Rom im Mai 20031 erhielt ich eine E-Mail

von meinem guten Freund und Kollegen Kari Vilonen. Kari stammt ur-sprünglich aus Finnland, und er ist einer der geselligsten Mathematiker, die ich kenne. Kurz nachdem ich nach Harvard gekommen war, schleppten er und seine zukünftige Frau Martina mich in eine Sportkneipe in Boston, um ein Baseball-Endspiel mit den Red Sox anzuschauen. Nun, die Red Sox haben verloren, aber dieser Abend war eine Erfahrung, die ich nie vergessen werde. Seit damals sind wir gute Freunde und einige Jahre später haben wir auch gemeinsame Artikel über das Langlands-Programm geschrieben (zusammen mit dem Mathematiker Dennis Gaitsgory). Insbesondere konnten wir einen wichtigen Fall der Langlands-Beziehung beweisen.

Kari (der damals Professor an der Northwestern University war) schrieb in seiner E-Mail, dass er von Leuten der DARPA kontaktiert worden sei, die uns bei unserer Forschung am Langlands-Programm finanziell unterstützen wollten.

DARPA steht für Defence Advanced Research Projects Agency, und es handelt sich dabei um die Forschungsabteilung des amerikanischen Verteidi-gungsministeriums. DARPA wurde 1958 gegründet und war eine Reaktion auf das Sputnik-Programm der Sowjetunion. Die Hauptaufgabe der Behörde bestand in der Förderung von Wissenschaft und Technik in den Vereinigten Staaten, um technologische Überraschungen, wie Sputnik sie ausgelöst hatte, in Zukunft zu verhindern.

Ich las den folgenden Absatz auf der Internetseite der DARPA:2

Zur Erfüllung ihrer Aufgaben arbeitet die Behörde mit verschiedenen Gruppen zusammen, die mit multidisziplinären Ansätzen sowohl zur Erweiterung unse-res Wissens durch Grundlagenforschung als auch zur Entwicklung innovativer Technologien beitragen, indem sie durch angewandte Forschungen prakti-sche Herausforderungen lösen. DARPAs wissenschaftliche Projektförderung erstreckt sich von theoretischen Arbeiten bis hin zur Erstellung ausgereifter technologischer Prototypen…. Als wichtigste Institution des Verteidigungs-ministeriums (DoD) zur Förderung von Innovationen unterstützt DARPA Projekte von endlicher Dauer aber mit nachhaltiger revolutionärer Wirkung.

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16 Quantendualität 191

Im Laufe der Jahre hat DARPA unzählige Projekte in der angewandten Ma-thematik und der Informatik unterstützt, zum Beispiel war sie auch für die Einrichtung von ARPANET, dem Vorläufer des Internets, verantwortlich. Doch soviel ich wusste, hatte sie noch keine Projekte im Bereich der reinen Mathematik gefördert. Weshalb sollten sie die Forschung im Langlands-Pro-gramm unterstützen wollen?

Dieser Bereich erschien vollkommen abstrakt, ohne unmittelbare Anwen-dungen. Andererseits müssen wir aber auch einsehen, dass die wissenschaft-liche Grundlagenforschung den Ausgangspunkt für technologischen Fort-schritt bildet. Viele der zunächst abstrakten und abgehobenen Entdeckungen in der Mathematik und Physik führten schließlich zu Entwicklungen und Technologien, die wir heute im Alltag benutzen. Man denke nur an das Rech-nen modulo Primzahlen. Anfänglich erscheint es dermaßen abstrakt, dass man sich kaum vorstellen kann, so etwas könnte irgendwelche praktischen Anwendungen haben. Der englische Mathematiker G. H. Hardy behauptete sogar einmal: „Große Teile der höheren Mathematik sind nutzlos.“3 Doch er hatte Unrecht: Viele scheinbar esoterischen Ergebnisse in der Zahlenthe-orie (das war sein Fachgebiet) findet man heute fast überall, beispielsweise beim Online-Banking. Jedes Mal, wenn man ein Online-Geschäft abwickelt, kommt die modulare Arithmetik ins Spiel (siehe die Beschreibung des RSA-Verschlüsselungsalgorithmus in der Anmerkung 7 zu Kap. 14). Wir sollten die praktischen Anwendungsmöglichkeiten einer mathematischen Formel oder Idee nie unterschätzen.

Die Geschichte zeigt, dass fast allen revolutionären technologischen Neu-heiten Fortschritte in der Grundlagenforschung vorausgingen, manchmal Jahrzehnte zuvor. Wenn wir daher unsere Förderung der Grundlagenwissen-schaften einschränken, beschränken wir auch die Möglichkeiten für den Fort-schritt.

Es gibt noch einen weiteren Gesichtspunkt: Als Gesellschaft definieren wir uns zu einem Großteil über unsere wissenschaftliche Forschung und unsere Ideen. Es ist ein wichtiger Teil unserer Kultur und unseres Wohlbefindens. Robert Wilson, der erste Direktor des Fermi National Laboratory, an dem der seinerzeit größte Teilchenbeschleuniger gebaut wurde, formulierte dies in seinem Bericht gegenüber dem Vermittlungsausschuss des Kongresses zur Atomenergie im Jahr 1969. Auf die Frage, ob die viele Millionen Dollar teure Maschine zur Sicherheit des Landes beitragen könne, sagte er:4

Nur vor dem langfristigen Gesichtspunkt einer sich entwickelnden Techno-logie. Abgesehen davon hat es eher damit zu tun, ob wir gute Maler, gute Bildhauer oder großartige Dichter sind. Ich meine alle Dinge, die wir in unse-rem Land schätzen und ehren und um derentwegen wir unser Land lieben. In

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diesem Sinne hat dieses neue Wissen sehr viel zu tun mit unserer Ehre und unserem Land, doch es hat unmittelbar nichts mit der Verteidigung unseres Landes zu tun, außer der Tatsache, dass es verteidigungswerter wird.

Anthony Tether, der von 2001 bis 2009 der DARPA als Direktor vorstand, erkannte die Bedeutung von Grundlagenforschung, und so bat er seine Pro-grammmanager, nach guten Projekten in der reinen Mathematik Ausschau zu halten. Einer seiner Manager, Doug Cochran, nahm diese Bitte sehr ernst. Er hatte einen Freund bei der National Science Foundation (NSF) namens Ben Mann, der ursprünglich im Bereich der Topologie gearbeitet hatte. Ben hatte seine akademische Laufbahn aufgegeben und war nach Washington gekom-men, um als Programmdirektor in der Abteilung für mathematische Wissen-schaften bei der NSF zu arbeiten.

Als Doug ihn nach einem förderungswürdigen Projekt im Bereich der rei-nen Mathematik fragte, dachte Ben an das Langlands-Programm. Obwohl es nicht sein Fachgebiet war, erkannte er seine Bedeutung aus den Anträgen, die bei der NSF auf diesem Gebiet eingereicht wurden. Die Qualität dieser Projekte zusammen mit der Tatsache, dass dieselben Ideen in verschiedenen mathematischen Bereichen auftauchen, hinterließen bei ihm einen tiefen Eindruck.

Ben schlug Doug also vor, dass DARPA das Langlands-Programm fördern sollte, und aus diesem Grund wurden Kari, ich und noch zwei andere Mathe-matiker angesprochen, einen Antrag zu stellen, den Doug dem Direktor von DARPA vorlegen würde. Die Hoffnung war, sollte der Direktor dem Antrag stattgeben, dass unsere Forschung auf diesem Gebiet mit mehreren Millionen Dollar unterstützt würde.

Ehrlich gesagt, zögerten wir zunächst. Das war Neuland: Nach unserem Wissen hatte noch nie eine Gruppe von Mathematikern eine derart hochdo-tierte Förderung erhalten. Gewöhnlich erhalten Mathematiker vergleichswei-se kleine Einzelförderungen von der NSF (etwas Reisegeld, eine Doktoran-denstelle und vielleicht ein paar Spesen). Doch nun müssten wir die Arbeit Dutzender von Mathematikern koordinieren mit dem Ziel einer umfangrei-chen Kooperation auf einem riesigen Forschungsgebiet. Und wegen des Um-fangs der Förderung würden wir einer starken öffentlichen Kontrolle unterlie-gen und möglicherweise auch einem gewissen Grad an Neid und Missgunst von Seiten mancher Kollegen. Ohne einen deutlichen Fortschritt würden wir uns lächerlich machen und außerdem hätte ein Fehlschlag leicht die Tür für weitere Förderungen anderer wichtiger Projekte auf dem Gebiet der reinen Mathematik von Seiten der DARPA verschließen können.

Trotz unserer Bedenken wollten wir das Langlands-Programm voranbrin-gen. Und die Vorstellung, die herkömmliche Form mathematischer Forschung

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durch eine großangelegte finanzielle Förderung auf einem vielversprechenden Gebiet zu erweitern, klang aufregend. Wir konnten einfach nicht absagen.

Die nächste Frage war, worauf wir uns in unserem Projekt konzentrieren sollten. Wie wir gesehen haben, hat das Langlands-Programm viele Seiten, und es ist für viele Bereiche der Mathematik von Bedeutung. Es war leicht, ein halbes Dutzend Anträge zu diesem allgemeinen Thema zu schreiben. Wir mussten uns entscheiden und wählten als Schwerpunkt die Frage, die wir als besonders geheimnisvoll empfanden: Wie könnte die Beziehung zwischen dem Langlands-Programm und den Dualitäten in der Quantenphysik ausse-hen?

Eine Woche später stellte Doug unseren Antrag dem DARPA Direktor vor, und es war ein voller Erfolg. Der Direktor genehmigte für einen Zeitraum von drei Jahren mehrere Millionen Dollar für dieses Projekt. Soweit wir das beurteilen konnten, handelte es sich hierbei um den bisher größten Betrag, der jemals einem Projekt für die reine Mathematik zugestanden wurde. Die Erwartungen waren dementsprechend hoch. Es war ein erhebender Augen-blick, hinterließ bei uns aber auch ein gewisses Unbehagen.

Zu unserem Glück wechselte Ben Mann von der NSF zur DARPA und wurde der für uns zuständige Programmmanager. Schon beim ersten Treffen mit ihm wurde deutlich, dass er genau die richtige Person für diese Aufgabe war. Er hatte die Weitsicht und den Mut, sich auf ein derart risikoreiches Projekt einzulassen, er fand die richtigen Personen, um es umzusetzen, und unterstützte die Ideen uneingeschränkt. Dieser ansteckende Enthusiasmus übertrug sich auf seine Umgebung. Wir konnten uns glücklich schätzen, dass er die Sache leitete. Ohne seine Unterstützung und seine Hilfe hätten wir bei Weitem nicht das erreicht, was wir schließlich erreicht haben.

Als eine meiner ersten Amtshandlungen schickte ich eine E-Mail an Ed-ward Witten, erzählte ihm von unserem Antrag und fragte ihn, ob er interes-siert sei, einzusteigen. In Anbetracht der besonderen Stellung von Witten in der Physik und der Mathematik wollten wir ihn unbedingt dabeihaben. Doch leider war seine erste Reaktion eher verhalten. Er gratulierte uns zu unserem Erfolg, machte jedoch auch deutlich, dass er an vielen Projekten arbeitete und dass wir nicht auf seine Beteiligung hoffen sollten.

Doch wie durch einen Zufall sollte Peter Goddard, einer der Physiker, der die elektromagnetische Dualität in nicht-abelschen Eichtheorien mitentdeckt hatte, Direktor des Institute for Advanced Study in Princeton werden. Seine jüngere Forschung beschäftigte sich mit Dingen, die mit der Darstellungs-theorie von Kac-Moody-Algebren zusammenhingen, und aus diesem Grund hatten Peter und ich uns bereits auf mehreren Konferenzen getroffen.

An eines dieser Treffen erinnere ich mich noch besonders gut. Es war im August 1991 und wir besuchten einen großen Workshop über Mathematik

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und Quantenphysik an der Kyoto Universität in Japan. Während des Work-shops erhielten wir die alarmierenden Nachrichten über den Putschversuch in der Sowjetunion. Es hatte den Anschein, als ob das autoritäre Regime wie-der an die Macht käme und die begrenzten Freiheiten der Perestroika bald eingeschränkt würden. Damit würden auch die Grenzen wieder geschlossen, und somit bestand die Möglichkeit, dass ich meine Familie viele Jahre lang nicht mehr sehen könnte. Meine Eltern riefen mich an und meinten, sollte es tatsächlich soweit kommen, bräuchte ich mir keine Sorgen um sie zu ma-chen, und ich solle auf keinen Fall nach Russland zurückkommen. Als wir uns verabschiedeten, machten wir uns auf das Schlimmste gefasst. Es war noch nicht einmal klar, ob wir in der nahen Zukunft überhaupt noch telefonieren konnten.

Es waren turbulente Tage. Eines Nachts saß ich mit einem guten Freund, dem Physiker Fedja Smirnow, im Aufenthaltsraum eines der Hotels, wir schauten das japanische Fernsehprogramm und versuchten herauszufinden, was in Moskau vor sich ging. Alle anderen Personen in dem Gebäude schie-nen tief zu schlafen. Plötzlich, gegen drei Uhr morgens, kam Peter Goddard in den Raum und hatte eine Flasche Glenfiddich in seiner Hand. Er fragte nach den neuesten Nachrichten, und wir alle nahmen einen Drink. Kurz da-rauf ging er wieder zu Bett, bestand jedoch darauf, dass wir die Flasche behal-ten – eine nette Geste der Unterstützung.

Am nächsten Tag wurde der Putsch zu unserer großen Erleichterung nie-dergeschlagen. Ein Bild von mir und Borja Feigin (der ebenfalls bei dieser Konferenz war), lachend und mit erhobenen Siegerfäusten, erschien auf der Titelseite von Yomiuri, einer der führenden Tageszeitungen in Japan.

In meiner E-Mail an Peter erinnerte ich ihn an diese Geschichte und er-zählte ihm von dem DARPA-Projekt. Ich schlug vor, ein Treffen am Institute for Advanced Study zu organisieren, bei dem wir sowohl Physiker als auch Mathematiker an einen Tisch bringen und über das Langlands-Programm und die Dualitäten in der Physik sprechen konnten. Das Ziel war, eine ge-meinsame Basis zu finden, von der aus wir das Problem gemeinsam angehen konnten.

Peters Antwort konnte besser nicht sein. Er bot uns bei der Organisation dieses Treffens seine volle Unterstützung an.

Das Institut war für ein solches Treffen der ideale Ort. Es wurde 1930 als unabhängiges Forschungszentrum und „Denkfabrik“ gegründet und war unter anderem die Arbeitsstätte von Albert Einstein (der die letzten fünfund-zwanzig Jahre seines Lebens dort verbracht hatte), André Weil, John von Neu-mann, Kurt Gödel und vielen anderen bekannten Wissenschaftlern. Auch die heutige Fakultät ist sehr beeindruckend: Sie umfasst Robert Langlands selbst, der dort seit 1972 Professor war (und heute emeritiert ist) und Edward Wit-

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ten. Zwei weitere Physiker der Fakultät, Nathan Seiberg und Juan Maldace-na, arbeiten auf eng verwandten Bereichen der Quantenphysik, und mehrere Mathematiker, wie Pierre Deligne und Robert MacPherson, forschen über Themen, die mit dem Langlands-Programm zusammenhängen.

In unserem E-Mail-Austausch beschlossen Goddard und ich, für Anfang Dezember 2003 ein Vorbereitungstreffen zu planen. Ben Mann, Kari Vilonen und ich sollten nach Princeton kommen, und auch Goddard versprach, teil-zunehmen. Wir luden Witten, Seiberg und MacPherson ein. Außerdem kam noch Mark Goresky hinzu, der mit Kari und mir das DARPA-Projekt leiten sollte (wir luden auch Langlands, Maldacena und Deligne ein, doch sie waren unterwegs und konnten nicht kommen).

Das Treffen sollte um 11 Uhr im Besprechungsraum neben der Instituts-cafeteria beginnen. Ben, Kari und ich trafen ungefähr fünfzehn Minuten vor dem Treffen ein. Es war noch niemand da. Während ich nervös durch den Raum lief, fragte ich mich immerzu: „Kommt Witten?“ Er war der einzige der Eingeladenen, der seine Teilnahme nicht bestätigt hatte.

Fünf Minuten vor dem Treffen öffnete sich die Tür. Es war Ed Witten! In diesem Augenblick wusste ich, dass dieses Treffen zu einem Erfolg werden würde.

Fünf Minuten später kamen auch die anderen Teilnehmer. Wir saßen um einen großen Tisch. Nach den üblichen Begrüßungen und lockeren Gesprä-chen trat Stille ein und alle Augen schauten auf mich.

„Vielen Dank, dass Sie alle gekommen sind“, begann ich. „Seit Längerem ist bekannt, dass das Langlands-Programm und die elektromagnetische Du-alität Gemeinsamkeiten haben. Was genau dahinter steckt, wissen wir trotz vieler Versuche noch nicht. Ich denke, es ist an der Zeit, dieses Geheimnis zu lüften. Und nun haben wir die notwendigen Mittel, denn es wurde uns für unsere Forschung auf diesem Gebiet eine großzügige finanzielle Förderung von der DARPA zur Verfügung gestellt.“

Die Teilnehmer um den Tisch nickten und Peter Goddard fragte: „Was schlägst du vor, wie wir die Sache angehen sollen?“

Vor dem Treffen hatten Kari, Ben und ich verschiedene Möglichkeiten durchgespielt, sodass ich gut vorbereitet war.

Mein Vorschlag ist, dass wir ein Treffen hier am Institut organisieren. Wir wer-den Physiker einladen, die auf verwandten Gebieten arbeiten, und Vorträge der Mathematiker organisieren, die unseren gegenwärtigen Stand im Lang-lands-Programm vorstellen sollen. Dann besprechen wir mögliche Beziehun-gen zur Quantenphysik.

Nun wandten sich alle Köpfe Ed Witten zu, dem Dekan der Quantenphysik. Seine Reaktion war entscheidend.

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Schon allein physisch beeindruckend, geht von Witten zusätzlich noch eine große intellektuelle Kraft aus, die auf viele auch einschüchternd wirkt. Wenn er spricht, sind seine Aussagen vollkommen präzise und klar und scheinen absolut logisch. Er scheut sich nicht, eine Pause einzulegen und seine Antwort zu überdenken. In solchen Momenten schließt er oft die Augen und lehnt seinen Kopf nach vorne. Das tat er auch in diesem Augenblick.

Wir alle warteten ungeduldig. Vermutlich war weniger als eine Minute ver-gangen, doch mir schien es wie eine Ewigkeit. Schließlich sagte Witten: „Das klingt nach einer guten Idee. Welchen Termin schlägst du für ein solches Tref-fen vor?“

Ben, Kari und ich mussten uns unwillkürlich ansehen. Witten war dabei, und das war für uns ein großer Sieg.

Nach kurzer Besprechung fanden wir einen Zeitraum, mit dem alle einver-standen waren: 8. bis 10. März 2004. Anschließend fragte noch jemand, wer die Teilnehmer und Sprecher sein sollten. Wir nannten einige Namen und verständigten uns darauf, die Liste über E-Mail-Kontakt zu vervollständigen und die Einladungen möglichst bald abzuschicken. Damit war das Treffen beendet. Es hatte kaum mehr als fünfzehn Minuten gedauert.

Ich muss kaum betonen, wie zufrieden Ben, Kari und ich waren. Witten versprach, uns bei der Organisation des Treffens zu helfen (was für die Teil-nehmer eine große Anziehungskraft haben würde). Außerdem hofften wir, dass Langlands sowie noch einige andere Physiker und Mathematiker der Ins-titute, die an dem Thema interessiert waren, teilnehmen würden. Unser erstes Ziel war erreicht.

Während der nächsten Tage beschlossen wir eine Teilnehmerliste und eine Woche später verschickten wir die Einladungen. In dem Schreiben hieß es:

Mit diesem Schreiben möchten wir Sie zu einem informellen Workshop über das Langlands-Programm und Physik einladen, der am Institute for Advanced Study vom 8. bis 10. März 2004 stattfinden wird. Das Ziel des Workshops wird sein, Physiker mit den neueren Entwicklungen im Langlands-Programm vertraut zu machen, in der Hoffnung, die möglichen Beziehungen zwischen diesem Thema und der Quantenfeldtheorie erkunden zu können. Es sind mehrere Einführungsvorträge von Mathematikern geplant, und es wird viel Zeit für offene Diskussionen zur Verfügung stehen. Dieser Workshop wird durch einen Grant der DARPA gefördert.

Gewöhnlich kommen zu Konferenzen dieser Art rund fünfzig bis hundert Teilnehmer. Sehr oft halten die Sprecher ihre Vorträge und alle hören höflich zu. Ein paar Teilnehmer stellen nach dem Vortrag einige Fragen und andere versuchen später, mit dem Sprecher ins Gespräch zu kommen. Uns schwebte jedoch etwas vollkommen Anderes vor: Ein dynamisches Ereignis, bei dem

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jeder seine spekulativen Ideen äußern sollte, statt einer gewöhnlichen Kon-ferenz. Daher wollten wir auch nur rund zwanzig Teilnehmer einladen. Wir hofften, dadurch den Gedankenaustausch und die ungezwungenen Gesprä-che zwischen den Teilnehmern zu fördern.

Ein ähnliches Treffen hatten wir schon im November 2003 an der Universi-ty of Chicago gehabt. Auch damals waren nur wenige Mathematiker eingela-den worden, zu denen Drinfeld und Beilinson gehört hatten (die beide einige Jahre zuvor Professuren an der University of Chicago angenommen hatten). Das Treffen war ein Erfolg und bewies, dass dieses Format gut funktionierte.

Wir beschlossen, dass Kari, Mark Goresky und ich sowie ein früherer Dok-torand von mir, David Ben-Zvi, der mittlerweile Professor an der University of Texas in Austin war, die einführenden mathematischen Vorträge halten sollten. Wir unterteilten das Thema in vier Abschnitte, und jeder von uns soll-te über einen Teil vortragen. In unseren Präsentationen wollten wir den Physi-kern die wichtigsten Ideen des Langlands-Programms vermitteln, da viele von ihnen mit diesem Thema nicht vertraut waren. Das war keine leichte Aufgabe.

Während ich mich auf die Konferenz vorbereitete, wollte ich mehr über die elektromagnetische Dualität erfahren. Wir alle sind mit elektrischen und magnetischen Kräften vertraut. Die elektrische Kraft bewirkt die Abstoßung bzw. Anziehung zwischen elektrisch geladene Gegenständen, je nachdem ob sie gleich oder entgegengesetzt geladen sind. Beispielsweise hat ein Elektron eine negative elektrische Ladung und ein Proton eine gleich große positive. Die anziehende Kraft zwischen ihnen hält das Elektron auf einer Bahn um den Atomkern. Elektrische Kräfte erzeugen ein sogenanntes elektrisches Feld. Während eines Gewitters, das durch die Bewegung von warmer, feuchter Luft verursacht wird, zeigt sich seine Wirkung (Abb. 16.2).

Die magnetische Kraft hat einen anderen Ursprung. Diese Kraft wird durch Magnete oder durch die Bewegung elektrisch geladener Teilchen erzeugt. Ein Magnet hat zwei Pole: einen Nord- und einen Südpol. Wenn wir zwei Mag-

Abb. 16.2 Während eines Gewitters zeigen sich die elektromagnetischen Kräfte. © Foto von Shane Lear. NOAA Photo Library.

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nete mit ihren entgegengesetzten Polen aneinanderlegen, ziehen sie sich an, bei gleichen Polen stoßen sie sich ab. Die Erde ist ein riesiger Magnet, und wir nutzen ihre magnetische Kraft bei einem Kompass. Jeder Magnet erzeugt ein Magnetfeld, wie wir in Abb. 16.3 deutlich sehen können.

In den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts entwickelte der eng-lische Physiker James Clerk Maxwell eine elegante mathematische Theorie zur Beschreibung der elektrischen und magnetischen Felder. Er formulierte sie in einem System von Differenzialgleichungen, die heute seinen Namen tragen. Man könnte meinen, diese Gleichungen seien lang und kompliziert, doch im Grunde genommen sind sie ziemlich einfach: Es gibt nur vier Glei-chungen, und sie erscheinen erstaunlich symmetrisch. Wenn wir die Theorie im Vakuum betrachten (also ohne irgendwelche Materie), und das elektrische und magnetische Feld austauschen, ändert sich das Gleichungssystem nicht.5 Mit anderen Worten, der Austausch der beiden Felder ist eine Symmetrie der Gleichungen, die man als elektromagnetische Dualität bezeichnet. Es be-deutet, dass die Beziehungen zwischen den elektrischen und magnetischen Feldern symmetrisch sind: Jedes Feld beeinflusst das jeweils andere auf die gleiche Weise.

Maxwells elegante Gleichungen beschreiben die klassische Elektrodynamik und lassen sich bei großen Abständen und niedrigen Energien anwenden. Doch bei kleinen Abständen und hohen Energien muss das Verhalten der beiden Felder durch die Quantentheorie des Elektromagnetismus beschrie-ben werden. In der Quantentheorie sind bestimmte Elementarteilchen, die Photonen, die Träger dieser Felder, und Photonen können mit anderen Teil-chen wechselwirken. Diese Theorie bezeichnet man als Quantenfeldtheorie.

Zur Vermeidung von Missverständnissen sollte ich betonen, dass der Be-griff „Quantenfeldtheorie“ zwei verschiedene Bedeutungen hat: In einem weiten Sinne bezeichnet er die allgemeine mathematische Sprache, mit der das Verhalten und die Wechselwirkungen von Elementarteilchen beschrieben werden. Der Begriff kann sich aber auch auf ein bestimmtes Modell beziehen,

Abb. 16.3 Das Magnetfeld eines Magneten wird durch Kompasse angezeigt. © Foto von Dayna Mason.6

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z. B. ist die Quantenelektrodynamik in diesem Sinne eine Quantenfeldtheo-rie. Ich werde den Begriff meist in letzterem Sinne verwenden.

In jeder Theorie (oder jedem Modell) dieser Art gibt es einige Teilchen (wie Elektronen und Quarks), die als Bausteine der Materie angesehen werden, und andere Teilchen (wie die Photonen), welche die Kräfte übermitteln. Je-des Teilchen hat bestimmte charakteristische Eigenschaften: bekannte Eigen-schaften wie die Masse und die elektrische Ladung und weniger bekannte Eigenschaften wie den Spin. Eine bestimmte Quantenfeldtheorie ist dann eine Art Rezept, wie diese Teilchen miteinander in Beziehung treten.

Das Wort „Rezept“ deutet auf eine nützliche Analogie: Man stelle sich eine Quantenfeldtheorie wie ein Kochrezept vor. Die Zutaten des Gerichts ent-sprechen den Teilchen, und die Art, wie wir die Zutaten untereinander vermi-schen, entspricht den Wechselwirkungen zwischen diesen Teilchen.

Betrachten wir als Beispiel das Rezept der russischen Suppe Borschtsch, die eine Spezialität in meiner Heimat ist, die das ganze Jahr über gegessen wird. Meine Mutter macht (natürlich!) die beste Suppe, und in Abb. 16.4 erkennt man, wie sie aussieht (das Bild hat mein Vater aufgenommen).

Natürlich darf ich das Rezept meiner Mutter nicht verraten. Doch hier ist ein Rezept aus dem Internet:

8 Tassen Brühe (Rinder oder Gemüse)1 Pfund Suppenknochen vom Rind1 große Zwiebel4 große rote Bete (geschält)4 Möhren (geschält)1 große mehlig-kochende Kartoffel (geschält)2 Tassen fein geschnittenes Weißkraut3/4 Tasse frisch gehackter Dill3 Esslöffel Rotweinessig1 Tasse Sauerrahm

Abb. 16.4 Eine russische Borschtsch. © Frenkel

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SalzPfefferMan stelle sich dies als den „Teilchengehalt“ unserer Quantenfeldtheorie

vor. Was würde in diesem Zusammenhang die Dualität bedeuten? Es hieße einfach, dass einige der Zutaten („Teilchen“) ausgetauscht würden, sodass ins-gesamt der Inhalt aber derselbe bleibt.

Eine solche Dualität könnte beispielsweise Folgendes bedeuten:rote Bete → MöhreMöhre → rote BeteZwiebel → KartoffelKartoffel → ZwiebelSalz → PfefferPfeffer → SalzAlle anderen Zutaten bleiben unter der Dualität unverändert; das bedeutetBrühe → BrüheSuppenknochen → Suppenknochenund so weiter.Da die Mengen der ausgetauschten Zutaten jeweils dieselben bleiben, han-

delt es sich um dasselbe Rezept! Das ist die Bedeutung der Dualität.Würden wir jedoch rote Bete durch Kartoffeln ersetzen und umgekehrt,

erhielten wir ein neues Rezept: In diesem Fall hätten wir vier Kartoffeln und eine rote Bete. Ich habe es noch nicht versucht, bin aber überzeugt, dass es scheußlich schmeckt.

Aus dem Beispiel sollte deutlich geworden sein, dass Rezepte nur in seltenen Fällen eine Symmetrie besitzen, und daraus können wir etwas über Gerichte lernen. Die Tatsache, dass wir rote Bete mit Möhren austauschen können, ohne dass sich am Ergebnis etwas ändert, bedeutet, dass unser Borschtsch diesbezüglich geschmacklich ausgeglichen ist.

Kehren wir zur Quantenelektrodynamik zurück. Wenn wir von einer Du-alität in dieser Theorie sprechen, meinen wir damit, dass wir die Teilchen so austauschen können, dass wir am Ende wieder dieselbe Theorie haben. Die elektromagnetische Dualität soll alle „elektrischen Dinge“ durch „mag-netische Dinge“ ersetzen und umgekehrt. Beispielsweise sollte ein Elektron (das z. B. den roten Beten in unserer Suppe entsprechen könnte), das eine elektrische Ladung trägt, mit einem Teilchen ausgetauscht werden, das eine magnetische Ladung trägt (und das der Möhre entsprechen würde).

Ein solches Teilchen widerspricht unserer Alltagserfahrung: Ein Magnet besitzt immer zwei Pole, die sich nicht trennen lassen! Wenn wir einen Mag-neten in zwei Teile auseinanderbrechen, hat jedes der beiden Teile zwei Pole.

Trotzdem haben theoretische Physiker, allen voran 1931 einer der Begrün-der der Quantenphysik, Paul Dirac, über eine mögliche Existenz magnetisch

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geladener Elementarteilchen nachgedacht. Ein solches hypothetisches Teil-chen bezeichnet man als magnetischen Monopol. Dirac zeigte, dass das Mag-netfeld eine magnetische Ladung tragen könnte, wenn wir zulassen, dass es am Ort eines solchen Monopols ein bestimmtes seltsames Verhalten haben darf (die Mathematiker würden in diesem Fall von einer Singularität des Ma-gnetfelds sprechen).

Bisher wurden noch keine magnetischen Monopole im Experiment beob-achtet, wir wissen also nicht, ob es sie in der Natur tatsächlich gibt. Sollte es sie nicht geben, dann besitzt die Natur auf Quantenniveau keine exakte elektromagnetische Dualität.

Das endgültige Urteil hierzu steht noch aus. Dessen ungeachtet können wir jedoch eine Quantenfeldtheorie formulieren, die ziemlich gut beschreibt, was wir beobachten, und die eine elektromagnetische Dualität aufweist. Keh-ren wir zu unserem Küchenbeispiel zurück, dann können wir natürlich neue Theorien „kochen“, welche die Dualität enthalten. Wir können die Zutaten und ihre Mengen in uns bekannten Rezepten ändern – einige wegnehmen und andere hinzufügen, und so weiter. Diese Form der „experimentellen Kü-che“ könnte zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Wir wollen zwar diese hypothetischen Gerichte nicht immer „essen“, aber ob essbar oder nicht, es kann nützlich sein, die Eigenschaften solcher Gerichte aus unserer imaginä-ren Küche zu untersuchen. Vielleicht erhalten wir auch Anhaltspunkte über Gerichte, die essbar sind (also zu Modellen, die unser Universum tatsächlich beschreiben könnten).

Dieses „Trial-and-Error-Modellbasteln“ war in der Quantenphysik viele Jahrzehnte lang recht erfolgreich (ebenso wie in der Kunst des Kochens). Und Symmetrie war immer ein wichtiges Leitmotiv, das bei der Aufstellung solcher Modelle hilfreich war. Je mehr Symmetrien ein Modell besitzt, umso leichter kann man es untersuchen.

Für das Folgende sollte man wissen, dass es zwei Arten von Elementar-teilchen gibt: Fermionen und Bosonen. Fermionen sind die Bausteine der Materie (Elektronen, Quarks, usw.), und Bosonen sind die Träger der Kräfte (wie Photonen). Auch das vor Kurzem am Large Hadron Collider in Genf entdeckte Higgs-Teilchen ist ein Boson.

Zwischen diesen beiden Teilchenarten besteht ein grundlegender Unter-schied: Zwei Fermionen können sich nie gleichzeitig in demselben Zustand befinden, Bosonen jedoch in beliebiger Anzahl. Wegen ihres derart unter-schiedlichen Verhaltens dachten die Physiker lange Zeit, dass jede Symme-trie einer Quantenfeldtheorie die Trennung zwischen den fermionischen und bosonischen Anteilen erhalten muss: Die Natur erlaubt es nicht, sie „in einen Topf“ zu werfen. Doch Mitte der 1970er Jahre kamen einige Physiker auf eine zunächst sehr verrückt erscheinende Idee: Es könnte eine neuartige Sym-

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metrie geben, bei der Bosonen und Fermionen ausgetauscht werden. Diese Symmetrie taufte man Supersymmetrie.

Niels Bohr, einer der Schöpfer der Quantenmechanik, soll gegenüber Wolf-gang Pauli einmal gesagt haben: „Wir stimmen alle darin überein, dass deine Theorie verrückt ist. Worin wir uns nicht einig sind, ist, ob sie verrückt genug ist, um richtig sein zu können.“

Im Fall der Supersymmetrie wissen wir immer noch nicht, ob sie in der Natur realisiert ist, doch das Modell wurde sehr populär. Viele der Probleme, an denen die herkömmlichen Quantenfeldtheorien leiden, verschwinden in Theorien mit Supersymmetrie. Tatsächlich sind supersymmetrische Theorien im Allgemeinen wesentlich eleganter und auch leichter zu untersuchen.

Die Quantenelektrodynamik ist nicht supersymmetrisch, aber sie besitzt supersymmetrische Verallgemeinerungen. Wir geben noch einige Teilchen hinzu, sowohl Bosonen als auch Fermionen, sodass die Theorie schließlich eine Supersymmetrie besitzt.

Die Physiker haben insbesondere eine Erweiterung der Elektrodynamik mit der maximal möglichen Menge an Supersymmetrie untersucht. Sie konn-ten zeigen, dass in einer derart erweiterten Theorie die elektromagnetische Dualität tatsächlich vorhanden ist.

Wir wissen heute noch nicht, ob es in der Natur eine quantenphysikalische Form der elektromagnetischen Dualität tatsächlich gibt oder nicht. Doch in einer idealisierten supersymmetrischen Erweiterung der Theorie ist diese elek-tromagnetische Dualität vorhanden.

Einen wichtigen Aspekt dieser Dualität haben wir bisher noch nicht an-gesprochen. Die Quantenfeldtheorie des Elektromagnetismus besitzt einen Parameter: die elektrische Ladung des Elektrons. Da diese Ladung negativ ist, schreiben wir sie als –e, wobei e = 1,602 · 10−19 Coulomb ist. Dieser Wert ist sehr klein. Die maximale supersymmetrische Erweiterung des Elektromagne-tismus besitzt einen ähnlichen Parameter, den wir ebenfalls mit e bezeichnen. Wenn wir eine elektromagnetische Dualitätstransformation durchführen und sämtliche elektrischen Dinge durch magnetische Dinge ersetzten, erhalten wir eine Theorie, in der die Ladung des Elektrons nicht e sondern 1/e, also das Inverse ist.

Da e sehr klein ist, ist 1/e sehr groß. Wenn wir also mit einer Theorie begin-nen, bei der die Ladung des Elektrons klein ist (wie es für unsere Welt der Fall ist), dann hat das Elektron in der dualen Theorie eine große Ladung.

Das ist sehr überraschend! Denken wir nochmals an unsere Suppe und stellen uns vor, e sei die Temperatur der Suppe. Die Dualität würde bedeuten, dass wir bei Austausch der Zutaten wie Möhren und rote Bete plötzlich aus einer kalten Borschtsch eine heiße machen.

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Diese Inversion von e ist einer der entscheidenden Aspekte der elektro-magnetischen Dualität mit weitreichenden Konsequenzen. Bei einer gewöhn-lichen Quantenfeldtheorie wissen wir nur dann recht gut, wie wir mit der Theorie umgehen müssen, wenn Parameter wie e sehr klein sind. Im Allge-meinen wissen wir noch nicht einmal, ob die Theorie für große Werte dieser Parameter überhaupt sinnvoll ist. Die elektromagnetische Dualität bedeutet nicht nur, dass die Theorie in diesem Fall tatsächlich sinnvoll ist, sondern dass sie sogar äquivalent zu der Theorie mit kleinen Werten dieser Parameter ist. Das bedeutet, wir können die Theorie sehr wahrscheinlich für alle Werte der Parameter beschreiben. Aus diesem Grund ist diese Form der Dualität wie ein Heiliger Gral der Quantenphysik.

Unsere nächste Frage lautet, ob es so etwas wie die elektromagnetische Du-alität auch für andere Quantenfeldtheorien außer der Quantenelektrodyna-mik und ihrer supersymmetrischen Erweiterung gibt.

Neben den elektrischen und magnetischen Kräften gibt es in der Natur noch drei weitere Kräfte: die uns vertraute Gravitation und die beiden Kern-kräfte mit den ziemlich banalen Bezeichnungen starke und schwache Kernkraft. Die starke Kernkraft hält die Quarks in den Elementarteilchen wie den Proto-nen und Neutronen zusammen. Die schwache Kernkraft ist für verschiedene Umwandlungsprozesse von Atomen und Elementarteilchen verantwortlich, beispielsweise den sogenannten Betazerfall von Atomkernen (Emission von Elektronen und Neutrinos) oder die Wasserstofffusion im Inneren von Ster-nen.

Diese Kräfte erscheinen zunächst sehr verschieden. Doch die Theorien der elektromagnetischen, schwachen und starken Kräfte haben etwas gemein: Sie alle sind sogenannte Eichtheorien bzw. Yang-Mills-Theorien, zu Ehren der Physiker Chen Ning Yang und Robert Mills, die 1954 einen wegweisen-den Artikel dazu geschrieben haben. Wie schon zu Beginn dieses Kapitels erwähnt, haben Eichtheorien eine Symmetriegruppe, die man Eichgruppe nennt. Es handelt sich dabei um eine Lie-Gruppe (vgl. Kap. 10). Die Eich-gruppe der Theorie des Elektromagnetismus ist die ganz zu Beginn dieses Buches eingeführte Kreisgruppe (die auch als SO(2) oder U(1) bekannt ist). Es ist die einfachste Lie-Gruppe und sie ist abelsch. Wir wissen bereits, dass viele Lie-Gruppen nicht-abelsch sind, beispielsweise die Gruppe SO(3) der Drehungen einer Kugel. Yang und Mills wollten eine Verallgemeinerung des Elektromagnetismus konstruieren, bei der die Kreisgruppe durch eine nicht-abelsche Gruppe ersetzt wird. Es zeigte sich, dass Eichtheorien mit nicht-abelschen Eichgruppen eine genaue Beschreibung der schwachen und starken Kernkraft liefern.

Die Eichgruppe der Theorie der schwachen Kernkräfte bezeichnet man als SU(2). Es ist die Langlands-duale Gruppe zu SO(3), und sie ist doppelt so

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groß (darüber haben wir in Kap. 15 gesprochen). Die Eichgruppe der starken Kernkräfte bezeichnet man als SU(3).7

Eichtheorien bilden also einen allgemeinen Rahmen, der drei der vier Grundkräfte der Natur beschreibt (die elektrische und magnetische Kraft fas-sen wir als Teil einer gemeinsamen Kraft auf – den Elektromagnetismus). Da-rüber hinaus erkannte man bald, dass es sich hierbei nicht um drei getrennte Theorien handelt, sondern um Teile einer gemeinsamen Theorie, die man all-gemein als Standardmodell der Elementarteilchen bezeichnet und die die drei Kräfte als verschiedene Anteile enthält. Daher spricht man auch von einer vereinheitlichten Theorie. Einstein hatte während der letzten dreißig Jahre sei-nes Lebens vergeblich danach gesucht (ihm ging es damals um die Verein-heitlichung der zwei zu jener Zeit bekannten Kräfte: des Elektromagnetismus und der Gravitation).

Wir haben bereits ausführlich über die Bedeutung von Vereinheitlichungen in der Mathematik gesprochen. So ist das Langlands-Programm eine verein-heitlichte Theorie in dem Sinne, dass sehr viele Phänomene aus verschiedenen mathematischen Bereichen in ähnlichen Begriffen beschrieben werden. Die Idee einer vereinheitlichten Theorie, die sich aus wenigen Grundprinzipien ableiten lässt, ist besonders in der Physik naheliegend, und man kann auch leicht verstehen, weshalb: Wir möchten gerne ein möglichst umfassendes Ver-ständnis der inneren Struktur unseres Universums erreichen, und wir hoffen, dass die „ultimative“ Theorie – sofern es sie geben sollte – einfach und elegant ist.

Einfach und elegant bedeutet jedoch nicht unbedingt leicht. Die Max-well’schen Gleichungen z. B. sind sehr tiefgründig, und es bedarf eines gewis-sen Aufwands, um ihre Bedeutung verstehen zu können. Aber sie sind einfach in dem Sinne, dass sie das Verhalten der elektrischen und magnetischen Kräf-te auf sehr ökonomische Weise zum Ausdruck bringen. Und sie sind elegant. Das Gleiche gilt für die Einstein’schen Gleichungen der Gravitation und die Gleichungen von Yang und Mills für nicht-abelsche Eichtheorien. Eine ver-einheitlichte Theorie sollte sie alle zusammenfügen, so wie eine Symphonie die Stimmen der verschiedenen Instrumente zusammenbringt.

Das Standardmodell ist ein Schritt in diese Richtung, und seine experi-mentelle Bestätigung (einschließlich des vor Kurzem entdeckten Higgs-Bo-sons) war ein großer Erfolg. Es kann sich jedoch nicht um die endgültige Theorie des Universums handeln: Zum einen ist die Gravitation nicht mit einbezogen, die sich als besonders schwierig erweist. Die allgemeine Relativi-tätstheorie Einsteins ermöglicht uns ein sehr gutes klassisches Verständnis der Gravitation, also bei großen Abständen, aber es gibt noch keine experimentell überprüfbare Quantentheorie, welche die Gravitation bei sehr kurzen Ab-ständen beschreiben könnte. Doch selbst wenn wir uns auf die anderen drei

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Kräfte der Natur beschränken, lässt das Standardmodell zu viele Fragen un-beantwortet. Außerdem beinhaltet es einen großen Teil der Materie nicht, der von den Astronomen beobachtet wird (die sogenannte dunkle Materie). Das Standardmodell kann also bestenfalls ein vorläufiger Entwurf der endgültigen Symphonie sein.

Eines scheint unbestritten: Die endgültige Partitur der alles umfassenden Symphonie wird in der Sprache der Mathematik geschrieben sein. Nachdem Yang und Mills ihren viel gerühmten Artikel über nicht-abelsche Eichthe-orien geschrieben hatten, erkannten die Physiker zu ihrem Erstaunen, dass der mathematische Formalismus dieser Theorie bereits Jahrzehnte zuvor, aber ohne jeden Bezug zur Physik entwickelt worden war. Yang erhielt schließlich den Nobelpreis, und er beschrieb seine Ehrfurcht mit folgenden Worten:8

Es war nicht einfach nur Freude. Es umfasste noch mehr, noch etwas Tieferes: Was konnte geheimnisvoller oder Ehrfurcht gebietender sein als die Erkennt-nis, dass die Struktur der physikalischen Welt sehr eng mit mathematischen Konzepten verbunden ist, die lediglich aus Überlegungen der Logik und der Schönheit der Formen entwickelt worden waren?

Den gleichen zutiefst ergriffenen Eindruck äußert auch Albert Einstein in seiner Frage: „Wie ist es möglich, dass die Mathematik, die doch ein von aller Erfahrung unabhängiges Produkt des menschlichen Denkens ist, auf die Gegenstände der Wirklichkeit so vortrefflich passt?“9 Die von Yang und Mills verwendeten Konzepte zur Beschreibung der Naturkräfte traten zuvor in der Mathematik auf, weil sie sich im Rahmen der Geometrie als natürli-che Weiterentwicklung ergeben hatten. Es handelt sich um ein vortreffliches Beispiel für das, was ein anderer Nobelpreisgewinner, der Physiker Eugene Wigner, einmal als „unreasonable effectiveness of mathematics in the natural sciences“10, also die vernunftwidrige Leistungsfähigkeit der Mathematik in den Naturwissenschaften, bezeichnet hat. Obwohl die Wissenschaftler die-se „Leistungsfähigkeit“ seit Jahrhunderten zu ergründen versuchen, sind ihre Wurzeln immer noch kaum verstanden. Die mathematischen Wahrheiten scheinen objektiv und unabhängig sowohl von der physikalischen Welt als auch vom menschlichen Gehirn. Ohne jeden Zweifel sind die Verbindungen zwischen der Welt mathematischer Ideen, der physikalischen Realität und dem Bewusstsein sehr tiefgründig und bedürfen weiterer Erforschung. (In Kap. 18 kommen wir nochmals darauf zurück.)

Und wir benötigen neue Ideen, die uns über das Standardmodell hinaus bringen. Eine solche Idee ist die Supersymmetrie. Ob sie in unserem Uni-versum tatsächlich auftritt, wird immer noch heiß diskutiert. Bisher wurden noch keine Anzeichen dafür entdeckt. Letztendlich ist das Experiment der

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206 Liebe und Mathematik

Richter über jede Theorie, und solange wir noch keine experimentellen Be-weise haben, bleibt die Supersymmetrie ein theoretisches Konstrukt, trotz all ihrer verlockenden Schönheit. Doch selbst wenn sich erweisen sollte, dass die Supersymmetrie in unserer Wirklichkeit nicht existiert, handelt es sich um einen hilfreichen mathematischen Formalismus, den wir für die Entwicklung neuer Modelle der Quantenphysik verwenden können. Diese Modelle sind nicht allzu weit von den Modellen entfernt, mit denen wir die Physik der Wirklichkeit beschreiben, aber wegen ihrer größeren Symmetrien lassen sie sich oftmals leichter untersuchen. Die Hoffnung bleibt, dass wir aus diesen Theorien viel über die realistischen Theorien unseres Universums lernen kön-nen, unabhängig davon, ob es die Supersymmetrie gibt oder nicht.

Ebenso wie für die Theorie des Elektromagnetismus gibt es auch für die nicht-abelschen Eichtheorien supersymmetrische Erweiterungen. Diese super- symmetrischen Theorien enthalten mehr Teilchen, sowohl Bosonen als auch Fermionen, sodass ihre Anteile möglichst ausgeglichen sind. Unter diesen Umständen kann man sich natürlich die Frage stellen: Besitzen auch diese Theorien ein Analogon zur elektromagnetischen Dualität?

Ende der 1970er Jahre gingen die Physiker Claus Montonen und David Olive dieser Frage nach11, wobei sie auf frühere Arbeiten12 von Goddard (dem späteren Direktor des Institute for Advanced Study), Nuyts und Olive auf-bauten. Sie kamen zu einem erstaunlichen Ergebnis: Jawohl, es gibt eine elek-tromagnetische Dualität in den supersymmetrischen nicht-abelschen Eich-theorien, allerdings sind diese Theorien im Allgemeinen nicht selbst-dual, wie es beim Elektromagnetismus der Fall ist. Wie schon erwähnt, erhalten wir beim Elektromagnetismus dieselbe Theorie, wenn wir alle elektrischen Antei-le durch magnetische austauschen und umgekehrt, wobei wir die Ladung des Elektrons noch invertieren müssen. Wenn wir dasselbe jedoch bei einer all-gemeinen supersymmetrischen Eichtheorie mit einer Eichgruppe G machen, erhalten wir eine andere Theorie. Es ist immer noch eine Eichtheorie, aber mit einer anderen Eichgruppe (und ebenfalls wieder mit einem invertierten Parameter, welcher der elektrischen Ladung entspricht).

Und was ist die Eichgruppe der dualen Theorie? Erstaunlicherweise ist es LG, die Langlands-duale Gruppe der Gruppe G.

Goddard, Nuyts und Olive waren darauf gestoßen, als sie die elektrischen und magnetischen Ladungen in einer Eichtheorie mit Eichgruppe G genauer untersuchten. Im Elektromagnetismus, also einer Eichtheorie mit der Kreis-gruppe als Eichgruppe, können beide Ladungen ganzzahlige Werte anneh-men. Tauscht man sie aus, wird ein Satz ganzer Zahlen durch einen anderen Satz ganzer Zahlen ersetzt. Insgesamt bleibt die Theorie daher dieselbe. Bei einer allgemeinen Eichtheorie stellte sich jedoch heraus, dass die elektrischen und magnetischen Ladungen Werte in unterschiedlichen Mengen annehmen.

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16 Quantendualität 207

Wir nennen diese Mengen Se und Sm. Sie lassen sich mathematisch durch die Eichgruppe G ausdrücken (an dieser Stelle ist die genaue Konstruktion nicht wichtig).13

Es zeigt sich, dass unter der elektromagnetischen Dualität die Menge Se in die Menge Sm übergeht und umgekehrt Sm in Se. Dadurch stellt sich die Frage, ob es eine andere Gruppe G’ gibt, für die Se dieselbe Bedeutung hat wie Sm für G und Sm dieselbe Bedeutung wie Se für G (es gibt noch weitere Bedingungen, die durch G und G’ bestimmt werden). Es ist überhaupt nicht offensichtlich, dass es eine solche Gruppe G’ überhaupt geben sollte, doch sie konnten nicht nur zeigen, dass es sie gibt, sondern sie sogar konstruieren. Damals wussten sie nicht, dass G’ bereits ein Jahrzehnt zuvor in ganz ähnlicher Weise von Langlands konstruiert worden war, obwohl Langlands von einer ganz anderen Motivation ausgegangen war. Die Gruppe G’ ist genau die Langlands-duale Gruppe LG.

Die entscheidende Frage, weshalb die elektromagnetische Dualität zu der-selben Langlands-dualen Gruppe führt wie die Gruppe, die in einem voll-kommen anderen Zusammenhang in der Mathematik entdeckt worden war, sollte auf dem Treffen in Princeton angegangen werden.

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17Enthüllung verborgener Beziehungen

Princeton liegt ungefähr eine Zugstunde von New York City entfernt und sieht aus wie eine typische Vorstadt des Nordostens. Das Institute for Advan-ced Study, unter Wissenschaftlern einfach „The Institute“ genannt, liegt von Bäumen umgeben am Stadtrand von Princeton. Die Umgebung ist ruhig und malerisch: Enten schwimmen auf kleinen Teichen, und die Bäume spiegeln sich im Wasser. Das Institut besteht aus mehreren zwei- und dreistöckigen Backsteinbauten im Stil der 1950er Jahre, und es strahlt intellektuelle Kraft aus. Spaziert man durch die stillen Gänge und die Hauptbibliothek, kann man sich der geschichtsträchtigen Ausstrahlung kaum erwehren. Hier wirk-ten Einstein und andere Größen.

An diesem Ort hatten wir im März 2004 unser Treffen. Trotz der kurzfris-tigen Ankündigung war die Reaktion auf die im Dezember versandten Ein-ladungen überwältigend positiv. Anwesend waren rund zwanzig Teilnehmer, und als ich das Treffen eröffnete, bat ich um eine kurze Vorstellungsrunde. Ich konnte es kaum glauben: Da saßen Witten und Langlands, ebenso Peter Goddard und weitere Kollegen des Instituts sowohl aus der Abteilung für Mathematik als auch den Naturwissenschaften. Auch David Olive – von den Montonen-Olive- und Goddard-Nuyts-Olive-Artikeln – war anwesend. Und natürlich war auch Ben Mann bei uns.

Alles verlief nach Plan. Im Wesentlichen berichteten wir über die Ge-schichte, die Sie in diesem Buch gelesen haben: dem Ursprung des Lang-lands-Programms in der Zahlentheorie und der harmonischen Analyse, dem Übergang zu Kurven über endlichen Zahlenkörpern und schließlich zu Rie-mann’schen Flächen. Wir nahmen uns auch die Zeit, die Beilinson-Drinfeld-Konstruktion und meine Arbeit mit Feigin über Kac-Moody-Algebren und ihre Beziehungen zu zweidimensionalen Quantenfeldtheorien zu beschreiben.

Anders als bei sonstigen Konferenzen gab es regen Austausch zwischen Sprechern und Zuhörern. Das Treffen war sehr intensiv und die Diskussionen wurden auch außerhalb des Seminarraumes fortgesetzt.

Während dieser Zeit war Witten unter Hochspannung. Er saß in der ersten Reihe, hörte intensiv zu, stellte Fragen und hielt die Sprecher auf Trapp. Am

E. Frenkel, Liebe und Mathematik, DOI 10.1007/978-3-662-43421-5_17, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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210 Liebe und Mathematik

Morgen des dritten Tages kam er zu mir und sagte: „Ich möchte gerne am Nachmittag sprechen; ich habe eine Idee, was hier vor sich gehen könnte.“

Nach dem Mittagessen skizzierte er einen möglichen Zusammenhang zwi-schen den beiden Bereichen. Dies war der Anfang einer neuen Verbindung zwischen der Mathematik und der Physik, die er und seine Mitarbeiter, zu-sammen mit vielen anderen, seither verfolgen.

Wie schon besprochen, dreht sich die geometrische Form des Lang-lands-Programms in der dritten Spalte von André Weils Rosetta-Stein um Riemann’sche Flächen. All diese Flächen sind zweidimensional. Zum Beispiel hat die Kugeloberfläche – die einfachste Riemann’sche Fläche – zwei Koor-dinaten: Längengrad und Breitengrad (vgl. Kap. 10). Deshalb ist sie zweidi-mensional. Auch alle anderen Riemann’schen Flächen sind zweidimensional, denn eine kleine Umgebung von jedem Punkt sieht wie ein Ausschnitt einer zweidimensionalen Ebene aus, also lässt sie sich durch zwei unabhängige Ko-ordinaten beschreiben.

Andererseits sind Eichtheorien, bei denen die elektromagnetische Duali-tät auftritt, in der vierdimensionalen Raumzeit definiert. Als ersten Schritt überbrückte Witten diesen Unterschied durch eine sogenannte dimensionale Reduktion von einer vierdimensionalen Eichtheorie auf zwei Dimensionen.

Die dimensionale Reduktion ist in der Physik eine Standardmethode: Wir approximieren ein gegebenes physikalisches Modell, indem wir uns auf eini-ge Freiheitsgrade konzentrieren und die anderen zunächst unberücksichtigt lassen. Stellen Sie sich vor, Sie säßen in einem Flugzeug, und eine Stewardess im Gang gibt ihnen ein Glas Wasser. Der Einfachheit können wir annehmen, dass die Bewegung der Hand der Stewardess senkrecht zur Flugrichtung des Flugzeugs ist. Die Geschwindigkeit des Glases besitzt dann zwei Komponen-ten: die erste Komponente ist die Geschwindigkeit des Flugzeugs und die zweite die Geschwindigkeit der Hand der Stewardess, die Ihnen das Glas gibt. Doch die Geschwindigkeit des Flugzeugs ist wesentlich größer als die Ge-schwindigkeit der Hand. Wenn wir also die Bewegung des Glases in der Luft aus der Sicht eines Beobachters am Boden beschreiben wollen, können wir die zweite Geschwindigkeitskomponente getrost vernachlässigen und einfach be-haupten, dass sich das Glas mit derselben Geschwindigkeit wie das Flugzeugt bewegt. Wir reduzieren dabei ein zweidimensionales Problem mit zwei Ge-schwindigkeitskomponenten zu einem eindimensionalen Problem mit der-jenigen Geschwindigkeitskomponente, die in diesem Fall den Ausschlag gibt.

In unserem Fall ergibt sich die Reduktion folgendermaßen: Wir betrachten eine geometrische Form (oder Mannigfaltigkeit), die das Produkt aus zwei Riemann’schen Flächen darstellt. „Produkt“ bedeutet hier, dass wir eine neue geometrische Form betrachten, deren Koordinaten die Koordinaten der je-weiligen Einzelflächen darstellen, jedoch zusammengenommen.

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17 Enthüllung verborgener Beziehungen 211

Betrachten wir als einfaches Beispiel zunächst das Produkt von zwei Gera-den. Jede Gerade hat eine Koordinate, also hat das Produkt zwei unabhängige Koordinaten und ist somit eine Ebene: Jeder Punkt der Ebene wird durch zwei Koordinaten dargestellt. Dies sind die zusammengenommenen Koordi-naten der beiden Geraden (Abb. 17.1).

Ganz entsprechend ist das Produkt einer Geraden und eines Kreises ein Zylinder. Auch er besitzt zwei Koordinaten – eine Kreiskoordinate und eine Koordinate für die Gerade (Abb. 17.2).

Wenn wir das Produkt zweier Mannigfaltigkeiten bilden, addieren sich die Dimensionen. In den gerade betrachteten Beispielen ist jedes der beiden Aus-gangsobjekte eindimensional, und das Produkt ist zweidimensional. Es folgt ein weiteres Beispiel: Das Produkt aus einer Geraden und einer Ebene ist der dreidimensionale Raum. Seine Dimension ist 3 = 1 + 2.

Genauso ist die Dimension des Produkts von zwei Riemann’schen Flächen gleich der Summe ihrer Dimensionen, also 2 + 2 = 4. Wir können Bilder einer Riemann’schen Fläche zeichnen (wie wir schon gesehen haben), aber wir kön-nen keine vierdimensionale Mannigfaltigkeit zeichnen, also müssen wir sie ausschließlich mathematisch untersuchen. Die Methoden sind dieselben, die

Abb. 17.2 Ein Zylinder ist das Produkt aus einer Geraden mit einem Kreis. © Frenkel

y

Abb. 17.1 Eine Ebene lässt sich als Produkt von zwei Geraden auffassen, deren zu-sammengefasste Koordinaten einen Punkt in der Ebene beschreiben. © Frenkel

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wir auch bei den leichter vorstellbaren niedrig-dimensionalen Räumen an-wenden. Wir sehen hier ein schönes Beispiel für die Möglichkeiten, die uns die mathematische Abstraktion an die Hand gibt. Auch dies haben wir bereits in Kap. 10 angesprochen.

Angenommen, eine der beiden Riemann’schen Flächen – nennen wir sie X – sei wesentlich kleiner als die andere, die wir Σ nennen. Dann sind die effektiven Freiheitsgrade auf Σ konzentriert, und wir können die vierdimen-sionale Theorie auf dem Produkt der beiden Flächen durch eine Theorie auf Σ ersetzen, welche die Physiker dann effektive Theorie nennen. Diese Theo-rie ist zweidimensional. Die Näherung der vierdimensionalen Theorie durch die zweidimensionale ist umso besser, je kleiner X unter Beibehaltung seiner Form wird (diese effektive Theorie hängt weiterhin von der Form von X ab). Auf diese Weise gelangen wir von einer vierdimensionalen supersymmetri-schen Eichtheorie auf dem Produkt von X und Σ zu einer zweidimensionalen Theorie auf Σ.

Bevor wir auf die Natur dieser Theorie im Einzelnen eingehen, möchte ich andeuten, was wir ganz allgemein unter einer Quantenfeldtheorie verstehen. In der Theorie des Elektromagnetismus untersuchen wir elektrische und ma-gnetische Felder im dreidimensionalen Raum. Die Mathematiker sprechen in beiden Fällen von Vektorfeldern. Eine nützliche Analogie ist das Vektorfeld des Windes: An jedem Punkt im Raum bläst der Wind in eine bestimmte Richtung und hat eine bestimmte Stärke – und dies beschreiben wir durch einen kleinen Pfeil, den wir an diesen Punkt legen. Die Mathematiker nennen einen solchen Pfeil einen Vektor. Die Menge aller dieser Vektoren an jedem Punkt im Raum ist dann ein Vektorfeld. Wir können also den Wind auf einer Wetterkarte als ein Vektorfeld darstellen.

Entsprechend hat auch ein gegebenes Magnetfeld an jedem Punkt im Raum eine bestimmte Richtung und Stärke, wie wir in Abb. 16.3 gesehen haben. Also ist auch ein Magnetfeld ein Vektorfeld. Mit anderen Worten, es gibt eine Vorschrift, die jedem Punkt unseres dreidimensionalen Raumes einen Vektor zuordnet. Daher spricht der Mathematiker in diesem Fall auch von einer Ab-bildung von unserem dreidimensionalen Raum in einen dreidimensionalen Vektorraum. Und wenn wir zusätzlich noch beschreiben möchten, wie sich ein gegebenes Magnetfeld im Verlauf der Zeit verändert, erhalten wir eine Abbildung von einer vierdimensionalen Raumzeit in den dreidimensionalen Vektorraum. (Man denke an eine animierte Wetterkarte im Fernsehen, die den Wetterverlauf über mehrere Stunden beschreibt.) Ähnlich lässt sich auch ein elektrisches Feld, das sich zeitlich verändert, als eine Abbildung von der vierdimensionalen Raumzeit in den dreidimensionalen Vektorraum beschrei-ben. Der Elektromagnetismus ist die mathematische Theorie dieser beiden Abbildungen.

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In der klassischen Theorie des Elektromagnetismus sind wir nur an Abbil-dungen interessiert, die Lösungen der Maxwell’schen Gleichungen entspre-chen. Im Gegensatz dazu untersuchen wir in der Quantentheorie alle Abbil-dungen. Berechnungen in der Quantenfeldtheorie erfordern sogar Summa-tionen über alle möglichen Abbildungen, wobei jede Abbildung gewichtet, also mit einem bestimmten Faktor multipliziert wird. Diese Faktoren haben die Eigenschaft, dass die Abbildungen zu den Lösungen der Maxwell-Glei-chungen den Hauptbeitrag liefern, aber auch andere Abbildungen tragen zu der Summe bei.

Abbildungen von der Raumzeit in unterschiedliche Vektorräume treten auch in vielen anderen Quantenfeldtheorien auf (beispielsweise auch in nicht-abelschen Eichtheorien). Doch nicht alle Quantenfeldtheorien beziehen sich auf Vektoren. Es gibt eine Klasse von Quantenfeldtheorien, die man Sigma-Modelle nennt und bei denen wir Abbildungen von der Raumzeit in einen gekrümmten geometrischen Raum, also eine Mannigfaltigkeit, betrachten. Diese Mannigfaltigkeit bezeichnet man als die Zielmannigfaltigkeit. Zum Beispiel könnte es sich dabei um eine Kugeloberfläche handeln. Obwohl Sigma-Modelle anfänglich nur für vierdimensionale Raumzeiten untersucht wurden, sind diese Modelle auch für Raumzeiten sinnvoll, die Mannigfaltig-keiten in beliebigen Dimensionen sein können. Somit gibt es für jede be-liebige Zielmannigfaltigkeit und für jede beliebige Raumzeit-Mannigfaltig-keit ein Sigma-Modell. Beispielsweise können wir eine zweidimensionale Riemann’sche Fläche als unsere Raumzeit wählen und die Lie-Gruppe SO(3) als die Zielmannigfaltigkeit. Dann beschreibt das zugehörige Sigma-Modell Abbildungen von dieser Riemann’schen Fläche in die SO(3).

Abbildung 17.3 verdeutlicht eine solche Abbildung: Auf der linken Seite erkennen wir eine Riemann’sche Fläche und auf der rechten Seite sehen wir die Zielmannigfaltigkeit, und der Pfeil steht für die Abbildung zwischen bei-den, also für eine Vorschrift, die jedem Punkt der Riemann’schen Fläche einen Punkt der Zielmannigfaltigkeit zuordnet.

Im klassischen Sigma-Modell betrachten wir Abbildungen von einer Raumzeit in eine Zielmannigfaltigkeit, welche die Bewegungsgleichungen lö-

ba

Abb. 17.3 Eine Abbildung von einer Riemann’schen Fläche in eine Zielmannigfaltig-keit ordnet jedem Punkt der Riemann’schen Fläche (a) einen Punkt der Zielmannig-faltigkeit (b) zu. © Frenkel

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214 Liebe und Mathematik

sen (das Analogon zu den Maxwell-Gleichungen des Elektromagnetismus); solche Abbildungen bezeichnet man als harmonisch. Im Quanten-Sigma-Modell werden alle relevanten Größen, insbesondere die sogenannten Kor-relationsfunktionen, dadurch berechnet, dass man über alle möglichen Ab-bildungen summiert, wobei jede Abbildung mit einem bestimmten Faktor gewichtet – multipliziert – wird.

Kehren wir nun zu unserer Frage zurück: Welche zweidimensionale Quan-tenfeldtheorie beschreibt die dimensionale Reduktion einer vierdimensiona-len supersymmetrischen Eichtheorie mit der Eichgruppe G auf Σ × X, wenn wir X derart skalieren, dass es sehr klein wird? Es zeigt sich, dass diese Theorie eine supersymmetrische Erweiterung des Sigma-Modells von Abbildungen von Σ in eine bestimmte Zielmannigfaltigkeit M ist, und M ist durch die Riemann’sche Fläche X und die Eichgruppe G der ursprünglichen Eichtheorie bestimmt. Dies sollte in unserer Notation zum Ausdruck kommen, und daher schreiben wir dafür M( X, G).1

Wie schon im Fall der Gruppentheorie (siehe Kap. 2) zeigte sich auch hier, als die Physiker auf diese Mannigfaltigkeiten stießen, dass ihnen die Ma-thematiker schon zuvorgekommen waren. Diese Mannigfaltigkeiten hatten auch bereits einen Namen: die Modulräume von Hitchin, benannt nach dem englischen Mathematiker Nigel Hitchin, Professor an der Oxford University, der sie Mitte der 1980er Jahre eingeführt und untersucht hatte. Das Gesagte macht zwar deutlich, weshalb ein Physiker an diesen Räumen interessiert sein kann – sie treten bei der dimensionalen Reduktion vierdimensionaler Eich-theorien auf –, weniger offensichtlich ist jedoch, weshalb sich ein Mathema-tiker für sie interessieren sollte.

Zum Glück hat Nigel Hitchin einen ausführlichen Bericht2 über die Ge-schichte seiner Entdeckung verfasst, und man erkennt darin ein großartiges Beispiel für das subtile Wechselspiel zwischen Mathematik und Physik. Ende der 1970er Jahre untersuchten Hitchin, Drinfeld und zwei weitere Mathema-tiker, Michael Atiyah und Juri Manin, die sogenannten Instanton-Gleichungen, die in der Physik im Zusammenhang mit Eichtheorien aufgetaucht waren. Diese Instanton-Gleichungen galten zunächst für eine flache vierdimensio-nale Raumzeit. Hitchin untersuchte später Differenzialgleichungen in einem flachen dreidimensionalen Raum, die man Monopol-Gleichungen nannte, und die man aus einer dimensionalen Reduktion der Instanton-Gleichungen von vier auf drei Dimensionen erhält. Diese Gleichungen waren aus physi-kalischer Sicht von großem Interesse, aber sie besaßen auch eine erstaunliche mathematische Struktur.

Nun lag es nahe, die Differenzialgleichungen auch für den Fall zu unter-suchen, bei dem die Instanton-Gleichungen von vier auf zwei Dimensionen reduziert wurden. Allerdings hatten die Physiker bald gemerkt, dass diese

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Gleichungen keine nicht-trivialen Lösungen im flachen zweidimensionalen Raum (also auf der Ebene) hatten, und sich daraufhin nicht weiter mit ihnen beschäftigt. Hitchin hatte jedoch erkannt, dass diese Gleichungen auf jeder gekrümmten Riemann’schen Fläche formuliert werden konnten, zum Beispiel auf der Fläche eines Donuts oder einer Brezel. Den Physikern war dies ent-gangen, weil sie sich zu dieser Zeit (das war zu Beginn der 1980er Jahre) noch nicht besonders für Quantenfeldtheorien auf solchen gekrümmten Räumen interessierten. Hitchin sah jedoch, dass die Lösungen auf diesen Flächen aus mathematischer Sicht sehr reichhaltige Strukturen hatten. So führte er seinen Modulraum M( X, G) als den Raum der Lösungen dieser Gleichungen auf einer Riemann’schen Fläche X (für den Fall einer Eichgruppe G) ein.* Er ent-deckte, dass es sich hierbei um eine bemerkenswerte Mannigfaltigkeit han-delt, die insbesondere eine Hyper-Kähler-Metrik besitzt. Damals waren nur sehr wenige Mannigfaltigkeiten dieser Art bekannt. Andere Mathematiker folgten seinen Spuren.

Ungefähr zehn Jahre später erkannten auch die Physiker die Bedeutung dieser Mannigfaltigkeiten für die Quantenphysik, allerdings hielt sich die-ses Interesse in Grenzen, bis Witten und seine Mitarbeiter in dem hier be-schriebenen Zusammenhang darüber zu arbeiten begannen. (Es ist auch in-teressant, dass die Modulräume von Hitchin, die ursprünglich in der rechten Spalte von André Weils Rosetta-Stein auftauchten, vor Kurzem im Rahmen des Langlands-Programms Anwendungen in der mittleren Spalte fanden, in der die Riemann’schen Flächen durch Kurven über endlichen Zahlenkörpern ersetzt werden.3)

Die Wechselwirkungen zwischen Mathematik und Physik gehen in beide Richtungen, und beide Gebiete profitieren von den Fortschritten des jeweils anderen. Manchmal übernimmt eines bei der Entwicklung einer bestimmten Idee die Führung, doch dann können sich die Schwerpunkte auch schnell wieder verlagern. Insgesamt handelt es sich um eine lebhafte gegenseitige Be-fruchtung.

Nachdem wir nun einiges über die Einsichten sowohl der Mathematiker als auch der Physiker erfahren haben, können wir die elektromagnetische Duali-tät auf die vierdimensionale Eichtheorie mit Eichgruppe G anwenden. Wir erhalten dann die Eichtheorie mit der Eichgruppe LG, der Langlands-dualen Gruppe von G. (Man beachte, dass wir bei einer zweimaligen Anwendung dieser Dualitätstransformation wieder zu der ursprünglichen Gruppe G zu-rückkommen. Mit anderen Worten, die Langlands-duale Gruppe von LG ist

* In diesem Zusammenhang zitiert Hitchin einen Spruch von Goethe: „Die Mathematiker sind eine Art Franzosen: Redet man zu ihnen, so übersetzen sie es in ihre Sprache, und dann ist es alsbald ganz etwas anderes.“

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die Gruppe G selbst.) Die effektiven zweidimensionalen Sigma-Modelle über Σ, die den Gruppen G und LG entsprechen, sind ebenfalls äquivalent bzw. dual zueinander. Für die Sigma-Modelle bezeichnet man diese Art der Duali-tät als Spiegelsymmetrie. In einem dieser Sigma-Modelle betrachten wir Abbil-dungen von Σ in den Modulraum M( X, G) zu der Gruppe G; in dem anderen Modelle betrachten wir Abbildungen von Σ in den Modulraum M( X, LG) zu der Gruppe LG. Diese beiden Modulräume und die zugehörigen Sigma-Mo-delle haben zunächst nichts miteinander zu tun, sodass die Spiegelsymmetrie zwischen ihnen ebenso überraschend ist wie die elektromagnetische Dualität der ursprünglichen Eichtheorie in vier Dimensionen.

Das Interesse der Physiker an zweidimensionalen Sigma-Modellen dieser Art beruht teilweise auf ihrer wichtigen Rolle im Zusammenhang mit der Stringtheorie. Wie ich schon in Kap. 10 erwähnt habe, sind die fundamenta-len Objekte der Natur in der Stringtheorie nicht punktförmige Elementarteil-chen (die keine interne Geometrie besitzen und somit nulldimensional sind) sondern eindimensionale ausgedehnte Objekte, die man als Strings bezeich-net, und die sowohl offen als auch geschlossen sein können. Offene Strings haben zwei Endpunkte, geschlossene sind kleine Schleifen (oder Loops), die denen aus Kap. 10 ähneln (Abb. 17.4).

Nach den Vorstellungen der Stringtheorie erzeugen die Schwingungen die-ser winzigen Strings bei ihrer Bewegung durch die Raumzeit die Elementar-teilchen und die Kräfte zwischen ihnen.

Sigma-Modelle kommen ins Spiel, wenn wir uns überlegen, wie sich Strings bewegen. In der herkömmlichen Physik wird die Bewegung eines punktför-migen Teilchens im Raum durch seine Bahnkurve beschrieben, dabei handelt es sich um einen eindimensionalen Weg. Die Orte des Teilchens zu verschie-denen Zeitpunkten entsprechen den Punkten auf diesem Weg (Abb. 17.5).

Ein geschlossener String überdeckt bei seiner Bewegung jedoch eine zwei-dimensionale Fläche. Zu einem festen Zeitpunkt ist die Lage des Strings durch eine Schleife (Loop) auf dieser Fläche gegeben (Abb. 17.6).

a b

Abb. 17.4 Strings sind eindimensionale Objekte, die offen (a) oder geschlossen (b) sein können. © Frenkel

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Strings können auch miteinander wechselwirken: Ein String kann sich in zwei oder mehr Anteile „aufspalten“, und diese Teile können auch wieder miteinander verschmelzen (wie in Abb. 17.7 gezeigt). Auf diese Weise erhal-ten wir eine allgemeine Riemann’sche Fläche mit einer beliebigen Anzahl von „Löchern“ (und mit Kreisen am Rand). Diese Fläche bezeichnet man als die Weltfläche des Strings.

Eine solche Weltfläche (die „Bahnkurve“ des Strings) lässt sich durch eine Riemann’sche Fläche Σ eingebettet in eine Raumzeit S darstellen und somit durch eine Abbildung von Σ nach S. Genau diese Abbildungen treten im Sigma-Modell über Σ mit Zielmannigfaltigkeit S auf. In gewisser Hinsicht

Abb. 17.7 Die Weltfläche eines Strings, der in zwei Teile zerfällt, die schließlich wie-der miteinander verschmelzen. © Frenkel

Abb. 17.6 Die Bewegung eines Strings im Verlauf der Zeit wird durch eine Fläche beschrieben, und seine Lage zu einem bestimmten Zeitpunkt entspricht einer Schleife auf dieser Fläche. © Frenkel

Abb. 17.5 Die Bahnkurve eines Teilchens ist ein eindimensionaler Weg, dessen Punk-te die Orte des Teilchens zu verschiedenen Zeitpunkten darstellen. © Frenkel

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ist jedoch alles umgedreht: Die Raumzeit S ist nun die Zielmannigfaltigkeit des Sigma-Modells – also das Bild der Abbildung – und nicht ihr Ursprung, im Gegensatz zu den gewöhnlichen Quantenfeldtheorien wie dem Elektro-magnetismus.

Die Hoffnung der Stringtheorie ist, dass wir die beobachteten physikali-schen Vorgänge in der Raumzeit S beschreiben können, indem wir unsere Berechnungen in diesen Sigma-Modellen vornehmen und dann über die Er-gebnisse zu allen möglichen Riemann’schen Flächen Σ summieren (d. h. über alle möglichen Wege, entlang derer sich die Strings bei ihrer Bewegung in einer festen Raumzeit S ausbreiten können).4

Leider hat diese Theorie einige ernsthafte Probleme (insbesondere sollte es Tachyonen geben, das sind Elementarteilchen, die sich schneller als das Licht ausbreiten und die nach der Einstein’schen Relativitätstheorie verboten sind). Für supersymmetrische Erweiterungen der Sigma-Modelle wird die Lage deutlich besser. Auf diese Weise gelangen wir zur sogenannten Superstring-theorie. Doch auch hier gibt es noch ein Problem, denn diese erweist sich nur dann als mathematisch widerspruchsfrei, wenn wir für die Raumzeit S zehn Dimensionen annehmen, was in krassem Gegensatz zu den beobachteten vier Dimensionen (drei Raumdimensionen und eine Zeitdimension) steht.

Es könnte jedoch sein, dass unsere Welt in Wirklichkeit ein Produkt ist (im oben beschriebenen Sinne) aus einer vierdimensionalen Raumzeit, wie wir sie beobachten, und einer winzigen sechsdimensionalen Mannigfaltigkeit M, die so klein ist, dass wir sie mit unseren heutigen Mitteln nicht sehen können. Sollte das der Fall sein, wäre dies ähnlich zu der dimensionalen Reduktion (von vier auf zwei Dimensionen), wie wir sie schon besprochen haben: Die zehndimensionale Theorie würde effektiv zu einer vierdimensionalen Theorie. Die Hoffnung ist, dass diese effektive Theorie unser Universum beschreibt, insbesondere das Standardmodell der Elementarteilchen einschließlich einer Quantentheorie der Gravitation. Diese Möglichkeit einer Vereinheitlichung aller bekannten Naturkräfte ist der Hauptgrund, weshalb die Superstringthe-orie in den vergangenen Jahren so eingehend untersucht wurde.5

Doch nun stehen wir vor einem neuen Problem: Um welche sechsdimensi-onale Mannigfaltigkeit soll es sich bei diesem M handeln?

Die Antwort zu dieser Frage hat etwas Beängstigendes, und damit Sie dies besser nachvollziehen können, möchte ich zunächst ein einfacheres Beispiel betrachten. Nehmen wir der Einfachheit an, die Superstringtheorie wäre in sechs (statt zehn) Dimensionen mathematisch widerspruchsfrei. Dann gäbe es nur zwei zusätzliche Dimensionen, und wir müssten diese zweidimensiona-le Mannigfaltigkeit M finden. In diesem Fall hätten wir keine große Auswahl: M müsste eine Riemann’sche Fläche sein, die, wie wir gelernt haben, durch ihr Geschlecht, d. h. die Anzahl der „Löcher“, bereits festgelegt ist. Außerdem

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hat sich gezeigt, dass M noch bestimmte zusätzliche Bedingungen erfüllen muss, damit die Theorie widerspruchsfrei ist. Insbesondere muss es sich bei M um eine so genannte Calabi-Yau-Mannigfaltigkeit handeln, benannt nach den beiden Mathematikern Eugenio Calabi und Shing-Tung Yau, die diese Räume mathematisch zuerst untersucht haben (viele Jahre bevor die Physi-ker an diesem Thema interessiert waren, möchte ich anmerken).6 Die ein-zige Riemann’sche Fläche mit dieser Eigenschaft ist der Torus. Wäre M also zweidimensional, könnten wir die Mannigfaltigkeit festlegen: Es müsste sich um einen Torus handeln.7 Doch mit zunehmender Dimension von M nimmt auch die Anzahl der Möglichkeiten zu. Wenn M sechsdimensional ist, dann gibt es nach manchen Abschätzungen rund 10500 verschiedene Möglichkeiten – eine unvorstellbar große Zahl. Welche dieser sechsdimensionalen Mannig-faltigkeiten ist in unserem Universum tatsächlich realisiert und wie können wir das experimentell überprüfen? Das ist eine der immer noch unbeantwor-teten Schlüsselfragen der Stringtheorie.8

Jedenfalls sollte aus diesen Überlegungen deutlich geworden sein, dass Sigma-Modelle eine wichtige Rolle in der Superstringtheorie spielen und dass sich ihre Spiegelsymmetrie auf eine Dualität in der Superstringtheorie zurückführen lässt.9 Sigma-Modelle haben jedoch auch unabhängig von der Stringtheorie viele Anwendungen. In der Physik wurden sie daher sehr inten-siv untersucht, und zwar nicht nur Modelle mit sechsdimensionalen Zielman-nigfaltigkeiten M.10

Als Witten auf unserer Konferenz 2004 das Wort ergriff, wandte er zu-nächst das Verfahren der dimensionalen Reduktion an (von vier auf zwei Dimensionen), um die elektromagnetische Dualität von zwei Eichtheorien (mit den Eichgruppen G und LG) auf die Spiegelsymmetrie von zwei Sig-ma-Modellen (deren Zielräume die Modulräume von Hitchin zu den beiden Langlands-dualen Gruppen G und LG waren) zu reduzieren. Dann stellte er die Frage: Können wir diese Spiegelsymmetrie mit dem Langlands-Programm in Beziehung setzen?

Seine Antwort darauf war faszinierend. Gewöhnlich untersucht man in einer Quantenfeldtheorie sogenannte Korrelationsfunktionen, welche die Wechselwirkungen von Teilchen beschreiben. Beispielsweise könnte eine sol-che Funktion die Wahrscheinlichkeit beschreiben, mit der ein bestimmtes Teilchen beim Zusammenstoß von zwei anderen Teilchen entsteht. Es zeigt sich jedoch, dass der Formalismus der Quantenfeldtheorie wesentlich vielsei-tiger ist: Neben den erwähnten Korrelationsfunktionen gibt es noch verschie-dene andere Objekte in der Theorie, und eine bestimmte Klasse unter ihnen hat Ähnlichkeiten mit den Garben, die wir in Kap. 14 im Zusammenhang mit Grothendiecks Lexikon diskutiert haben. Diese Objekte bezeichnet man als D-Branen oder einfach Branen.

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Branen haben ihren Ursprung in der Superstringtheorie, und ihre Bezeich-nung beruht auf einer Verkürzung des Worts „Membran“. Branen treten in natürlicher Weise auf, wenn wir die Bewegung offener Strings auf einer Ziel-mannigfaltigkeit M betrachten. Die einfachste Beschreibung der Lagen der beiden Enden eines offenen Strings besteht in der Forderung, dass einer der Endpunkte zu einer bestimmten Untermenge B1 von M gehören soll und der andere zu einer anderen Untermenge B2.

Auf diese Weise werden die beiden Untermengen (oder besser Unterman-nigfaltigkeiten) B1 und B2 zu Akteuren der Superstringtheorie und den zuge-hörigen Sigma-Modellen. Solche Untermengen sind ein typisches Beispiel für die allgemeinen Branen, die in diesen Theorien auftreten.11

Aus der Spiegelsymmetrie zwischen zwei Sigma-Modellen folgt eine Be-ziehung zwischen den Branen dieser beiden Modelle. Eine solche Beziehung wurde Mitte der 1990er Jahre zuerst von dem Mathematiker Maxim Konze-witsch unter der Bezeichnung homologische Spiegelsymmetrie vorgeschlagen. Besonders während des letzten Jahrzehnts wurde diese Beziehungen sowohl von Physikern als auch Mathematikern intensiv untersucht (Abb. 17.8).

Die Grundidee von Wittens Vortrag in Princeton bestand darin, dass diese homologische Spiegelsymmetrie der Langlands-Beziehung entsprechen soll.

An dieser Stelle sollte ich betonen, dass Sigma-Modelle in zwei Formen auftreten, die man als A-Modell und B-Modell bezeichnet. Tatsächlich sind die beiden hier betrachteten Sigma-Modelle verschieden: Wenn eines von ihnen mit der Zielmannigfaltigkeit M( X, G) ein A-Modell ist, dann ist das Sigma-Modell mit der Zielmannigfaltigkeit M( X, LG) ein B-Modell. Entsprechend werden auch die Branen in den beiden Theorien als A-Branen und B-Branen bezeichnet. Unter der Spiegelsymmetrie sollte es zu jeder A-Bran auf M( X, G) eine B-Bran auf M( X, LG) geben und umgekehrt.12

B1

B2

Abb. 17.8 Die Endpunkte eines offenen Strings bewegen sich auf Untermannigfal-tigkeiten B1 und B2, die typische Beispiele für sogenannte „Branen“ sind. © Frenkel

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17 Enthüllung verborgener Beziehungen 221

Damit wir die geometrische Langlands-Beziehung aufstellen können, müs-sen wir jeder Darstellung der Fundamentalgruppe von X in LG eine automor-phe Garbe zuordnen. Das folgende Diagramm zeigt, wie Witten sich diese Konstruktion mithilfe der Spiegelsymmetrie vorstellte:

Diagramm 17.1

eine Darstellung derFundamentalgruppe von X in LG

eine B-Bran aufM(X,LG)→

Spiegel-→

symmetrie

→ eine A-Bran aufM(X,G) → eine automorphe Garbe auf dem

Modulraum von G-Bündeln über X

Obwohl noch viele Einzelheiten ausgearbeitet werden mussten, war Wit-tens Vortrag ein Durchbruch. Er zeigte einen klaren Weg, wie die Beziehung zwischen der elektromagnetischen Dualität und dem Langlands-Programm herzustellen war. Auf der einen Seite erhielt die moderne Mathematik einen Impuls durch eine Fülle neuer Ideen, an welche die Mathematiker nicht ge-dacht hatten (sicherlich nicht im Zusammenhang mit der geometrischen Langlands-Beziehung): die Kategorie von Branen, die besondere Rolle des Modulraumes von Hitchin im Langlands-Programm, der Zusammenhang zwischen A-Branen und automorphen Garben. Andererseits ermöglichte die-se Beziehung den Physikern, neue mathematische Ideen und Einsichten für ein besseres Verständnis der Quantenphysik zu nutzen.

Im Laufe der nächsten zwei Jahre arbeitete Witten in Zusammenarbeit mit einem russischstämmigen Physiker vom Caltech, Anton Kapustin, die Einzel-heiten seiner Idee aus. Ihr Artikel13 über dieses Thema (er umfasste rund 230 Seiten) erschien im April 2006 und sorgte sowohl in der Physik als auch der Mathematik für hohe Wellen. Im Eröffnungsabsatz dieses Artikels sind viele der Konzepte erwähnt, die wir in diesem Buch besprochen haben:

Das Langlands-Programm für Zahlenkörper vereinigt viele klassische und mo-derne Ergebnisse der Zahlentheorie und ist ein umfangreiches Forschungs-gebiet. Es besitzt ein Analogon für Kurven über einem endlichen Körper; und auch zu diesem Thema wurden wichtige Arbeiten geschrieben. Zusätzlich wurde eine geometrische Version des Langlands-Programms für Kurven ent-wickelt, sowohl für Kurven über einem Körper der Charakteristik p als auch für gewöhnliche komplexe Riemann’sche Flächen… In diesem Artikel kon-zentrieren wir uns auf das geometrische Langlands-Programm für komplexe Riemann’sche Flächen. Wir möchten zeigen, dass sich dieses Programm als ein Kapitel der Quantenfeldtheorie verstehen lässt. Wir setzen keinerlei Vorkennt-nisse des Langlands-Programms voraus; allerdings gehen wir davon aus, dass

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222 Liebe und Mathematik

Themen wie supersymmetrische Eichtheorien, elektromagnetische Dualität, Sigma-Modelle, Spiegelsymmetrie, Branen und topologische Feldtheorie be-kannt sind. In diesem Artikel möchten wir zeigen, dass die Anwendung dieser vertrauten physikalischen Konzepte auf das richtige Problem in natürlicher Weise auf das geometrische Langlands-Programm führt.

Im weiteren Verlauf der Einleitung danken Kapustin und Witten auch un-serem Treffen am Institute for Advanced Study (insbesondere dem Vortrag meines früheren Studenten David Ben-Zvi) als Ausgangspunkt für ihre For-schung.

Im Hauptteil ihres Artikels arbeiten Kapustin und Witten die Ideen aus, die Witten schon bei unserem Princeton Meeting geäußert hatte. Insbesonde-re erläutern sie die Strukturen der A-Branen und B-Branen, die Spiegelsym-metrie zwischen ihnen und die Beziehung zwischen den A-Branen und den automorphen Garben.

Um ihre Ergebnisse beschreiben zu können, möchte ich zunächst auf ein einfaches Beispiel einer Spiegelsymmetrie eingehen. In der Arbeit von Kapus-tin und Witten besteht die Spiegelsymmetrie zwischen zwei Modulräumen von Hitchin und ihren zugehörigen Sigma-Modellen. Doch nun ersetzen wir einen dieser Modulräume durch einen Torus.

Einen Torus kann man sich als Produkt von zwei Kreisen vorstellen. Das Raster auf dem Torus in Abb. 17.9 zeigt deutlich, dass der Torus einer Hals-kette aus Glasringen gleicht.

Die Rolle der Glasringe übernehmen in dem Raster die vertikalen Kreise und die Rolle der Kettenschnur, auf der die Glasringe aufgereiht sind, über-nimmt ein horizontaler Kreis, den wir uns durch die Mitte des Torus gelegt denken. Für einen Mathematiker handelt es sich bei dieser Kette um eine Faserung, deren Fasern die Glasringe sind und deren Basis die Schnur ist. In diesem Sinne ist der Torus eine Faserung, deren Fasern Kreise sind und deren Basis ebenfalls ein Kreis ist.

Abb. 17.9 Ein Torus lässt sich als Produkt von zwei Kreisen darstellen. © siehe Anm. 2 in Kap. 9

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17 Enthüllung verborgener Beziehungen 223

Wir bezeichnen den Radius des Basiskreises (der Kettenschnur) mit R1 und den Radius der Faserkreise (Glasringe) mit R2. Es zeigt sich, dass in diesem Fall die gespiegelte duale Mannigfaltigkeit ebenfalls ein Torus ist. Allerdings handelt es sich nun um ein Produkt aus Kreisen mit den Radien 1/R1 und R2. Diese Inversion des Radius hängt mit der Inversion der elektrischen Ladung zusammen, die bei der elektromagnetischen Dualität auftritt.

Wir haben nun also zwei duale Tori – den einen bezeichnen wir mit T, und er hat die Radien R1 und R2, und den anderen nennen wir Tv mit den Radien 1/R1 und R2. Wenn der Radius des Basiskreises von T groß ist (also R1 groß ist), dann ist der Basiskreis in Tv klein (weil 1/R1 klein ist) und umgekehrt. Dieser Wechsel zwischen „groß“ und „klein“ ist für alle Dualitäten in der Quantenphysik typisch.

Wenden wir uns nun den B-Branen auf T und den A-Branen auf Tv zu. Unter der Spiegelsymmetrie gehen sie ineinander über, und diese Beziehun-gen sind gut verstanden (manchmal spricht man auch von einer T-Dualität – T für Torus).14

Diagramm 17.2

B-Bran auf demTorus T ↔ A-Bran auf dem

Torus T v

Ein typisches Beispiel für eine B-Bran auf dem Torus T ist eine sogenannte Null-Bran, die an einem Punkt p auf T konzentriert ist. Es zeigt sich, dass die duale A-Bran auf Tv über den gesamten Torus Tv „verschmiert“ ist. Die Be-deutung von „verschmiert“ erfordert eine Erklärung, allerdings ohne zu sehr in Einzelheiten zu gehen, die uns von unserem Thema wegführen würden. Diese A-Bran auf Tv ist der Torus Tv selbst, allerdings mit einer zusätzlichen Struktur: einer Darstellung seiner Fundamentalgruppe in der Kreisgruppe (ähnlich denen in Kap. 15). Diese Darstellung hängt von der Lage des Ur-sprungspunktes p auf dem Torus T ab, sodass es tatsächlich eine Eins-zu-Eins-Beziehung zwischen den Null-Branen auf T und den auf Tv „verschmierten“ A-Branen gibt.

Ein ähnliches Phänomen findet man bei den sogenannten Fourier-Trans-formationen, die bei der Signalverarbeitung sehr verbreitet sind. Wenn man eine Fourier-Transformation auf ein Signal anwendet, das in der Nähe eines bestimmten Zeitpunktes konzentriert ist, erhält man ein Signal, das wie eine Welle aussieht. Diese Welle ist über die gesamte Linie der Zeitachse „ver-schmiert“, wie man in Abb. 17.10 erkennt.

Die Fourier-Transformation lässt sich auf viele andere Signalarten anwen-den, und es gibt auch eine inverse Transformation, mit der man das ursprüng-

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224 Liebe und Mathematik

liche Signal zurückgewinnen kann. Sehr oft werden komplizierte Signale in einfache transformiert; aus diesem Grund findet die Fourier-Transformation so weitreichende Anwendungen. Ganz ähnlich werden komplizierte Branen auf dem Torus unter der Spiegelsymmetrie in einfache Branen auf dem dualen Torus transformiert und umgekehrt.

Mit dieser Spiegelsymmetrie des Torus können wir nun auch die Spiegel-symmetrie zwischen Branen auf den beiden Modulräumen beschreiben. Hier-für benötigen wir eine wichtige Eigenschaft dieser Modulräume, die schon von Hitchin beschrieben wurde. Es zeigt sich, dass der Modulraum von Hit-chin eine Faserung ist. Die Basis dieser Faserung ist ein Vektorraum, und die Fasern sind Tori. Das bedeutet, der gesamte Raum ist eine Ansammlung von Tori, jeweils einen für einen Basispunkt. Im einfachsten Fall sind sowohl die Basis als auch die torusförmigen Fasern zweidimensional und die Faserung gleicht der Darstellung in Abb. 17.11 (man beachte, dass die Fasern an ver-schiedenen Basispunkten unterschiedliche Größen haben können).15

Abb. 17.11 Ein Modulraum ist eine Faserung. Im einfachsten Fall ist der Basisraum ein zweidimensionaler Vektorraum, und die Fasern sind Tori unterschiedlicher Größe. © Frenkel

a b

Abb. 17.10 Unter einer Fourier-Transformation wird aus einem in der Nähe eines Punktes konzentrierten Signal (a) eine über die gesamte Zeitachse „verschmierte“ Welle (b). © Frenkel

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Man kann sich diese Hitchin-Faserung als eine Schachtel mit Donuts vor-stellen, wobei allerdings die Donuts nicht über ein paar rasterartig angeord-neten Punkten des Kartons liegen, sondern über jedem Punkt der Basis. Es gibt also unendlich viele Donuts – Homer Simpson hätte seine Freude daran!

Der spiegelduale Modulraum, der zu der Langlands-dualen Gruppe gehört, ist ebenfalls eine Faserung mit Donuts/Tori als Fasern und demselben Basis-raum. („Donuts. Gibt es irgendetwas, was sie nicht können?“) Das bedeutet, über jedem Punkt dieser Basis haben wir zwei torusförmige Fasern: eine in dem Modulraum auf der Seite des A-Modells und eine über dem Modulraum auf der Seite des B-Modells. Außerdem sind diese beiden Tori in dem oben beschriebenen Sinn zueinander spiegeldual (wenn einer von ihnen die Radien R1 und R2 hat, dann hat der andere die Radien 1/R1 und R2).

Auf diese Weise können wir die Spiegelsymmetrie zwischen zwei dualen Modulräumen faserweise untersuchen, indem wir die Spiegelsymmetrie zwi-schen den dualen torusförmigen Fasern ausnutzen.

Sei beispielsweise p ein Punkt auf dem Modulraum M( X, LG). Wir betrach-ten die Null-Bran an diesem Punkt. Was ist dann die spiegelduale A-Bran auf M( X, G)?

Der Punkt p gehört zu einem Torus, der die Faser von M( X, LG) über einem Punkt b im Basisraum ist (der linke Torus in Abb. 17.12, auf der Seite des B-Modells). Man betrachte nun den dualen Torus, der die Faser von M( X, G) über demselben Punkt b ist (der rechte Torus in Abb. 17.12, auf der Seite des A-Modells). Die gesuchte duale A-Bran auf M( X, G) ist die A-Bran, die über

Faser auf der Seite des B-Modells p

Punkt im Basisraum derFaserung

duale Faser aufder Seite desA-Modells

b

Abb. 17.12 Zwei duale Fasern über einem Basispunkt. © Frenkel

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226 Liebe und Mathematik

den gesamten dualen Torus „verschmiert“ ist. Es ist dieselbe duale Bran, die wir auch unter der Spiegelsymmetrie zwischen diesen beiden Tori erhalten.

Diese Art der faserweisen Beschreibung der Spiegelsymmetrie – mithil-fe von zueinander dualen Torusfaserungen – war schon früher von Andrew Strominger, Shing-Tung Yau und Eric Zaslow für eine allgemeinere Situa-tion vorgeschlagen worden. Man bezeichnet sie heute als SYZ-Vermutung oder SYZ-Mechanismus.16 Die Idee ist sehr elegant: Die Spiegelsymmetrie für duale Tori ist ziemlich gut verstanden, wohingegen die Spiegelsymmetrie für allgemeine Mannigfaltigkeiten (wie die Modulräume von Hitchin) immer noch geheimnisvoll erscheint. Wir gewinnen also viel, indem wir sie auf den Fall von Tori zurückführen. Natürlich müssen wir die beiden spiegeldualen Mannigfaltigkeiten als duale Torus-Faserungen über derselben Basis darstel-len können (und die Faserungen müssen noch bestimmte Bedingungen er-füllen), um diesen Formalismus anwenden zu können. Zum Glück gibt es solche Faserungen für die Modulräume von Hitchin, also können wir dort den SYZ-Mechanismus anwenden. (Im Allgemeinen ist die Dimensionen der Fasern des Torus größer als zwei, aber das Bild ist ähnlich).16

Nun verwenden wir diese Spiegelsymmetrie zur Konstruktion der Lang-lands-Beziehung. Zunächst zeigt sich, dass die Punkte des Modulraumes M( X, LG) genau die Darstellungen der Fundamentalgruppe der Riemann’schen Flä-che X in LG sind (siehe Anmerkung 1 in diesem Kapitel). Wir betrachten die Null-Bran an einem Punkt. Nach dem SYZ-Mechanismus ist die duale A-Bran über den dualen Torus (die Faser im dualen Modulraum über demselben Basispunkt) „verschmiert“.

Kapustin und Witten haben nicht nur die A-Branen genau beschrieben, sie konnten sogar erklären, wie man sie in automorphe Garben der geome-trischen Langlands-Beziehung übertragen kann. Somit ergibt sich die Lang-lands-Beziehung nach dem folgenden Flussdiagramm:

Diagramm 17.3

eine Darstellung derFundamentalgruppe von X in LG

Null-Bran am Punktp von M(X,LG)→

Spiegel-→

symmetrie

eine A-Bran „verschmiert“ überden dualen Torus in M(X,G)

eine automorphe Garbe auf demModulraum der G-Bündel auf X → →

Ein wesentliches Element bei dieser Konstruktion sind die A-Branen, die als Zwischenschritt auftreten. Kapustin und Witten schlugen vor, die Langlands-

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17 Enthüllung verborgener Beziehungen 227

Beziehung in zwei Schritten vorzunehmen: Zunächst konstruierten sie über die Spiegelsymmetrie eine A-Bran, anschließend konstruierten sie aus dieser A-Bran eine automorphe Garbe.17 Bisher haben wir nur den ersten Schritt be-sprochen – die Spiegelsymmetrie. Doch auch der zweite Schritt ist sehr inte-ressant. Tatsächlich war die Beziehung zwischen A-Branen und automorphen Garben eine wegweisende Einsicht von Kapustin und Witten. Vorher war nicht bekannt, dass es eine solche Beziehung überhaupt gibt. Darüber hinaus vermuteten Kapustin und Witten, dass es eine ähnlich Beziehung in einer weitaus allgemeineren Situation gibt. Diese überraschende Idee hat bereits umfangreiche mathematische Forschung ausgelöst.

All dieses Zeug ist, wie mein Vater es sagte, ziemlich schwer verdaulich: Wir haben die Modulräume von Hitchin, die Spiegelsymmetrie, A-Branen und B-Branen, automorphe Garben… Da kann man schon Kopfschmerzen bekommen, wenn man das alles behalten möchte. Glauben Sie mir, selbst unter den Fachleuten gibt es nur wenige, die wirklich alle Einzelheiten dieser Konstruktion kennen. Mir geht es hier nicht darum, dass Sie das alles lernen sollen. Ich möchte einfach die logischen Beziehungen zwischen diesen Ob-jekten andeuten und den kreativen Prozess der Wissenschaftler nachzeichnen, die diese Objekte untersuchen: Was sie antreibt, wie sie voneinander lernen, wie ihr frisch erworbenes Wissen unsere Einsichten in die Schlüsselfragen vorantreibt.

Zur Übersicht möchte ich die bisher behandelten Objekte und ihre Bezie-hungen nochmals in einer Tabelle zusammenfassen, die die Spalten von Weils Rosetta-Stein enthält sowie eine weitere Spalte zur Quantenphysik. Es ist eine Erweiterung der Tab. 14.1. (Ich habe die linke und mittlere Spalte von Weils Rosetta-Stein zusammengefasst, weil die dort auftretenden Objekte einander sehr ähnlich sind) (Tab. 17.1).

Nachdem er sich dieses Diagramm angeschaut hatte, fragte mich mein Vater: In welcher Form genau haben Kapustin und Witten das Langlands-Programm vorangebracht? Das ist natürlich eine wichtige Frage. Zunächst

Tab. 17.1 Der neue Rosetta-Stein der Langlands-Beziehungen unter Einbeziehung der Quantenphysik

Zahlentheorie & Kurven/endliche Zahlenkörper

Riemann’sche Fläche X Quantenphysik

Langlands-Beziehung Geometrische Langlands-Beziehung

Elektromagnetische Duali-tät/Spiegelsymmetrie

Galois-Gruppe Fundamentalgruppe von X Fundamentalgruppe von X

Darstellung der Galois-Gruppe in LG

Darstellung der Fundamen-talgruppe in LG

Null-Bran auf M(LG, X)

Automorphe Funktion Automorphe Garbe A-Bran auf M(G, X)

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228 Liebe und Mathematik

einmal ermöglichte der Bezug zwischen dem Langlands-Programm und der Spiegelsymmetrie sowie der elektromagnetischen Dualität den Einsatz der umfangreichen Methoden aus der Quantenphysik für das Langlands-Pro-gramm. Umgekehrt ergaben sich aus den Ideen des Langlands-Programms für die Physik ganz neue Fragestellungen zur elektromagnetischen Dualität. Das führte bereits zu einigen erstaunlichen Entdeckungen. Zweitens zeigte sich, dass die Sprache der A-Branen genau auf das Langlands-Programm zu-geschnitten ist. Viele dieser A-Branen haben eine wesentlich einfachere Struk-tur als die automorphen Garben, die im Allgemeinen sehr kompliziert sind. Daher können wir über die Sprache der A-Branen einige der Geheimnisse des Langlands-Programms lüften.

Ich möchte Ihnen ein konkretes Beispiel geben, wie diese Sprache ange-wandt werden kann, und in diesem Zusammenhang berichte ich über meine spätere Arbeit18 mit Witten, die wir 2007 fertiggestellt haben. Zuvor muss ich jedoch ein mathematisches Problem erwähnen, das ich bisher unter den Teppich gekehrt habe. Bei der obigen Darstellung habe ich so getan, als ob es sich bei allen Fasern in den beiden Modelräumen von Hitchin um glatte Tori handelt, wie wir sie kennen (wie in den bisherigen Abbildungen – in ge-wisser Hinsicht Donuts mit einer vollkommenen Form). Tatsächlich gilt das zwar für die meisten Fasern, doch es gibt spezielle Fasern, die anders aussehen: Bei ihnen handelt es sich um Grenzfälle (in der Mathematik spricht man auch von Entartungen) der glatten Tori. Gäbe es keine Entartungen dieser Art, lieferte der SYZ-Mechanismus bereits eine vollständige Beschreibung der Spiegelsymmetrie zwischen den Branen auf den beiden Modulräumen von Hitchin. Doch durch das Vorhandensein der entarteten Tori wird die Spiegel-symmetrie wesentlich komplizierter. Der interessanteste, aber auch schwie-rigste Teil dieser Spiegelsymmetrie liegt gerade in den Branen, die auf solchen entarteten Tori „leben“.

Kapustin und Witten betrachteten in ihrem Artikel nur die Spiegelsym-metrie für glatte Tori und ließen somit die Frage nach den entarteten Tori offen. In unserem Artikel beschrieben Witten und ich, was in dem Fall der einfachsten entarteten Tori, mit sogenannten Orbifold-Singularitäten (vgl. Abb. 17.13), passiert.

Genau dieses Bild einer entarteten Faser tritt auf, wenn die Riemann’sche Fläche X selbst ein Torus ist und LG die Gruppe SO(3) (die Abbildung stammt aus meinem Artikel mit Witten). In diesem Fall ist die Basis der Hitchin-Faserung eine Ebene. Mit Ausnahme von drei speziellen Punkten in dieser Ebene sind die Fasern gewöhnliche glatte Tori. Außerhalb dieser drei Punkte besteht die Hitchin-Faserung daher aus einer Familie von glatten Tori bzw. Donuts. Doch in der Umgebung von jedem dieser drei speziellen Punkte fällt der „Hals“ der torus- bzw. donutartigen Fasern zu einem Punkt zusammen,

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17 Enthüllung verborgener Beziehungen 229

wie in Abb. 17.14 gezeigt, wo wir einige Fasern über Punkten eines gegebenen Weges im Basisraum, der bei einem der speziellen Punkte endet, dargestellt haben.

Man könnte den Eindruck haben, Homer Simpson war derart begeis-tert über seine Schachtel mit unendlich vielen Donuts, dass er versehentlich draufgetreten ist und einige der Donuts zerdrückt hat (für Homer jedoch kein Grund zur Beunruhigung: Es gibt immer noch unendlich viele Donuts mit einer perfekten Form).

Wenn wir uns dem gekennzeichneten Punkt in der Ebene nähern (einem der drei speziellen Punkte im Basisraum), wird der Hals des Torus in der Faser immer enger, bis er an dem gekennzeichneten Punkt ganz zusammenfällt. Die Faser an dem gekennzeichneten Punkt auf dem obigen Bild ist kein Torus mehr, sondern ein entarteter Torus.

Doch was passiert, wenn die Null-Bran auf dem Modulraum von Hitchin an dem speziellen Punkt auf dem entarteten Torus konzentriert ist, an dem

Abb. 17.14 Die Fasern über einem Weg im Basisraum, der an einem Punkt endet, über dem die Faser entartet ist. © Frenkel

Abb. 17.13 Ein entarteter Torus mit einer Orbifold-Singularität. © Frenkel

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230 Liebe und Mathematik

sich der Hals des Torus zusammengezogen hat? In der Mathematik nennt man dies eine Orbifold-Singularität.

Es zeigt sich, dass dieser Punkt eine zusätzliche Symmetriegruppe besitzt. In dem angegebenen Beispiel ist dies die Symmetriegruppe des Schmetter-lings. Mit anderen Worten, sie besteht aus dem Einselement und noch einem weiteren Element, das die beiden Flügel ineinander überführt. Das bedeutet, an diesem Punkt ist nicht nur eine, sondern es sind dort zwei verschiedene Null-Branen konzentriert. Damit erhebt sich die Frage, was die beiden zu-gehörigen A-Branen im spiegeldualen Modulraum von Hitchin sind. (Man beachte, dass G in diesem Fall die Gruppe SU(2) ist, die Langlands-duale Gruppe von SO(3).)

Wie Witten und ich in unserem Artikel zeigen konnten, sieht der entartete Torus an jedem der drei speziellen Punkte in der Basis der Hitchin-Faserung auf der spiegeldualen Seite wie in Abb.  17.15 aus (auch diese Zeichnung stammt aus unserem Artikel).

Dieser entartete Torus tritt in der Hitchin-Faserung in ähnlicher Weise auf wie in Abb. 17.14, allerdings wird der Hals des Torus nun an zwei Stellen dünner, wenn wir uns dem speziellen Punkt im Basisraum nähern, und kolla-biert schließlich an beiden Stellen zu einem Punkt.

Die zugehörige entartete Faser ist anders als die ursprüngliche, weil der Torus nun an zwei Stellen kollabiert ist. Dieser entartete Torus besteht aus zwei Teilen, die man als Komponenten bezeichnet. Damit können wir unsere Frage beantworten: Die beiden gesuchten A-Branen (spiegeldual zu den bei-den Null-Branen, die an dem singulären Punkt des ersten entarteten Torus konzentriert sind) sind die A-Branen, die jeweils über eine der beiden Kom-ponenten des entarteten dualen Torus „verschmiert“ sind.

Dieses Verhalten ist typisch für den Allgemeinfall. Wenn wir die beiden Modulräume als Faserungen über derselben Basis betrachten, finden wir auf beiden Seiten entartete Fasern. Der Mechanismus der Entartung ist jedoch verschieden: Wenn es auf der Seite des B-Modells eine Orbifold-Singularität mit einer inneren Symmetriegruppe gibt (wie die Schmetterlingsgruppe im

Abb. 17.15 Der duale Torus an den Punkten mit entarteten Fasern. © Frenkel

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obigen Beispiel), dann besteht die Faser auf der Seite des A-Modells aus meh-reren Komponenten, ähnlich den beiden Komponenten in Abb. 17.15, und die Anzahl dieser Komponenten ist gleich der Anzahl der Elemente in der Symmetriegruppe auf der Seite des B-Modells. Dadurch wird sichergestellt, dass die Null-Branen an den singulären Punkten genau zu den A-Branen pas-sen, die jeweils über eine der Komponenten „verschmiert“ sind.

In unserem Artikel haben Witten und ich dieses Phänomen im Einzelnen beschrieben. Neben den Erkenntnissen zum geometrischen Langlands-Pro-gramm für Riemann’sche Flächen führte uns dies auch überraschenderweise zu neuen Einsichten in der mittleren Spalte von Weils Rosetta-Stein, die sich auf Kurven über endlichen Körpern bezieht. Dies ist ein schönes Beispiel, wie Ideen und Einsichten aus einem Gebiet (in diesem Fall der Quantenphysik) wieder an die Wurzeln des Langlands-Programms zurückwirken können.

Und genau hierin liegt die Stärke dieser Verbindungen. Der Rosetta-Stein von Weil hat nicht nur drei sondern sogar vier Spalten: Die vierte steht für die Quantenphysik. Wenn wir in dieser vierten Spalte etwas Neues entdecken, schauen wir auch auf die entsprechenden Zusammenhänge in den anderen drei Spalten, und das könnte wieder zu neuen Ideen und Einsichten führen.

Witten und ich begannen mit diesem Projekt im April 2007, als ich das Institut in Princeton besuchte, und der Artikel war an Halloween, also am 31. Oktober desselben Jahres, fertig. (Ich erinnere mich noch genau an die-ses Datum, denn nachdem ich den Artikel ins Netz gesetzt hatte, ging ich zum Feiern auf eine Halloween-Party.) Während dieser sieben Monate war ich dreimal am Institut, jedes Mal rund eine Woche lang. Wir arbeiteten täglich zusammen in Wittens Büro. Die restliche Zeit waren wir an unterschiedlichen Orten. Ich verbrachte damals rund die Hälfte meiner Zeit in Berkeley und die Hälfte in Paris, und zwischendurch besuchte ich noch ein paar Wochen lang ein Mathematikinstitut in Rio de Janeiro. Doch mein Aufenthaltsort spielte keine Rolle. Sofern ich eine Internetverbindung hatte, konnte ich mit Wit-ten zusammenarbeiten. Während der intensivsten Zeiten konnte es passieren, dass wir rund ein Dutzend E-Mails am Tag austauschten, in denen wir über bestimmte Fragen nachdachten, uns gegenseitig Entwürfe für den Artikel zu-schickten usw. Da wir denselben Vornamen haben, gab es in unseren E-Mails eine Art Spiegelsymmetrie: Jede E-Mail begann mit „Dear Edward“ und en-dete mit „Best, Edward“.

Während dieser Zusammenarbeit hatte ich Gelegenheit, Witten aus der Nähe kennenzulernen. Ich war sowohl von seinen intellektuellen Fähigkei-ten als auch seiner Arbeitseinstellung verblüfft. Ich hatte das Gefühl, dass er sehr viel darüber nachdenkt, welchem Problem er sich widmen soll. Ich hatte schon früher in diesem Buch erwähnt, dass manche Probleme 350 Jahre bis zu ihrer Lösung brauchen. Daher ist es wichtig, die Bedeutung eines bestimm-

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ten Problems gegenüber den Aussichten, es in überschaubarer Zeit lösen zu können, abzuwägen. Ich glaube, Witten hat hierfür eine gute Intuition – und einen guten Geschmack. Und wenn er sich für ein bestimmtes Problem ent-schieden hat, verfolgt er es mit uneingeschränkter Verbissenheit, wie Tom Cruise in seiner Rolle als Auftragskiller in dem Film Collateral. Er nähert sich einem Problem sehr eingehend, methodisch und dreht jeden Stein mehrfach um. Wie andere Forscher auch ist er manchmal verwirrt oder irritiert, aber er findet immer wieder seinen Weg. Für mich war unsere Zusammenarbeit in mehrfacher Hinsicht sehr bereichernd und inspirierend.

Die Untersuchungen der Beziehungen zwischen dem Langlands-Programm und der elektromagnetischen Dualität wurde rasch zu einem heißen Thema und einem lebhaften Forschungsgebiet. Eine wichtige Rolle bei diesem Pro-zess spielten die jährlichen Konferenzen, die wir am Kavli-Institut für theo-retische Physik in Santa Barbara organisierten. Der Institutsdirektor war der Nobelpreisträger David Gross, der uns nachhaltig unterstützte.

Im Juni 2009 wurde ich gebeten, über diese neuen Entwicklungen am Sé-minaire Bourbaki vorzutragen. Es gehört zu den ältesten Mathematiksemi-naren der Welt und ist unter den Mathematikern hoch geschätzt. Viele Ma-thematiker kommen zu diesen Treffen am Henri-Poincaré-Institut in Paris, die dreimal im Jahr an einem Wochenende dort stattfinden. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Seminar von einer Gruppe junger und ehrgei-ziger Mathematiker ins Leben gerufen. Sie nannten sich selbst Association des collaborateurs de Nicolas Bourbaki – ein erfundener Name. Ihr Ziel war eine strenge Neuformulierung der Grundlagen der Mathematik, basierend auf der Mengenlehre von Georg Cantor Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Sie hatten nur teilweise Erfolg, doch ihr Einfluss auf die Mathematik war enorm. André Weil war einer der Gründungsmitglieder und später spielte auch Alex-ander Grothendieck eine wichtige Rolle.

Das Séminaire Bourbaki verfolgt den Zweck, über die wichtigsten und spannendsten Entwicklungen in der Mathematik zu berichten. Ein geheimes Gremium wählt die Themen und die Sprecher, und seit seiner Gründung gibt es die Regel, dass seine Mitglieder unter fünfzig Jahre alt sein müssen. Die Gründer von Bourbaki waren offenbar der Meinung, dass sie junges Blut brauchen, und das hat sich bewährt. Das Gremium lädt die Sprecher ein und sorgt dafür, dass diese ihre Vorträge vorab aufschreiben. Kopien davon werden bei dem Seminar an die Teilnehmer verteilt. Da es allgemein als eine beson-dere Ehre gilt, bei dem Seminar vortragen zu dürfen, kommen die Sprecher dieser Bitte gerne nach.

Der Titel meines Seminarvortrags lautete „Gauge Theory and Langlands Duality“ („Eichtheorie und Langlands-Dualität“).19 Mein Vortrag war zwar technischer und umfasste mehr Formeln und mathematische Terminologie,

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doch im Großen und Ganzen folgte ich der Geschichte in diesem Buch. Ich begann mit Weils Rosetta-Stein und fasste kurz die Inhalte der drei Spalten zusammen, ähnlich wie hier. Da Weil einer der Gründer der Bourbaki-Grup-pe war, hielt ich es für besonders angebracht, seine Ideen bei diesem Seminar zu betonen. Dann konzentrierte ich mich auf die neueren Entwicklungen und zog die Verbindung zwischen dem Langlands-Programm und der elek-tromagnetischen Dualität.

Der Vortrag kam gut an. Ich freute mich, in der ersten Reihe ein weiteres bekanntes Mitglied der Bourbaki-Gruppe zu sehen: Jean-Pierre Serre, eine Legende für sich. Nach meinem Vortrag kam er zu mir, stellte einige sehr gezielte Fragen und meinte anschließend:

Ich fand es interessant, dass Sie die Quantenphysik als vierte Spalte in Weils Rosetta-Stein sehen. Wissen Sie, André Weil mochte die Physik nicht beson-ders. Aber ich glaube, wenn er heute hier gewesen wäre, würde er zustimmen, dass die Quantenphysik bei dieser Sache eine wichtige Rolle spielen kann.

Das war das schönste Kompliment, das ich mir vorstellen konnte.Die letzten Jahre sahen einen gewaltigen Fortschritt im Langlands-Pro-

gramm, quer über alle Spalten von Weils Rosetta-Stein. Viele der tiefsten Geheimnisse des Langlands-Programms haben wir immer noch nicht voll-kommen verstanden, doch etwas ist klar geworden: Es hat den Test der Zeit bestanden. Wir erkennen heute wesentlich deutlicher, dass es uns zu einigen der grundlegendsten Fragen in der Mathematik und der Physik geführt hat.

Diese Ideen sind heute ebenso lebendig wie damals vor fast fünfzig Jahren, als Langlands seinen Brief an André Weil geschrieben hatte. Ich weiß nicht, ob wir in den nächsten fünfzig Jahren alle Antworten finden werden, doch die nächsten fünfzig Jahre werden sicherlich ähnlich aufregend wie die vergange-nen. Und vielleicht haben einige der Leser dieses Buches die Gelegenheit, zu diesem faszinierenden Projekt beitragen zu können.

Im Zentrum dieses Buches stand das Langlands-Programm. Für mich ist es ein wunderbares Beispiel für das Wesen der modernen Mathematik: ihre tiefe konzeptuelle Struktur, die bahnbrechenden Einsichten und erstaunli-chen Vermutungen, ihre tiefgründigen Sätze und unerwarteten Beziehungen zwischen verschiedenen Gebieten. Es zeigt ebenfalls die engen Verbindungen zwischen der Mathematik und der Physik und dem sich gegenseitig berei-chernden Dialog zwischen diesen Disziplinen. In diesem Sinne ist das Lang-lands-Programm ein Paradebeispiel für die vier Qualitäten einer mathemati-schen Theorie, die wir in Kap. 2 angesprochen haben: Allgemeingültigkeit, Objektivität, Nachhaltigkeit und ein Bezug zur physikalischen Welt.

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234 Liebe und Mathematik

Natürlich gibt es viele andere Bereiche der Mathematik. Über einige wur-den populärwissenschaftliche Bücher geschrieben und über andere nicht. Henry David Thoreau schrieb einmal:20 „Wir haben von der Dichtkunst der Mathematik gehört, doch sehr wenig wurde bisher davon gesungen.“ Diese Worte sind auch heute noch wahr, über 150 Jahre, nachdem er sie geschrie-ben hat. Das bedeutet, wir Mathematiker müssen uns mehr bemühen, die Kraft und Schönheit unseres Gebiets einer breiteren Öffentlichkeit zugäng-lich zu machen. Gleichzeitig hoffe ich, dass die Geschichte des Langlands-Programms die Neugier der Leser geweckt hat, mehr über die Mathematik zu erfahren und mehr über sie zu lernen.

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18Auf der Suche nach der Formel

der Liebe

Im Jahr 2008 wurde ich an den neu geschaffenen Chaire d’Excellence der Fon-dation Sciences Mathématiques de Paris eingeladen, um in Paris zu forschen und Vorträge über meine Arbeiten zu halten.

Paris ist eines der großen Zentren der Mathematik – und es ist eine Haupt-stadt des Kinos. An diesem Ort hatte ich die Idee, einen Film über die Ma-thematik zu drehen. In gewöhnlichen Filmen werden Mathematiker meist als verrückte Außenseiter der Gesellschaft am Rande geistiger Umnachtung dargestellt, was das Bild der Mathematik als langweiliges und kaltes Gebiet weit ab von jeder Realität noch unterstreicht. Wer findet ein solches Leben für sich schon erstrebenswert und möchte an Dingen arbeiten, die scheinbar nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben?

Als ich im Dezember 2008 nach Berkeley zurückkam, hatte ich das Be-dürfnis, meinen künstlerischen Energien freien Lauf zu lassen. Mein Nach-bar, Thomas Farber, ist ein begnadeter Schriftsteller und unterrichtet kreatives Schreiben an der Universität von Berkeley. Ich fragte ihn: „Wollen wir einen Film zusammen schreiben – über einen Schriftsteller und einen Mathemati-ker?“ Tom gefiel die Idee, und er schlug vor, die Handlung in einem kleinen Ort an der französischen Mittelmeerküste spielen zu lassen. Wir beschlos-sen für den Beginn des Film folgende Szene: An einem herrlichen Sonnentag sitzen ein Schriftsteller und ein Mathematiker an benachbarten Tischen in einem offenen Strandcafé. Sie genießen die Schönheit der Umgebung, schau-en einander an und kommen ins Gespräch. Was soll nun geschehen?

Wir begannen zu schreiben. In mancher Hinsicht glich es meiner Zusam-menarbeit mit Mathematikern und Physikern. Doch es gab auch Unterschie-de: die richtigen Worte zur Beschreibung der Gefühle und Emotionen der Charaktere zu finden und dann zum Kern der Geschichte zu gelangen. Es war alles freier und weniger eingeschränkt, als ich es gewohnt war. Und so arbei-tete ich Hand in Hand mit einem großartigen Schriftsteller zusammen, den ich sehr bewunderte und schätzte. Zum Glück versuchte Tom mir seine Ideen nicht aufzuzwingen, sondern er behandelte mich wie Seinesgleichen und ließ mich langsam meine schriftstellerischen Fähigkeiten entfalten. Ähnlich wie

E. Frenkel, Liebe und Mathematik, DOI 10.1007/978-3-662-43421-5_18, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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mich meine Mentoren in die Welt der Mathematik geführt hatten, half mir Tom bei meinem Weg in die Schriftstellerei, und dafür werde ich ihm immer zu Dank verpflichtet sein.

In einer der Unterhaltungen erzählt der Mathematiker dem Schriftstel-ler von dem „Zwei-Körper-Problem“. Es bezieht sich auf zwei Gegenstände (Körper), die ausschließlich miteinander wechselwirken, wie zum Beispiel ein Stern und ein Planet (alle anderen Einflüsse auf die beiden Körper lassen wir unberücksichtigt). Es gibt eine einfache mathematische Gleichung, aus der sich die genaue Bahnkurve für alle Zeiten berechnen lässt, wenn wir die Anziehungskraft zwischen den Körpern kennen. Welch ein Unterschied zu der Wechselwirkung zwischen zwei menschlichen Körpern – zwei Liebenden oder zwei Freunden! Selbst wenn das Zwei-Körper-Problem in diesem Fall eine Lösung hat, ist sie nicht eindeutig.

Unser Drehbuch handelt von dem Aufeinandertreffen der realen Welt mit der Welt der Abstraktionen: Für Richard, den Schriftsteller, ist dies die Welt der Literatur und der Kunst; für Phillip, den Mathematiker, ist es die Welt der Naturwissenschaft und der Mathematik. Beide sind Experten auf ihren abs-trakten Gebieten, doch inwiefern beeinflusst das ihr Verhalten in der Wirk-lichkeit? Phillip versucht, den Gegensatz zwischen mathematischer Wahrheit, wo er sich auskennt, und menschlicher Wahrheit, die ihm fremd ist, zu über-brücken. Er muss begreifen, dass man die Probleme des Lebens nicht immer in derselben Weise angehen kann wie die Probleme der Mathematik.

Wir fragten uns auch, ob wir die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Kunst und Naturwissenschaft – den beiden „Kulturen“, wie C.P. Snow sie nannte1 – aus den Lebensgeschichten der beiden Männer ablesen können. Tatsächlich kann man den Film als eine Metapher für die zwei Seiten ein und derselben Person sehen: die linke und die rechte Gehirnhälfte, wenn man so will. Sie befinden sich in ständigem Wettstreit, trotzdem ergänzen sie einan-der – zwei Kulturen im selben Kopf.

In unserem Drehbuch erzählen sich die beiden Hauptdarsteller von ihren vergangenen Beziehungen, ihren Liebschaften und ihren Enttäuschungen. Im Verlauf des Tages treffen sie auch mehrere Frauen, und wir sehen, wie beide Männer ihre beruflichen Leidenschaften als Mittel der Verführung einsetzen. Es gibt zwischen ihnen viele gemeinsame Interessen, doch gleichzeitig braut sich ein Konflikt zusammen, der schließlich zu einem überraschenden Ende führt.

Wir nannten unser Werk Das Zwei-Körper-Problem und veröffentlichten es als Buch.2 Es wurde als Bühnenstück an einem Theater in Berkeley unter der Regie der preisgekrönten Barbara Oliver aufgeführt. Es war das erste Mal, dass ich mich in die Künste gewagt hatte, und die Reaktionen der Zuschauer erstaunten und amüsierten mich. Beispielsweise hielten die meisten alles, was

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mit dem Mathematiker in dem Theaterstück zu tun hatte, für meine Auto-biografie. Natürlich sind viele meiner tatsächlichen Erlebnisse in Das Zwei-Körper-Problem eingeflossen. Ich hatte wirklich eine russische Freundin in Pa-ris und einige der bemerkenswerten Eigenschaften von Natalia, der Freundin von Phillip in dem Stück, waren durch sie inspiriert. Einige Szenen beruhten auf Erfahrungen von Tom und andere auf meinen. Doch als Schriftsteller ist man in erster Linie davon besessen, einnehmende Charaktere und eine fesselnde Geschichte zu erschaffen. Nachdem Tom und ich einmal den Ent-schluss gefasst hatten, was wir dem Leser und Zuschauer vermitteln wollen, mussten wir die Charaktere in einer bestimmten Weise formen. Die persön-lichen Erfahrungen wurden derart verzerrt und verformt, dass es schließlich nicht mehr unsere waren. Die Hauptfiguren in Das Zwei-Körper-Problem wurden zu eigenständigen Personen, wie es in der Kunst auch sein muss.

Nun suchten wir einen Produzenten, der uns dabei half, aus Das Zwei-Körper-Problem einen abendfüllenden Spielfilm zu machen. Zunächst wollte ich mich jedoch an einem kleineren Filmprojekt versuchen. Im April 2009 kehrte ich nach Paris zurück, um meine Arbeit am Chaire d’Excellence fortzu-setzen. Dort stellte mich ein befreundeter Mathematiker, Pierre Schapira, der jungen und begabten Filmregisseurin Reine Graves vor. Das ehemalige Man-nequin hatte kurz zuvor mehrere originelle und gewagte Kurzfilme gedreht (von denen einer beim Festival für zensierte Filme in Paris den Pasolini-Preis gewonnen hatte). Pierre arrangierte ein gemeinsames Mittagessen und wir verstanden uns auf Anhieb. Ich schlug eine Zusammenarbeit an einem Kurz-film über Mathematik vor und Reine gefiel die Idee. Als sie Monate später darauf angesprochen wurde, meinte sie, ihrem Eindruck nach sei die Mathe-matik einer der letzten Bereiche, in dem es noch wahre Leidenschaft gebe.3

Während wir verschiedene Ideen sammelten, zeigte ich Reine einige Fotos, die ich gemacht hatte, und bei denen ich Tätowierungen mathematischer Formeln auf menschliche Körper (digitalisiert) gemalt hatte. Sie gefielen Reine, und wir beschlossen, einen Film über die Tätowierung einer Formel zu machen.

Als Kunstform stammen Tätowierungen ursprünglich aus Japan. Ich war rund ein Dutzend Mal in Japan (um mit Feigin zusammenarbeiten zu kön-nen, der seine Sommer an der Universität von Kyoto verbrachte), und mich fasziniert die japanische Kultur. So überrascht es nicht, dass Reine und ich uns auf der Suche nach Ideen dem japanischen Film zuwandten. Einer der Filme war The Rite of Love and Death von dem bekannten japanischen Schriftsteller Yukio Mishima, der in diesem Film selbst die Hauptrolle spielte und auch Regie führte. Die Geschichte basiert auf Mishimas Kurzgeschichte Yūkoku ( Patriotismus).

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Der Schwarzweißfilm spielt auf der nüchternen und stilisierten Bühne, wie sie für das japanische Noh-Theater typisch ist. Es gibt keine Dialoge, aller-dings erklingt im Hintergrund Musik aus Wagners Tristan und Isolde. Es gibt nur zwei Darsteller: einen jungen Offizier der kaiserlichen Wache, Leutnant Takeyama, und seine Frau Reiko. Freunde des Offiziers haben einen Putsch-versuch unternommen, der fehlschlug (hier bezieht sich der Film auf tatsäch-liche Ereignisse im Februar 1936, die für Mishima einen einschneidenden Einfluss auf die Geschichte Japans hatten). Der Leutnant erhält den Auftrag, die Täter hinzurichten. Er kann diesen Befehl nicht ausführen, da es seine en-gen Freunde sind. Andererseits kann er sich dem Befehl des Kaisers auch nicht widersetzen. Der einzige Ausweg besteht in rituellem Selbstmord – Seppuku (das Aufschneiden des Bauchs mit einem kurzen Schwert).

Obwohl der Film nur fünfundzwanzig Minuten lang ist, berührte er mich zutiefst. Ich fühlte die Kraft und Klarheit von Mishimas Vision. Seine Dar-bietung war eindringlich, geradlinig und frei von allen Zweifeln. Über seine Ideen kann man streiten (und seine Vorstellungen einer intimen Verbindung von Liebe und Tod teile ich nicht), doch wegen seiner Stärke und Kompro-misslosigkeit habe ich vor dem Autor einen großen Respekt.

Mishimas Film brach mit den üblichen Traditionen des Kinos: Es wird nicht gesprochen, lediglich zwischen den „Kapiteln“ wird dem Zuschauer in geschriebener Form die Handlung erklärt. Der Film erinnert ans Theater, die Szenen sind sorgfältig inszeniert, und es gibt nur wenig Bewegung. Trotzdem nahm mich die emotionale Stimmung gefangen. (Damals wusste ich noch nichts von der unheimlichen Parallele zwischen Mishimas eigenem Tod und dem im Film.)

Vielleicht sprach mich der Film deshalb so an, weil Reine und ich ebenfalls einen unkonventionellen Film schaffen wollten. Wir wollten über die Ma-thematik in einer Weise sprechen, wie noch nie jemand darüber gesprochen hatte. Für mich hatte Mishima den ästhetischen Rahmen und die Sprache geschaffen, die wir suchten. Ich rief Reine an.

„Ich habe Mishimas Film gesehen“, sagte ich, „und er ist erstaunlich. Wir sollten einen Film wie diesen machen.“

„Okay“, sagte sie, „worum soll es gehen?“Plötzlich strömten die Worte aus meinem Mund. Ich hatte alles kristallklar

vor Augen.„Ein Mathematiker erschafft eine Formel der Liebe“, sagte ich, „doch dann

entdeckt er die Kehrseite seiner Formel: Sie lässt sich ebenso für das Böse wie das Gute nutzen. Er erkennt, dass er die Formel verstecken muss, damit sie nicht in die falschen Hände fällt, und er entschließt sich, die Formel auf den Körper seiner Geliebten zu tätowieren.“

„Klingt gut. Wie sollen wir ihn nennen?“

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„Hmm… Wie wäre es mit Rites of Love and Math.“Und so wurde die Idee zu dem Film geboren.Wir sahen darin eine Allegorie, die zeigt, dass eine mathematische Formel

auch schön sein kann, wie ein Gedicht, ein Gemälde oder ein Musikstück. Wir wollten weniger den Intellekt ansprechen, sondern eher den Bauch und die Intuition. Der Zuschauer sollte den Film eher fühlen als verstehen. Wir hofften, indem wir die menschliche und seelische Seite der Mathematik be-tonten, die Neugier im Betrachter zu wecken.

Die Mathematik und die Naturwissenschaften werden oft als kalt und steril dargestellt. In Wahrheit ist der Schöpfungsakt neuer Mathematik eine sehr leidenschaftliche und zutiefst persönliche Erfahrung, wie die Schöpfung von Kunst und Musik. Er erfordert Liebe und Hingabe; es ist ein Kampf mit dem Unbekannten und mit einem selbst, der starke Emotionen auslöst. Und die Formeln und Gleichungen, die man entdeckt hat, gehen einem wirklich unter die Haut, wie die Tätowierung im Film.

In unserem Film entdeckt ein Mathematiker eine „Formel der Liebe“. Na-türlich ist das eine Metapher: Wir suchen immer nach vollständigem Verste-hen, endgültiger Klarheit, allumfassendem Wissen. In der Realität müssen wir uns mit einem Teilwissen und -verständnis abfinden. Doch was wäre, wenn tatsächlich jemand die endgültige Wahrheit finden würde; was, wenn sie sich durch eine mathematische Formel ausdrücken ließe? Dies wäre die Formel der Liebe.

Henry David Thoreau hat dies sehr schön zum Ausdruck gebracht:4

Der eindeutigste und schönste Ausdruck jeder Wahrheit muss schließlich eine mathematische Form annehmen. Vielleicht können wir die Regeln der Moral-philosophie ebenso wie die der Arithmetik derart vereinfachen, dass sich beides in einer einzigen Formel ausdrücken lässt.

Selbst wenn eine einzige Formel niemals die Kraft haben wird, um alles aus-drücken zu können, gehören mathematische Gleichungen zu den reinsten, vielseitigsten und ökonomischsten Darstellungen von Wahrheiten, die wir kennen. Sie vermitteln zeitloses und kostbares Wissen, unbeeinflusst von Mode und Trends, und haben für jeden, der mit ihnen in Kontakt kommt, dieselbe Bedeutung. Die von ihnen ausgedrückten Wahrheiten sind zwingen-de Wahrheiten, felsenfeste Leuchttürme der Realität, die die Menschen durch Zeit und Raum leiten.

Heinrich Hertz, der die Existenz elektromagnetischer Wellen nachwies und dessen Name heute als Einheit der Frequenz verwendet wird, drückte es auf seine Weise aus: 5 „Man wird das Gefühl nicht los, dass diese mathematischen

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Formeln eine unabhängige Existenz und ihre eigene Intelligenz haben, dass sie gescheiter als wir sind, ja sogar gescheiter als ihre Entdecker…“

Hertz steht mit seiner Einschätzung nicht alleine. Die meisten Mathema-tiker sind überzeugt, dass mathematische Formeln und Ideen in einer ande-ren Welt leben. Robert Langlands schreibt,6 dass uns die Mathematik oft in Form von Ahnungen erscheine, als ob sie (und nicht nur ihre grundlegenden Konzepte) in einer Welt unabhängig von uns existiere. Diese Vorstellung ist schwer nachzuvollziehen, und doch kommt der Mathematiker kaum ohne sie aus. Ein weiterer berühmter Mathematiker, Juri Manin (der Doktorvater von Drinfeld), spricht über die „Vision eines großen Schlosses der Mathematik, das irgendwo in der platonischen Ideenwelt emporragt und das die Mathema-tiker bescheiden und hingebungsvoll erkunden (und nicht erfinden)“.7

In diesem Sinne wurden die Galois-Gruppen von dem französischen Wun-derkind entdeckt und nicht erfunden. Bis zu diesem Zeitpunkt lebte das Kon-zept irgendwo in den verzauberten Gärten der Welt der Mathematik und wartete darauf, gefunden zu werden. Selbst wenn Galois’ Schriften verloren gegangen wären, und er für seine Entdeckung nicht die verdiente Anerken-nung erhalten hätte, wären genau dieselben Gruppen von einer anderen Per-son entdeckt worden.

Man vergleiche dies mit den Entdeckungen in anderen Bereichen mensch-lichen Strebens: Wäre Steve Jobs nicht zu Apple zurückgekehrt, hätte es iPods, iPhones und iPads vielleicht nie gegeben. Es wären andere technische Neuhei-ten auf den Markt gekommen, aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass andere exakt dieselben Dinge erfunden hätten. Demgegenüber sind mathe-matische Wahrheiten unvermeidlich.

Die von mathematischen Konzepten und Ideen bewohnte Welt wird oft als die platonische Welt der Mathematik bezeichnet, benannt nach den grie-chischen Philosophen Platon, der als erster behauptet hat, mathematische Entitäten seien unabhängig von unseren rationalen Aktivitäten.8 In seinem Buch The Road to Reality (Der Weg zur Wirklichkeit) schreibt der gefeier-te mathematische Physiker Roger Penrose: „Zu Platons Welt gehören genau diejenigen mathematischen Behauptungen, die objektiv wahr sind. […] Wer einer mathematischen Aussage platonische Existenz zuschreibt, behauptet nichts weiter, als dass sie in einem objektiven Sinn wahr ist. Ähnliches gilt für mathematische Begriffe […] alle haben eine platonische Existenz, weil sie objektive Begriffe sind.“9

Ebenso wie Penrose glaube ich, dass die platonische Welt der Mathematik sowohl von der physikalischen als auch der mentalen Welt getrennt ist. Be-trachten wir als Beispiel Fermats großen Satz. Penrose stellt in seinem Buch die rhetorische Frage: „Wir können uns jetzt fragen, ob wir meinen, Fermats Vermutung sei immer wahr gewesen, lange bevor er sie aufgestellt hat, oder ob

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ihre Gültigkeit rein kulturell bedingt ist und von den subjektiven Maßstäben der Gesellschaft der Mathematiker abhängt.“10 Penrose verwendet nun das altehrwürdige Argument der reductio ad absurdum und zeigt, dass uns eine subjektive Interpretation rasch zu „offenkundig absurden“ Schlussfolgerun-gen führt, und er unterstreicht damit nochmals die Unabhängigkeit mathe-matischen Wissens von jeglicher menschlichen Aktivität.

Auch Kurt Gödel, dessen Arbeit – insbesondere der berühmte Unvoll-ständigkeitssatz – die mathematische Logik revolutionierte, war ein uneinge-schränkter Anhänger dieser Ansicht. Er schrieb, dass mathematische Konzepte „eine objektive Realität bilden, die wir weder erzeugen noch ändern, sondern lediglich wahrnehmen und beschreiben können.“11 Mit anderen Worten, „die Mathematik beschreibt eine nicht sinnliche Realität, die unabhängig von den Handlungen wie auch der Gesinnung des menschlichen Verstandes existiert und die sich durch den menschlichen Verstand nur wahrnehmen lässt, und das vermutlich nur sehr unvollständig.“12

Die platonische Welt der Mathematik existiert auch unabhängig von der physikalischen Wirklichkeit. Betrachten wir als Beispiel den schon in Kap. 16 behandelten Formalismus der Eichtheorien, der ursprünglich in der Ma-thematik ohne jeden Bezug zur Physik entwickelt wurde. Es zeigt sich, dass nur drei dieser Modelle bekannte Naturkräfte (die elektromagnetische, die schwache und die starke Kraft) beschreiben. Sie gehören zu drei bestimmten Lie-Gruppen (der Kreisgruppe, SU(2) und SU(3)). Es gibt jedoch zu jeder Lie-Gruppe eine Eichtheorie, und die Eichtheorien zu anderen als den drei genannten Lie-Gruppen sind mathematisch ebenso einwandfrei, es gibt je-doch keine bekannten Beziehungen zwischen ihnen und unserer realen Welt. Wir haben auch über supersymmetrische Erweiterungen dieser Eichtheorien gesprochen, die wir mathematisch analysieren können, obwohl bis heute kei-ne Supersymmetrie dieser Art in der Natur gefunden wurde und möglicher-weise auch nicht vorhanden ist. Ähnliche Modelle sind mathematisch auch in einer Raumzeit sinnvoll, deren Dimension ungleich vier ist. Es gibt unzählige andere Beispiele interessanter mathematischer Theorien, die keinen direkten Bezug zu irgendeiner physikalischen Wirklichkeit haben.

In seinem Buch Shadows of the Mind (Schatten des Geistes; Spektrum Akad. Verlag, 1995) schreibt Roger Penrose über das Dreieck aus der physikalischen Welt, der geistigen Welt und der platonischen Welt der Mathematik.13 Sie sind getrennt und doch auf tiefe Weise miteinander verknüpft. Wir verstehen immer noch nicht ganz, wie diese Verbindungen aussehen, doch etwas ist klar: Jede von ihnen beeinflusst unser Leben in grundlegender Weise. Doch während wir alle von der Bedeutung der physikalischen und der geistigen Welten überzeugt sind, scheuen die meisten von uns den Einblick in die Welt der Mathematik. Wenn wir uns dieser versteckten Wirklichkeit öffnen und

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ihre unerschlossenen Kräfte nutzen, könnte das für unsere Gesellschaft einen Wandel zur Folge haben, dessen Auswirkungen mit der industriellen Revolu-tion vergleichbar sind.

Für mich ist es die Objektivität mathematischen Wissens, die ihren gren-zenlosen Möglichkeiten zugrunde liegt. Diese Eigenschaft unterscheidet die Mathematik von jedem anderen menschlichen Unterfangen. Wenn wir ver-stehen, was hinter dieser Eigenschaft steckt, werden wir auch einen besse-ren Einblick in die tiefsten Geheimnisse der physikalischen Wirklichkeit, des Bewusstseins und den Beziehungen zwischen ihnen erhalten. Mit anderen Worten, je näher wir der platonischen Welt der Mathematik kommen, umso mehr können wir die Welt um uns herum sowie unseren Platz in dieser Welt verstehen.

Zum Glück kann uns nichts davon abhalten, tiefer in die platonische Wirk-lichkeit einzutauchen und sie zu einem Teil unseres Lebens zu machen. In die-sem Zusammenhang ist besonders bemerkenswert, dass die Mathematik von Natur aus demokratisch ist: Manche Teile der physikalischen und geistigen Welt werden von verschiedenen Menschen unterschiedlich wahrgenommen oder interpretiert oder sind uns noch nicht einmal zugänglich, doch mathe-matische Konzepte und Gleichungen werden von uns gleich wahrgenommen und gehören uns allen in demselben Maße. Niemand hat ein Monopol auf mathematisches Wissen; niemand kann für sich eine mathematische Formel oder Idee als seine Erfindung in Anspruch nehmen; niemand kann sich eine Formel patentieren lassen! Albert Einstein hätte beispielsweise niemals ein Patent auf seine Gleichung E = mc2 anmelden können. Denn wenn eine Glei-chung richtig ist, dann bringt sie eine ewige Wahrheit über unser Universum zum Ausdruck. Deshalb kann auch niemand ein Eigentumsrecht darauf gel-tend machen; sie gehört uns allen.14 Reich oder arm, schwarz oder weiß, jung oder alt – niemand kann uns diese Formeln wegnehmen. Nichts auf dieser Welt ist derart tiefgründig und elegant und steht doch allen zur Verfügung.

Ähnlich wie bei Mishima bestand auch in Rites of Love and Math der Mit-telpunkt der kargen Szenenausstattung aus einer großen Kalligrafie an der Wand. In Mishimas Film handelte es sich um das japanische Wort shisei – Aufrichtigkeit, Redlichkeit, Treue. Sein Film drehte sich um Ehrlichkeit und Ehre. Unserer handelte von Wahrheit, also lag es nahe, dass unsere Kalligrafie „Wahrheit“ lauten sollte. Außerdem sollte es nicht in Japanisch, sondern in Russisch geschrieben sein.

Das Wort „Wahrheit“ besitzt zwei russische Übersetzungen. Das bekannte Wort Prawda bezieht sich auf Tatsachenwahrheiten wie Nachrichten (daher auch der Name der offiziellen Tageszeitung der kommunistischen Partei der UdSSR). Das andere Wort ist Istina und bezeichnet eine tiefere, philosophi-sche Wahrheit. Beispielsweise ist die Behauptung, dass die Symmetriegruppe

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eines runden Tisches ein Kreis ist, eine Prawda, doch die Aussage des Lang-lands-Programms (soweit sie bewiesen ist) ist Istina. Natürlich ist die Wahr-heit, für die sich der Mathematiker in dem Film opfert, Istina (Abb. 18.1).

In unserem Film wollten wir den moralischen Aspekt mathematischen Wis-sens ansprechen: Eine Formel mit einer dermaßen machtvollen Bedeutung kann auch eine Kehrseite haben und für böse Zwecke missbraucht werden. Man denke an die theoretischen Physiker zu Beginn des zwanzigsten Jahrhun-derts, die versucht haben, die Struktur des Atoms zu verstehen. Was für sie reine und ehrwürdige wissenschaftliche Forschung war, führte sie schließlich auch zur Entdeckung der Kernenergie. Sie brachte uns viel Gutes, aber auch Zerstörung und Tod. Entsprechend könnte sich auch eine mathematische Formel, entdeckt bei unserem Streben nach Wissen, als gefährlich erweisen. Wissenschaftler sollten ihren Ideen frei nachgehen dürfen, aber ich halte es für unsere Verantwortung, alles in unserer Macht stehende zu unternehmen, um sicherzustellen, dass die von uns entdeckten Formeln nicht missbraucht werden. Aus diesem Grund ist in unserem Film der Mathematiker auch bereit zu sterben, damit seine Formel nicht in die falschen Hände fällt. Die Tätowie-rung ist sein Mittel, die Formel zu verbergen und gleichzeitig ihr Überleben zu sichern.

Da ich selbst nie eine Tätowierung hatte, musste ich die Technik erst er-lernen. Heute werden Tätowierungen mit Maschinen gemacht, doch früher wurden in Japan Tätowierungen mit einem Bambusstift eingeritzt – dies dau-ert länger und ist schmerzhafter. Ich habe gehört, dass man in Japan auch

Abb. 18.1 Szene aus Rites of Love and Math. Die Kalligrafie im Hintergrund ist das russische Wort Istina – Wahrheit. © Frenkel

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heute noch Tätowierstudios findet, die dieses alte Verfahren verwenden. In dieser Form haben wir es im Film dargestellt (Abb. 18.2).

Eine große Frage war, welche Formel die Rolle der „Formel der Liebe“ übernehmen sollte. Sie musste ausreichend kompliziert sein (immerhin han-delt es sich um eine Formel der Liebe), aber auch ästhetisch ansprechend. Wir wollten zum Ausdruck bringen, dass eine Formel sowohl ihrem Gehalt als auch ihrer Form nach schön sein kann. Und ich wollte natürlich, dass es meine Formel ist.

Auf der Suche nach der geeigneten „Besetzung“ für die Formel der Liebe stolperte ich über folgende Gleichung:

1F(qz , qz) =

m,m=0\

|z|< −1

zz zmzmdzd z ·

qmqm

m!m!∂mz ∂

mz F

z=0

+ qq∞

m,m=0

qmqm

m!m!mw

mw ww

w=0· \|w|< q−1 −1

F wmwmdwd w.ω

ωω

∂∂

Sie erscheint als Gl. (5.7) in einem hundert Seiten langen Artikel Instantons Beyond Topological Theory I, den ich 2006 mit zwei guten Freunden, Andrei Losew und Nikita Nekrassow, geschrieben habe.15

Abb. 18.2 Der Mathematiker tätowiert seine Formel. © Frenkel

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Diese Gleichung sieht ziemlich abschreckend aus, und hätten wir einen Film gedreht, in dem ich diese Formel an die Tafel schreibe und ihre Be-deutung erkläre, hätten die meisten Leute das Kino vermutlich während der Vorführung verlassen. Doch als Tätowierung rief sie vollkommen andere Re-aktionen hervor. Sie ging den Zuschauern buchstäblich unter die Haut: Jeder wollte wissen, was sie bedeutete.

Also, was bedeutet sie? Unser Artikel war der erste Teil einer Reihe über einen neuen Zugang zu Quantenfeldtheorien mit Instantonen – das sind bestimmte Feldverteilungen mit bemerkenswerten Eigenschaften. Obwohl Quantenfeld-theorien sehr erfolgreich die genauen Wechselwirkungen zwischen Elemen-tarteilchen beschreiben können, gibt es immer noch viele wichtige Phänome-ne, die nicht genau verstanden sind. Beispielsweise bestehen Protonen und Neutronen nach dem Standardmodell aus jeweils drei Quarks, die sich nicht trennen lassen. In der Physik bezeichnet man diese Eigenschaft als Confine-ment. Eine zufriedenstellende theoretische Erklärung dafür gibt es noch nicht, und viele Physiker glauben, dass Instantonen ein Schlüssel zur Erklärung die-ses Geheimnisses sein könnten. Mit den üblichen quantenfeldtheoretischen Verfahren lassen sich Instantonen jedoch sehr schwer beschreiben.

Wir schlugen einen neuartigen Zugang zu Quantenfeldtheorien vor, von dem wir hofften, dass sich damit die wichtigen Einflüsse von Instantonen bes-ser verstehen lassen. Die obige Formel beschreibt eine überraschende Identität zwischen zwei Verfahren, eine Korrelationsfunktion in einer unserer Theo-rien zu berechnen.16 Damals, als wir diese Formel entdeckt haben, hatten wir natürlich keine Ahnung, dass sie so bald als Formel der Liebe missbraucht werden würde.

Oriane Giraud, der für spezielle Effekte zuständig war, mochte die Formel, meinte aber, sie sei zu komplex für eine Tätowierung. Daher vereinfachte ich die Schreibweise, und Abb. 18.3 zeigt, wie sie schließlich in unserem Film erschien.

Die Tätowierungsszene im Film sollte die Leidenschaft zum Ausdruck bringen, mit der mathematische Forschung betrieben werden kann. Während er die Tätowierung macht, kapselt sich der Mathematiker vollkommen von der Welt ab. Für ihn wird diese Formel wirklich zu einer Frage von Leben und Tod.

An dieser Szene drehten wir mehrere Stunden. Sie war psychologisch und körperlich sehr anstrengend, sowohl für mich als auch für Kayshonne Insi-xieng May, die Darstellerin von Mariko. Gegen Mitternacht am letzten Tag unserer Dreharbeiten hatten wir diese Szene endlich im Kasten. Nach allem, was wir zusammen durchgemacht hatten, war es für die rund dreißigköpfige Crew ein sehr ergreifender Augenblick.

Die Filmpremiere des von der Fondation Sciences mathématiques de Pa-ris gesponserten Films fand im April 2010 im Max-Linder-Panorama-Kino,

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einem der besten von Paris, statt. Es war ein voller Erfolg, und es erschienen die ersten Artikel über den Film. Le Monde schrieb zu Rites of Love and Math: „ein erstaunlicher Kurzfilm, der ein ungewöhnlich romantisches Bild der Ma-thematik zeichnet.“17 Und der New Scientist schrieb:18

Er ist schön anzusehen… Wenn es Frenkels Ziel war, mehr Leute zur Mathe-matik zu bringen, kann er sich zu seinem Erfolg gratulieren. Die Formel der Liebe, bei der es sich um eine vereinfachte Version einer Gleichung handelt, die er 2006 in einem Artikel „Instantons beyond topological theory I“ über Quantenfeldtheorie veröffentlicht hat, wird bald wahrscheinlich von mehr Personen gesehen – wenn auch nicht verstanden – worden sein, als es sonst möglich gewesen wäre.

Nach den Worten der bekannten französischen Zeitschrift Tangente Sup19 wird der Film „diejenigen besonders interessieren, die in der Mathematik das vollkommene Gegenteil von Kunst und Dichtung sehen.“ In einem Begleit-artikel schrieb Hervé Lehning:

In der mathematischen Forschung von Edward Frenkel spielen Symmetrie und Dualität eine wichtige Rolle. Sie hängen mit dem Langlands-Programm zusammen, das eine Brücke zwischen der Zahlentheorie und Darstellungen bestimmter Gruppen etablieren möchte. Dieses sehr abstrakte Thema besitzt tatsächlich Anwendungen, zum Beispiel in der Kryptografie…. Wenn die Idee der Dualität für Edward Frenkel so wichtig ist, stellt sich die Frage, ob er eine Dualität zwischen Liebe und Mathematik sieht, wie es der Titel des Films na-helegt. Seine Antwort auf diese Frage ist klar. Für ihn ist mathematische For-schung wie eine Liebesgeschichte.

Seither wurde der Film auf vielen Filmfestivals vorgestellt, unter anderem in Frankreich, Spanien und Kalifornien, in Paris, Kyoto, Madrid, Santa Barbara,

Abb. 18.3 Die tätowierte Formel der Liebe. © Frenkel

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Bilbao, Venedig…. Die Vorführungen und die anschließenden Medienbe-richte ermöglichten mir einen Einblick in einige der Unterschiede zwischen den „zwei Kulturen“. Anfänglich war es für mich wie ein Kulturschock. Meine Mathematik verstehen oft nur wenige Leute in allen Einzelheiten, manchmal nur ein Dutzend auf Anhieb. Außerdem stellt jede mathematische Formel eine objektive Wahrheit dar, und es gibt im Wesentlichen nur eine Inter-pretation dieser Wahrheit. Jeder, der meine mathematischen Arbeiten liest, versteht sie daher auf dieselbe Weise. Demgegenüber war unser Film für ein breites Publikum gedacht: Tausende von Menschen haben ihn gesehen. Und natürlich interpretieren ihn alle auf ihre Weise.

Ich habe daraus gelernt, dass der Zuschauer immer Teil einer künstlerischen Arbeit ist; letztendlich liegt alles im Auge des Betrachters. Der Erschaffer ei-ner solchen Arbeit hat keine Macht über die Wahrnehmung des Zuschauers. Doch genau davon können wir auch alle profitieren, denn wenn wir unsere Ansichten austauschen, werden wir alle bereichert.

In unserem Film versuchten wir, eine Vereinigung der beiden Kulturen zu erreichen, indem wir über die Mathematik mit der Empfindsamkeit eines Künstlers sprechen. Zu Beginn des Films schreibt Mariko ein Liebesgedicht an den Mathematiker.20 Wenn er am Ende des Films die Formel tätowiert, ist das seine Form einer Antwort: Für ihn ist diese Formel ein Ausdruck seiner Liebe. Sie kann dieselbe Leidenschaft und emotionale Kraft wie ein Gedicht haben; somit war dies unsere Art, die Parallelen zwischen der Mathematik und der Dichtkunst zu zeigen. Für den Mathematiker ist es sein Geschenk der Liebe, das Ergebnis seiner Schöpfung, Leidenschaft und Phantasie. Es ist, als ob er ihr einen Liebesbrief schreibt – denken Sie an den jungen Galois, der am Vorabend seines Todes seine Gleichungen aufschreibt.

Doch wer ist sie? In dem Bild der mystischen Welt, die uns vorschwebte, ist sie die Inkarnation der mathematischen Wahrheit (daher ihr Name Mariko, „Wahrheit“ auf Japanisch; entsprechend dem Wort Istina als Kalligrafie an der Wand). Die Liebe des Mathematikers zu ihr soll seine Liebe für die Ma-thematik und die Wahrheit darstellen, für die er sich opfert. Doch sie muss am Leben bleiben und seine Formel tragen, wie sie ihrer beider Kind tragen würde. Mathematische Wahrheit ist ewig.

Kann die Mathematik eine Sprache der Liebe sein? Einige Zuschauer wuss-ten nicht so recht, was sie von der Idee einer „Formel der Liebe“ halten sollten. Beispielsweise sagte mir jemand nach dem Film: „Logik und Gefühl wollen nicht immer dasselbe. Deshalb sagt man auch, Liebe sei blind. Wie könnte eine Formel der Liebe da wirken?“ Tatsächlich erscheinen uns unsere Gefühle und Emotionen oft als irrational (obwohl Kognitionswissenschaftler behaup-ten, dass sich einige Aspekte dieser scheinbaren Irrationalität tatsächlich ma-thematisch beschreiben lassen). Daher glaube ich nicht, dass es eine Formel

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gibt, die in der Lage ist, das Phänomen Liebe zu beschreiben oder erklären zu können. Wenn ich über eine Beziehung zwischen Liebe und Mathematik spreche, will ich damit nicht sagen, dass sich Liebe auf Mathematik reduzie-ren lässt. Mein Punkt ist eher, dass die Mathematik wesentlich reichhaltiger ist, als den meisten von uns jemals bewusst wird. Unter anderem gibt uns die Mathematik ein rationales Grundprinzip und eine zusätzliche Befähigung, einander und unsere Welt zu lieben. Eine mathematische Formel kann die Liebe nicht erklären, aber sie kann ein Übermittler der Liebe sein.

Wie die Dichterin Norma Farber schrieb:21

Mache mir keine faule Liebe.Bewege mich von Fall zu Fall.

Die Mathematik bewegt uns „von Fall zu Fall“, und hierin liegt ihre tiefe und größtenteils unerschlossene geistige Funktion.

Albert Einstein schrieb:22 „Wenn man wirklich Wissenschaft betreibt und der wissenschaftlichen Erkenntnis nachjagt, dann bekommt man den Ein-druck nicht los, dass irgendein Gott oder Geist sich in den natürlichen Ge-setzen manifestiert hat, der sehr viel höher ist als der Mensch.“ Und Isaac Newton drückte seine Gefühle folgendermaßen aus:23 „Mir kam es so vor, als sei ich nur ein kleiner Junge, der am Strand spielt und sich daran erfreut, von Zeit zu Zeit einen glatteren Kieselstein oder eine hübschere Muschel als gewöhnlich zu finden, während der große Ozean der Wahrheit unentdeckt vor mir liegt.“

Es ist mein Traum, dass wir alle uns eines Tages dieser versteckten Wirklich-keit bewusst werden. Dann sind wir vielleicht in der Lage, unsere Differenzen zu vergessen und uns auf die grundlegenden, uns vereinigenden Wahrheiten zu konzentrieren. Und wir sind dann vielleicht wie Kinder, die am Strand spielen und die blendende Schönheit und Harmonie bewundern, die wir ge-meinsam entdecken, teilen und schätzen.

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Nachwort

Mein Flugzeug landet auf dem Logan Airport in Boston. Es ist Januar 2012. Ich komme zu dem gemeinsamen Jahrestreffen der American Mathematical Society (AMS) und der Mathematical Association of America und wurde ein-geladen, die AMS Colloquium Lectures 2012 zu halten. Seit 1896 wurden diese Vorträge in jedem Jahr gehalten. Ein Blick auf die Liste der Sprecher und der Themen ihrer Vorträge ist wie ein Gang durch die Geschichte des letzten Jahrhunderts: Johann von Neumann, Shiing-Shen Chern, Michael Atiyah, Raoul Bott, Robert Langlands, Edward Witten und viele weitere gro-ße Mathematiker. Ich fühle mich geehrt und gleichzeitig beschämt, Teil dieser Tradition sein zu dürfen.

Meine Rückkehr nach Boston weckt Erinnerungen. Meine erste Landung in Logan war im September 1989, als ich nach Harvard kam – From Russia with Math, um den bekannten Filmtitel umzudeuten. Damals war ich 21 und wusste nicht, was mich erwartete und was noch kommen sollte. Drei Monate später, nach turbulenten Zeiten und schweren Entscheidungen, war ich wieder in Logan, um meinen Mentor Boris Feigin zu verabschieden, der nach Moskau zurückkehrte. Wir wussten beide nicht, wann wir uns wiederse-hen würden. Doch unsere mathematische Zusammenarbeit und Freundschaft blieb bestehen und wuchs.

Ich blieb wesentlich länger in Harvard als erwartet: Ein Jahr später konnte ich promovieren, wurde ein Mitglied der Harvard Society of Fellows und am Ende meiner Zeit dort wurde ich außerordentlicher Professor in Harvard. Dann, fünf Jahre nach meiner Ankunft in Boston, wartete ich ungeduldig in Logan auf die Ankunft meiner Eltern und meiner Schwester, die zu mir kamen und sich in Amerika niederlassen wollten. Seit damals leben sie in der Nähe von Boston. Ich verließ die Stadt jedoch 1997, nachdem mir die University of California in Berkeley ein Angebot gemacht hatte, das ich nicht ablehnen konnte.

Ich bin häufig in Boston, um meine Familie zu treffen. Zufälligerweise liegt die Wohnung meiner Eltern nur wenige Blöcke vom Hynes Convention Center entfernt, wo das gemeinsame Mathematikertreffen stattfindet. So ha-ben sie zum ersten Mal die Gelegenheit, mich bei einem Vortrag zu erleben.

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Was für ein herrliches Geschenk, diese Erfahrung mit meiner Familie teilen zu dürfen. „Willkommen daheim!“

Das gemeinsame Treffen hat über 7000 eingetragene Teilnehmer und ist damit vermutlich das größte Mathematikertreffen. Viele von ihnen kamen zu meinen Vorträgen, die in einem großen Ballsaal stattfanden. Meine Eltern, meine Schwester und meine Nichte saßen in der ersten Reihe. Die Vorträge bezogen sich auf meine jüngsten gemeinsamen Arbeiten mit Robert Lang-lands und Ngô Bao Châu. Sie waren das Ergebnis einer dreijährigen Zusam-menarbeit, in der wir versucht hatten, die Ideen des Langlands-Programms weiter voranzutreiben.1

„Wie fänden Sie es, wenn wir einen Film über das Langlands-Programm machen wollten?“, fragte ich meine Zuhörer. „Wie jeder Drehbuchautor Ih-nen bestätigen wird, müssten wir uns zunächst mit einigen Fragen herum-schlagen: Worum geht’s? Wer sind die Hauptdarsteller? Was ist die Hand-lung? Was sind die Probleme? Wie werden sie gelöst?“

Einige Zuhörer lächeln. Ich spreche über André Weil und seinen Rosetta-Stein. Wir begeben uns auf eine Reise durch verschiedene Kontinente der Welt der Mathematik und entdecken geheimnisvolle Verbindungen zwischen ihnen.

Jeder Druck auf die Fernbedienung ändert die Seite meiner Präsentation, die auf vier riesige Leinwände projiziert wird. Und jede Seite beschreibt einen kleinen Schritt bei unserer niemals endenden Suche nach Erkenntnis. Wir stellen uns die ewigen Fragen über Wahrheit und Schönheit. Und je mehr wir über Mathematik lernen – dieses magische verborgene Universum – umso mehr erkennen wir, wie wenig wir wissen und wie viel noch vor uns liegt. Unsere Reise geht weiter.

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Fachbegriffe

Abbildung:von einer Menge (oder Mannigfaltigkeit) M in eine andere Menge (oder Mannigfaltig-keit) N: Eine Vorschrift, die jedem Punkt von M einen Punkt von N zuordnet.

Abelsche Gruppe:Eine Gruppe, in der das Ergebnis der Multiplikation von je zwei Elementen nicht von ihrer Reihenfolge abhängt. Ein Beispiel ist die Kreisgruppe.

Automorphe Funktion:Eine besondere Art von Funktion, die in der harmonischen Analyse auftritt.

Automorphe Garbe: Eine Garbe, welche die automorphe Funktion in der geometrischen Langlands-Bezie-hung in der rechten Spalte von Weils Rosetta-Stein ersetzt.

Darstellung einer Gruppe:Eine Vorschrift, die jedem Element einer Gruppe eine Symmetrie eines Vektorraumes zuordnet, sodass bestimmte natürliche Eigenschaften gelten. Allgemeiner ist eine Dar-stellung einer Gruppe G in einer anderen Gruppe H eine Vorschrift, die jedem Element von G ein Element von H zuordnet, sodass bestimmte natürliche Eigenschaften gelten.

Dimension:Die Anzahl von Koordinaten, die notwendig sind, um Punkte eines gegebenen Objekts zu beschreiben. Zum Beispiel haben eine Gerade und ein Kreis die Dimension eins, eine Ebene und eine Kugeloberfläche die Dimension zwei.

Dualität:Die Äquivalenz von zwei Modellen (oder Theorien) unter einem bestimmten Austausch von Parametern und Objekten.

Eichgruppe:Eine Lie-Gruppe, die in einer gegebenen Eichtheorie auftritt und insbesondere die Teil-chen und ihre Wechselwirkungen in dieser Theorie festlegt.

Eichtheorie:Eine bestimmte Klasse von physikalischen Modellen, die Felder und ihre Wechselwir-kungen beschreiben. Zu jeder Lie-Gruppe, die man dann die Eichgruppe nennt, gibt es

E. Frenkel, Liebe und Mathematik, DOI 10.1007/978-3-662-43421-5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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eine solche Theorie bzw. ein solches Modell. Beispielsweise ist die Eichtheorie zur Kreis-gruppe die Theorie des Elektromagnetismus.

Endlicher Körper:Die Menge der natürlichen Zahlen zwischen 0 und p − 1, wobei p eine Primzahl ist, oder eine Erweiterung dieser Menge um Lösungen einer Polynomgleichung in einer Variablen.

Faserung:Gegeben seien zwei Mannigfaltigkeiten M und B und eine Abbildung von M nach B. Für jeden Punkt in B haben wir die Menge der Punkte in M, die auf diesen Punkt ab-gebildet werden; diese bezeichnet man als die Faser über diesem Punkt. Man nennt M eine Faserung (oder ein Faserbündel) über der Basis B, wenn all diese Fasern miteinander identifiziert werden können (und jeder Punkt in B eine Umgebung U hat, sodass das Urbild in M mit dem Produkt aus U und der Faser identifiziert werden kann).

Fermat’scher Satz, großer:Die Aussage, dass es für keine natürliche Zahl n größer als 2 natürliche Zahlen x, y und z gibt, sodass xn + yn = zn gilt.

Fundamentalgruppe:Die Gruppe aller kontinuierlichen geschlossenen Wege, die an einem gegebenen Punkt beginnen und enden.

Funktion:Eine Vorschrift, bei der jedem Punkt einer gegebenen Menge oder Mannigfaltigkeit eine Zahl zugeordnet wird.

Galois-Gruppe:Die Gruppe der Symmetrien eines Zahlenkörpers, die mit den Operationen der Addi-tion und der Multiplikation verträglich sind.

Ganze Zahl:Jede Zahl, die entweder eine natürliche Zahl oder 0 oder das Negative einer natürlichen Zahl ist.

Garbe:Eine Vorschrift, die jedem Punkt einer Mannigfaltigkeit einen Vektorraum zuordnet, wobei noch bestimmte natürliche Bedingungen erfüllt sein müssen.

Gruppe:Eine Menge mit einer Operation (die man auch Verknüpfung, Addition oder Multi-plikation nennt), die je zwei Elementen dieser Menge ein weiteres Element der Menge zuordnet. (Beispielsweise ist die Menge der ganzen Zahlen mit der Operation der Ad-dition eine Gruppe.) Diese Operation muss folgende Bedingungen erfüllen: Es gibt ein Einselement; zu jedem Element gibt es ein Inverses; Assoziativität.

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Fachbegriffe 253

Harmonische Analyse:Ein Zweig der Mathematik, der die Zerlegung von Funktionen in harmonische Funk-tionen wie den Sinus oder Kosinus untersucht.

Hintereinanderausführung (von zwei Symmetrien):Die Symmetrie eines gegebenen Gegenstands, die man erhält, wenn man zwei Symme-trien dieses Gegenstands hintereinander ausführt.

Kac-Moody-Algebra:Die Lie-Algebra der Schleifengruppe einer gegebenen Lie-Gruppe, noch um eine Gera-de erweitert.

Kategorie:Eine algebraische Struktur aus „Objekten“ und „Morphismen“ zwischen je zwei Ob-jekten. Beispielsweise bilden Vektorräume eine Kategorie, ebenso die Garben auf einer Mannigfaltigkeit.

Komplexe Zahl:Jede Zahl der Form a b+ −1 , wobei a und b zwei reelle Zahlen sind.

Korrespondenz:Eine Beziehung zwischen Objekten unterschiedlicher Art oder eine Vorschrift, die Ob-jekte der einen Art Objekten der anderen Art zuordnet. Ein Beispiel ist eine Eins-zu-Eins-Korrespondenz.

Kreis:Eine Mannigfaltigkeit, die sich als Menge aller Punkte in der Ebene mit einem konstan-ten Abstand von einem Punkt beschreiben lässt.

Kreisgruppe:Die Gruppe der Drehungen eines runden Gegenstands, z. B. eines runden Tisches. Es handelt sich um einen Kreis, bei dem ein bestimmter Punkt als Einselement der Gruppe ausgezeichnet ist. Die Kreisgruppe ist das einfachste Beispiel einer Lie-Gruppe.

Kubische Gleichung:Eine Gleichung der Form P( y) = Q( x), wobei P( y) ein Polynom zweiten Grades und Q( x) ein Polynom dritten Grades ist. Ein Beispiel, das in diesem Buch ausführlich untersucht wird, ist y2 + y = x3 − x2.

Kugeloberfläche:Eine Mannigfaltigkeit, die sich als die Menge aller Punkte in einem flachen, dreidimen-sionalen Raum mit konstantem Abstand von einem festen Punkt charakterisieren lässt.

Kurve über einem endlichen Körper:Ein algebraisches Objekt, das aus allen Lösungen einer algebraischen Gleichung in zwei Variablen (wie einer kubischen Gleichung) besteht, deren Werte in einem endlichen Körper von p Elementen und all seinen Erweiterungen liegen.

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Langlands-Beziehung (oder Langlands-Korrespondenz):Eine Vorschrift, die einer Darstellung einer Galois-Gruppe eine automorphe Funktion(oder eine automorphe Darstellung) zuordnet.

Langlands-duale Gruppe:Eine Lie-Gruppe, die über ein bestimmtes Verfahren einer gegebenen Lie-Gruppe Gzugeordnet wird. Man bezeichnet sie mit LG.

Lie-Algebra:Der Tangentialraum zu einer Lie-Gruppe an dem Punkt, der dem Einselement dieser Gruppe entspricht.

Lie-Gruppe:Eine Gruppe, die gleichzeitig auch eine Mannigfaltigkeit ist, sodass die Operation der Gruppe eine glatte Abbildung erzeugt.

Menge:Eine Ansammlung von Objekten, z. B. die Menge {0, 1, 2,…, N − 1} für eine gegebene Zahl N.

Modulform:Eine Funktion auf der Einheitsscheibe, die bestimmte Transformationseigenschaften unter einer Untergruppe der Symmetriegruppe der Scheibe (die sogenannte Modul-gruppe) hat.

Modulraum von Hitchin:Der Raum (bzw. die Mannigfaltigkeit), dessen Punkte Darstellungen der Fundamental-gruppe einer gegebenen Riemann’schen Fläche in einer gegebenen Lie-Gruppe sind.

Natürliche Zahl:Die Zahl 1 oder jede andere Zahl, die man durch endlich viele Additionen von 1 zu sich selbst erhält.

Nicht-abelsche Gruppe:Eine Gruppe, in der das Ergebnis der Multiplikation von zwei Elementen im Allgemei-nen von ihrer Reihenfolge abhängt. Ein Beispiel ist die Gruppe SO(3).

Polynom in einer Variablen:Ein Ausdruck der Form anx n + an−1x n−1 + … + a1x + a0, wobei x eine Variable und an, an−1, …, a1, a0 Zahlen sind. Polynome in mehreren Variablen sind ähnlich definiert.

Polynomgleichung:Eine Gleichung der Form P = 0, wobei P ein Polynom in einer oder mehreren Variablen ist.

Primzahl:Eine natürliche Zahl, die durch keine natürliche Zahl außer sich selbst und 1 teilbar ist.

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Fachbegriffe 255

Quantenfeldtheorie:Dieser Ausdruck bezeichnet zwei Dinge. Einmal handelt es sich um einen Bereich der Physik, der sich mit Modellen für die Wechselwirkungen zwischen Quantenteilchen und Feldern beschäftigt. Zum anderen bezeichnet es auch ein bestimmtes Modell dieser Art.

Schleife (oder Loop):Eine geschlossene Kurve, beispielsweise ein Kreis.

Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung:Die Behauptung, dass es eine Eins-zu-Eins-Beziehung zwischen kubischen Gleichungen und Modulformen mit bestimmten Eigenschaften gibt.

SO(3):Die Gruppe der Drehungen einer Kugeloberfläche.

Supersymmetrie:Eine besondere Form von Symmetrie in einer Quantenfeldtheorie, bei der Bosonen und Fermionen ausgetauscht werden.

Symmetrie:Eine Transformation eines gegebenen Objekts, die seine Eigenschaften wie Form und Lage erhält.

Theorie:Ein bestimmter Zweig der Mathematik oder Physik (beispielsweise die Zahlentheorie) oder ein bestimmtes Modell, das Beziehungen zwischen Objekten beschreibt (wie die Eichtheorie mit der Eichgruppe SO(3)).

Vektorraum:Die Menge aller Vektoren in einem gegebenen n-dimensionalen flachen Raum mit den Operationen der Addition von Vektoren und der Multiplikation von Vektoren mit Zah-len, sodass bestimmte natürliche Eigenschaften erfüllt sind.

Zahlenkörper:Ein Zahlensystem, das man durch Hinzufügen aller Lösungen einer endlichen Zahl von Polynomen in einer Variablen mit rationalen Koeffizienten zu rationalen Zahlen erhält.

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Anmerkungen

Vorwort

1. Edward Frenkel, Don’t Let Economists and Politicians Hack Your Math, Slate, 8. Februar 2013, http://slate.me/128ygaM.

Kapitel 1. Ein geheimnisvolles Ungeheuer

1. Bildnachweis: Physics World, http://www.hk-phy.org/index2.html.2. Bildnachweis: Arpad Horvath.

Kapitel 2. Das Wesen der Symmetrie

1. In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass wir mit dem Ausdruck „Sym-metrie eines Gegenstands“ eine bestimmte Transformation bezeichnen, die einen Gegenstand nicht verändert, wie beispielsweise die Drehung eines Tisches. Wir verwenden „Symmetrie eines Gegenstands“ nicht als Bezeichnung der Eigenschaft dieses Gegenstands, symmetrisch zu sein.

2. Für Drehungen im Uhrzeigersinn erhalten wir dieselbe Menge von Dre-hungen: Eine Drehung um 90° im Uhrzeigersinn ist dasselbe wie eine Drehung um 270° entgegen dem Uhrzeigersinn usw. Mathematiker ver-wenden meist die Konvention, Drehwinkel gegen den Uhrzeigersinn zu messen, doch das ist willkürlich.

3. Das erscheint vielleicht überflüssig, doch es geht hier nicht um Pedan-terie. Aus Konsistenzgründen müssen wir diese Transformation mit ein-beziehen. Wir haben festgelegt, dass jede Transformation, die unseren Gegenstand unverändert lässt, eine Symmetrie ist, und das Einselement ist eine solche Transformation.Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich betonen, dass uns nur das Endergebnis einer gegebenen Symmetrie interessiert. Dabei spielt es keine Rolle, was wir während des Vorgangs mit dem Gegenstand machen;

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nur die abschließende Lage aller Punkte des Gegenstands ist wichtig. Wenn wir beispielsweise den Tisch um 360° drehen, befindet sich zum Schluss jeder Punkt an derselben Stelle wie zu Beginn. Deshalb ist für uns eine Drehung um 360° dieselbe Symmetrie wie überhaupt keine Dre-hung. Und aus demselben Grund ist eine Drehung um 90° entgegen dem Uhrzeigersinn dasselbe wie eine Drehung um 270° im Uhrzeigersinn. Wir könnten den Tisch auch um drei Meter in eine bestimmte Richtung verschieben und anschließend um drei Meter zurückschieben, oder wir könnten den Tisch in ein anderes Zimmer tragen und wieder zurückbrin-gen. Solange der Tisch wieder an derselben Stelle steht und jeder seiner Punkte dieselbe Lage einnimmt wie vorher, ist dies dieselbe Symmetrie des Tischs wie die Identität.

4. Eine weitere wichtige Eigenschaft, die die Hintereinanderschaltung von Symmetrien erfüllt, bezeichnet man als Assoziativität: Für drei Sym-metrien S, S′ und S″ erhalten wir dasselbe Ergebnis, unabhängig da-von, in welcher Reihenfolge wir die Symmetrien zusammenfassen, also ( ) ( )S S S S S S° ° = ° ′°′ ″ ″ . Diese Eigenschaft wird als zusätzliches Axiom in die formale Definition einer Gruppe aufgenommen. Wir erwähnen sie in diesem Buch nicht weiter, weil diese Eigenschaft für die von uns be-trachteten Gruppen offensichtlich gültig ist.

5. Als wir über die Symmetrien eines quadratischen Tischs gesprochen ha-ben, war es ganz nützlich, die vier Symmetrien mit den vier Ecken des Tischs zu identifizieren. Allerdings hängt eine solche Identifikation da-von ab, dass eine Ecke ausgezeichnet wird: die Ecke, die der Identität entspricht. Sobald diese Auszeichnung getroffen wurde, können wir tat-sächlich jede Symmetrie mit der Ecke, in welche die ausgezeichnete Ecke durch diese Symmetrie transformiert wird, identifizieren. Der Nachteil ist jedoch, dass wir eine andere Identifikation erhalten, wenn wir eine andere Ecke auszeichnen. Daher ist es besser, zwischen den Symmetrien eines Tischs und seinen Punkten zu unterscheiden.

6. Siehe Sean Caroll, The Particle at the End of the Universe: How the Hunt for the Higgs Boson Leads Us to the Edge of a New World, Dutton, 2012.

7. Ausgehend von der Idee, dass Formen durch ihre Symmetrieeigenschaften bestimmt sind, formulierte der Mathematiker Felix Klein 1872 sein ein-flussreiches Erlanger Programm, wonach die wesentlichen Eigenschaften einer Geometrie durch eine Symmetriegruppe festgelegt werden. Zum Beispiel besteht die Symmetriegruppe der euklidischen Geometrie aus al-len Transformationen des euklidischen Raumes, bei denen die Abstände unverändert bleiben. Nicht-euklidische Geometrien entsprechen anderen Symmetriegruppen. Damit können wir mögliche Geometrien klassifizie-ren, indem wir die relevanten Symmetriegruppen klassifizieren.

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Anmerkungen 259

8. Das bedeutet nicht, dass mathematische Aussagen nicht auch Aspekte haben können, die sich unterschiedlich interpretieren lassen. Zum Bei-spiel können Fragen hinsichtlich der Wichtigkeit einer Aussage oder dem Bereich seiner Anwendbarkeit oder seiner Bedeutung für die Entwicklung der Mathematik durchaus unterschiedlich bewertet werden. Doch die in-haltliche Bedeutung – was genau ausgesagt wird – liegt fest, sofern die Aussage logisch widerspruchsfrei ist. (Auch die logische Widerspruchs-freiheit kann nicht angezweifelt werden, sobald wir das Axiomensystem, in dessen Rahmen die Aussage gemacht wurde, festgelegt haben.)

9. Man beachte, dass jede Drehung auch eine Symmetrie eines beliebigen runden Gegenstands ist, z. B. eines runden Tisches. Daher könnte man im Prinzip auch von einer Darstellung der Drehgruppe durch die Sym-metrien des runden Tisches sprechen, nicht nur durch die Symmetrien der Ebene. Doch in der Mathematik wird der Begriff Darstellung fast nur verwendet, wenn eine gegebene Gruppe durch Symmetrien eines n-dim-ensionalen Raumes realisiert wird. In mathematischer Sprechweise soll-te es sich bei solchen Symmetrien um lineare Transformationen handeln. Dieses Konzept wird in Anmerkung 2 zu Kap. 15 erläutert.

10. Für jedes Element g der Drehgruppe bezeichnen wir die entsprechende Symmetrie des n-dimensionalen Raumes durch Sg. Für jedes g muss Sg eine lineare Transformation sein, und es müssen folgende Eigenschaften erfüllt sein: Erstens muss für jedes Paar g und h von Gruppenelementen die Symmetrie Sg·h gleich der Hintereinanderschaltung der Symmetrien Sg und Sh sein. Zweitens muss die Symmetrie zum Identitätselement der Gruppe gleich der Identitätssymmetrie der Ebene sein.

11. Später fand man heraus, dass es noch drei weitere Quarks (und die ent-sprechenden Anti-Quarks) gibt, die man Charm, Top und Bottom nennt.

Kapitel 3. Das fünfte Problem

1. Es gab auch eine kleine, halb-offizielle Synagoge in Marina Rosha. Nach der Perestroika verbesserte sich die Lage, als in Moskau und anderen Städ-ten mehr Synagogen öffneten und jüdische Gemeinden entstanden.

2. Mark Saul, Kerosinka: An episode in the history of Soviet mathematics, Notices of the American Mathematical Society, Bd. 46, November 1999, S. 1217–1220. Online verfügbar unter: http://www.ams.org/noti-ces/199910/fea-saul.pdf.

3. George G. Szpiro, Bella Abramovna Subbotovskaya and the „Jewish Peop-le’s University“, Notices of the American Mathematical Society, Bd. 54, November 2007, S.  1326–1330. Online verfügbar unter: http://www.ams.org/notices/200710/tx071001326p.pdf.

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4. In seinem Artikel Entrance Examinations to the Mekh-Mat, Mathematical Intelligencer, Bd. 16, Nr. 4, 1994, S. 6–10, gibt Alexander Shen einige Beispiele für Aufgaben, die jüdischen Studenten bei den Aufnahmeprü-fungen an die MGU gestellt wurden. Dieser Artikel ist auch in dem Buch You Failed Your Math Test, Comrade Einstein von M. Shifman (Hrsg.), World Scientific, 2005, abgedruckt (online verfügbar unter: http://www.ftpi.umn.edu/shifman/ComradeEinstein.pdf ). Man vergleiche auch an-dere Artikel über MGU-Zulassungen in diesem Buch, besonders die von I. Vardi und A. Vershik.Eine weitere Liste mit Aufgaben wurde in Jewish Problems von T. Khova-nova und A. Radul zusammengetragen, verfügbar unter: http://arxiv.org/abs/1110.1556.

5. George G. Szpiro, ebenda.

Kapitel 4. Kerosinka

1. Mark Saul, ebenda.

Kapitel 5. Die Lösung wird geflochten

1. Die Geschichte der Jewish People’s University und die Umstände von Bella Mutschnik Subbotowskaja’s Tod wurden in den Artikeln von D. B. Fuchs und anderen beschrieben, erschienen in M. Shifman (Hrsg.), You Failed Your Math Test, Comrade Einstein, World Scientific, 2005.Siehe auch George G. Szpiro, ebenda.

2. Wenn wir den Identitätszopf über einen anderen Zopf setzen und dann die Mittelplatten entfernen, erhalten wir nach einer Verkürzung der Stränge wieder den ursprünglichen Zopf. Das bedeutet, das Ergebnis der Addition eines Zopfes b und des Identitätszopfes ist wieder der Zopf b.

3. In folgender Abbildung erkennt man, wie die Summe eines Zopfes und seines Spiegelbilds aussieht:In dem Zopf auf der rechten Seite von Abb. A.1. ziehen wir den Strang, der an dem „Nagel“ ganz rechts beginnt und endet, nach rechts. Wir er-halten so den Zopf auf der linken Seite von Abb. A.2. Anschließend ma-chen wir dasselbe mit dem Strang am dritten Nagel dieses Zopfes und erhalten den Zopf auf der rechten Seite von Abb. A.2.Nun schieben wir den Strang am zweiten Nagel nach links. In dem so erhaltenen Zopf scheint es noch eine Überlappung zwischen den ersten beiden Strängen zu geben. Der Eindruck trügt jedoch: Indem wir den

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Anmerkungen 261

zweiten Strang nach rechts ziehen, verschwindet die Überlappung. Diese Verschiebungen erkennt man in Abb. A.3. Der Zopf auf der rechten Seite ist genau der Identitätszopf aus Abb. 5.4. Genau genommen müssen wir die Stränge noch gerade legen, um den Identitätszopf zu erhalten, doch das ist nach unseren Regeln erlaubt (wir sollten die Stränge auch noch kürzen, sodass unser Zopf dieselbe Höhe wie die ursprünglichen Zöpfe hat). Man beachte, dass wir bei keinem Schritt die Stränge durchschnei-den oder vernähen mussten, oder einen Strang durch einen anderen hin-durchgezogen haben.

4. Dies ist eine gute Gelegenheit, den Unterschied zwischen einer Defini-tion und einem Satz zu erörtern. In Kap. 2 haben wir definiert, was eine Gruppe ist. Danach war eine Gruppe eine Menge, auf der eine Operation erklärt ist (je nach den Umständen bezeichnet man diese als Addition, Multiplikation oder allgemein als Verknüpfung oder Hintereinander-schaltung). Diese Verknüpfung erfüllt die folgenden Eigenschaften (oder

Abb. A.2 Der Zopf aus Abb. A.1 wird entwirrt. © Frenkel

Abb. A.1 Addition eines Zopfs und seines Spiegelbilds. © Frenkel

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262 Liebe und Mathematik

Axiome): Es gibt ein Einselement in der Menge (wie in Kap. 2 erläutert), zu jedem Element der Menge gibt es ein Inverses, und die Operation erfüllt die Eigenschaft der Assoziativität, vgl. Anmerkung 4 zu Kap. 2. Mit dieser Definition ist der Begriff der Gruppe ein für allemal festgelegt. Daran dürfen wir nichts mehr ändern.Wenn wir nun eine Menge gegeben haben, können wir versuchen, ihr die Struktur einer Gruppe zu geben. Das bedeutet, wir konstruieren eine Operation auf dieser Menge und beweisen, dass diese Operation alle oben genannten Eigenschaften erfüllt. In diesem Kapitel betrachten wir die Menge aller n-strängigen Zöpfe (wie im Haupttext erläutert, identifizie-ren wir Zöpfe, die man durch beliebiges Verschieben der Stränge erhält), und wir konstruieren die Operation der Addition von zwei solchen Zöp-fen nach der im Haupttext angegebenen Vorschrift. Unser Satz ist dann die Behauptung, dass diese Operation alle oben angegebenen Eigenschaf-ten erfüllt. Der Beweis dieses Satzes besteht im direkten Nachweis dieser Eigenschaften. Die ersten beiden Eigenschaften haben wir überprüft (sie-he die obigen Anmerkungen 2 und 3), und die letzte Eigenschaft (Asso-ziativität) folgt unmittelbar aus der Konstruktionsvorschrift der Addition zweier Zöpfe.

5. Eine unserer Regeln lautet, dass ein Strang nicht mit sich selbst verknotet sein darf. Daher kann der einzige vorhandene Strang nur einfach von dem Nagel an der oberen Platte zu dem an der unteren verlaufen. Natürlich könnte er entlang eines komplizierten Weges verlaufen, einer gewunde-nen Bergstraße oder entlang von Serpentinen, doch indem wir den Strang bei Bedarf verkürzen, können wir ihn senkrecht herunterhängen lassen.

Abb. A.3 Nach allen Entwirrungen erhalten wir den Identitätszopf. © Frenkel

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Anmerkungen 263

Mit anderen Worten, die Gruppe B1 besteht nur aus einem Element, das gleich der Identität ist. (Es ist auch sein eigenes Inverses und das Ergebnis der Addition zu sich selbst).

6. In mathematischer Sprechweise sagen wir: „Die Zopfgruppe B2 ist iso-morph zur Gruppe der ganzen Zahlen.“ Das bedeutet, es gibt eine Eins-zu-Eins-Beziehung zwischen den beiden Gruppen – wir ordnen jedem Zopf die Anzahl seiner Überlappungen zu –, sodass die Addition der Zöp-fe (im oben angegebenen Sinne) der üblichen Addition von ganzen Zah-len entspricht. Denn wenn wir zwei Zöpfe übereinandersetzen, erhalten wir einen Zopf, bei dem die Anzahl der Überlappungen gleich der Sum-me dieser beiden Zahlen für die einzelnen Zöpfe ist. Außerdem entspricht der Identität, bei der keine Stränge überlappen, die ganze Zahl 0, und der inverse Zopf hat die entsprechend negative Anzahl von Überlappungen.

7. Siehe David Garber, Braid group cryptography in Braids: Introductory Lec-tures on Braids, Configurations and Their Applications, A. Jon Berrick et al. (Hrsg.), S. 329–403, World Scientific 2010; verfügbar unter: http://arxiv.org/pdf/0711.3941v2.pdf.

8. Siehe beispielsweise Graham P. Collins, Computing with Quantum Knots, Scientific American, April 2006, S. 57–63. ( Quantenknoten in der Raum-zeit, Spektrum der Wissenschaft, Juli 2006, S. 34).

9. De Witt Sumners, Claus Ernst, Sylvia J. Spengler und Nicholas R. Cozza-relli, Analysis of the mechanism of DNA recombination using tangles, Quar-terly Reviews of Biophysics, Bd. 28, August 1995, S. 253–313.Mariel Vazquez und De Witt Sumners, Tangle Analysis of Gin recombina-tion, Mathematical Proceedings of the Cambridge Philosophical Society, Bd. 136, 2004, S. 565–582.

10. Wie wir in Kap. 9 noch sehen werden, kann man etwas genauer sagen, dass die Zopfgruppe Bn gleich der Fundamentalgruppe des Raumes von n verschiedenen ungeordneten Punkten auf der Ebene ist. Eine nützliche Interpretation der Menge von n verschiedenen ungeordneten Punkten auf der Ebene besteht in Polynomen vom Grad n. Betrachten wir als Beispiel ein normiertes quadratisches Polynom x2 + a1x + a0 („normiert“ bedeutet hier, dass der Koeffizient vor dem Term mit der höchsten Potenz von x, also x2, gleich 1 ist). Dieses Polynom hat zwei Wurzeln – im Allgemei-nen komplexe Zahlen –, und umgekehrt bestimmen diese beiden Wur-zeln eindeutig ein normiertes quadratisches Polynom. Komplexe Zahlen lassen sich als Punkte auf der Ebene darstellen (siehe Kap. 9), also ist ein normiertes quadratisches Polynom mit zwei verschiedenen Wurzeln äqui-valent zu einem Paar verschiedener Punkte auf der Ebene.Entsprechend ist ein normiertes Polynom vom Grade n, xn+ an−1 xn−1+ … + a1x + a0, mit n verschiedenen komplexen Wurzeln äquivalent

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zu einer Menge von n verschiedenen Punkten auf der Ebene – seinen Wurzeln. Wir legen ein solches Polynom fest: ( x − 1)( x − 2)…( x − n) mit den Wurzeln 1, 2, 3,…, n. Ein Weg im Raum all solcher Polynome, der bei dem Polynom ( x − 1)( x − 2)…( x − n) beginnt und endet, lässt sich als n-strängiger Zopf darstellen, wobei jeder Strang die Bahnkurve einer be-stimmten Wurzel beschreibt. Somit ist die Zopfgruppe Bn gleich der Fun-damentalgruppe des Raumes der Polynome vom Grad n mit verschiede-nen Wurzeln (siehe Kap. 14).

11. Jeder Überkreuzung von zwei Strängen ordnen wir die Zahl + 1 zu, wenn der von links kommende Strang unter dem von rechts kommenden Strang verläuft, andernfalls ordnen wir ihr die Zahl − 1 zu. Betrachten wir als Beispiel den Zopf in Abb. A.4.Wenn wir diese Zahlen (+ 1 und − 1) von allen paarweisen Überkreuzun-gen addieren, erhalten wir die Gesamtüberkreuzungszahl eines gegebe-nen Zopfes. Wenn wir die Stränge gegeneinander verschieben, fügen wir immer gleich viele + 1-Überkreuzungen und − 1-Überkreuzungen hinzu (oder nehmen sie weg), sodass die Gesamtüberkreuzungszahl unverändert bleibt. Das bedeutet, für einen gegebenen Zopf ist die Gesamtüberkreu-zungszahl wohldefiniert: Sie ändert sich nicht, wenn wir die Stränge ver-schieben und umlegen.

12. Man beachte, dass die Gesamtüberkreuzungszahl eines Zopfes, den wir durch Addition zweier Zöpfe erhalten haben, gleich der Summe der Ge-

–1

–1

+1

+1

Abb. A.4 Vorzeichen von Überlappungen. © Frenkel

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Anmerkungen 265

samtüberkreuzungszahlen dieser beiden Zöpfe ist. Daher ergibt die Ad-dition von zwei Zöpfen mit jeweils Gesamtüberkreuzungszahlen 0 wie-der einen Zopf mit der Gesamtüberkreuzungszahl 0. Die Kommutator-Untergruppe ′Bn besteht aus all diesen Zöpfen. In einem gewissen Sinne ist es der maximale nicht-abelsche Anteil der Zopfgruppe Bn.

13. Das Konzept der Betti-Zahlen stammt ursprünglich aus der Topologie, wo man die qualitativ wichtigen Eigenschaften geometrischer Formen untersucht. Die Betti-Zahlen einer gegebenen geometrischen Form, z. B. eines Kreises oder einer Kugeloberfläche, bilden eine Zahlenfolge b0, b1, b2, …, von denen jede entweder 0 oder eine natürliche Zahl ist. Bei-spielsweise ist b0 = 1 für einen flachen Raum, z. B. eine Gerade oder eine Ebene, und alle anderen Betti-Zahlen sind 0. Im Allgemeinen ist b0 gleich der Anzahl der zusammenhängenden Komponenten einer geometrischen Form. Für den Kreis ist b0 = 1, b1 = 1, und alle anderen Betti-Zahlen sind 0. Die Tatsache, dass die erste Betti-Zahl b1 gleich eins ist, bedeutet, dass es einen nicht-trivialen geschlossenen Weg gibt, der sich nicht zusammen-ziehen lässt. Für die Kugeloberfläche ist b0 = 1, b1 = 0 und b2 = 1, und alle anderen Betti-Zahlen verschwinden. b2 spiegelt hier das Vorhandensein eines nicht-trivialen zweidimensionalen Teils wieder.Die Betti-Zahlen der Zopfgruppe Bn sind definiert als die Betti-Zahlen des Raumes der normierten Polynome vom Grad n mit n verschiedenen Wurzeln. Die Betti-Zahlen der Kommutator-Untergruppe ′Bn sind die Betti-Zahlen eines eng verwandten Raumes. Er besteht aus allen normier-ten Polynomen vom Grad n mit n verschiedenen Wurzeln und der zusätz-lichen Eigenschaft, dass ihre Diskriminante (das Quadrat des Produktes der Differenzen aller Paare von Wurzeln) einen festen, von null verschie-denen Wert annimmt (z. B. können wir diesen Wert gleich 1 setzen). Bei-spielsweise ist die Diskriminante des Polynoms x2 + a1x + a0 gleich a1

2 − 4a0, und für andere Werte von n gibt es ähnliche Formeln.Aus ihrer Definition folgt, dass die Diskriminante eines Polynoms genau dann verschwindet, wenn zwei oder mehr Wurzeln gleich sind. Daher ist die Diskriminante eine Abbildung vom Raum aller normierten Polynome vom Grad n mit n verschiedenen Wurzeln in die komplexe Ebene ohne den Punkt 0. Auf diese Weise erhalten wir eine Faserung dieses Raumes über der komplexen Ebene ohne den Ursprung. Die Betti-Zahlen von

′Bn machen Aussagen über die Topologie dieser Fasern (topologisch sind sie alle gleich), wohingegen die Betti-Zahlen von Bn die Topologie des ge-samten Raumes widerspiegeln. Wartschenko wollte die Topologie dieser Fasern besser verstehen, daher gab er mir ursprünglich dieses Problem. Der interessierte Leser findet in den folgenden einführenden Lehrbüchern

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266 Liebe und Mathematik

zur algebraischen Topologie mehr über Betti-Zahlen und die damit zu-sammenhängenden Konzepte der Homologie und Kohomologie:William Fulton, Algebraic Topology: A First Course, Springer, 1995;Allen Hatcher, Algebraic Topology, Cambridge University Press, 2001.

Kapitel 6. Der Mathematikerlehrling

1. Es wurde vermutet, dass Fermat durch seine Randbemerkung der Nach-welt nur vorgaukeln wollte, er habe einen Beweis. Ich glaube das nicht, sondern ich vermute, dass er unbeabsichtigt einen Fehler gemacht hat. In jedem Fall können wir ihm dankbar sein, denn seine kleine Randbemer-kung hatte mit Sicherheit eine positive Wirkung auf die Entwicklung der Mathematik.

2. Genauer hatte ich bewiesen, dass für jeden Teiler d von n die Betti-Zahl bq mit q = n( d − 2)/d gleich φ( d) ist, und für jeden Teiler d von n − 1 ist die Betti-Zahl bq mit q = ( n − 1)( d − 2)/d gleich φ( d). Alle anderen Betti-Zah-len von ′Bn sind 0.

3. 1985 kam Mikhail Gorbatschow an die Macht, und kurz darauf begann seine Politik der Perestroika. Soviel ich weiß, endete die systematische Diskriminierung jüdischer Bewerber bei den Aufnahmeprüfungen an der Mekh-Mat, wie ich sie erfahren musste, um 1990.

4. S. Zdravkovska und P. Duren, Golden Years of Moscow Mathematics, Ame-rican Mathematical Society, 1993, S. 221.

5. In einem Interview mit dem Titel The black 20 years at Mekh-Mat argu-mentiert der Mathematiker Juli Iljaschenko, dieses Ereignis sei ein Ka-talysator für die anti-semitische Politik an der Mekh-Mat gewesen. Das Interview wurde auf der Webseite Polit.ru am 28. Juli 2009 veröffentlicht (in Russisch): http://www.polit.ru/article/2009/07/28/ilyashenko2.

6. Die Frage war, auf wie viele Weisen man die Seiten eines regulären Vielecks mit 4n Seiten paarweise zusammenkleben kann, um eine Rie-mann’sche Fläche vom Geschlecht n zu erhalten. In Kap. 9 betrachten wir eine spezielle Möglichkeit, wenn wir jeweils gegenüberliegende Seiten des Vielecks identifizieren.

7. Edward Frenkel, Cohomology of the commutator subgroup of the braid group, Functional Analysis and Applications, Bd. 22, 1988, S. 248–250.

Page 278: Liebe und Mathematik ||

Anmerkungen 267

Kapitel 7. Die große vereinheitlichte Theorie

1. Interview mit Robert Langlands für den Mathematics Newsletter, Uni-versity of British Columbia (2010), vollständige Version verfügbar auf: http://www.math.ubc.ca/Dept/Newsletters/Robert_Langlands_inter-view_2010.pdf.

2. Angenommen, es gäbe natürliche Zahlen m und n, sodass 2 = m n. Ohne Einschränkung der Allgemeinheit können wir annehmen, dass die Zahlen m und n teilerfremd sind, d. h., sie lassen sich nicht beide gleich-zeitig durch dieselbe natürliche Zahl außer 1 dividieren. Andernfalls hät-ten wir m = dm’ und n = dn’ und damit wäre 2 = m n’ ’ Dies lässt sich solange fortsetzen, bis wir zwei teilerfremde Zahlen erhalten.Wir nehmen also an, dass 2 = m n und m und n teilerfremd seien. In-dem wir beide Seiten von 2 = m n quadrieren, erhalten wir 2 = m2/n2. Wir multiplizieren beide Seiten mit n2 und erhalten m2 = 2n2. Das bedeu-tet, m ist gerade, denn für ungerades m wäre auch m2 ungerade, was der Gleichung widerspricht.Wenn m gerade ist, muss es eine natürliche Zahl p geben, sodass m = 2p. Wir setzen dies in die vorherige Gleichung ein und erhalten 4p2 = 2n2, also n2 = 2p2. Doch nach demselben Argument, mit dem wir gezeigt hatten, dass m gerade ist, folgt nun auch, dass n gerade sein muss. Also müssen sowohl m als auch n gerade sein, was unserer Annahme widerspricht, dass m und n teilerfremd sind. Damit kann es solche Zahlen m und n nicht geben.Dies ist ein schönes Beispiel für einen „Beweis durch Widerspruch“. Wir beginnen mit einer Behauptung, die das Gegenteil von dem aussagt, was wir beweisen wollen (in unserem Fall begannen wir mit der Behauptung,

2 sei eine rationale Zahl; das Gegenteil wollen wir beweisen). Wenn dies zu einer falschen Aussage führt (in unserem Fall, dass m und n gerade sind, obwohl wir angenommen hatten, sie seien teilerfremd), dann müs-sen wir daraus schließen, dass unsere Ausgangsbehauptung auch falsch sein muss. Also ist die Aussage, die wir beweisen wollten ( 2 ist keine rationale Zahl), wahr. Wir werden dieses Verfahren nochmals in Kap. 8 anwenden: zunächst, wenn wir den Beweis für den großen Satz von Fer-mat besprechen, und dann nochmals in Anmerkung 6, wenn wir Euklids Beweis für den Satz angeben, dass es unendlich viele Primzahlen gibt.

3. Als Beispiel multiplizieren wir die beiden Zahlen 1

22+ und 3 2− .

Wir müssen nur die Klammern auflösen:

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268 Liebe und Mathematik

Doch 2 2 2⋅ = ; wenn wir die Terme zusammenfassen, erhalten wir also folgende Antwort:

Das ist wieder eine Zahl der angegebenen Form, also gehört sie zu unse-rem neuen Zahlensystem.

4. Wir betrachten nur die Symmetrien unseres Zahlensystems, die mit den Operationen der Addition und Multiplikation verträglich sind. Also geht die 0 in die 0 über und die 1 in die 1, additive Inverse gehen in additive Inverse über und entsprechend multiplikative Inverse in multiplikative Inverse. Doch wenn 1 in 1 übergeht, dann muss 2 = 1 + 1 auch in 1 + 1 = 2 übergehen. Entsprechend müssen alle natürlichen Zahlen erhalten blei-ben, ebenso ihre additiven und multiplikativen Inverse. Also bleiben alle rationalen Zahlen durch solche Symmetrien erhalten.

5. Man kann leicht nachprüfen, dass diese Symmetrie tatsächlich mit der Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division verträglich ist. Als Beispiel untersuchen wir die Addition. Wir betrachten zwei verschiedene Zahlen unseres neuen Zahlensystems:

wobei x, y, x’ und y’ rationale Zahlen sind. Wir addieren sie:

Wir können unsere Symmetrie auf jede der beiden Zahlen anwenden und erhalten:

Nun bilden wir deren Summe:

Wir sehen, dass unser Ergebnis gleich der Zahl ist, die wir auch erhalten, wenn wir unsere Symmetrie auf die ursprüngliche Summe anwenden:

1

22 3 2

1

23

1

22 2 3 2 2+

−( ) = ⋅ − ⋅ + ⋅ − ⋅ ⋅

3

2

1

22 3 2 2

1

2

5

22− + − = − + .

x y x y+ +2 2und ’ ’ ,

x y x y x x y y+( ) + ′ + ′( ) = + ′( ) + + ′( )2 2 2.

x y x y− −2 2und ’ ’ .

x y x y x x y y−( ) + ′ − ′( ) = + ′( ) − + ′( )2 2 2.

Page 280: Liebe und Mathematik ||

Anmerkungen 269

Mit anderen Worten, wir können die Symmetrie auf jede der beiden Zah-len anwenden und dann die neuen Zahlen addieren, oder wir können auch erst die Summe bilden und dann die Symmetrie anwenden. Das Ergebnis ist dasselbe. Das genau ist gemeint, wenn wir sagen, dass die Operation der Addition mit unserer Symmetrie verträglich ist. Ganz ent-sprechend können wir überprüfen, dass unsere Symmetrie mit den Ope-rationen der Subtraktion, Multiplikation und Division verträglich ist.

6. Für den Zahlenkörper, den man durch Hinzufügen der 2 zu den ratio-nalen Zahlen erhält, besteht die Galois-Gruppe aus zwei Symmetrien: der Identität und der Symmetrie, die 2 und − 2 austauscht. Wenn wir mit I die Identität bezeichnen und mit S den Austausch von 2 und − 2 , dann können wir die Hintereinanderschaltung dieser Symmetrien explizit formulieren:

und besonders interessant ist:

Das bedeutet, wenn wir zunächst 2 und − 2 austauschen und an-schließend diesen Austausch nochmals vornehmen, erhalten wir die Iden-tität:

Damit haben wir die Galois-Gruppe für diesen Zahlenkörper vollständig beschrieben: Sie besteht aus zwei Elementen, I und S, und ihre Verknüp-fung ist durch die obigen Formeln gegeben.

7. Einige Jahre zuvor hatte Niels Henrik Abel gezeigt, dass es eine quintische Gleichung gibt, die sich nicht durch Radikale lösen lässt (auch Joseph-Louis Lagrange und Paolo Ruffini leisteten wichtige Beiträge). Galois’ Beweis war jedoch allgemeiner und formaler. Mehr über Galois-Grup-pen und die verworrene Geschichte der Lösung von Polynomgleichungen findet man in dem Buch The Equation That Couldn’t Be Solved von Mario Livio, Simon & Schuster, 2005.

8. Betrachten wir allgemeiner die quadratische Gleichung ax2 + bx + c = 0 mit rationalen Koeffizienten a, b und c. Ihre Lösungen x1 und x2 sind:

x x y y x x y y+ ′( ) + + ′( ) + ′( ) − + ′( )2 2� .

I I I I S S S I S° = ° = ° =, , ,

S S I° = .

x y x y x y x y+ − − −( ) = +2 2 2 2� � .

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270 Liebe und Mathematik

Wenn die Diskriminante b2 − 4ac nicht das Quadrat einer rationalen Zahl ist, sind diese Lösungen keine rationalen Zahlen. Fügen wir x1 und x2 den rationalen Zahlen hinzu, erhalten wir somit einen neuen Zahlenkörper. Die Symmetriegruppe dieses Zahlenkörpers besteht ebenfalls aus zwei Elementen: der Identität und der Symmetrie, welche die beiden Lösungen x1 und x2 austauscht; mit anderen Worten, diese Symmetrie ersetzt

b ac2 4− durch − −b ac2 4 und umgekehrt.Wir müssen aber die Lösungen gar nicht explizit angeben können, um diese Galois-Gruppe beschreiben zu können, denn da das Polynom zwei-ten Grades ist, wissen wir, dass es zwei Lösungen gibt, die wir einfach x1 und x2 nennen. Dann gilt:

Wir multiplizieren die Klammern aus und finden x xb

a1 2+ = − , also

xb

ax2 1= − − . Außerdem gilt x

c bx

a1

2 1( ) = −+

, da x1 eine Lösung der

obigen Gleichung sein muss. Wenn daher die Diskriminante nicht das Quadrat einer rationalen Zahl ist, dann besteht der Zahlenkörper, den wir durch Hinzufügen von x1 und x2 zu den rationalen Zahlen erhalten, aus allen Zahlen der Form α + βx1, wobei α und β zwei rationale Zahlen sind. Unter der Austauschsymmetrie x1 ↔ x2 geht die Zahl α + βx1 über in:

Diese Symmetrie ist mit den Verknüpfungen der Addition, usw. verträg-lich, weil x1 und x2 dieselbe Gleichung mit rationalen Koeffizienten erfül-len. Also besteht die Galois-Gruppe dieses Zahlenkörpers aus der Identi-tät und der Symmetrie, bei der x1 und x2 ausgetauscht werden. Ich betone nochmals, dass wir nichts darüber wissen mussten, wie sich x1 und x2 durch a, b und c ausdrücken lassen.

9. Um diesen Punkt zu verdeutlichen, betrachten wir als Beispiel die Glei-chung x3 = 2. Eine ihrer Lösungen ist die dritte Wurzel aus 2, also 23 . Es gibt noch zwei weitere Lösungen, bei denen es sich um komplexe Zahlen handelt: 3 2ω und 23 2ω , wobei

xb b ac

ax

b b ac

a1

2

2

24

2

4

2= − + − = − − −

und .

ax bx c a x x x x21 2+ + = −( ) −( ).

2 1.b

x xa

α β α β β + = − −

Page 282: Liebe und Mathematik ||

Anmerkungen 271

(siehe die Diskussion zu komplexen Zahlen in Kap. 9). Der kleinste Zah-lenkörper, der diese drei Lösungen enthält, sollte auch ihre Quadrate

4 23 32

= ( ) , 43 ω2 und 43 ω

2 enthalten (ihre dritten Potenzen sind alle gleich 2) sowie ihre Verhältnisse ω und ω2. Es hat also zunächst den An-schein, als ob wir für die Konstruktion dieses Zahlenkörpers acht Zahlen zu unseren rationalen Zahlen hinzufügen müssen. Es gibt jedoch eine Relation:

sodass wir ω2 durch 1 und ω ausdrücken können:

Also folgt auch:

Für unseren Zahlenkörper müssen wir daher nur fünf Zahlen zu den ra-tionalen Zahlen hinzufügen: ω, 2 2 43 3 3, ,ω und 43 ω . Ein allgemei-nes Element dieses Zahlenkörpers, den man auch als Zerfällungskörper zu der Gleichung x3 = 2 bezeichnet, ist eine lineare Kombination aus sechs Ausdrücken: einer rationalen Zahl plus einer rationalen Zahl multipliziert mit ω plus einer rationalen Zahl multipliziert mit 23 und so weiter. Man vergleiche dies mit dem Zerfällungskörper der Gleichung x2 = 2, dessen Elemente zwei Terme enthalten: eine rationale Zahl plus eine rationale Zahl multipliziert mit 2 .Außerdem haben wir oben gesehen, dass die Elemente der Galois-Gruppe zu dem Zerfällungskörper der Gleichung x2 = 2 die beiden Lösungen die-ser Gleichung, 2 und − 2 , permutieren. Es gibt zwei solcher Permu-tationen: die Identität und die Permutation, welche die beiden Lösungen austauscht.Ganz entsprechend definieren wir den Zerfällungskörper für eine belie-bige andere Gleichung mit rationalen Koeffizienten als den Körper, den man erhält, wenn man die rationalen Zahlen um alle Lösungen dieser Gleichung erweitert. Nach demselben Argument wie oben in Anmerkung 4 muss eine Symmetrie dieses Zahlenkörpers, die mit den Verknüpfun-gen der Addition und der Multiplikation verträglich ist, die rationalen

ω = − + −1

2

3

21

1 02+ + =ω ω ,

ω ω2 1= − .

2 2 2 4 4 43 2 3 3 3 2 3 3ω ω ω ω= − − = − − ⋅,

Page 283: Liebe und Mathematik ||

272 Liebe und Mathematik

Zahlen unverändert lassen. Daher muss unter einer solchen Symmetrie jede Lösung dieser Gleichung in eine andere Lösung übergehen. Wir er-halten also eine Permutation der Lösungen. Zu der Gleichung x3 = 2 gibt es die drei oben angegebenen Lösungen. Unter einer beliebigen Permuta-tion geht die erste Lösung 23 in eine der drei Lösungen über, die zweite Lösung 23 ω geht in eine der beiden verbliebenen Lösungen über, und die dritte 23 2

ω muss in die einzige noch verbliebene Lösung überge-hen (jede Permutation muss eine Eins-zu-Eins-Beziehung sein, damit sie ein inverses Element besitzt). Zu den drei Lösungen erhalten wir somit 3 · 2 = 6 mögliche Permutationen dieser drei Lösungen. Diese Permuta-tionen bilden eine Gruppe, und es zeigt sich, dass diese Gruppe in einer Eins-zu-Eins-Beziehung zu der Galois-Gruppe des Zerfällungskörpers zu der Gleichung x3 = 2 steht. Auf diese Weise erhalten wir eine explizite Be-schreibung der Galois-Gruppe durch die Permutationen der Lösungen.Bei der obigen Rechnung haben wir explizite Formeln für die Lösungen der Gleichung benutzt. Ein ähnliches Argument gilt aber für eine belie-bige kubische Gleichung mit rationalen Koeffizienten, und wir benötigen keine durch die Koeffizienten ausgedrückten Formeln für die Lösungen. Das Ergebnis ist Folgendes: Seien die drei Lösungen der Gleichung x1, x2 und x3. Wir nehmen an, alle drei Lösungen seien irrational. Man kann je-doch leicht zeigen, dass die Diskriminante der Gleichung, definiert durch

immer eine rationale Zahl ist. Wenn die Quadratwurzel aus der Diskri-minante keine rationale Zahl ist, dann ist die Galois-Gruppe des Zer-fällungskörpers dieser Gleichung gleich der Permutationsgruppe dieser Lösungen (sie besteht dann aus sechs Elementen). Wenn die Quadrat-wurzel der Diskriminante eine rationale Zahl ist, dann besteht die Galois-Gruppe aus drei Permutationen: der Identität, der zyklischen Permuta-tion x x x x1 2 3 1� � � und ihrem Inversen.

10. Es ist beispielsweise nicht schwierig zu zeigen, dass die Galois-Gruppe einer typischen quintischen Gleichung (also mit n = 5), die fünf Lösungen hat, die Gruppe aller Permutationen dieser fünf Zahlen ist. Eine Permuta-tion ist dabei eine Umordnung dieser Zahlen. Ein Beispiel zeigt Abb. A.5.Unter einer solchen Permutation kann die Lösung x1 in jede der fünf Lö-sungen (möglicherweise auch in sich selbst) übergehen; dafür gibt es fünf Möglichkeiten. x2 kann in eine der vier verbliebenen Lösungen, x3 in eine der dann noch verbliebenen drei Lösungen übergehen usw. Insgesamt gibt es somit 5 · 4 · 3 · 2 · 1 = 120 Permutationen, das heißt, die Galois-Gruppe besteht aus 120 Elementen.

x x x x x x1 2

2

1 3

2

2 3

2−( ) −( ) −( )

Page 284: Liebe und Mathematik ||

Anmerkungen 273

(Die Permutationsgruppe für eine Menge von n Elementen besteht aus n! = n · ( n − 1) · … · 2 · 1 Elementen.) Anders als die Galois-Gruppen der quartischen, kubischen und quadratischen Gleichungen handelt es sich nicht um eine auflösbare Gruppe. Aus diesem Grund kann man nach Galois’ Argument die Lösungen der allgemeinen quintischen Gleichung nicht durch Radikale ausdrücken.

11. Er ist jetzt auf der Internetseite des Institute for Advanced Study in Prince-ton verfügbar: http://publications.ias.edu/sites/default/files/weil1.pdf.

12. Entnommen dem als digitale Kopie veröffentlichten Brief: http://cdm.itg.ias.edu/cdm/compoundobject/collection/coll12/id/1682/rec/1.

Kapitel 8. Verzauberte Zahlen

1. Robert Langlands, Is there beauty in mathematical theories?, in The Many Faces of Beauty, Hrsg. Vittorio Hösle, University of Notre Dame Press, 2013, online verfügbar unter: http://publications.ias.edu/sites/default/files/ND.pdf.

2. Mehr über Vermutungen findet man in dem aufschlussreichen Artikel: Barry Mazur, Conjecture, Synthèse, Bd. 111, 1997, S. 197–210.

3. Mehr über die Geschichte des großen Fermat’schen Satzes findet man in Simon Singh, Fermat’s Enigma: The Epic Quest to solve the World’s Greatest Mathematical Problem, Anchor, 1998.

4. Siehe Andrew Wiles, Modular elliptic curves and Fermat’s last theorem, An-nals of Mathematics, Bd. 141, 1995, S. 443–551.Richard Taylor and Andrew Wiles, Ring-theoretic properties of certain He-cke algebras, Annals of Mathematics, Bd. 141, 1995, 553–572.Sie bewiesen die Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung für den typischsten Fall (den sogenannten semi-stabilen Fall), was für den Beweis des großen Fermat’schen Satzes ausreichte. Einige Jahre später konnten von C. Breuil, B. Conred, F. Diamond und R. Taylor auch die anderen Fälle der Vermu-tung bewiesen werden.

x1 x2 x3 x4 x5

x1 x2 x3 x4 x5

Abb. A.5 Ein Beispiel für eine Permutation der fünf Lösungen einer quintischen Glei-chung. © Frenkel

Page 285: Liebe und Mathematik ||

274 Liebe und Mathematik

Da sie nun bewiesen ist, sollte man die Shimura-Taniyama-Weil-Vermu-tung lieber als Satz bezeichnen, und tatsächlich sprechen viele Mathe-matiker in diesem Zusammenhang vom Modularitätssatz. Doch ein alter Brauch ist nicht so leicht aus der Welt geschafft, und viele (mich einge-schlossen) verwenden immer noch die alte Bezeichnung. Ironischerweise wurde der große Fermat’sche Satz immer als Satz bezeichnet, obwohl es sich nur um eine Vermutung handelte. Anfänglich geschah das sicherlich aus Respekt gegenüber Fermats Behauptung, einen Beweis zu haben.

5. Ist N keine Primzahl, können wir N = xy schreiben, wobei x und y zwei natürliche Zahlen zwischen 1 und N − 1 sind. Damit besitzt x aber kein multiplikatives Inverses modulo N. Mit anderen Worten, es gibt keine Zahl z zwischen 1 und N − 1, sodass

Hätte diese Gleichung nämlich eine Lösung, könnten wir beide Seiten mit y multiplizieren und erhielten:

Doch x · y = N, also ist die linke Seite N · z, und y ist durch N teilbar. Dann kann y aber nicht zwischen 1 und N − 1 liegen.

6. Der folgende Beweis wird üblicherweise Euklid zugeschrieben. Das Ver-fahren – „Beweis durch Widerspruch“ – haben wir in diesem Kapitel schon im Zusammenhang mit dem großen Fermat’schen Satz verwendet.Angenommen, es gäbe nur endlich viele Primzahlen: p1, p2, …, pN. Wir betrachten nun die Zahl A, die gleich dem Produkt aller Primzahlen plus 1 ist: A = p1· p2 … pN + 1. Ich behaupte, dies ist eine Primzahl. Wir bewei-sen dies durch Widerspruch: Wenn A keine Primzahl ist, dann ist es durch eine natürliche Zahl ungleich 1 und A selbst teilbar. Also muss A durch eine der Primzahlen teilbar sein, beispielsweise pi. Doch wenn A durch pi teilbar wäre, müsste A = 0 modulo pi gelten, doch nach der Definition gilt A = 1 modulo pi.Wir sind somit auf einen Widerspruch gestoßen. Das bedeutet, A ist nicht durch eine natürliche Zahl außer 1 teilbar, also ist A eine Primzahl.Da A jedoch offensichtlich größer als jede der Primzahlen p1, p2, …, pN ist, widerspricht das unserer Annahme, p1, p2, …, pN seien die einzigen Primzahlen. Also ist unsere ursprüngliche Annahme, es gebe nur endlich viele Primzahlen, falsch. Also muss es unendlich viele Primzahlen geben.

7. Machen wir uns klar, was das bedeutet: Innerhalb eines bestimmten Zah-lensystems ist ein multiplikatives Inverses einer Zahl a eine Zahl b, so-dass a · b = 1. Innerhalb des Zahlensystems der rationalen Zahlen ist das

x z N⋅ =1 modulo .

x y z y N⋅ ⋅ = modulo .

Page 286: Liebe und Mathematik ||

Anmerkungen 275

multiplikative Inverse zu 34 gleich 4

3 . Innerhalb des hier betrachteten Zah-lensystems ist das Inverse zu einer natürlichen Zahl zwischen 1 und p − 1 eine andere natürliche Zahl b in demselben Bereich, sodass

Unabhängig von dem betrachteten Zahlensystem besitzt die Zahl 0, das additive Einselement, nie ein multiplikatives Inverses. Daher schließen wir 0 aus.

8. Es folgt der Beweis. Wir wählen eine natürliche Zahl a zwischen 1 und p − 1, wobei p eine Primzahl ist. Wir multiplizieren a mit allen anderen Zahlen b in diesem Bereich und betrachten die Ergebnisse modulo p. Nun stellen wir eine Tabelle mit zwei Spalten auf: In der ersten Spalte steht die Zahl b und in der zweiten Spalte die Zahl a · b modulo p.Für die Werte p = 5 und a = 2 sieht diese Tabelle beispielsweise folgender-maßen aus:

1 2

2 4

3 1

4 3

Wir sehen sofort, dass jede der Zahlen 1, 2, 3, 4 in der rechten Spalte genau einmal auftritt. Wenn wir die Zahlen mit 2 multiplizieren, erhalten wir also wieder dieselbe Zahlenmenge, allerdings in einer anderen Rei-henfolge. Insbesondere erscheint die 1 in der dritten Zeile. Das bedeutet, wenn wir 3 mit 2 multiplizieren, erhalten wir 1 modulo 5.Etwas Ähnliches gilt allgemein: Erstellen wir wie oben eine Tabelle für eine beliebige Primzahl p und eine beliebige Zahl a aus der Liste 1, 2, …, p − 1, dann treten die Zahlen 1, 2, …, p − 1 in der rechten Spalte ebenfalls jeweils genau einmal auf.Auch dies beweisen wir wieder mit dem Trick des Widerspruchsbeweises: Angenommen, das sei nicht der Fall. Dann muss eine der Zahlen aus der Menge 1, 2, …, p − 1, nennen wir sie n, in der rechten Spalte mindestens zweimal auftauchen. Das bedeutet, es gibt zwei Zahlen c1 und c2 (wobei wir c1> c2 voraussetzen) aus der Menge 1, 2, …, p − 1, für die gilt:

Doch dann muss auch gelten:

a b p⋅ = 1 modulo .

a c a c n p⋅ = ⋅ =1 2 modulo .

a c a c a c c p⋅ − ⋅ = ⋅ −( ) =1 2 1 2 0 modulo .

Page 287: Liebe und Mathematik ||

276 Liebe und Mathematik

Diese Gleichung bedeutet, dass a · ( c1− c2) durch p teilbar ist. Das ist je-doch nicht möglich, da p eine Primzahl ist und sowohl a als auch c1− c2 aus der Menge {1, 2, …, p − 1} sind.Wir gelangen somit zu dem Schluss, dass in der rechten Spalte unserer Tabelle jede Zahl 1, 2, …, p − 1 nicht öfter als einmal auftritt. Doch da es genau p − 1 dieser Zahlen gibt und wir genauso viele Zeilen in unserer Tabelle haben, muss jede Zahl genau einmal auftreten. Doch dann muss auch die 1 irgendwo einmal in der rechten Spalte stehen. Es sei b die zu-gehörige Zahl in der linken Spalte. Dann gilt offensichtlich:

Damit ist der Beweis vollständig. 9. Wir können beispielsweise 4 durch 3 im endlichen Körper aus 5 Elemen-

ten teilen:

(hierbei haben wir benutzt, dass 2 das multiplikative Inverse von 3 mo-dulo 5 ist).

10. Für jede Zahl a, deren Absolutbetrag kleiner als 1 ist, gilt:

was sich leicht beweisen lässt, indem man beide Seiten mit 1− a multipli-ziert. Mit dieser Identität und der Bezeichnung (q + q2) für a können wir die erzeugende Funktion für die Fibonacci-Zahlen

in folgender Form schreiben:

Nun schreiben wir 1− q − q2 als Produkt von linearen Faktoren, also:

a b p⋅ = 1 modulo .

4 3 4 3 4 2 8

3

1/ = ⋅ = ⋅ ==

− modulo 5

modulo 5

11

12 3 4+ + + + + =

−a a a a

a... ,

q q q q q q q1 2 2 2 2 3+ +( ) + +( ) + +( ) +( )...

q

q q1 2− −.

1 11 5

21

1 5

22− − = − +

− −

q q q q ,

Page 288: Liebe und Mathematik ||

Anmerkungen 277

und erhalten schließlich:

Wir verwenden nochmals die obige Identität für a q= ±1 52 und

erhalten schließlich für den Koeffizienten vor qn (das ist Fn) in unserer erzeugenden Funktion:

Damit haben wir eine geschlossene Formel für die n-te Fibonacci-Zahl erhalten, die unabhängig von den vorherigen ist.Man beachte, dass die in dieser Formel auftretende Zahl 1 5

2+ der so-

genannte Goldene Schnitt ist. Aus dieser Formel ergibt sich, dass das Ver-hältnis Fn/Fn−1 für große Werte von n gegen den Goldenen Schnitt strebt. Mehr über den Goldenen Schnitt und die Fibonacci-Zahlen erfährt man beispielsweise in dem Buch The Golden Ratio von Mario Livio, Broadway, 2003.

11. Ich folge hier der Darstellung aus dem Artikel Modular arithmetic: driven by inherent beauty and human curiosity, The Letter of the Institute for Ad-vanced Study, Sommer 2012, S. 6–8. Ich danke Ken Ribet für hilfreiche Anmerkungen. Nach dem Buch Dirichlet Series and Automorphic Forms von André Weil, Springer-Verlag, 1971, wurde die in diesem Kapitel be-trachtete kubische Gleichung von John Tate in Anlehnung an Robert Fri-cke eingeführt.Diese Gruppe ist eine der sogenannten Kongruenzuntergruppen der Grup-pe, die man als SL2(ℤ) bezeichnet. Sie besteht aus 2 × 2-Matrizen mit ganzzahligen Koeffizienten und Determinante 1, d. h. quadratischen An-ordnungen ganzer Zahlen,

sodass ad − bc = 1. Die Multiplikation von Matrizen ist durch die bekannte Formel

q

q qq q

1

1

51

1 5

21

1 5

22

1 1

− −= − +

− − −

− −

.

Fn

n n

= +

− −

1

5

1 5

2

1 5

2.

a b

c d

,

a b

c d

a b

c d

aa bc ab bd

ca dc cb dd

⋅′ ′′ ′

=′ + ′ ′ + ′′ + ′ ′ + ′

Page 289: Liebe und Mathematik ||

278 Liebe und Mathematik

definiert.Jede komplexe Zahl q innerhalb des Einheitskreises lässt sich in der Form e2 1πτ − schreiben, wobei τ eine komplexe Zahl mit positivem Imaginärteil ist: τ = x + y −1 mit y > 0 (siehe Anmerkung 12 zu Kap. 15). Die Zahl q ist eindeutig durch τ gegeben und umgekehrt ist τ durch q eindeutig gege-ben. Wir können also die Wirkung der Gruppe SL2(ℤ) auf q auch durch die entsprechende Wirkung auf τ beschreiben. Diese ist durch folgende Formel gegeben:

Die Gruppe SL2(ℤ) (genauer ihr Quotient mit der zwei-elementigen Untergruppe, die aus der Identitätsmatrix I und der Matrix –I besteht) ist die Symmetriegruppe der Einheitsscheibe, auf der eine bestimmte nicht euklidische Metrik definiert ist. Diese Struktur wird auch als Poincaré-Kreisscheibenmodell bezeichnet. Unsere Funktion ist eine Modulform vom Gewicht 2. Das bedeutet, sie ist invariant unter der oben angegebenen Wirkung einer Kongruenzuntergruppe von SL2(ℤ) auf der Einheitsschei-be, sofern wir die Wirkung noch durch die Multiplikation mit dem Fak-tor ( c τ + d)2 korrigieren.Siehe beispielsweise Henri Darmon, A proof of the full Shimura-Taniya-ma-Weil conjecture is announced, Notices of the American Mathematical Society, Bd. 46, Dezember 1999, S. 1397–1401. Online verfügbar http://www.ams.org/notices/199911/comm-darmon.pdf.

12. Dieses Bild stammt von Lars Madsen und wurde mit seiner Erlaubnis ver-öffentlicht. Ich danke Ian Agol dafür, dass er mich auf das Bild aufmerk-sam gemacht hat, und für eine hilfreiche Diskussion.

13. Siehe beispielsweise Neal Koblitz, Elliptic curve cryptosystems, Mathema-tics of Computation, Bd. 49, 1987, S. 203–209.I. Blake, G. Seroussi und N. Smart, Elliptic Curves in Cryptography, Cam-bridge University Press, 1999.

14. Dies gilt allgemein außer für endlich viele Primzahlen p. Es gibt noch ein weiteres Paar von Invarianten zu der kubischen Gleichung (der soge-nannte Führer) und zu der Modulform (der sogenannte Level), und diese Invarianten bleiben unter dieser Beziehung ebenfalls erhalten. Für die von uns untersuchte kubische Gleichung sind beide gleich 11. Ich möchte ebenfalls anmerken, dass für alle Modulformen, die hier auftreten, der konstante Term verschwindet; der Koeffizient b1 vor q ist gleich 1, und alle anderen Koeffizienten bn für n > 1 sind durch die bp zu den Primzahlen bestimmt.

a b

c da b

c d

⋅ = ++

⋅ττ

τ

Page 290: Liebe und Mathematik ||

Anmerkungen 279

15. Angenommen, a, b und c lösen die Fermat’sche Gleichung an + bn = cn für eine ungerade Primzahl n. In Anlehnung an Yves Hellegouarch und Ger-hard Frey betrachten wir dann die folgende kubische Gleichung:

Nach einem Hinweis von Frey und Teilergebnissen von Pierre Serre konn-te Ken Ribet beweisen, dass diese Gleichung unter den genannten Be-dingungen der Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung widersprechen muss. Zusammen mit dem Fall n = 4 (der bereits von Fermat bewiesen wurde) folgt damit der große Fermat’sche Satz. Tatsächlich lässt sich jede ganze Zahl n > 2 als Produkt n = mk schreiben, wobei m entweder 4 oder eine ungerade Primzahl ist. Wenn es daher keine Lösungen zur Fermat’schen Gleichung für solche m gibt, dann gibt es auch keine für beliebige n > 2.

16. Goro Shimura, Yukata Taniyama and his time. Very personal recollections, Bulletin of the London Mathematical Society, Bd. 21, 1989, S. 193.

17. Ebenda, S. 190.18. Siehe Anmerkung 1 auf den Seiten 1302–1303 in folgendem Artikel über

die bewegte Geschichte dieser Vermutung: Serge Lang, Some history of the Shimura-Taniyama conjecture, Notices of the American Mathematical So-ciety, Bd. 42, 1995, S. 1301–1307. Online verfügbar unter: http://www.ams.org/notices/199511/forum.pdf.

Kapitel 9. Der Rosetta-Stein der Mathematik

1. The Economist, 20. August 1998, S. 70. 2. Die Bilder von Riemann’schen Flächen in diesem Buch wurden mit Mat-

hematica® mit den Codes von Stan Wagon erstellt. Weitere Einzelheiten findet man in seinem Buch: Stan Wagon, Mathematica® in Action: Problem Solving Through Vizualization and Computation, Springer-Verlag, 2010.

3. Das ist keine exakte Definition, aber es vermittelt eine gute Vorstellung von den reellen Zahlen. Für eine genaue Definition sollten wir uns re-elle Zahlen als Grenzwerte konvergenter Folgen von rationalen Zahlen vorstellen (diese bezeichnet man auch als Cauchy-Folgen). Beispielsweise bilden die abgeschnittenen Dezimalentwicklungen von 2 eine solche Folge.

4. Dazu können wir beispielsweise einen beliebigen Punkt auf dem Einheits-kreis kennzeichnen und diesen Kreis dann so an die Gerade anlegen, dass dieser Punkt den Punkt 0 auf der Geraden berührt. Nun rollen wir den Kreis entlang der Geraden nach rechts, bis der gekennzeichnete Punkt

y x x a x bn n2 = −( ) +( ).

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280 Liebe und Mathematik

wieder die Gerade berührt (das geschieht nach einer vollen Umdrehung). Dieser Berührungspunkt zwischen Kreis und Gerade entspricht dem Punkt π.

5. Die Geometrie komplexer Zahlen (und anderer Zahlensysteme) wird wunderbar in dem Buch Imagining Numbers von Barry Mazur, Picador, 2004, erklärt.

6. Genauer erhalten wir die Oberfläche eines Donuts, wobei ein Punkt fehlt. Dieser zusätzliche Punkt entspricht der „unendlichen Lösung“, bei der x und y gegen unendlich gehen.

7. Für eine Riemann’sche Fläche vom Geschlecht g sollten wir auf die rechte Seite der Gleichung ein Polynom in x vom Grade 2g + 1 schreiben.

8. Diese Beziehung zwischen Algebra und Geometrie war eine tiefe Einsicht von René Descartes. Beschrieben wurde sie zum ersten Mal in La Géomé-trie, einem Anhang zu seinem Buch Discours de la Méthode aus dem Jahr 1637. E.T. Bell schrieb über Descartes’ Verfahren: „Nun gelangen wir zur wirklichen Bedeutung seiner Methode. Wir beginnen mit Gleichungen be-liebiger Komplexität und interpretieren ihre algebraischen und analytischen Eigenschaften geometrisch … Von nun an werden Algebra und Analysis unse-re Lotsen zu den unerforschten Meeren des ‚Raumes’ und seiner ‚Geometrie’ sein.“ (E.T. Bell, Men of Mathematics, Touchstone, 1986, S.  54). Man beachte jedoch, dass das Descartes’sche Verfahren sich auf Lösungen von Gleichungen im Bereich der reellen Zahlen anwenden lässt, wohingegen wir in diesem Kapitel an Lösungen in endlichen Körpern und den kom-plexen Zahlen interessiert sind.

9. In Kap. 8 haben wir beispielsweise gesehen, dass die kubische Gleichung y2 + y = x3 − x2 vier Lösungen modulo 5 besitzt. Naiv betrachtet besteht so-mit die entsprechende Kurve über dem Körper aus fünf Elementen aus vier Punkten. Tatsächlich ist die Struktur jedoch wesentlich reichhaltiger, denn wir können auch Lösungen mit Werten in verschiedenen Erweite-rungen dieses Körpers aus fünf Elementen betrachten, z. B. in dem Kör-per, den wir durch die Hinzunahme der Lösungen der Gleichung x2 = 2 erhalten, die wir in Anmerkung 8 zu Kap. 14 betrachten werden. Diese erweiterten Körper besitzen 5n Elemente für n = 2, 3, 4, … und somit er-halten wir eine Hierarchie von Lösungen mit Werten in diesen endlichen Körpern.Die Kurven zu kubischen Gleichungen bezeichnet man als elliptische Kur-ven.

10. Die Bhagavad Gita; Krishnas Unterweisung in Zeiten des Krieges. (Es existieren mehrere deutsche Übersetzungen.)

11. Siehe beispielsweise Noel Sheth, Hindu Avatāra and Christian Incarna-tion: A Comparison, Philosophy East and West, Bd. 52, Nr. 1, S. 98–125.

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Anmerkungen 281

12. André Weil, Collected Papers, Bd. 1, Springer-Verlag, 1979, S. 251.13. Ebenda, S. 253. Die Idee besteht darin, dass man zu einer Kurve über

einem endlichen Körper die sogenannten rationalen Funktionen darauf betrachtet. Bei diesen Funktionen handelt es sich um Quotienten von zwei Polynomen. (Man beachte, dass eine solche Funktion an jedem Punkt der Kurve, an der das Polynom im Nenner null wird, eine Polstelle hat, also ihr Wert nicht definiert ist.) Es zeigt sich, dass die Menge aller ra-tionalen Funktionen über einer gegebenen Kurve ähnliche Eigenschaften besitzt wie die Menge der rationalen Zahlen oder auch ein allgemeinerer Zahlenkörper, z. B. die Beispiele aus Kap. 8.Um das genauer erklären zu können, betrachten wir rationale Funktionen auf Riemann’schen Flächen; die Analogie ist die Gleiche. Wir wählen als Beispiel die Kugeloberfläche. Die stereografische Projektion zeigt, dass wir uns die Kugeloberfläche auch als eine Vereinigung eines Punktes mit der komplexen Ebene vorstellen können (dieser zusätzliche Punkt übernimmt die Rolle von „unendlich“). Es seien t r s= + −1 die Koordinaten auf der komplexen Ebene. Dann ist jedes Polynom P( t) mit komplexen Koef-fizienten eine Funktion auf der Ebene. Diese Polynome entsprechen den ganzen Zahlen der Zahlentheorie. Eine rationale Funktion auf der Kugel-oberfläche ist ein Quotient aus zwei Polynomen P( t)/Q( t) ohne gemein-same Faktoren. Diese rationalen Funktionen entsprechen den rationalen Zahlen, die Quotienten m/n von teilerfremden ganzen Zahlen sind. Ganz entsprechend sind rationale Funktionen auf allgemeineren Riemann’schen Flächen analog zu Elementen allgemeinerer Zahlenkörper.Die Bedeutung dieser Analogie liegt darin, dass es zu vielen Beziehungen für Zahlenkörper ähnliche Ergebnisse auch für die rationalen Funktionen auf Kurven über endlichen Körpern gibt und umgekehrt. Manchmal ist es leichter, eine bestimmte Behauptung für eine der beiden zu erkennen oder zu beweisen. Wegen der Analogie weiß man dann, dass eine ähnliche Behauptung auch für die andere gelten muss. Auf diese Weise haben And-ré Weil und andere Mathematiker viele neue Ergebnisse erzielt.

14. Ebenda, S. 253.15. Es gab insgesamt drei Weil-Vermutungen, die von Bernard Dwork, Alex-

ander Grothendieck und Pierre Deligne bewiesen wurden.16. Diese Definition enthält eine Redundanz. Betrachten wir dazu zwei Wege

auf der Ebene wie in Abb. A.6., einer gestrichelt und der andere durch-gezogen. Offensichtlich kann jeder der Wege stetig in den jeweils anderen verformt werden, ohne dass man ihn unterbrechen muss. Daher ist es sinnvoll und ökonomisch, zwei Wege als äquivalent zu definieren, wenn man sie auf diese Weise ineinander überführen kann. So können wir die Anzahl der Elemente in unserer Gruppe deutlich verringern.

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282 Liebe und Mathematik

Diese Vorschrift gleicht dem, was wir bei der Definition der Zopfgruppen in Kap. 5 gemacht haben. Auch dort haben wir zwei Zöpfe als äquivalent definiert, wenn sie sich ineinander verformen (oder „verschieben“) lassen, ohne dass man die Stränge durchtrennen und neu vernähen muss.Wir definieren daher die Fundamentalgruppe unserer Riemann’schen Flä-che als die Gruppe, deren Elemente geschlossene Wege sind, die an einem Punkt P starten und enden. Außerdem identifizieren wir Wege, die sich stetig ineinander überführen lassen.Man beachte, dass die Wahl unseres Referenzpunktes unerheblich ist, so-fern unsere Riemann’sche Fläche zusammenhängend ist. Dies nehmen wir immer an. Die Fundamentalgruppen zu verschiedenen Referenzpunkten stehen also in einer eineindeutigen Beziehung zueinander (genauer: sie sind isomorph zueinander).

17. Das Einselement ist der „konstante Weg“, der den Referenzpunkt P nicht verlässt. Oft ist es hilfreich, sich einen geschlossenen Weg als die Bahn-kurve eines Teilchens vorzustellen, das am selben Punkt P endet, an dem es auch startet. Der konstante Weg ist dann die Bahnkurve eines Teil-chens, das einfach am Punkt P bleibt. Wenn wir irgendeinen beliebigen Weg zum konstanten Weg wie im Text beschrieben addieren, erhalten wir offensichtlich wieder diesen Weg.Der inverse Weg zu einem gegebenen Weg besteht aus derselben Rou-te, die nun allerdings in umgekehrter Richtung durchlaufen wird. Dies können wir leicht überprüfen, indem wir einen Weg und seinen inversen Weg addieren. Wir erhalten einen neuen Weg, der dieselbe Route zwei-mal durchläuft, allerdings in entgegengesetzte Richtungen. Offensicht-lich können wir diesen neuen „Doppelweg“ stetig zum konstanten Weg verformen. Zunächst verschieben wir einen der beiden Wege etwas; nun sieht man (Abb. A.7), dass man den so erhaltenen Weg zu einem Punkt zusammenziehen kann.

18. Wie schon in Anmerkung 10 zu Kap.  5 angesprochen, lässt sich die Zopfgruppe Bn auch als Fundamentalgruppe des Raumes der normierten Polynome vom Grad n mit n verschiedenen Wurzeln interpretieren. Als

p

Abb. A.6 Zwei Wege, die sich stetig ineinander überführen lassen, gelten als äqui-valent. © Frenkel

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Anmerkungen 283

Referenzpunkt P wählen wir das Polynom ( x − 1)( x − 2)…( x − n) mit den Wurzeln 1, 2, …, n (dies sind die „Nägel“ des Zopfes).

19. Wir wollen zeigen, dass die beiden Wege kommutieren. Dazu überlegen wir uns zunächst, dass wir einen Torus dadurch erhalten können, dass wir die jeweils gegenüberliegenden Seiten eines Quadrats zusammenkleben. Kleben wir die beiden horizontalen Seiten a1 und a1’ zusammen, erhalten wir einen Zylinder.Wenn wir nun noch die beiden Kreise an den Enden des Zylinders (sie waren ursprünglich die vertikalen Seiten a2 und a2’ des Quadrats) zusam-menkleben, erhalten wir einen Torus. Offensichtlich wurden die beiden Seiten a1 und a2 zu den beiden unabhängigen geschlossenen Wegen auf dem Torus. Man beachte, dass alle vier Eckpunkte des Quadrats zu dem-selben Punkt auf dem Torus wurden, sodass die beiden Wege tatsächlich geschlossen sind – sie beginnen und enden an demselben Punkt P auf dem Torus. Außerdem ist a1 = a1’ und a2 = a2’, da wir diese Kanten zusam-mengeklebt haben (Abb. A.8).Wenn wir bei dem Quadrat zunächst entlang a1 und anschließend entlang a2 gehen, landen wir in der gegenüberliegenden Ecke. Der Gesamtweg ist a1 + a2. Wir können aber diese beiden Ecken auch entlang eines anderen Weges verbinden: zuerst entlang a2’ und anschließend entlang a1’. Der Gesamtweg ist nun a2’ + a1’. Doch wenn wir die gegenüberliegenden Sei-ten des Quadrats zusammenkleben, ist a1’ dasselbe wie a1 und a2’ dasselbe wie a2. Also ist a2’ + a1’ = a2 + a1.

P

P

P

Pa b

c d

Abb. A.7 Beim inversen Weg wird dieselbe Route in umgekehrter Richtung durch-laufen. Addiert man einen Weg und sein Inverses, lässt sich der Gesamtweg stetig zu einem Punkt verformen. © Frenkel

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284 Liebe und Mathematik

Nun erkennen wir, dass wir sowohl a1 + a2 als auch a2 + a1 zu dem diago-nalen Weg verformen können, der, wie in Abb. A.9 dargestellt, die beiden gegenüberliegenden Ecken direkt durch eine gerade Linie verbindet (die gestrichelten Pfeile deuten an, wie man jeden der beiden Wege verformen muss).Das bedeutet, die Wege a1 + a2 und a2 + a1 entsprechen demselben Element der Fundamentalgruppe des Torus. Wir haben gezeigt, dass

Die Fundamentalgruppe des Torus hat daher eine einfache Struktur: Wir können ihre Elemente als M · a1 + N · a2 ausdrücken, wobei a1 und a2 die beiden Kreise auf dem Torus wie in Abb. 9.6 darstellen und M und N ganze Zahlen sind. Die Addition in der Fundamentalgruppe entspricht der üblichen Addition solcher Ausdrücke.

20. Am einfachsten kann man sich die Fundamentalgruppe einer Rie-mann’schen Fläche mit positivem Geschlecht g (d. h. mit g Löchern) vor-stellen, indem man sich vor Augen hält, dass man diese Fläche wiederum

a a a a1 2 2 1+ = + .

a'1

a'2

a1

a2

a2

a1

a’2

a

b

Abb. A.8 Klebt man die beiden gegenüberliegenden Seiten eines Quadrats zusam-men, erhält man einen Zylinder. © Frenkel

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Anmerkungen 285

aus einem Vieleck – nun mit 4g Eckpunkten – erhält, indem man gegen-überliegende Seiten zusammenklebt. Betrachten wir als Beispiel ein Acht-eck (oder auch Oktagon). In diesem Fall gibt es vier Paare gegenüberlie-gender Seiten, und wir identifizieren diese Seiten paarweise. Das Ergebnis dieser Identifikationen kann man sich zwar nicht mehr so leicht vorstellen wie beim Torus, doch man weiß, dass es sich um eine Riemann’sche Flä-che vom Geschlecht 2 handelt.Auf diese Weise lässt sich die Fundamentalgruppe einer allgemeinen Riemann’schen Fläche ähnlich wie beim Torus beschreiben. Wie dort konstruieren wir 2g Elemente in der Fundamentalgruppe der Rie-mann’schen Fläche vom Geschlecht g, indem wir die Wege entlang 2g aufeinanderfolgender Seiten des Vielecks betrachten. (Jede der anderen 2g Seiten wird mit einer dieser Seiten identifiziert.) Wir bezeichnen sie mit a1, a2, …,a2g. Sie erzeugen die Fundamentalgruppe unserer Rie-mann’schen Fläche in dem Sinn, dass sich jedes Element der Gruppe durch (möglicherweise mehrfache) Addition dieser Elemente gewinnen lässt. Für den Fall g = 2 gibt es beispielsweise das folgende Element: a3 + 2a1 + 3a2 + a3. (Man beachte jedoch, dass wir dies nicht als 2a3 + 2a1 + 3a2 schreiben dür-fen, denn a3 kommutiert nicht mit a2 und a1, also dürfen wir das ganz rechts stehende a3 nicht nach links schieben.)Wie beim Torus erhalten wir eine Beziehung zwischen diesen Wegen, in-dem wir den Verbindungsweg zu zwei gegenüberliegenden Ecken unseres Vielecks auf zwei verschiedene Weisen ausdrücken. Dies verallgemeinert die Kommutativitätsbeziehung des Torus:

a’1

a’2 a2

a1

Abb. A.9 Die beiden Wege entlang gegenüberliegender Seiten lassen sich zu dem Weg entlang der Diagonale verformen. © Frenkel

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286 Liebe und Mathematik

Es zeigt sich, dass dies die einzige Beziehung zwischen diesen Elementen ist. Damit erhalten wir eine umfassende Beschreibung der Fundamental-gruppe: Sie wird generiert durch die Elemente a1, a2, …, a2g, und zwi-schen diesen gibt es die angegebene Beziehung.

21. Zur Andeutung dieser Beziehung betrachten wir alle rationalen Funk-tionen auf unserer Riemann’schen Fläche im Sinne von Anmerkung 13 zu diesem Kapitel. Sie verhalten sich ähnlich wie die rationalen Zahlen. Die Galois-Gruppe ist definiert als die Symmetriegruppe eines Zahlen-körpers, den wir erhalten, indem wir Lösungen von Polynomgleichungen wie x2 = 2 zu den rationalen Zahlen hinzufügen. Ganz entsprechend kön-nen wir auch Lösungen von Polynomgleichungen zu rationalen Funktio-nen auf einer Riemann’schen Fläche X hinzufügen. Es zeigt sich, dass wir auf diese Weise rationale Funktionen über einer anderen Riemann’schen Fläche X ’ erhalten, die eine „Überlagerung“ von X ist. Das bedeutet, wir haben eine Abbildung X ’ → X mit endlichen Fasern. In diesem Fall be-steht die Galois-Gruppe aus solchen Symmetrien von X ’, die alle Punkte von X unverändert lassen. Mit anderen Worten, diese Symmetrien wirken entlang der Fasern der Abbildung X ’ → X.Nun betrachten wir einen geschlossenen Weg auf der Riemann’schen Flä-che X, der an einem Punkt P in X beginnt und endet. Wir können jeden Punkt von X ’ in der Faser über P nehmen und ihn entlang dieses Weges „verfolgen“. Wenn wir in X zu P zurückkommen, werden wir im Allge-meinen in X ’ bei einem anderen Punkt in der Faser über P enden, sodass wir eine Transformation auf dieser Faser erhalten. Dies ist die Monodro-mie, die wir in Kap.  15 etwas ausführlicher behandeln werden. Diese Transformation der Faser lässt sich mit einem Element der Galois-Gruppe in Beziehung setzen. Auf diese Weise erhalten wir also eine Verbindung zwischen der Fundamentalgruppe und der Galois-Gruppe.

Kapitel 10. In der Schleife

1. Das Wort „speziell“ bezieht sich auf solche orthogonalen Transformatio-nen, die auch die Orientierung erhalten – das sind genau die Drehungen der Kugeloberfläche. Ein Beispiel für eine orthogonale Transformation, welche die Orientierung nicht erhält (und somit nicht zu SO(3) gehört) ist eine Spiegelung an einer der Koordinatenebenen. Die Gruppe SO(3) hängt eng mit der Gruppe SU(3) zusammen, die wir in Kap. 2 im Zu-

a a a a a a a ag g g g1 2 2 1 2 2 2 1 2 1+ + …+ + = + + …+ +− − .

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Anmerkungen 287

sammenhang mit den Quarks diskutiert hatten (der speziellen unitären Gruppe des dreidimensionalen Raumes). Die Gruppe SU(3) ist ähnlich wie SO(3) definiert, allerdings ersetzen wir den reellen dreidimensionalen Raum durch den komplexen dreidimensionalen Raum.

2. Auch die folgende Argumentation zeigt, dass der Kreis eindimensional ist: Wie in Kap. 9 besprochen, lässt sich der Kreis auch als die Menge aller re-ellen Lösungen der Gleichung x2 + y2 = 1 interpretieren. Der Kreis besteht also aus der Menge aller Punkte der Ebene, die eine Gleichung erfüllen. Also ist seine Dimension gleich der Dimension der Ebene – zwei – minus der Anzahl der Gleichungen – eins.

3. Dieses Zitat findet sich in den Buch zu Duchamps Aufzeichnungen mit dem Titel À l’Infinitif; wiedergegeben in Gerald Holton, Henri Poincaré, Marcel Duchamp and innovation in science and art, Leonardo, Bd. 34, 2001, S. 130.

4. Linda Dalrymple Henderson, The Fourth Dimension and Non-Euclidean Geometry in Modern Art, MIT Press, 2013, S. 493.

5. Gerald Holton, ebenda, S. 134. 6. Charles Darwin, Autobiographies, Penguin Classics, 2002, S. 30. 7. Weitere Einzelheiten dazu findet man beispielsweise in Shing-Tung Yau

und Steve Nadis, The Shape of Inner Space, Basic Books, 2010. 8. Es zeigt sich, dass die Dimension dieser Gruppe gleich n( n − 1)/2 ist. Mit

anderen Worten, wir benötigen n( n − 1)/2 unabhängige Koordinaten, um ein Element dieser Gruppe zu beschreiben (für den Fall n = 3 brauchen wir 3(3 − 1)/2 = 3 Koordinaten, wie im Haupttext beschrieben).

9. Mathematisch lässt sich eine Schleife (Loop) als Bild einer bestimmten Abbildung vom Kreis in den dreidimensionalen Raum ansehen, also als eine Vorschrift, die jedem Punkt ϕ auf dem Kreis einen Punkt f( ϕ) im dreidimensionalen Raum zuordnet. Dabei betrachten wir nur „glatte“ Ab-bildungen. Das bedeutet grob gesprochen, dass die Schleife keine scharfen Winkel oder Ecken hat, also wie in Abb. 10.6 aussieht.Allgemeiner ist eine Abbildung von einer Mannigfaltigkeit S in eine Man-nigfaltigkeit M eine Vorschrift, die jedem Punkt s in S einen Punkt in M zuordnet, den man als das Bild von s bezeichnet.

10. Siehe beispielsweise Brian Greene, Das elegante Universum, Goldmann Verlag, 2005.

11. Genauer ist eine Schleife in SO(3) eine Menge {f(ϕ)} von Elementen von SO(3), die durch den Winkel ϕ (der Kreiskoordinate) parametrisiert ist. Ist eine zweite Schleife {g(ϕ)} gegeben, können wir die jeweiligen Dre-hungen für jedes ϕ hintereinanderschalten: f g( ) ( )ϕ ϕ� . Auf diese Weise erhalten wir eine neue Menge { ( ) ( )}f gϕ ϕ� , die ebenfalls eine Schlei-fe in SO(3) ist. Auf diese Weise können wir je zwei Schleifen in SO(3)

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288 Liebe und Mathematik

einer dritten Schleife zuordnen. Dies ist die Multiplikationsregel in der Schleifengruppe. Das Einselement der Schleifengruppe ist die Schleife, die konstant bei der Identität von SO(3) bleibt, d. h., in diesem Fall ist f( ϕ) das Einselement der SO(3) für alle Werte von ϕ. Die inverse Schleife zur Schleife {f(ϕ)} ist die Schleife {f(ϕ)−1}. Man kann leicht überprüfen, dass alle Gruppenaxiome gelten und der Schleifenraum von SO(3) tat-sächlich eine Gruppe bildet.

12. Betrachten wir dazu ein einfacheres Beispiel: den Schleifenraum der Ebe-ne. Die Ebene hat die Koordinaten x und y. Daher besteht eine Schleife in der Ebene aus einer Menge von Punkten auf der Ebene mit den Koordi-naten x( ϕ) und y( ϕ) für jeden Winkel ϕ zwischen 0° und 360°. (Beispiels-weise beschreiben die Gleichungen x(ϕ) = cos(ϕ) und y(ϕ) = sin(ϕ) eine bestimmte Schleife: den Kreis mit Radius 1 um den Ursprung.) Für eine solche Schleife müssen wir daher unendlich viele Zahlenpaare (x(ϕ), y (ϕ)) festlegen – für jeden Winkel ϕ ein Paar. Aus diesem Grund ist der Schlei-fenraum der Ebene unendlich-dimensional. Aus dem gleichen Grund ist auch der Schleifenraum von jeder endlich-dimensionalen Mannigfaltig-keit unendlich-dimensional.

13. Zitiert in R.E. Langer, René Descartes, The American Mathematical Mon-thly, Bd. 44, Nr. 8, Oktober 1937, S. 508.

14. Die Tangentialebene ist die Ebene, die der Kugeloberfläche in der Um-gebung dieses Punktes am nächsten ist und durch diesen Punkt geht. Sie berührt die Kugeloberfläche in diesem Punkt nur. Wenn wir die Ebene jedoch etwas verschieben, sodass sie immer noch durch den gegebenen Punkt auf der Kugeloberfläche verläuft, erhalten wir eine Ebene, die die Kugeloberfläche in mehr als einem Punkt schneidet.

15. Nach Definition ist die Lie-Algebra einer gegebenen Lie-Gruppe der fla-che Raum (also eine Gerade oder Ebene usw.), der unter allen anderen flachen Räumen, die das Einselement der Lie-Gruppe enthalten, dieser Gruppe am nächsten ist.

16. Ein allgemeiner Kreis hat keinen ausgezeichneten Punkt. Die Kreisgruppe besitzt jedoch einen: Das Einselement dieser Gruppe ist ein ausgezeich-neter Punkt des Kreises. Dieser Punkt muss gegeben sein, damit aus dem Kreis eine Gruppe werden kann.

17. Es folgt eine genauere Definition eines Vektorraumes:Sobald wir in dem n-dimensionalen flachen Raum ein Koordinatensys-tem gewählt haben, können wir die Punkte dieses Raumes mit n-Tupeln reeller Zahlen ( x1, x2,…, xn) identifizieren. Die Zahlen xi sind die Koor-dinaten eines Punktes. Insbesondere gibt es einen ausgezeichneten Punkt (0, 0,…, 0), an dem alle Koordinaten 0 sind. Dies ist der Ursprung.

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Anmerkungen 289

Nun wählen wir einen bestimmten Punkt ( x1, x2,…, xn) in diesem Raum. Wir definieren eine Symmetrie unseres Raumes, bei der jeder andere Punkt ( z1, z2,…, zn) in ( z1 + x1, z2 + x2,…, zn + xn) übergeht. Geometrisch können wir uns diese Symmetrie als eine Verschiebung unseres n-dim-ensionalen Raumes in Richtung des Pfeils, der den Ursprung mit unserem Punkt ( x1, x2,…, xn) verbindet, vorstellen. Diese Symmetrie nennt man einen Vektor und sie wird meist durch diesen Pfeil dargestellt. Wir be-zeichnen diesen Vektor mit ⟨x1, x2,…, xn⟩. Es besteht eine eineindeutige Beziehung zwischen den Punkten des n-dimensionalen flachen Raumes und Vektoren. Aus diesem Grund kann man den flachen Raum mit einem Koordinatensystem als Raum von Vektoren ansehen. Deshalb nennen wir ihn Vektorraum.Es ist vorteilhaft, in Vektoren statt Punkten zu denken, da wir für Vekto-ren zwei natürliche Operationen haben. Zum einen können wir Vektoren addieren, wodurch der Vektorraum zu einer Gruppe wird. Wie schon in Kap.  2 diskutiert wurde, können wir Symmetrien hintereinanderschal-ten, und daher bilden sie eine Gruppe. Die Hintereinanderschaltung der Verschiebungssymmetrie führt auf die folgende Regel der Addition von Vektoren:

Das Einselement in der Gruppe der Vektoren ist der Vektor ⟨0, 0,…, 0⟩. Das additive Inverse zu dem Vektor ⟨x1, x2,…, xn⟩ ist der Vektor ⟨−x1, −x2,…, −xn⟩.Die zweite Operation ist die Multiplikation von Vektoren mit reellen Zahlen. Das Ergebnis der Multiplikation eines Vektors ⟨x1, x2,…, xn⟩ mit der reellen Zahl k ist der Vektor ⟨kx1, kx2,…, kxn⟩.Somit trägt ein Vektorraum zwei Strukturen: die Addition mit den Eigen-schaften einer Gruppe und die Multiplikation mit Zahlen. Diese Struktu-ren müssen bestimmte natürliche Eigenschaften erfüllen.Nun ist jeder Tangentialraum auch ein Vektorraum, und daher ist die Lie-Algebra ein Vektorraum.Wir haben hier den Begriff des Vektorraumes über den reellen Zahlen beschrieben. Die Koordinaten von Vektoren sind reelle Zahlen und daher können wir Vektoren auch mit reellen Zahlen multiplizieren. Wenn wir in dieser Beschreibung die reellen Zahlen durch komplexe Zahlen erset-zen, erhalten wir das Konzept eines Vektorraumes über den komplexen Zahlen.

18. Die Operation auf einer Lie-Algebra wird gewöhnlich durch eckige Klammern ausgedrückt. Wenn also �a und

�b zwei Vektoren in einer Lie-Algebra bezeichnen

x x x y y y y x y x y xn n n n1 2 1 2 1 1 2 2, , , , , , , , , .… + … = + + … +

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290 Liebe und Mathematik

(die, wie in der vorherigen Anmerkung erwähnt, ein Vektorraum ist), dann ist das Ergebnis dieser Operation auf ihnen �

�a b, . Es erfüllt die folgenden Eigen-

schaften: �� � � � � �� � � � � �

a b a b a k ab a a b c c, , , , ,, , , [ ] = + = + bb k a b = � �, für

jede Zahl k und die sogenannte Jacobi-Identität:

19. Das Kreuzprodukt von zwei Vektoren �a und

�b im dreidimensionalen

Raum wird durch � �a b× bezeichnet. Es handelt sich dabei um den Vek-

tor, der senkrecht auf der von �a und

�b aufgespannten Ebene steht (d. h.

der Ebene, die die Vektoren �a und

�b enthält) und dessen Länge gleich

dem Produkt der Längen von �a und �b und dem Sinus des Winkels zwi-

schen ihnen ist. Die drei Vektoren �a , �b und

� �a b× besitzen dabei eine

positive Orientierung (was man oft durch die Rechte-Hand-Regel zum Ausdruck bringt).

20. Beispielsweise ist die Lie-Algebra zur Lie-Gruppe SO(3) der dreidimen-sionale Vektorraum. Daher besteht die Lie-Algebra der Schleifengruppe von SO(3) aus allen Schleifen in diesem dreidimensionalen Raum. Das Kreuzprodukt des dreidimensionalen Raumes verleiht diesen Schleifen die Struktur einer Lie-Algebra. Das bedeutet, zu zwei Schleifen kann man eine dritte konstruieren, die allerdings nicht so einfach mit Worten be-schrieben werden kann.

21. Genauer ist eine Kac-Moody-Algebra eine Erweiterung der Lie-Algebra einer Schleifengruppe um einen eindimensionalen Raum. Für weitere Einzelheiten siehe Victor Kac, Infinite-dimensional Lie-Algebras, dritte Auflage, Cambridge University Press, 1990.

22. Die Modelle mit einer Virasoro-Algebra-Symmetrie bezeichnet man als konforme Feldtheorien. Sie wurden zuerst von den russischen Physikern Alexander Belawin, Alexander Poljakow und Alexander Samolodtschikow-im Jahr 1984 untersucht (unter Wissenschaftlern sind diese drei Physiker eher unter ihren amerikanischen Transkriptionen Belavin, Polyakov und Zamolodchikov bekannt). Ihre bahnbrechende Arbeit beruhte auf den Ergebnissen von Feigin und Fuchs sowie von Victor Kac.

23. Die bekanntesten sind die Wess-Zumino-Witten-Modelle. Für weitere Einzelheiten siehe Edward Frenkel und David Ben-Zvi, Vertex Algebras, Zweite Auflage, American Mathematical Society, 2004.

� � � � � � � � �a b c b c a c a b, , , , , ,

+

+ [ ] = ⋅0

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Anmerkungen 291

Kapitel 11. Die Eroberung des Gipfels

1. Es folgt eine genaue Konstruktion: Gegeben sei ein Element der Schlei-fengruppe von SO(3), also eine Menge {g( ϕ)} von Elementen von SO(3), parametrisiert durch den Winkel ϕ (der Kreiskoordinate). Andererseits ist ein Element des Schleifenraumes der Kugeloberfläche eine durch ϕ parametrisierte Menge {f (ϕ )} von Punkten auf der Kugeloberfläche. Zu einem solchen {g(ϕ)} und {f ( ϕ)} konstruieren wir nun ein neues Element des Schleifenraumes der Kugeloberfläche als die Menge {g(ϕ)(f (ϕ))}. Das bedeutet, wir wenden für jedes ϕ auf den Punkt f (ϕ) auf der Kugelober-fläche die Drehung g ( ϕ) an. Für jedes Element der Schleifengruppe von SO(3) erhalten wir somit eine Symmetrie des Schleifenraumes der Kugel-oberfläche.

2. Ein Punkt einer Fahnenmannigfaltigkeit entspricht einer Menge geome-trischer Objekte: eine Gerade in einem festen n-dimensionalen Raum, eine Ebene, die diese Gerade enthält, ein dreidimensionaler Raum, der diese Ebene enthält, und so weiter bis hin zu einer ( n − 1)-dimensionalen Hyperebene, die alle anderen enthält.Man vergleiche dies mit den projektiven Räumen, die ich zunächst unter-sucht hatte: ein Punkt eines projektiven Raumes ist nur eine Gerade in einem n-dimensionalen Raum, sonst nichts.Im einfachsten Fall n = 2 ist unser gegebener Raum zweidimensional, und damit können wir nur eine Gerade wählen (es gibt nur eine Ebene – den Raum selbst). In diesem Fall ist unsere Fahnenmannigfaltigkeit also das-selbe wie der projektive Raum, und dieser entspricht einer Kugelober-fläche. Hierbei ist wichtig, dass wir Geraden, Ebenen etc. in einem kom-plexen Raum betrachten (nicht einem reellen Raum), und darunter auch nur diejenigen, die durch den Ursprung unseres festen n-dimensionalen Raumes verlaufen.Das nächste Beispiel ist n = 3, wir betrachten also einen dreidimensiona-len Raum. In diesem Fall besteht der projektive Raum aus allen Geraden in diesem dreidimensionalen Raum, doch die Fahnenmannigfaltigkeit be-steht aus Paaren: einer Geraden und einer Ebene, die diese Gerade enthält (es gibt nur einen dreidimensionalen Raum). Nun besteht also ein Unter-schied zwischen dem projektiven Raum und der Fahnenmannigfaltigkeit. Wir können uns die Gerade als den Mast und die Ebene als das Banner der Fahne vorstellen, daher die Bezeichnung „Fahnenmannigfaltigkeit“.

3. Boris Feigin und Edward Frenkel, A family of representations of affine Lie algebras, Russian Mathematical Surveys, Bd. 43, Nr. 5, 1988, S.221–222.

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292 Liebe und Mathematik

Kapitel 12. Der Baum der Erkenntnis

1. Mark Saul, Kerosinka: An episode in the history of Soviet mathematics, No-tices of the American Mathematical Society, Bd. 46, November 1999, S. 1217–1220.

2. Ich erfuhr später, dass Gelfand mit Herzspezialisten zusammenarbeitete (aus dem gleichen Grund, weshalb Jakow Issajewitsch mit Urologen zu-sammenarbeitete), und dass er diesen Zugang erfolgreich in der medizini-schen Forschung angewandt hat.

Kapitel 14. Die Garben der Weisheit werden gebunden

1. Eine genaue Definition für einen Vektorraum wurde in Anmerkung 17 von Kap. 10 gegeben.

2. In der Kategorie der Vektorräume sind die Morphismen von einem Vek-torraum V1 zu einem Vektorraum V2 die sogenannten linearen Transfor-mationen von V1 nach V2. Dies sind Abbildungen f von V1 nach V2, so-dass f a b f a f b( ) ( ) ( )

� � � �+ = + für je zwei Vektoren �a und

�b in V1 und

f k a k f a( ) ( )⋅ = ⋅� � für jeden Vektor �a in V1 und jede Zahl k. Insbeson-dere sind die Morphismen von einem gegebenen Vektorraum V in sich selbst die linearen Transformationen von V in sich selbst. Die Symmetrie-gruppe von V besteht aus den Morphismen, die ein Inverses besitzen.

3. Siehe beispielsweise Benjamin C. Pierre, Basic Category Theory for Compu-ter Scientists, MIT Press, 1991.Joseph Goguen, A categorical manifesto, Mathematical Structures in Com-puter Science, Bd. 1, 1991, 49–67.Steve Awodey, Category Theory, Oxford University Press, 2010.

4. Siehe z. B. http://www.haskell.org/haskellwiki/Category_theory und die dort angegebenen Literaturhinweise.

5. Siehe beispielsweise Masaki Kashiwara und Pierre Schapira, Sheaves on Manifolds, Springer-Verlag, 2010.

6. Diese überraschende Eigenschaft der Arithmetik modulo Primzahlen lässt sich einfach erklären, wenn wir gruppentheoretisch denken. Wir betrach-ten die nicht verschwindenden Elemente des endlichen Körpers: 1, 2,…, p – 1. Sie bilden bezüglich der Multiplikation eine Gruppe. Insbesondere ist die Zahl 1 das Einselement bezüglich der Multiplikation: Wenn wir irgendein Element a mit 1 multiplizieren, erhalten wir wieder a. Und jedes Element besitzt ein Inverses, wie in Anmerkung 8 zu Kap. 8 gezeigt

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Anmerkungen 293

wurde: Für jedes a in {1, 2,…, p – 1} gibt es ein Element b, sodass a · b = 1 modulo p.Diese Gruppe hat p – 1 Elemente. Ganz allgemein gilt für jede endliche Gruppe G mit N Elementen: Die N-te Potenz von jedem Element a dieser Gruppe ist gleich dem Einselement (das wir mit 1 bezeichnen):

Zum Beweis betrachten wir die folgenden Elemente in der Gruppe G: 1, a, a2,… Da die Gruppe G endlich ist, können diese Elemente nicht alle verschieden sein, d. h., es muss Wiederholungen geben. Es sei k die kleinste natürliche Zahl, sodass ak gleich 1 oder gleich aj für ein j = 1,…, k − 1. Wir nehmen zunächst den zweiten Fall an. Es sei a−1 das inverse Element von a, sodass a · a−1 = 1. Wir nehmen die j-te Potenz ( a−1)j. Nun multiplizieren wir beide Seiten der Gleichung ak = aj von rechts mit ( a−1)j. Jedes Mal, wenn die Kombination a · a−1 auftritt, ersetzen wir sie durch 1, und da die Multiplikation mit 1 das Ergebnis nicht ändert, können wir die 1 auch weglassen. Wir sehen also, dass sich jedes a−1 gegen ein a weg-hebt. Also erhalten wir auf der linken Seite ak−j und die rechte Seite ist 1. Wir erhalten also ak−j = 1. Doch k − j ist kleiner als k, was unserer Annahme über k widerspricht. Also muss die erste Wiederholung in unserer Liste notwendigerweise die Form ak = 1 haben, sodass die Elemente 1, a, a2,…, ak−1 alle verschieden sein müssen. Das bedeutet, sie bilden eine Gruppe mit k Elementen: {1, a, a2,…,ak−1}. Es handelt sich um eine Untergruppe unserer ursprünglichen Gruppe G mit N Elementen in folgendem Sinn: Es ist eine Teilmenge von Elementen aus G, sodass die Multiplikation von je zwei Elementen in dieser Teilmenge wieder ein Element dieser Teilmen-ge ist, diese Teilmenge enthält das Einselement von G und zu jedem ihrer Elemente auch das inverse Element.Nun ist bekannt, dass die Anzahl der Elemente jeder Untergruppe immer ein Teiler der Anzahl der Elemente der Gruppe ist. Diese Aussage bezeich-net man als den Satz von Lagrange. Ich überlasse den Beweis dem Leser (man kann ihn auch einfach im Internet suchen).Angewandt auf die Untergruppe {1, a, a2,…, ak − 1} mit k Elementen besagt der Satz von Lagrange, dass k ein Teiler von N sein muss. Also gilt N = k·m mit einer natürlichen Zahl m. Doch da ak = 1, folgt auch:

was wir beweisen wollten.

aN = 1.

a a a aN k k k= ( )⋅( )⋅…⋅( ) = ⋅ ⋅…⋅ =1 1 1 1,

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294 Liebe und Mathematik

Kehren wir nun zu unserer Gruppe {1, 2,…, p – 1} bezüglich der Multi-plikation zurück. Sie hat p – 1 Elemente. Dies ist nun unsere Gruppe G, sodass N gleich p – 1 ist. Nach dem allgemeinen Ergebnis gilt also ap−1 = 1 modulo p für alle a in {1, 2,…, p – 1}. Doch damit gilt auch:

Man sieht leicht, dass diese letzte Gleichung für jede ganze Zahl a gilt, sofern wir festlegen, dass

falls x – y = r · p für eine ganze Zahl r.Dies ist die Behauptung des kleinen Fermat’schen Satzes. Fermat erwähnt ihn das erste Mal in einem Brief an einen Freund. „Ich würde Dir gerne einen Beweis schicken“, schrieb er dazu, „aber ich befürchte, er ist zu lang.“

7. Bisher haben wir die Arithmetik modulo einer Primzahl p betrachtet. Es gibt jedoch eine dem kleinen Fermat’schen Satz ähnliche Aussage in der Arithmetik modulo einer beliebigen natürlichen Zahl n. Dazu muss ich nochmals an die Euler-Funktion φ erinnern, die wir im Zusammenhang mit Zopfgruppen in Kap. 6 diskutiert haben. (In meinem Zopfgruppen-projekt hatte ich gefunden, dass sich die Betti-Zahlen von Zopfgruppen durch diese Funktion ausdrücken lassen.) Ich erinnere daran, dass φ(n) gleich der Anzahl der natürlichen Zahlen zwischen 1 und n – 1 ist, die teilerfremd zu n sind, die also keinen gemeinsamen Teiler mit n (außer 1) haben. Falls n beispielsweise eine Primzahl ist, dann sind alle Zahlen zwischen 1 und n – 1 teilerfremd zu n und somit ist φ(n) = n – 1. In der vorherigen Anmerkung haben wir für eine Primzahl p die For-mel ap−1 = 1 modulo p bewiesen. Die entsprechende allgemeine Gleichung lautet:

Sie gilt für jede natürliche Zahl n und jede natürliche zu n teilerfremde Zahl a. Der Beweis erfolgt wie vorher: Wir betrachten die Menge aller na-türlichen Zahlen zwischen 1 und n – 1, die teilerfremd mit n sind. Davon gibt es φ(n). Man kann leicht zeigen, dass sie eine Gruppe bezüglich der Multiplikation bilden. Nach dem Satz von Lagrange gilt daher für jedes Element dieser Gruppe, dass seine φ(n)-te Potenz gleich dem Einselement ist.

a a a a a pp p= ⋅ = ⋅ =−1 1 modulo .

x y p= modulo ,

a nnφ( ) .= 1 modulo

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Anmerkungen 295

Betrachten wir als Beispiel den Fall, bei dem n das Produkt von zwei Primzahlen ist, also n = p ∙ q, wobei p und q zwei verschiedene Primzahlen sind. In diesem Fall sind die Zahlen, die nicht teilerfremd mit n sind, entweder durch q oder durch p teilbar. Die ersteren sind von der Form p ∙ i, wobei i = 1,..., q – 1 (es gibt genau q – 1 solcher Zahlen). Und die Letzteren haben die Form q ∙ j, wobei j = 1,..., p – 1 (davon gibt es genau p – 1 Zahlen). Also ist

φ( ) ( ) ( ) ( ) ( )( ).n n q p p q= − − − − − = − −1 1 1 1 1

Es gilt daher:

a p qp q( )( )− − = ⋅1 1 1 modulo

für jede Zahl a, die nicht durch p oder q teilbar ist. Nun kann man leicht zeigen, dass die Gleichung

a a p qm p q1 1 1+ − − = ⋅( )( ) modulo

für alle natürlichen Zahlen a und jede ganze Zahl m gilt.Diese Gleichung bildet die Grundlage für eines der meistverwendeten Verschlüsselungssysteme: den RSA-Algorithmus (benannt nach Ron Ri-vest, Adi Shamir und Leonard Adleman, die ihn 1977 formulierten). Man wählt dazu zunächst zwei Primzahlen p und q (es gibt verschiedene Algo-rithmen, solche Primzahlen zu erzeugen), und n sei gleich ihrem Produkt p ∙ q. Die Zahl n ist öffentlich bekannt, nicht jedoch die Primzahlen p und q selbst. Außerdem wählen wir noch eine Zahl e, die teilerfremd zu (p – 1)(q – 1) ist. Auch diese Zahl ist öffentlich bekannt.Bei der Verschlüsselung wird eine Zahl a (z. B. eine Kreditkartennummer) in a e modulo n umgerechnet:

a b a ne .� = modulo

Es zeigt sich, dass es eine einfache Möglichkeit gibt, die Zahl a aus a e zurückzugewinnen. Dazu muss man eine Zahl d zwischen 1 und (p – 1)(q – 1) finden, sodass

d e p q⋅ = − −1 1 1modulo( )( ).

Mit anderen Worten, es gibt eine natürliche Zahl m, sodass

d e m p q⋅ = + − −1 1 1( ) .( )

Damit ist nach obiger Gleichung:

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296 Liebe und Mathematik

a n a n

a n

d e m p q⋅ + − −( )==

modulo modulo

modulo

1 1 1( )

.

Ist daher b = a e gegeben, können wir die ursprüngliche Zahl zurückge-winnen:

a b nd� modulo .

Fassen wir nochmals zusammen: Die Zahlen n und e sind öffentlich be-kannt, doch d ist geheim. Die Verschlüsselung erfolgt nach der Vorschrift

b b a ne� = modulo .

Verschlüsseln kann jeder, da e und n öffentlich sind.Die Entschlüsselung erfolgt nach der Vorschrift

b b nd� modulo .

Angewandt auf b = a e erhalten wir so die ursprüngliche Zahl a zurück. Dies kann jedoch nur, wer die Zahl d kennt.Dies ist eine gute Verschlüsselung, weil man zur Bestimmung von d, mit dem man die verschlüsselte Zahl a zurückgewinnen kann, die Zahl (p – 1)(q – 1) kennen muss. Doch dazu muss man p und q kennen, die bei-den Teiler von n, aber diese Zahlen sind geheim. Für ausreichend große Zahlen n kann es mit den bekannten Faktorisierungsverfahren selbst auf einem Netz leistungsstarker Computer viele Monate dauern, bis man p und q gefunden hat. Beispielsweise benötigte eine Gruppe von Forschern im Jahr 2009 einige hundert Parallelcomputer, um eine 232-stellige Zahl in Primzahlen zu zerlegen; es dauerte zwei Jahre (siehe http://eprint.iacr.org/2010/006.pdf ). Sollte jedoch jemand ein wesentlich effektiveres Ver-fahren zur Faktorisierung natürlicher Zahlen in Produkte von Primzahlen finden (beispielsweise mit einem Quantencomputer), dann könnte man dieses Verschlüsselungsverfahren knacken. Aus diesem Grund wird inten-siv an der Faktorisierung natürlicher Zahlen in Primzahlen geforscht.

8. Im Fall der rationalen Zahlen haben wir gesehen, dass Gleichungen der Form x 2 = 2 möglicherweise keine Lösungen in den rationalen Zahlen haben, und man erhält ein neues Zahlensystem, wenn man die Lösungen wie 2 und – 2 hinzufügt. Der Vorzeichenwechsel zwischen 2 und – 2 war eine Symmetrie dieses neuen Zahlensystems.Entsprechend können wir auch Polynomgleichungen in der Variablen x wie x 2 = 2 oder x3 – x = 1 als Gleichungen in dem endlichen Körper {0, 1,2,..., p – 1} betrachten. Wir können uns dann fragen, ob sich diese Glei-

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Anmerkungen 297

chungen innerhalb dieses endlichen Körpers lösen lassen. Wenn es keine Lösungen gibt, können wir den endlichen Körper um die Lösungen er-weitern, ähnlich wie wir die rationalen Zahlen um 2 und – 2 erweitert haben. Auf diese Weise erzeugen wir neue endliche Körper.Betrachten wir als Beispiel p = 7, dann hat die Gleichung x2 = 2 zwei Lö-sungen, 3 und 4, weil

3 9 2 7 4 16 2 72 2= = = =,modulo modulo

ist. Man beachte, dass in der Arithmetik modulo 7 die Zahl 4 gleich –3 ist, da 3 + 4 = 0 modulo 7. Die beiden Lösungen der Gleichung x2 = 2 sind also Negative voneinander, ebenso wie 2 und – 2. Das überrascht nicht, weil die beiden Lösungen von x2 = 2 immer Negative voneinander sein müssen, denn wenn a2 = 2 ist, dann ist auch (–a)2 = (–1)2a2 = 2. Das bedeutet, für p ≠ 2 gibt es immer zwei Zahlen des endlichen Körpers, deren Quadrat dieselbe Zahl ist, und es sind immer Negative voneinander (für p ≠ 2 muss p ungerade sein und damit kann –a nicht gleich a sein, denn andernfalls wäre p = 2a). Daher können nur die Hälfte der nicht verschwindenden Elemente des endlichen Körpers {1, 2,..., p – 1} Quad-ratzahlen sein.(Das bekannte Reziprozitätsgesetz von Gauss beschreibt, welche Zahlen n Quadratzahlen in der Arithmetik modulo p sind und welche nicht. Ein-zelheiten würden weit über den Rahmen dieses Buches hinausgehen, aber es zeigt sich, dass die Antwort nur von dem Wert von p modulo 4n ab-hängt. Wir wissen bereits, dass n = 2 eine Quadratzahl modulo p = 7 ist. In diesem Fall ist 4 ∙ n = 8. Also ist 2 auch eine Quadratzahl modulo jeder Primzahl, die gleich 7 modulo 8 ist, unabhängig von ihrer Größe. Ein verblüffendes Ergebnis!)Für p = 5 ist 12 = 1, 22 = 4, 32 = 4 und 42 =1 modulo 5. Also sind 1 und 4 Quadratzahlen modulo 5, aber 2 und 3 nicht. Insbesondere gibt es in dem endlichen Zahlenkörper {0, 1, 2, 3, 4} keine Lösungen zu der Glei-chung x2 = 2, ebenso wie bei den rationalen Zahlen. Also erhalten wir ein neues Zahlensystem, wenn wir den endlichen Körper um die Lösungen von x 2 = 2 erweitern. Wir bezeichnen diese Lösungen wieder mit 2 und – 2(allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass dies nicht dieselben Zahlen sind, um die wir früher die rationalen Zahlen erweitert haben).Wir erhalten einen neuen endlichen Körper, der aus Zahlen der Form

a b+ 2

besteht, wobei a und b aus {0, 1, 2, 3, 4} sind. Da wir zwei Parameter ha-ben, welche die Werte {0, 1, 2, 3, 4} annehmen, hat dieses neue Zahlensys-

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298 Liebe und Mathematik

tem 5 ∙ 5 = 25 Elemente. Ganz allgemein hat jede endliche Erweiterung des Körpers {0, 1, 2,..., p – 1} genau pm Elemente für eine natürliche Zahl m.Nun nehmen wir an, wir erweitern den endlichen Körper {0, 1, 2,..., p – 1} um alle Lösungen von allen Polynomgleichungen in einer Variab-len. Auf diese Weise erhalten wir ein neues Zahlensystem, das man den algebraischen Abschluss des endlichen Körpers nennt. Der ursprüngliche endliche Körper hatte p Elemente. Es zeigt sich, dass sein algebraischer Abschluss unendlich viele Elemente besitzt. Unsere nächste Frage bezieht sich auf die Galois-Gruppe dieses algebraischen Abschlusses. Das sind alle Symmetrien dieses algebraischen Abschlusses, welche mit den Operatio-nen der Addition und Multiplikation verträglich sind und die Elemente des ursprünglichen Körpers aus p Elementen auf sich selbst abbilden.Beginnen wir mit den rationalen Zahlen und betrachten deren algebrai-schen Abschluss, so ist die zugehörige Galois-Gruppe sehr kompliziert. Tatsächlich wurde das Langlands-Programm unter anderem deshalb ins Leben gerufen, um diese Galois-Gruppe und ihre Darstellungen durch harmonische Analysen zu beschreiben.Im Gegensatz dazu ist der algebraische Abschluss des endlichen Körpers {0, 1, 2,..., p – 1} vergleichsweise einfach. Eine der Symmetrien kennen wir schon: den Frobenius, also das Erheben einer Zahl in die p-te Potenz: a a p� Nach dem kleinen Fermat’schen Satz überführt der Frobenius alle p Elemente des ursprünglichen endlichen Körpers in sich selbst. Außer-dem ist er mit der Addition und der Multiplikation im algebraischen Ab-schluss verträglich:

( ) , ( ) .a b a b a b a bp p p p p p+ = + ⋅ = ⋅

Also gehört der Frobenius zu der Galois-Gruppe des algebraischen Ab-schlusses des endlichen Körpers.Wir bezeichnen den Frobenius mit F. Offensichtlich ist auch jede ganz-zahlige Potenz F n dieses Frobenius ein Element der Galois-Gruppe. Bei-spielsweise ist F 2 die Operation, bei der eine Zahl zur p2-ten Potenz er-hoben wird: a a ap p p�

2

= ( ) . Die Symmetrien F n, wobei n alle ganzen Zahlen durchläuft, bilden eine Untergruppe der Galois-Gruppe, die man zu Ehren von André Weil als Weil-Gruppe bezeichnet. Die Galois-Gruppe selbst nennt man dann die Vervollständigung der Weil-Gruppe. Neben den ganzzahligen Potenzen von F enthält sie auch Elemente, die man als bestimmte Grenzwerte von Fn für n gegen ∞ auffassen kann. In gewisser Hinsicht kann man sagen, dass der Frobenius die Galois-Gruppe erzeugt.An einem Beispiel können wir untersuchen, wie der Frobenius auf Ele-mente des algebraischen Abschlusses eines endlichen Körpers wirkt. Wir

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Anmerkungen 299

betrachten den Fall p = 5 und die Elemente des algebraischen Abschlusses, die von der oben angegebenen Form

a b+ 2

sind, wobei a und b gleich 0, 1, 2, 3 oder 4 sein können. Dieses Zahlen-system hat den Austausch von 2 und – 2 als Symmetrie:

a b a b+ −2 2� ,

ähnlich wie auch bei der Erweiterung der rationalen Zahlen um 2 . Überraschend (und ohne Analogie bei den rationalen Zahlen) ist, dass dieser Vorzeichenwechsel gleich dem Frobenius ist. Denn wenn wir den Frobenius auf 2 anwenden, also 2 zur 5. Potenz erheben, erhalten wir:

2 2 2 2 2 2 2 4 2 25 2 2( ) = ( ) ⋅( ) ⋅ = ⋅ ⋅ = ⋅ = − ,

weil 4 = –1 modulo 5 ist. Für p = 5 überführt der Frobenius somit a b+ 2in a – b 2 . Das Gleiche gilt für jede Primzahl p, für die die Gleichung x2 = 2 keine Lösung in dem endlichen Körper {0, 1, 2,..., p – 1} hat.

9. Eine Symmetrie eines n-dimensionalen Vektorraumes, genauer eine lineare Transformation (siehe Anmerkung 2), lässt sich durch eine Matrix darstellen, also eine quadratische Anordnung von Zahlen aij, wobei i und j von 1 bis n (n ist die Dimension des Vektorraumes) laufen. In diesem Fall ist die Spur die Summe der Diagonalelemente dieser Matrix, d. h. die Summe aller aii von i = 1 bis n.

10. Im vorliegenden Zusammenhang würde „zurückkehren“ bedeuten, zu einer gegebenen Funktion f eine Garbe zu finden, sodass für jeden Punkt s in unserer Mannigfaltigkeit die Spur des Frobenius über der Faser von s gleich dem Wert von f bei s ist. Jede beliebige Zahl lässt sich als Spur einer Symmetrie eines Vektorraumes schreiben. Schwierig ist jedoch, diese Vek-torräume so zu wählen, dass die Eigenschaften einer Garbe erfüllt sind.

Kapitel 15. Ein heikler Tanz

1. Eine Darstellung einer Galois-Gruppe in einer Gruppe H ist eine Vor-schrift, die jedem Element der Galois-Gruppe ein Element aus H zuord-net. Die Vorschrift soll folgende Bedingungen erfüllen: Seien a, b zwei Elemente der Galois-Gruppe und f (a), f (b) die zugehörigen Elemente aus H, dann soll das Produkt a∙b in der Galois-Gruppe auf das Produkt

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300 Liebe und Mathematik

f(a)∙f(b) in H abgebildet werden. Eine bessere Bezeichnung dafür ist Homomorphismus von der Galois-Gruppe nach H.

2. Um dies genauer zu erläutern, betrachten wir nochmals den Begriff des n-dimensionalen Vektorraumes aus Anmerkung 17 zu Kap. 10. Wie in Kap. 2 erwähnt wurde, ist eine n-dimensionale Darstellung einer gegebenen Gruppe eine Vorschrift, die jedem Element g dieser Gruppe eine Symme-trie Sg eines n-dimensionalen Vektorraumes zuordnet. Diese Zuordnung soll folgende Eigenschaft haben: Für je zwei Elemente g und h der Gruppe und ihrem Produkt g∙h in der Gruppe soll die Symmetrie Sgh gleich der Hintereinanderschaltung von Sg und Sh sein. Außerdem soll für jedes Ele-ment g gelten: S a b S a S bg g g( ) ( ) ( )

� � � �+ = + und S k a k S ag g( ) ( )⋅ = ⋅� � für

je zwei Vektoren �a , �b und jede Zahl k. (Solche Symmetrien bezeichnet

man als lineare Transformationen; siehe Anmerkung 2 zu Kap. 14.)Die Gruppe aller invertierbaren linearen Transformationen eines n-di-mensionalen Vektorraumes nennt man die allgemeine lineare Gruppe. Man bezeichnet sie mit GL(n). Nach obiger Definition ist eine n-dimensionale Darstellung einer gegebenen Gruppe Γ dasselbe wie eine Darstellung von Γ in GL(n) (oder ein Homomorphismus von Γ nach GL(n), siehe An-merkung 1).In Kap. 10 haben wir beispielsweise über eine dreidimensionale Darstel-lung der Gruppe SO(3) gesprochen. Jedes Element der Gruppe SO(3) ist eine Drehung der Kugeloberfläche, der wir die entsprechende Drehung des dreidimensionalen Vektorraumes zuordnen, der die Kugeloberfläche enthält (dies ist eine lineare Transformation). Damit erhalten wir eine Darstellung von SO(3) in GL(3) (oder äquivalent einen Homomorphis-mus von SO(3) in GL(3)). Anschaulich können wir uns eine Drehung als eine „Aktion“ auf dem dreidimensionalen Vektorraum vorstellen, die jeden Vektor in diesem Raum in einen anderen Vektor dreht.Auf der einen Seite der Langlands-Beziehung (die man meist als Lang-lands-Korrespondenz bezeichnet) betrachten wir n-dimensionale Darstel-lungen der Galois-Gruppe. Auf der anderen Seite haben wir automorphe Funktionen, mit denen man die sogenannten automorphen Darstellun-gen einer anderen Symmetriegruppe GL(n) eines n-dimensionalen Vek-torraumes konstruieren kann, allerdings nicht über den reellen Zahlen sondern über den sogenannten Adelen. Ich werde nicht erklären, worum es sich dabei handelt, doch das folgende Diagramm zeigt schematisch, wie die Langlands-Beziehung aussehen sollte:

n-dimensionale Darstellungen der Galois-Gruppe

automorphe Darstellungen der Gruppe GL(n) ↔

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Anmerkungen 301

Zum Beispiel hängen die zweidimensionalen Darstellungen der Galois-Gruppe mit den automorphen Darstellungen der Gruppe GL(2) zusam-men, die man aus den in Kap. 9 erwähnten Modulformen konstruieren kann.Eine Verallgemeinerung dieser Beziehung erhält man, wenn man die Gruppe GL(n) durch eine allgemeine Lie-Gruppe G ersetzt. Dann er-halten wir auf der rechten Seite der Beziehung automorphe Darstellun-gen von G statt GL(n). Auf der linken Seite haben wir Darstellungen der Galois-Gruppe in der Langlands-dualen Gruppe lG statt in GL(n) (oder äquivalent, Homomorphismen von der Galois-Gruppe in lG). Weitere Einzelheiten findet man in meinem Übersichtsartikel: Edward Frenkel, Lectures on the Langlands Program and conformal field theory, in Frontiers in Number Theory, Physics and Geometry II, Hrsg. P. Cartier et al., S. 387–536, Springer-Verlag, 2007, online verfügbar unter: http://arxiv.org/pdf/hep-th/0512172.pdf.

3. Siehe das Video auf http://www.youtube.com/watch?v=CYBqIRM8GiY. 4. Dieser Tanz heißt Binasuan. Siehe beispielsweise folgendes Video: http://

www.youtube.com/watch?v=N2TOOz_eaTY. 5. Für die Konstruktion dieses Weges und die Erklärung, weshalb wir den

trivialen Weg erhalten, wenn wir diesen Weg zweimal durchlaufen, siehe z. B. Louis H. Kaufmann, Knots and Physics, Dritte Auflage, S. 419–420, World Scientific, 2001.

6. Mit anderen Worten, die Fundamentalgruppe von SO(3) besteht aus zwei Elementen: das eine ist die Identität und das andere ist der Weg, dessen Quadrat die Identität ist.

7. Die mathematische Bezeichnung dieser Gruppe ist SU(2). Sie besteht aus den speziell unitären Transformationen des zweidimensionalen komplexen Vektorraumes. Diese Gruppe ist eine Cousine der Gruppe SU(3), die wir in Kap. 2 im Zusammenhang mit den Quarks diskutiert haben und die aus den speziell unitären Transformationen des dreidimensionalen kom-plexen Vektorraumes besteht.

8. Genauer ist die Liftung (oder auch Hebung) des geschlossenen Weges, den wir konstruiert haben (entsprechend der ersten vollen Umdrehung des Bechers) von der Gruppe SO(3) in ihre doppelte Überlagerung, die Gruppe SU(2), ein Weg, der in der SU(2) an einem anderen Punkt be-ginnt als er endet (beide Punkte projizieren aber auf denselben Punkt in der SO(3)), also ist es kein geschlossener Weg in der SU(2).

9. Im Allgemeinen sind die Zusammenhänge etwas komplizierter, doch um die Dinge einfach zu halten, werden wir in diesem Buch annehmen, dass das Duale der dualen Gruppe wieder die Gruppe selbst ist.

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302 Liebe und Mathematik

10. Ein Prinzipalbündel mit Strukturgruppe G (oder auch einfach G-Bündel) auf einer Riemann’schen Fläche ist eine Faserung über der Riemann’schen Fläche, sodass alle Fasern Kopien der Komplexifizierung der Gruppe G sind (dazu ersetzt man in der Definition der Gruppe die reellen Zahlen durch komplexe Zahlen). Die Punkte des Modulraumes (besser des Stacks) von G-Bündeln auf X sind Äquivalenzklassen von G-Bündeln auf X.Um die Darstellung in diesem Buch einfach zu halten, unterscheiden wir nicht zwischen einer Lie-Gruppe und ihrer Komplexifizierung.

11. In der Fundamentalgruppe identifizieren wir zwei geschlossene Wege, die sich ineinander verformen lassen. Da jeder geschlossene Weg in der Ebene, der nicht um den entfernten Punkt herumläuft, zu einem Punkt zusammengezogen werden kann, sind die nicht-trivialen Elemente der Fundamentalgruppe genau solche geschlossenen Wege, die sich um die-sen Punkt winden (diese lassen sich nicht zusammenziehen – der aus der Ebene entfernte Punkt verhindert das).Man kann leicht sehen, dass sich je zwei Wege mit derselben Windungs-zahl ineinander verformen lassen. Die Fundamentalgruppe der Ebene, bei der ein Punkt entfernt wurde, ist also gleich der Gruppe der ganzen Zahlen. Das erinnert an die Diskussion aus Kap.  5 zur zweisträngigen Zopfgruppe, die ebenfalls gleich der Gruppe der ganzen Zahlen war. Das ist kein Zufall, denn der Raum von Paaren verschiedener Punkte auf der Ebene ist topologisch äquivalent zur Ebene, bei der ein Punkt entfernt wurde.

12. Der Grund, dass die Monodromie Werte in der Kreisgruppe annimmt, beruht auf der berühmten Euler-Formel:

eθθ θ

− = + −1 1cos sin( ) ( ) .

Mit anderen Worten, die komplexe Zahl eθ −1 entspricht einem Punkt auf dem Einheitskreis zu dem Winkel θ, der in Radiant gemessen wird. Dabei sind 2π Radiant dasselbe wie 360° (eine volle Drehung des Kreises) und somit ist der Winkel θ gemessen in Radianten gleich dem Winkel 360° · θ/2π.Einen Spezialfall dieser Formel erhalten wir für θ = π:

eπ − = −1 1.

Richard Feynman nannte dies einmal „eine der bemerkenswertesten, beinahe verblüffendsten Gleichungen der Mathematik“. Sie spielte eine wichtige Rolle in dem Roman Hakase no aishita sūshiki (Die geliebte For-mel des Doktors – dt. Das Geheimnis der Eulerschen Formel) von Yōko

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Anmerkungen 303

Ogawa, Liebeskind Verlag, 2012. Ein weiterer nicht weniger bedeutender Spezialfall ist e2 1 1π − = .Das bedeutet, der Einheitskreis in der komplexen Ebene mit der Koor-dinate t, auf der die Lösung unserer Differentialgleichung definiert ist, besteht aus allen Punkten der Form t e= −θ 1 , wobei θ zwischen 0 und 2π liegt. Bewegen wir uns entgegen dem Uhrzeigersinn entlang des Einheits-kreises, werten wir unsere Lösung x( t ) = tn an diesen Punkten t e= −θ 1 aus, wobei θ von 0 bis 2π (gemessen in Radianten) zunimmt. Ein Voll-kreis entspricht θ = 2π. Um daher den entsprechenden Wert unserer Lö-sung zu erhalten, müssen wir t e= −2 1π in tn einsetzen. Das Ergebnis ist e n2 1π − . Doch den ursprünglichen Wert der Lösung erhalten wir, indem wir t = 1 in tn einsetzen, und das ist 1. Unsere Lösung wird also mit e n2 1π − multipliziert, wenn wir den geschlossenen Weg einmal entgegen dem Uhrzeigersinn durchlaufen. Genau das ist die Monodromie entlang dieses Weges.Diese Monodromie e n2 1π − ist eine komplexe Zahl, die sich durch einen Punkt auf dem Einheitskreis einer anderen komplexen Ebene darstellen lässt. Dieser Punkt entspricht dem Winkel 2πn Radiant oder 360°· n. Ge-nau das wollten wir zeigen. Die Multiplikation einer beliebigen komple-xen Zahl z mit e n2 1π − entspricht geometrisch der Drehung dieses Punk-tes in der Ebene um 360°· n. Ist n eine ganze Zahl, dann ist e n2 1 1π − = , es gibt also keine Monodromie. Wenn n jedoch keine ganze Zahl ist, er-halten wir eine nicht-triviale Monodromie.Um Missverständnissen vorzubeugen möchte ich nochmals betonen, dass wir es hier mit zwei verschiedenen komplexen Ebenen zu tun haben: Ein-mal haben wir die komplexe Ebene, auf der unsere Lösung definiert ist – die „t-Ebene“. Die andere ist die Ebene, auf der wir die Monodromie darstellen. Diese hat nichts mit der t-Ebene zu tun.Zusammenfassend können wir sagen, dass wir die Monodromie der Lö-sung entlang eines geschlossenen Weges mit der Windungszahl + 1 auf der t-Ebene als Punkt eines anderen Einheitskreises interpretiert haben. Falls die Windungszahl des Weges w ist, ist die Monodromie entlang dieses Weges e wn2 1π − , was einer Drehung um 2πnw Radiant oder 360°· w · n entspricht. Die Monodromie führt zu einer Darstellung der Fundamen-talgruppe in der Kreisgruppe. In dieser Darstellung wird der Weg in der punktierten t-Ebene (d. h., ein Punkt wurde entfernt) mit der Windungs-zahl w zu einer Drehung um 360°· w · n.

13. Man beachte, dass wir einen Punkt – den Ursprungspunkt der Ebene – entfernt haben. Andernfalls ließe sich jeder Weg auf der Ebene zu einem Punkt zusammenziehen, und die Fundamentalgruppe wäre trivial. Also gäbe es auch keine Monodromie. Wir müssen diesen Punkt jedoch ent-

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304 Liebe und Mathematik

fernen, weil unsere Lösung tn am Ursprung nicht definiert ist, wenn n keine natürliche Zahl oder 0 ist (in diesem Fall gibt es tatsächlich keine Monodromie).

14. Streng genommen lassen sich nicht alle Darstellungen der Fundamental-gruppe aus Opers erhalten. In diesem Diagramm beschränken wir uns auf solche Darstellungen, für die das möglich ist. Für andere Darstellungen ist die Frage immer noch ungelöst.

15. Edward Frenkel, Langlands Correspondence for Loop Groups. Cambridge University Press, 2007. Eine Online-Version findet man unter: http://math.berkeley.edu/~frenkel.

Kapitel 16. Quantendualität

1. Vielleicht fragen Sie sich, was zwischen 1991 und 2003 passiert ist. Nun, in diesem Buch wollte ich in erster Linie über die in meinen Augen inte-ressanten Aspekte des Langlands-Programms berichten und über einige Entdeckungen auf diesem Gebiet, an denen ich glücklicherweise betei-ligt war. Ich wollte keine lückenlose Lebensgeschichte von mir erzählen. Falls es Sie jedoch interessiert: In dieser Zeit habe ich meine Familie aus Russland nach Amerika geholt, bin nach Berkeley in Kalifornien gezo-gen, habe mich verliebt und wieder getrennt, habe geheiratet und wurde geschieden, habe mehrere Doktoranden gehabt, reiste um die Welt und hielt Vorträge, veröffentlichte ein Buch und einige Dutzend wissenschaft-liche Artikel. Ich versuchte, die Geheimnisse des Langlands-Programms in verschiedenen Bereichen zu lüften: angefangen bei der Geometrie bis zu integrablen Systemen, von Quantengruppen zur Physik. Die Einzel-heiten dieses Teils meiner Reise spare ich mir für ein weiteres Buch auf.

2. Siehe http://www.darpa.mil/Our_Work. 3. G. H. Hardy, A Mathematician’s Apology, Cambridge University Press,

2009, S. 135. 4. R. R. Wilson’s Congressional Testimony, 17. April 1969, zitiert aus:

http://history.fnal.gov/testimony.html. 5. Die Maxwell-Gleichungen im Vakuum sind

∇⋅ = ∇⋅ =� �E B0 0

∇ × = − ∂∂

∇ × = ∂∂

��

��

EB

tB

E

t

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Anmerkungen 305

wobei �E das elektrische Feld und

�B das magnetische Feld bezeichnen

(der Einfachheit halber habe ich Einheiten gewählt, in denen die Licht-geschwindigkeit gleich 1 ist). Wenn wir die folgenden Ersetzungen vor-nehmen,

werden offensichtlich die Gleichungen auf der linken Seite zu denen auf der rechten Seite und umgekehrt. Jede einzelne Gleichung wird zu einer anderen, doch das Gleichungssystem bleibt dasselbe.

6. Siehe die Internet Seite „Flickr“ von Dayna Mason: http://www.flickr.com/photos/daynoir.

7. Diese Eichgruppe SU(3) sollte man nicht mit der Gruppe SU(3) ver-wechseln, über die wir in Kap. 2 gesprochen hatten und die von Gell-Mann und anderen zur Klassifikation von Elementarteilchen verwendet wurde (die sogenannte Flavor-Gruppe). Die Eichgruppe SU(3) hat mit einer Eigenschaft von Quarks zu tun, die man Farbe (oder engl. Color) nennt. Es zeigt sich, dass jedes Quark in drei verschiedenen Farben auf-treten kann, und die Eichgruppe ist für den Wechsel dieser Farben ver-antwortlich. Aus diesem Grund bezeichnet man die Eichtheorie, welche die Wechselwirkung zwischen den Quarks beschreibt, als Quantenchro-modynamik. David Gross, David Politzer und Frank Wilczek erhielten den Nobelpreis für ihre erstaunliche Entdeckung der sogenannten asymp-totischen Freiheit in der Quantenchromodynamik (und anderer nicht-abelscher Eichtheorien), wodurch man das seltsame Verhalten der Quarks besser verstehen konnte.

8. D. Z. Zhang, C. N. Yang and contemporary mathematics, Mathematical Intelligencer, Bd. 15, Nr. 4, 1993, S. 13–21.

9. Albert Einstein, Geometrie und Erfahrung, Berlin, Verlag von Julius Sprin-ger 1921; Erweiterte Fassung des Festvortrags gehalten an der Preussi-schen Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 27. Januar 1921; S. 3.

10. Eugene Wigner, The unreasonable effectiveness of mathematics in the natu-ral sciences, Communications on Pure and Applied Mathematics, Bd. 13, 1960, S. 1–14.

11. C. Montonen und D. Olive, Magnetic monopoles as gauge particles? Physics Letters B, Bd. 72, 1977, S. 117–120.

12. P. Goddard, J. Nuyts und D. Olive, Gauge theories and magnetic charge, Nuclear Physics B, Bd. 125, 1977, S. 1–28.

13. Se ist die Menge der komplexen eindimensionalen Darstellungen des ma-ximalen Torus von G, und Sm ist die Fundamentalgruppe des maximalen

��� �

��

E B B E, −

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306 Liebe und Mathematik

Torus von G. Ist G die Kreisgruppe, dann ist ihr maximaler Torus die Kreisgruppe selbst, und jede dieser beiden Mengen steht in einer einein-deutigen Beziehung zu der Menge der ganzen Zahlen.

Kapitel 17. Enthüllung verborgener Beziehungen

1. Der Raum M( X,G) lässt sich auf verschiedene Weisen beschreiben; bei-spielsweise als der Lösungsraum eines Systems von Differentialgleichun-gen auf X, der zuerst von Hitchin untersucht wurde (siehe den Artikel in Anmerkung 19 unten für Einzelheiten). Für uns ist in diesem Kapitel eine Charakterisierung ganz hilfreich, wonach M( X,G) der Modulraum der Darstellungen der Fundamentalgruppe der Riemann’schen Fläche S in der Komplexifizierung der Gruppe G ist (siehe Anmerkung 10 zu Kap. 15). Das bedeutet, zu jedem Punkt von M( X,G) gehört eine solche Darstellung.

2. Siehe das Video von Hitchins Vortrag am Fields Institute http://www.fields.utoronto.ca/video-archive/2012/10/108-690.

3. Ich beziehe mich hier auf die neuere Arbeit von Ngô Bao Châu über den Beweis des „Fundamentalsatzes“ des Langlands-Programms. Siehe z. B. den folgenden Übersichtsartikel: David Nadler, The geometric nature of the fundamental lemma, Bulletin of the American Mathematical Society, Bd. 49, 2012, S. 1–50.

4. Im Sigma-Modell werden physikalische Größen berechnet, indem man über alle Abbildungen von einer festen Riemann’schen Fläche Σ in die Zielmannigfaltigkeit S summiert. In der Stringtheorie gehen wir noch einen Schritt weiter: Außer der Summation über alle Abbildungen von einem festen Σ nach S, wie im Sigma-Modell, summieren wir auch noch über alle möglichen Riemann’schen Flächen Σ (die Zielmannigfaltigkeit S bleibt unverändert – sie ist unsere Raumzeit). Insbesondere summieren wir über Riemann’sche Flächen mit einem beliebigen Geschlecht.

5. Mehr über Superstringtheorie erfährt man z. B. in den Büchern von Brian Greene: Das elegante Universum: Superstrings, verborgene Dimensionen und die Suche nach der Weltformel, Goldmann Verlag, 2005; Der Stoff, aus dem der Kosmos ist: Raum, Zeit und die Beschaffenheit der Wirklichkeit, Gold-mann TB, 2008.

6. Mehr über Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten und ihre Bedeutung für Super-stringtheorien findet man in dem Buch von Shing-Tung Yau und Steve Nadis, The Shape of Inner Space, Basic Books, 2010, Kap. 6.

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Anmerkungen 307

7. Ein Torus besitzt noch zwei kontinuierliche Parameter: im Wesentlichen die Radien R1 und R2, die wir in diesem Kapitel diskutieren. Für den Au-genblick lassen wir sie jedoch unberücksichtigt.

8. Ein Ausweg, der in jüngerer Zeit heftig diskutiert wurde, besteht darin, dass zu jeder dieser Mannigfaltigkeiten ein eigenes Universum mit seinen eigenen physikalischen Gesetzen gehört. Diese Idee wird dann mit einer Form des anthropischen Prinzips verknüpft: Unser Universum ist unter all diesen Universen ausgezeichnet, weil seine physikalischen Gesetze die Entwicklung von intelligentem Leben zulassen (sodass die Frage „Wes-halb ist unser Universum gerade so, wie es ist?“ überhaupt gestellt werden kann). Diese Überlegungen, die auch unter den Bezeichnungen „String-theorie-Landschaft“ oder „Multiversen“ bekannt sind, treffen jedoch auf sehr viel Skepsis, sowohl aus physikalischen als auch philosophischen Gründen.

9. Es konnten viele interessante Eigenschaften von Quantenfeldtheorien in verschiedenen Dimensionen entdeckt bzw. erklärt werden, indem man sie mit Superstringtheorien in Beziehung setzte und dimensionale Reduktion vornahm oder die Branen untersuchte. In gewisser Hinsicht wurde die Superstringtheorie zu einer Fabrik zur Konstruktion und Untersuchung von Quantenfeldtheorien (meist supersymmetrischen). Auf diese Weise erhielt man zum Beispiel eine wunderbare Interpretation der elektromag-netischen Dualität von vierdimensionalen Eichtheorien. Obwohl wir also immer noch nicht wissen, ob die Superstringtheorie die Physik unseres Universums beschreiben kann (und wir die Superstringtheorie auch im-mer noch nicht vollständig verstanden haben), führte sie zu vielen wich-tigen Erkenntnissen in der Quantenfeldtheorie. Außerdem hat sie zu un-zähligen mathematischen Fortschritten geführt.

10. Die Dimension des Modulraumes M( X,G) von Hitchin ist gleich dem Produkt aus der Dimension der Gruppe G (lG hat dieselbe Dimension) und ( g −1), wobei g das Geschlecht der Riemann’schen Fläche X ist.

11. Mehr über Branen erfährt man in dem Buch von Lisa Randall, Warped Passages: Unraveling the Mysteries of the Universe’s Hidden Dimensions, Har-per Perennial, 2006; besonders in Kapitel IV.

12. Genauer handelt es sich bei den A-Branen auf M( X,G) um Objekte einer Kategorie (vgl. Kap. 14). Die B-Branen aus M( X,G) sind Objekte einer anderen Kategorie. Die homologische Spiegelsymmetrie behauptet, dass diese beiden Kategorien äquivalent zueinander sind.

13. Anton Kapustin und Edward Witten, Electric-magnetic duality and the geometric Langlands Program, Communications in Number Theory and Physics, Bd. 1, 2007, S. 1–236.

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308 Liebe und Mathematik

14. Mehr über T-Dualität findet man z. B. in Kap. 7 des Buchs von Yau und Nadis aus Anmerkung 6.

15. Mehr über die SYZ-Vermutung findet man z. B. in Kap. 7 des Buchs von Yau und Nadis aus Anmerkung 6.

16. Genauer ist jede Faser das Produkt aus n Kreisen, wobei n eine gerade na-türliche Zahl ist. Also handelt es sich um ein n-dimensionales Analogon eines zweidimensionalen Torus. Man beachte auch, dass die Dimension des Basisraumes der Hitchin-Faserung und die Dimension der torusarti-gen Fasern immer gleich sind.

17. In Kap. 15 haben wir eine andere Konstruktion behandelt, bei der man die automorphen Garben aus Darstellungen von Kac-Moody-Algebren erhält. Man vermutet, dass die beiden Konstruktionen zusammenhängen, doch derzeit ist diese Beziehung noch nicht bekannt.

18. Edward Frenkel und Edward Witten, Geometric endoscopy and mirror sym-metry, Communications in Number Theory and Physics, Bd. 2, 2008, S. 113–283. Online verfügbar unter: http://arxiv.org/pdf/0710.5939.pdf.

19. Edward Frenkel, Gauge theory and Langlands duality, Astérisque, Bd. 332, 2010, S.  369–403. Online verfügbar unter: http://arxiv.org/pdf/0906.2747.pdf.

20. Henry David Thoreau, A Week on the Concord and Merrimack Rivers, Pen-guin Classics, 1998, S. 291.

Kapitel 18. Auf der Suche nach der Formel der Liebe

1. C. P. Snow, The Two Cultures, Cambridge University Press, 1998. 2. Thomas Farber und Edward Frenkel, The Two-Body Problem, Andrea

Young Arts, 2012. Siehe http://thetwobodyproblem.com/ zu Einzelhei-ten.

3. Michael Harris, Further investigations of the mind-body problem, ein Ka-pitel aus einem demnächst erscheinenden Buch, online verfügbar unter: http://www.math.jussieu.fr/~harris/MindBody.pdf.

4. Henry David Thoreau, A Week on the Concord and Merrimack Rivers, Pen-guin Classics, 1998, S. 291.

5. E.T. Bell, Men of Mathematics, Touchstone, 1986, S. 16. (Übersetzung von http://mathematics-in-europe.eu/sv/hem/11-frontpage/citiations/802-the-quotation-of-the-day-27.)

6. Robert Langlands, Is there beauty in mathematical theories?, in The Many Faces of Beauty, Hrsg. Vittorio Hösle, University of Notre Dame Press,

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Anmerkungen 309

2013. Online verfügbar unter: http://publications.ias.edu/sites/default/files/ND.pdf.

7. Juri I. Manin, Mathematics as Metaphor: Selected Essays, American Mathe-matical Society, 2007, S. 4.

8. In der Philosophie wird seit Jahrhunderten über die Ontologie der Ma-thematik debattiert. Meinen Standpunkt, den ich in diesem Buch ver-trete, bezeichnet man gewöhnlich als mathematischen Platonismus. Man beachte jedoch, dass es unterschiedliche Formen von Platonismus gibt und dass es auch andere philosophische Interpretationen der Mathema-tik gibt. Siehe beispielsweise Mark Balaguer, Mathematical Platonism, in Proof and Other Dilemmas: Mathematics and Philosophy, Bonnie Gold und Roger Simons (Hrsg.), Mathematics Association of America, S. 179–204, sowie die dort angegebenen Referenzen.

9. Roger Penrose, The Road to Reality, Vintage Books, 2004, S. 15; ( Der Weg zur Wirklichkeit; Spektrum Akademischer Verlag, S. 24.)

10. Ebenda., S. 13–14. (ebenda S.21).11. Kurt Gödel, Collected Works, Band III, Oxford University Press, 1995,

S. 320.12. Ebenda, S. 323.13. Roger Penrose, Shadows of the Mind, Oxford University Press, 1994,

Abschn. 8.47 ( Schatten des Geistes; Spektrum Akad. Verlag, 1995).14. In seiner Grundsatzentscheidung Gottschalk v. Benson, 409 U.S.  63

(1972), stellt der Oberste Gerichtshof der USA fest (mit Bezug auf frühe-re Fälle): „Eine wissenschaftliche Wahrheit oder der mathematische Ausdruck einer solchen ist keine patentierbare Erfindung…. Ein abstraktes Prinzip ist eine fundamentale Wahrheit, eine ursprüngliche Angelegenheit, ein Motiv; diese lassen sich nicht patentieren, da niemand in keinem der Fälle ein aus-schließliches Anrecht geltend machen kann…. Wer ein bisher unbekanntes Naturphänomen entdeckt, besitzt kein Anrecht auf ein Monopol dieses Phä-nomens, das vom Gesetz anerkannt wird.“

15. Edward Frenkel, Andrei Losew und Nikita Nekrassow, Instantons beyond topological theory I, Journal of the Institute of Mathematics of Jussieu, Bd. 10, 2011, 463–565; in dem Artikel gibt es eine Fußnote, dass Gl. (5.7) die „Formel der Liebe“ in dem Film Rites of Love and Math spielt.

16. Wir betrachten das supersymmetrische quantenmechanische Modell auf der Kugeloberfläche (hier mit ℙ1 bezeichnet) und die Korrelationsfunk-tion von zwei Observablen F und ω. Diese Korrelationsfunktion ist in unserer Theorie als das Integral auf der linken Seite der Gleichung defi-niert. Unsere Theorie erlaubt aber noch eine andere Darstellung dieser Funktion: als Summe über „Zwischenzustände“ auf der rechten Seite der

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310 Liebe und Mathematik

Gleichung. Wenn unsere Theorie widerspruchsfrei ist, müssen die beiden Seiten gleich sein. Und genau das ist der Fall; das besagt die Formel.

17. Le Monde Magazine, 10. April 2010, S. 64.18. Laura Spinney, Erotic equations: Love meets mathematics on film, New Scien-

tist, 13. April 2010, online verfügbar aus http://ritesofloveandmath.com.19. Hervé Lehning, La dualité entre l’amour et les maths, Tangente Sup, Bd.

55, Mai–Juni 2010, S. 6–8, online verfügbar unter: http://ritesofloveand-math.com.

20. Wir verwendeten das Gedicht To the Many von Anna Achmatowa, einer großartigen russischen Dichterin der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahr-hunderts.

21. Norma Faber, A Desperate Thing, The Plowshare Press Incorporated, 1973, S. 21.

22. Einsteins Brief an Phyllis Wright vom 24. Januar 1936; zitiert in Walter Isaacson, Einstein: His Life and Universe, Simon & Schuster, 2007, S. 388.

23. David Brewster, Memoirs of the Life, Writings, and Discoveries of Sir Isaac Newton, Bd. 2, Adamant Media Corporation, 2001 (Nachdruck einer Ausgabe von 1855 von Thomas Constable und Co.), S. 407.

Nachwort

1. Edward Frenkel, Robert Langlands und Ngô Bao Châu, Formule des Tra-ces et Fonctorialité: le Début d’un Programme, Annales des Sciences Mathé-matiques du Québec 34, 2010, 199–243, online verfügbar unter: http://arxiv.org/pdf/1003.4578.pdfEdward Frenkel, Langlands Program, trace formulas, and their geometri-zation, Bulletin of AMS, Bd. 50, 2013, 1–55, online verfügbar unter: http://arxiv.org/pdf/1202.2110.pdf

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Sachverzeichnis

Symbole3D-Druck 16

AAbbildung 249Abbildung, harmonische 214Abel, N. H. 269A-Bran 220, 222, 223, 225, 226, 227,

228, 230Achmatowa, A. 310achtfacher Weg 4Algebra 72Analyse, harmonische 75, 251anthropisches Prinzip 307Assoziativität 258Asymmetrie 14Atiyah, M. 214, 255Atom 1, 243Atomkern 1, 203auflösbare Gruppe 72, 273automorphe Funktion 75, 89, 102, 105,

157, 164, 227, 249Avatar 101

BBasis 222B-Bran 220, 222, 223Bedeutung (Prinzip der Mathematik) 16Beilinson, A. 144, 150, 184, 185, 197Belawin, A. 156, 290Ben-Zvi, D. 197, 222Bernstein, J. 144, 148, 149, 171Beständigkeit (Prinzip der

Mathematik) 15

Betazerfall 203Betti-Zahl 48, 54, 265, 266Beweis durch Widerspruch 77, 267Bhagavad Gita 101Binasuan 301Bohr, N. 202Borschtsch 199, 202Boson 201Bott, R. 148, 255Bourbaki, N. 232Bran 219Breuil, C. 273Brink, L. 143

CCalabi, E. 219Calabi-Yau-Mannigfaltigkeit 219Cantor, G. 232Cauchy-Folge 279Châu, N. B. 256, 306Chern, S.-S. 255Churgin, J. I. 134, 135Cochran, D. 192Confinement 245Conred, B 273Cummings, E. E. 185

DDARPA 190, 192Darstellung 16, 249

automorphe 176, 301der Drehgruppe 259der Gruppe SU(3) 19

E. Frenkel, Liebe und Mathematik, DOI 10.1007/978-3-662-43421-5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

Page 323: Liebe und Mathematik ||

312 Liebe und Mathematik

n-dimensionale 18zweidimensionale 17

Darwin, C. 116Definition 261Defizit 82Deligne, P. 164, 195, 281Descartes, R. 15, 119, 280Diamond, F. 273Differenzialgleichung 178Dimension 17, 112, 114, 115, 122, 158,

162, 249, 287Dirac, P.A.M. 200Diskriminante 265, 270, 272DNA 47Down-Quarks 2, 19Drehwinkel 257Drinfeld, W. 57, 102, 104, 155, 156,

164, 171Dualität 188, 200, 206, 249

elektromagnetische 188, 197, 202, 207, 219, 305

in nicht-abelschen Eichtheorien 188Duchamp, M. 114Dwork, B. 281

EEichgruppe 188, 203, 249Eichler, M. 84Eichtheorie 188, 241, 249Einstein, A. 194, 204, 205, 242, 248Einstein, E. 20Elektron 202elliptische Kurve 280Entartung 228Erlanger Programm 258Euler-Formel 302Euler-Funktion 55, 266, 294Euler, L. 55

FFahnenmannigfaltigkeit 128, 291Farber, N. 248Farber, T. 235Faser 222, 230

Faserung 222, 250, 265Feigin, B. 125, 129, 151, 153, 194, 255Fermat, P. 52, 76, 266Fermat’scher Satz

großer 51, 53, 76, 88, 240, 250kleiner 161, 294

Fermion 201Feynman, R. 302Fibonacci-Zahl 82, 277Finnegans Wake 2Flavor-Gruppe 305Fourier-Transformation 223Frobenius-Symmetrie 162Fuchs, D. B. 39, 48, 56, 107, 125Fundamentalgruppe 102, 103, 180, 183,

250, 282, 302, 306des Torus 284einer Riemann’schen Fläche 284von SO(3) 301

Funktion 159, 163, 250automorphe 75, 89, 102, 105, 157,

164, 227, 249erzeugende 83harmonische 86rationale 281

GGaitsgory, D. 185Galois, É. 70, 247Galois-Gruppe 70, 72, 73, 88, 102, 103,

108, 157, 162, 250, 269, 270, 272, 286

ganze Zahl 45, 67, 250Garbe 104, 158, 160, 162, 163, 219,

250automorphe 164, 177, 221, 222,

226, 227, 249Gelfand, I. M. 56, 57, 58, 61, 64, 144Gelfand-Seminar 56, 59, 61Gell-Mann, M. 2, 16, 18, 19Geometrie 258Geschlecht (einer Riemann’schen

Fläche) 95, 266Giraud, O. 245

Page 324: Liebe und Mathematik ||

Sachverzeichnis 313

Gleichungkubische 72, 251, 272, 280quadratische 71, 269

Goddard, P. 193, 206Gödel, K. 194, 241Goldener Schnitt 277Gorbatschow, M. 144, 266Goresky, M. 195, 197Graves, R. 237Gravitation 203, 204Gross, D. 148, 232, 305Grothendieck, A. 161, 163, 232, 281Gruppe 11, 41, 66, 108, 250, 261

abelsche 46, 188, 249auflösbare 72, 273Axiome 262der ganzen Zahlen 109, 263Drehungen der Kugeloberfläche 110endliche 108, 293Langlands-duale 184, 203, 206, 215nicht-abelsche 46, 252unendliche 109

HHadron 3, 18Hardy, G. H. 191harmonische Analyse 75, 251Harvard University 147Henderson, L. D. 115Hertz, H. 239Higgs-Boson 14, 201, 204Hintereinanderausführung, siehe auch

Verknüpfung 10, 12, 13, 70, 251Hironaka, H. 148Hitchin, N. 214Holton, G. 115Hyper-Kähler-Metrik 215Hypersphäre 117

IIdentitätstransformation 257, 259Iljaschenko, J. 266Instanton 214, 245Institute for Advanced Study 209

Invariante 87Ising-Modell 122

JJaffe, A. 144, 146Jessenin-Wolpin, A. 58Jobs, S. 240Joyce, J. 2

KKac-Moody-Algebra 121, 122, 123, 127,

184, 251, 290Kac, V. 121, 150, 165Kapustin, A. 221, 226Kasakow, W. 60Kategorie 159, 251Kategorifizierung 159Kazhdan, D. 148, 149Kernkraft 203

schwache 203starke 203

Kerosinka 35, 36Kirillow, A. 37Klein, F. 258Knoten 47Komplexifizierung 302komplexe Zahl 97, 98, 99, 100, 180,

251konforme Feldtheorie 290Kongruenzuntergruppe 277Konzewitsch, M. 220Koordinate 288Körper, endlicher 81, 161Korrelationsfunktion 219Korrespondenz 251Kreis 11, 13, 27, 29, 98, 100, 109, 111,

112, 117, 119, 159, 181, 211, 222, 251, 287

Kreisgruppe 12, 15, 16, 43, 109, 117, 120, 183, 188, 203, 223, 241, 251, 288, 302

Kreisscheibe 85Kreuzprodukt 121, 290Krümmung 116

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314 Liebe und Mathematik

kubische Gleichung 72, 251, 272, 280Kugeloberfläche 251Kurve über einem endlichen Körper 100,

162, 251

LLadung 202, 206Lagrange, J.-L. 269Lagrange, Satz von 293Langlands-Beziehung 252Langlands-duale Gruppe 252, 301Langlands-Programm 65, 75, 88, 93,

94, 102, 156, 164, 165, 176, 187, 188, 193, 209, 221, 228, 233, 256

Langlands, R. 66, 73, 194, 240, 255, 267

Large Hadron Collider (LHC) 14Laumon, G. 157, 164Lehning, H. 246Letterman, D. 149Lie-Algebra 119, 120, 121, 252, 288,

289, 290Lie-Gruppe 108, 203, 252

unendlich dimensionale 117Lie, S. 108Liftung 301lineare Transformation 259, 292Logunow, A. 165, 166, 167, 168Losew, A. 244

MMacPherson, R. 195Maldacena, J. 195Manin, J. I. 155, 214, 240Mann, B. 192, 209Mannigfaltigkeit 109, 159, 162, 210,

213Materie, dunkle 205Maxwell-Gleichungen 198, 204, 213,

304Maxwell, J. C. 198May, K. I. 245Mazur, B. 148Mekh-Math 21, 57

Menge 252Metrik 117Mills, R. 203Mishima, Y. 237, 242Modularitätssatz 274Modulform 85, 252, 278modulo N 12, 79, 80, 81, 83, 161, 292Modulraum 214, 215, 216, 224, 252,

306, 307Monodromie 181, 183, 286, 302, 303Monopol-Gleichung 214Monopol, magnetischer 201Montonen, C. 206Moody, R. 121Morphismus 159, 292Moskau Universität 21, 25, 28, 165Multiversen 307

Nnatürliche Zahl 67, 158, 252Ne’eman, J. 3, 16Nekrassow, N. 244Neutron 1, 2, 19, 203Newton, I. 248normiertes Polynom 263Nuyts, J. 206

OObjektivität (Prinzip der Mathema-

tik) 15Ogawa, Y. 303Olive, D. 206Onsager, L. 122Oper 184Orbifold-Singularität 228, 230orthogonale Transformation 286

PPauli, W. 3, 202Penrose, R. 240, 241Permutation 272Petrow, J. J. 4, 21Photon 198

Page 326: Liebe und Mathematik ||

Sachverzeichnis 315

Platonische Welt der Mathematik 240, 242

Platonismus 309Poincaré-Kreisscheibenmodell 278Politzer, D. 305Polstelle 281Polyakov, A. 290Polynom 252, 263, 265, 281

normiertes 263Polynomgleichung 71, 252Primzahl 80, 252, 274Prinzipalbündel 302projektiver Raum 291Proton 1, 19, 203

Qquadratische Gleichung 71, 269Quantenelektrodynamik 200Quantenfeldtheorie 198, 213, 245, 253Quark 1, 18, 19, 199, 245, 305

Charm, Top und Bottom 259

RRadikale 72rationale Funktion 281rationale Zahl 67, 267Raum, projektiver 291Reduktion, dimensionale 210, 218reelle Zahl 97, 279Relativitätstheorie, allgemeine 96, 116,

204Reschetichin, N. 147Ribet, K. 53, 76, 88, 277, 279Riemann, B. 116Riemann’sche Fläche 95, 103, 157, 176,

210, 211, 218Riemann’sche Geometrie 96Rites of Love and Math 239, 242, 246Ruffini, P. 269

SSatz (mathematischer) 261Saul, M. 35, 133Schapira, P. 237

Schewardnadse, E. 186Schleife 118, 216, 253, 287Schleifengruppe 118, 126, 288, 291

der Gruppe SO(3) 118Schleifenraum 118, 288Seiberg, N. 195Séminaire Bourbaki 232Serre, J.-P. 233Shen, A. 260Shimura, G. 90Shimura-Taniyama-Weil-Vermutung 53,

76, 78, 87, 88, 253, 273, 279Sigma-Modell 213, 214, 217, 219, 306

A- und B-Modell 220Sinus-Funktion 85Smirnow, F. 194Snow, C. P. 236SO(3) 110, 203, 253, 287, 290Sokolov, W. 155Solschenizyn, A. 33Spektralfolge 54speziell unitäre Transformation 301Spiegelsymmetrie 216, 219, 222, 224,

226, 228homologische 220, 307

Spin 199Strange-Quarks 19String 217Stringtheorie 118, 216, 306Stringtheorie-Landschaft 307Strominger, A. 226Strukturgruppe 302SU(2) 203SU(3) 5, 16, 18, 305Subbotowskaja, B. M. 40, 260Superstringtheorie 218, 219, 307Supersymmetrie 202, 205, 253Symmetrie 7, 9, 10, 11, 12, 41, 66, 69,

70, 253, 257eines Zahlensystems 268

Symmetriebrechung 14Symmetriegruppe 6, 16, 258

der Einheitsscheibe 85der reellen Zahlen 85

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316 Liebe und Mathematik

des Kreises 11einer Schneeflocke 13eines quadratischen Tischs 258eines Quadrats 9eines Schmetterlings 13, 230eines Vektorraums 292Identitätstransformation 9inverse Transformation 10

SYZ-Mechanismus 226, 228Szpiro, G. 28, 31

TTachyon 218Tangentialebene 288Tangentialraum 119Taniyama, Y. 90Tate, J. 148, 277Tätowierung 243Taylor, R. 78, 273T-Dualität 223Tether, A. 192Theorie 253

effektive 212vereinheitlichte 204

The Rite of Love and Death 237Thoreau, H. D. 234, 239Topologie 265Torus 219, 222, 307Transformation

lineare 259, 292orthogonale 286speziell unitäre 301

Tsygan, B. 147Turajew, W. 147

UÜberkreuzungszahl 264Überlappungszahl 45Universalität (Prinzip der

Mathematik) 14Up-Quarks 2, 19

Vvan Gogh, V. 2Vektor 289Vektorfeld 212Vektorraum 120, 158, 159, 253, 288,

289, 292Verflechtung 47Verknüpfung, siehe auch

Hintereinanderausführung 10, 259

von Zöpfen 42Vermutung, mathematische 76Vilonen, K. 190Virasoro-Algebra 122von Neumann, J. 194

WWahrheit 242Wakimoto, M. 123, 126Wartschenko, A. N. 39Weil, A. 73, 91, 93, 101, 194, 232Weil, S. 93Weil-Vermutung 281Weltfläche 217Wess-Zumino-Witten-Modell 290Wigner, E. 205Wilczek, F. 305Wiles, A. 53, 78Wilson, R. 191Windungszahl 180, 303Winogradow, W. N. 35, 141Witten, E. 189, 193, 194, 196, 209,

221, 226, 231, 255

YYang, C. N. 203, 205Yang-Mills-Eichtheorie 203, 205Yau, S.-T. 148, 219, 226

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Sachverzeichnis 317

ZZagier, D. 60Zahlen

ganze 45, 67, 250komplexe 97, 98, 99, 100, 180, 251natürliche 67, 158, 252p-adische 6rationale 6, 267reelle 97, 279

Zahlenkörper 70, 250, 253endlicher 100

Zamolodchikov, A. 290

Zaslow, E. 226Zerfällungskörper 271Zopfgruppe 41, 43, 47, 103, 109, 263,

282Identität 260Identitätselement 43inverses Element 44Kommutator-Untergruppe 48, 265zweisträngige 45, 263

Zweig, G. 18Zwei-Körper-Problem 236