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2 EINS EINUNDZWANZIG SCHWEIGENDE, auf türkisfarbenen Stühlen thro- nende Erstklässler waren aufmerksam und ohne zu zappeln bei der Sache, als ihre Lehrerin, Mrs Fredericks, der Klasse die neue Schülerin vorstellte und diese herzlich begrüßte. Mrs Fredericks hatte schützend ihren Arm um die Schultern des Mädchens ge- legt und unterhielt sich flüsternd mit dessen Mutter. Es war der erste Schultag nach den Weihnachtsferien, und es hingen im- mer noch selbstgebastelte Weihnachtsgirlanden am Kopfende des Klassenzimmers, wo die Lehrerin, die neue Schülerin und deren Mutter standen. Hinter den gekippten Fenstern tauchte die Morgensonne von San Diego, Kalifornien, alles in warmes Licht, und man konnte bereits ahnen, dass es schnell wärmer werden und gegen Mittag dann richtig heiß sein würde, denn es war weit und breit kein Wölkchen am Himmel zu sehen. „Wir freuen uns sehr darüber, dass du in unsere Klasse kommst“, sagte Mrs Fredericks und einundzwanzig Augen- paare verfolgten alles aufmerksam: den um die Schultern der Neuen gelegten Arm – eine Geste der Lehrerin, die ihnen allen vertraut war –, ihr sanfter, weicher Tonfall, die langen, gold- blonden Zöpfe des Mädchens, die ihr über die Schultern auf den Rücken fielen, und der Blick ihrer ruhigen blauen Augen, der ohne eine Spur von Sorge oder irgendwelche Befürchtungen durch den Raum schweifte. Es war diese völlig entspannte Hal- tung des Mädchens, angesichts derer die anderen Schüler fast ein wenig ehrfürchtig schwiegen. Es schien sich absolut wohl und entspannt zu fühlen. Nur Augenblicke zuvor hatte Mrs Fredericks die Klasse er- mahnt, „der neuen Mitschülerin zu zeigen, wie leise ihr sein könnt“, so als würde das besonders großen Eindruck auf die Neue machen. Allerdings schien das Mädchen von den schwei- gend auf sie gerichteten Blicken relativ unbeeindruckt. Megan Diamond, die auf dem äußeren Sitzplatz an Tisch drei saß, fiel es kein bisschen schwer, still zu sein. „Sie ist un-

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Die schüchterne Megan ist sieben, als sie die gleichaltrige, selbstbewusste Jen kennenlernt. Von da an ist alles anders. Megan beginnt mit Jens Hilfe, ihre Hemmungen zu überwinden und sich zu entfalten. Die beiden Mädchen sind unzertrennlich - doch dann geschieht etwas Schreckliches: Jen wird vor Megans Augen entführt und bleibt spurlos verschwunden. Megan braucht Jahre, um dieses dramatische Ereignis zu verarbeiten. Nur ganz langsam gelingt es ihr, wieder neuen Lebensmut zu fassen und sich anderen Menschen zu öffnen. Doch dann erhält sie einen Anruf von einer jungen Frau, die behauptet, die vor 15 Jahren entführte Jen zu sein ... Eindrücklich führt dieser wunderbare Roman Gottes Fähigkeit vor Augen, alle Dinge zum Besten zu wenden.

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EINS

EINUNDZWANZIG SCHWEIGENDE, auf türkisfarbenen Stühlen thro-nende Erstklässler waren aufmerksam und ohne zu zappeln bei der Sache, als ihre Lehrerin, Mrs Fredericks, der Klasse die neue Schülerin vorstellte und diese herzlich begrüßte. Mrs Fredericks hatte schützend ihren Arm um die Schultern des Mädchens ge-legt und unterhielt sich flüsternd mit dessen Mutter. Es war der erste Schultag nach den Weihnachtsferien, und es hingen im-mer noch selbstgebastelte Weihnachtsgirlanden am Kopfende des Klassenzimmers, wo die Lehrerin, die neue Schülerin und deren Mutter standen. Hinter den gekippten Fenstern tauchte die Morgensonne von San Diego, Kalifornien, alles in warmes Licht, und man konnte bereits ahnen, dass es schnell wärmer werden und gegen Mittag dann richtig heiß sein würde, denn es war weit und breit kein Wölkchen am Himmel zu sehen.

„Wir freuen uns sehr darüber, dass du in unsere Klasse kommst“, sagte Mrs Fredericks und einundzwanzig Augen-paare verfolgten alles aufmerksam: den um die Schultern der Neuen gelegten Arm – eine Geste der Lehrerin, die ihnen allen vertraut war –, ihr sanfter, weicher Tonfall, die langen, gold-blonden Zöpfe des Mädchens, die ihr über die Schultern auf den Rücken fielen, und der Blick ihrer ruhigen blauen Augen, der ohne eine Spur von Sorge oder irgendwelche Befürchtungen durch den Raum schweifte. Es war diese völlig entspannte Hal-tung des Mädchens, angesichts derer die anderen Schüler fast ein wenig ehrfürchtig schwiegen. Es schien sich absolut wohl und entspannt zu fühlen.

Nur Augenblicke zuvor hatte Mrs Fredericks die Klasse er-mahnt, „der neuen Mitschülerin zu zeigen, wie leise ihr sein könnt“, so als würde das besonders großen Eindruck auf die Neue machen. Allerdings schien das Mädchen von den schwei-gend auf sie gerichteten Blicken relativ unbeeindruckt.

Megan Diamond, die auf dem äußeren Sitzplatz an Tisch drei saß, fiel es kein bisschen schwer, still zu sein. „Sie ist un-

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sere kleine Stille“, pflegte ihre Mutter immer zu sagen, wenn jemand Megan ansprach und diese dann nur mit einem Kopfni-cken reagierte. Es war einfach nicht Megans Art, im Unterricht unaufgefordert zu sprechen, und genau das gehörte zu den Dingen, die sie an sich selbst am allerwenigsten mochte. Und absolut nicht leiden konnte sie es, wenn man sie als schüchtern bezeichnete.

Wie alle anderen Kinder in der Klasse, so sah auch Megan das neue Mädchen an, allerdings ohne dabei den Wunsch zu verspüren, mit ihrer Banknachbarin darüber zu flüstern. In-stinktiv wusste sie, dass sie das neue Mädchen so lange anstar-ren konnte, wie sie wollte, dieses würde es doch nicht merken, denn so war Megans Leben – still, anonym, unsichtbar. Mit ih-ren sieben Jahren war ihr dieser Wesenszug gar nicht bewusst. Sie wusste nicht, dass ihre Eltern – und jetzt auch ihre Lehrerin – sich Gedanken über Megans eher scheue, stille Art machten und darüber, dass sie offenbar nicht in der Lage war, selbst die Initiative zu ergreifen, um Freundschaften zu schließen. Sie wusste nicht, dass ihre Erzieherin im Kindergarten sie als „fügsam, aber in sich gekehrt“ beschrieben hatte oder dass Mrs Fredericks jeden Tag wieder nach kleinen Gelegenheiten suchte, Megan irgendwie zu intensiverem Kontakt und Umgang mit ihren Klassenkameradinnen zu animieren. Megan wusste nur, dass fast alles, was sie in der Klasse tat, unbemerkt blieb. Und so starrte sie auch jetzt das neue Mädchen von ihrem Platz aus nur an.

Megan nahm den tiefgoldenen Schimmer der Zöpfe des Mädchens wahr, die winzigen Perlenohrstecker, die Jeans, die am Saum mit einer roten Borte eingefasst waren, und die glatten, sommersprossenlosen Wangen des ihr vollkommen erscheinenden Gesichtes. Unbewusst fasste sich Megan an die eigenen Wangen, als wollte sie mit einer kleinen Bewegung ein paar ihrer verhassten Sommersprossen wegschnipsen. Doch dabei war sie sich gleichzeitig bewusst und auch wieder nicht bewusst, dass diese trotzdem bleiben würden.

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Aber dann geschah etwas Erstaunliches. Das neue Mädchen sah ihr direkt in die Augen, und zum ersten Mal seit langer, lan-ger Zeit fühlte sich Megan nicht unsichtbar, sondern enttarnt. Es war ein Gefühl, das ihr Angst machte, aber gleichzeitig war es auch schön. Das Mädchen hatte sie bemerkt. Sie war ge-sehen, entdeckt worden. Dann verzog das neue Mädchen die Mundwinkel zu einem kaum wahrnehmbaren Lächeln, aber Megan sah es trotzdem. Das neue Mädchen lächelte sie an.

Megan erwiderte das Lächeln, indem auch sie ihre Mund-winkel ein ganz klein wenig hochzog.

Es war ein winziger Augenblick von Gemeinsamkeit, der viel zu schnell vorüberging. Die Mutter des neuen Mädchens drückte ihre Tochter noch einmal kurz und verließ dann den Klassenraum. Mrs Fredericks schloss die Tür hinter ihr und führte das Mädchen in den Klassenraum.

„Kinder, das ist Jennifer Lovett“, sagte Mrs Fredericks. „Sie möchte gern Jen genannt werden. Könnt ihr sie bitte begrü-ßen?“

Im Chor kam die geforderte Begrüßung. Als Megan zum ers-ten Mal den Namen Jen sagte, fühlte sie sich auf seltsame Weise zu diesem neuen Wort, seinem beinahe poetisch anmutenden Klang und seiner wunderschönen Besitzerin hingezogen. Sie verfolgte, wie Jen sich an einem anderen Tisch einen Platz aussuchte. Nachdem diese sich an Tisch zwei gesetzt hatte, schaute sie noch einmal zu Megan hinüber, so als wollte sie ihr noch einmal versichern, dass sie sie wirklich bemerkt hatte. Dann forderte Mrs Fredericks die Schüler auf, einer nach dem anderen aufzustehen und sich Jen mit Vor- und Nachnamen vorzustellen, und zwar beginnend mit Tisch eins.

Als Megan an der Reihe war, aufstand und ihren Namen flüsterte, fingen die Jungen an ihrem Tisch an zu kichern und eines der Mädchen meinte: „Sag’s noch mal. Ich hab dich nicht verstanden!“

„Ich habe sie verstanden“, sagte Jen daraufhin zur Überra-schung aller. „Sie heißt Megan Diamond.“

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An diesem Morgen hatte Megan große Mühe, sich darauf zu konzentrieren, einigermaßen annehmbare Ws hinzubekom-men, und später ließ sie auch noch die bunten Perlen fallen, mit denen sie beim Auffädeln ein Muster bilden sollte. Ständig musste sie zu dem neuen Mädchen hinüberschauen, und sie fragte sich, wieso um alles in der Welt Jen sie wohl angelächelt hatte. Hatte sie sie nur ärgern wollen? Oder wollte sie einfach nur nett sein? Endlich war Vorlesezeit, und Mrs Fredericks wies die Schüler an, sich in den Vorlesekreis auf die bunten Qua-drate des Teppichs zu setzen.

Megan ging in den Kreis und setzte sich auf ein graues Qua-drat, das sonst niemand haben wollte. Auf diese Weise war sie jedenfalls nicht gezwungen, ihren Platz gegen irgendjemanden verteidigen zu müssen. Zwei wuselige Jungen ließen sich links und rechts von ihr nieder, ohne sie überhaupt zu bemerken. Megan zog ihre Beine näher an den Körper und wagte nicht, die beiden anzusehen, wünschte sich aber gleichzeitig nichts sehnlicher, als dass sie sich wieder verziehen und sich einen anderen Platz suchen würden. Plötzlich stand Jen neben dem Jungen rechts von ihr.

„Ich sitze neben Megan“, sagte sie ebenso direkt wie selbst-sicher zu ihm.

Der Junge, dem kaum bewusst gewesen war, dass er sich neben ein Mädchen gesetzt hatte, warf einen raschen Blick auf Megan und verzog sich dann auf der Stelle wortlos. Jen ließ sich auf dem freien lilafarbenen Quadrat neben Megan nieder.

„Guck mal!“, sagte Jen und deutete auf ihre Knöchel, wäh-rend sie die Beine zum Schneidersitz kreuzte. „Wir haben die gleichen Söckchen an!“

Megan, die über das gerade Geschehene so verblüfft war, dass sie immer noch wie versteinert dasaß, schaute schweigend auf ihre Füße hinunter. Es stimmte. Sie und Jen hatten die glei-chen weißen Söckchen an, mit kleinen Rosenknospen darauf

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und einer Spitzenkante. Megan konnte kaum glauben, dass Jen das bemerkt hatte, wo doch nicht einmal sie selbst es gesehen hatte.

„Meine sind von ,Penney’s‘“, sagte Jen leise, so als enthüllte sie damit ein wundervolles Geheimnis.

„Meine auch“, entgegnete Megan flüsternd. „Hast du ’ne Katze?“, fuhr Jen fort, als wäre es absolut lo-

gisch, dass diese Frage jetzt an der Reihe war. Megan merkte, wie sehr Jen sich wünschte, dass sie wirklich eine Katze hätte. Sie konnte kaum das Lächeln zurückhalten, das sich auf ihrem Gesicht ausbreitete.

„Ja, wir haben eine Katze. Sie heißt Pippin und ist orange.“ Diese drei Sätze kamen wie eine Einladung zum Staunen aus Megans Mund.

„Mann, hast du ein Glück“, sagte Jen daraufhin. „Wir kön-nen keine Katze haben, weil mein Bruder Nallergie hat.“

Megan hätte Jen zu gern gefragt, was „Nallergie“ sei, aber genau an diesem Punkt endete ihre Unterhaltung, weil Mrs Fredericks ihren Platz im Vorlesekreis einnahm und den Zeige-finger auf die Lippen legte.

Megan konnte sich nicht auf die Geschichte konzentrieren, die Mrs Fredericks vorlas, und auch auf sonst nichts, das an diesem Tag in der Klasse passierte. Jens Worte schossen ihr im-mer wieder durch den Kopf:

Mann, hast du ’n Glück. Mann, hast du ’n Glück.

Trina Diamond war es nicht gewohnt, dass ihre älteste Tochter viel aus der Schule, über Freundinnen oder über sonst irgendet-was erzählte, deshalb kam es ihr ein wenig merkwürdig vor, als Megan am ersten Schultag nach den Weihnachtsferien mittags nach Hause kam und vor Neuigkeiten geradezu übersprudelte. Trina hörte ihr ebenso aufmerksam wie erstaunt zu. Das sah ihrer Tochter gar nicht ähnlich.

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Megan hatte schon immer zu den Stillen, Zurückhaltenden und eher Misstrauischen gehört, und Trina war zu dem Schluss gelangt, dass diese Eigenschaften eigentlich gar nicht so schlecht waren, denn sie boten ihrer Tochter auch ein gewisses Maß an Schutz und Sicherheit. Megan sprach schon kaum mit Erwach-senen, die sie gut kannte, geschweige denn mit Fremden! Trinas dreijährige Tochter Michelle dagegen war ein ausgesprochenes Plappermäulchen. Manchmal machte sich Trina zwar Gedan-ken darüber, dass Megan so scheu und in sich gekehrt war, aber es war nicht so schlimm, dass sie sich deshalb übermäßig Sorgen machte. Megan war ja erst sieben, und Trina war sich ganz sicher, dass ihre Große sich schon irgendwann aus ihrem Schneckenhaus herauswagen würde. Und wenn nicht, dann war das auch in Ordnung. Schüchternheit war ja schließlich nichts Schlimmes oder etwas, wofür man sich schämen müsste.

Trina hatte gehofft, dass ihre stille Tochter durch die Zeit, die sie in der Schule mit anderen verbrachte, ein bisschen mehr aus sich herausgehen würde, aber als das jetzt offenbar wirk-lich der Fall zu sein schien, bereitete es ihr eher Unbehagen als Erleichterung.

Von dem Augenblick an, als Megan nach der Schule zu Trina ins Auto stieg, bis zu dem Augenblick, als Trina ihr zu Hause in der Küche eine Kleinigkeit zu Essen vorsetzte, hatte Megans Mund nicht stillgestanden. An diesem Tag hatte die Schule rich-tig Spaß gemacht. Es war ein neues Mädchen in der Klasse, das Jen hieß. Sie und Jen waren jetzt Freundinnen. Beim Vorlesen hatte Jen neben ihr gesessen. In der Pause hatten sie zusammen gespielt. Jen hatte sie beim Schaukeln angeschubst und danach dann sie Jen. In der Malstunde hatten sie Katzen gezeichnet. Guck mal, das hier ist Pippin. Und die hier hat Jen gezeichnet. Sie können keine Katze haben. Kann Jen heute Nachmittag zum Spielen zu uns kommen?

Megan, die auf einem Hocker an der Küchentheke saß und rohe Möhrenstifte und ein Butterbrot aß, wartete auf eine Ant-wort.

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„Und wer ist dieses Mädchen?“, fragte Trina, die von der Begeisterung ihrer Tochter völlig überrascht war.

„Sie ist das neue Mädchen in der Klasse“, wiederholte Megan noch einmal.

„Ja, aber ich meine, wo wohnt sie und wo hat sie gewohnt, bevor sie mit ihrer Familie hierher gezogen ist?“

„Sie hat in Los Angeles gewohnt“, sagte Megan, offenbar stolz darauf, dass sie so viel wusste. „Sie wohnt jetzt auf der anderen Seite der Schlucht. Da hinten in der Richtung.“ Megan deutete vage in westliche Richtung, dorthin, wo ein mit Ge-büsch und Gestrüpp zugewucherter Canyon ihr Wohngebiet von einem anderen trennte, das ebenfalls direkt an die Schlucht grenzte. Die beiden Wohngebiete lagen Luftlinie keine 500 Me-ter voneinander entfernt, aber die Schlucht war in ihrer Länge fast doppelt so lang. Es war eine richtige Wildnis, und es gab Gerüchte, dass es dort Klapperschlangen, Skorpione und sogar Schwarze Witwen gäbe. Auf jeden Fall war es Megan und ihrer Schwester strengstens verboten, dort zu spielen. „Und? Darf sie kommen?“, erkundigte Megan sich noch ein-mal und steckte sich das letzte Stück Möhre in den Mund.

Innerlich schalt Trina sich selbst, weil sie so übervorsichtig war. Auf genau so etwas hatten ihr Mann Gordon und sie doch gehofft. Wenn sie zu zweit für die Kinder beteten, dann ver-säumten sie es nie, auch um eine Spielgefährtin für ihre stille Älteste zu bitten. Als sie sich das noch einmal in Erinnerung rief, begriff Trina plötzlich, weshalb sie Vorbehalte hatte: Sie wusste absolut nichts über Jen und ihre Familie. Megan hatte so wenige Freunde, ja eigentlich gar keine, und deshalb war es wirklich von großer Bedeutung, was für eine Art von Freundin diese Jen werden würde.

Trina hasste den Gedanken, dass nur Mädchen, die auch aus einer christlichen Familie wie der ihren stammten, passende Spielkameradinnen für Megan sein sollten. Sie hielt dies nicht gerade für eine offene, großzügige Einstellung gegenüber den Mädchen aus Megans Klasse, besonders dieser einen gegen-

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über, die Trina noch nicht einmal kennengelernt hatte. Aber irgendwie ging ihr auch nicht aus dem Kopf, wie verletzlich Megan durch ihre Schüchternheit war. Es war eine Verletz-lichkeit, die selbstsichere Kinder so nicht hatten. Megan wäre zweifellos in jeder zwischenmenschlichen Beziehung der loyale und gehorsame Teil. Für sie war es deshalb möglicherweise verhängnisvoller, eine falsche Spielgefährtin zu haben als gar keine. In diesem Augenblick entschied Trina, dass sie deshalb in dieser Hinsicht auf jeden Fall wachsam bleiben würde. Daher formulierte sie ihre nächste Frage auch sehr behutsam, ohne Megan einen Hinweis auf ihre wahren Gedanken zu geben.

„Also, wir könnten doch irgendwann ihre Mutter anrufen und dann beide zu uns einladen, damit ihre Mutter uns auch kennenlernen kann, oder?“

„Ich habe ihre Telefonnummer“, sagte Megan und leckte sich noch einen Rest Butter vom Zeigefinger. „Sie hat sie mir gegeben und ich habe ihr auch meine gegeben.“

Trina war von dem rasanten Tempo dieser ganzen Geschichte alles andere als begeistert. Sie brauchte Zeit zum Überlegen. Sie wollte erst mit Gordon über alles reden. Aus Michelles Zimmer war Gequengel zu hören, obwohl sie jetzt eigentlich ihren Mit-tagschlaf halten sollte.

„Vielleicht sollten wir ihnen noch ein bisschen Zeit lassen, um sich einzurichten und sich ein bisschen hier einzuleben, bevor wir sie anrufen“, entschied Trina und stand auf. Sie war fast dankbar für die Unterbrechung durch Michelle.

„Was bedeutet denn ,einrichten‘?“, erwiderte Megan. „Also, wenn sie von Los Angeles hierher gezogen sind, mein

Schatz, dann müssen sie doch sicher noch ganz viel auspacken und einräumen. Wir können sie in ein paar Tagen anrufen, ja?“

Trina machte sich auf den Weg zu Michelles Zimmer, noch bevor Megan darauf etwas entgegnen konnte. In dem Augen-blick klingelte das Telefon.

„Ich geh ran“, rief Megan und sprang vom Hocker, um nach dem Hörer zu greifen. Trina konnte sich nicht erinnern, wann

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Megan das letzte Mal freiwillig ans Telefon gegangen war. Michelle quengelte inzwischen lauter. Trina ging hinüber, um nach ihr zu schauen. Als sie den Korridor entlangging, hörte sie noch, wie Megan sich meldete: „Hallo, Jen!“

Trina folgte dem Geräusch des Quengelns, aber in Gedanken war sie ganz woanders als bei der Weigerung ihrer Jüngsten, ihren Mittagschlaf zu halten.

„Was ist denn los, Michelle?“, fragte sie, als sie das Zimmer ihrer kleinen Tochter erreicht und die Tür geöffnet hatte.

„Ich bin nicht müde!“, jammerte die Dreijährige. Michelle lag verkehrt herum im Bett und stemmte ihre nackten Füße gegen das Kopfende des Bettchens. Überall, auf dem Fußboden und auch im Bettchen, lagen Bilderbücher verstreut.

Trina seufzte. Sie hörte, wie Megan im Hintergrund sagte: „Ich frag sie mal!“, und damit war klar, dass aus Michelles Mit-tagschlaf jetzt nichts mehr werden würde. Es blieb auch keine Zeit mehr, die ganze Sache in Ruhe mit Gordon zu besprechen. Megan kam durch den Korridor gerannt und rief: „Jen und ihre Mutter können jetzt gleich herkommen und uns kennenlernen! Können sie kommen? Können sie kommen, Mama?“

„Ich bin gar nicht müde!“, wiederholte Michelle noch einmal mit Nachdruck.

„Können sie kommen, Mama?“, erkundigte Megan sich zum dritten Mal.

„Na, gut“, entgegnete Trina und beide Mädchen riefen laut: „Jippii!“, beide in der Annahme, dass die Zustimmung ihrem Anliegen gegolten hätte.

Michelle kletterte aus ihrem Bett und Megan rannte zurück zum Telefon in die Küche.

„Michelle, wenn du heute keinen Mittagschlaf hältst, musst du mir aber auch zeigen, dass du schon ein ganz großes Mäd-chen bist, das keinen Mittagschlaf mehr braucht“, sagte Trina und sammelte die zusammengeknäuelten Söckchen vom Boden auf, die ihre kleine Tochter aus dem Bett geworfen hatte.

„Zieh dir deine Socken an. Wir bekommen gleich Besuch.“

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„Ich bin wirklich schon ein großes Mädchen“, entgegnete Michelle, nahm die Söckchen und ließ sich damit auf den Bo-den plumpsen.

Trina ging zurück in den vorderen Bereich des Hauses und warf dabei einen Blick auf den Zustand ihres Haushaltes. In der Diele lagen Spielsachen herum, das Waschbecken im Bad war mit Zahnpasta bekleckert, auf dem Küchentisch lag ein unsortierter Stapel Post und auf dem Sofa im Wohnzimmer ein Stoß zusammengelegter Wäsche. Außerdem waren die Sessel voller Katzenhaare.

Sie hatte keine Zeit mehr, hier und da noch schnell etwas aufzuräumen, also beschloss sie, einfach eine Kanne Kaffee zu kochen und wenigstens die Spuren von Megans kleinem Imbiss am Küchentresen zu beseitigen.

Megan war nach draußen gerannt, um dort auf die Ankunft der Gäste zu warten, und schon kurze Zeit später kam sie wie-der herein, um anzukündigen, dass sie jetzt da wären.

Trina strich sich noch einmal mit den Fingern durchs Haar, wobei sie die Scheibe der Mikrowelle als Spiegel benutzte. Eini-germaßen zufrieden mit dem, was sie da sah, folgte sie Megans aufgeregter Stimme und trat in den Hausflur, um die Gäste zu begrüßen.

„Das ist Jen, Mama!“, sagte Megan, wobei sie die Hand ih-rer Mutter ergriff und Trina nach draußen zerrte.

Jen war ein bisschen kleiner als Megan und hatte lange, gold-blonde Zöpfe, die ihr den halben Rücken hinunter reichten. Sie war sonnengebräunt und sah kerngesund aus. Ihre blauen Au-gen strahlten und sie war ein Ausbund an Selbstsicherheit.

„Hallo“, sagte Jen und winkte mit einer Hand, deren winzige Fingernägel rot lackiert waren. Hinter ihr stand ihre Mutter, die ebenso goldblondes Haar hatte wie ihre Tochter, ebenso gebräunte Haut und auch dieselbe Nagellackfarbe. Am rech-ten Knöchel hatte sie eine winzige Tätowierung in Form eines Stiefmütterchens. Sie trug einen kurzen Jeansrock und einen knallroten, kurzärmeligen Pulli.

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Trina kam sich mit ihrem braunen Haar, der hellbraunen Hose und der beigefarbenen Baumwollbluse im Vergleich dazu ziemlich bieder vor. Alles war braun – wie Pappe.

„Komm, ich zeig dir mein Zimmer!“, rief Megan, fasste Jen bei der Hand und zog sie durch den Flur in Richtung ihres Zim-mers. Die beiden Mädchen rauschten an Michelle vorüber, die einen Schritt zur Seite trat, um sie vorbeizulassen. Trina schaute den Mädchen nach und brachte dann ein, wie sie hoffte, mög-lichst echt aussehendes Lächeln zustande.

„Elise Lovett“, sagte Jens Mutter und gab Trina freundlich die Hand. Elise hatte perfekte, strahlend weiße Zähne.

Die beiden Frauen wechselten noch ein paar Worte, und dann fragte Trina Elise Lovett, ob sie Lust auf eine Tasse Kaffee hätte.

„Das ist lieb gemeint“, erwiderte Elise, „aber ich trinke kei-nen Kaffee. Eigentlich trinke ich gar nichts Koffeinhaltiges, und wenn es Ihnen nichts ausmacht, wäre ich dankbar, wenn ich Jen einfach ein paar Stunden zum Spielen hierlassen könnte. Ich muss nämlich möglichst schnell wieder zu Hause sein.“

„Aber natürlich“, entgegnete Trina ein wenig enttäuscht. „Sie sind ja sicher noch mitten beim Auspacken und Einrichten.“

„Auspacken?“, fragte Elise etwas irritiert, so als wäre ihr das Wort völlig unbekannt. „Ach, nein, wir wohnen schon seit zwei Wochen in dem Haus. Aber ausgerechnet heute wird mein Brennofen geliefert, und ich muss auf jeden Fall zu Hause sein, wenn die Spedition kommt.“

„Das kann ich verstehen“, meinte Trina und fügte dann noch hinzu: „Ein Brennofen? Sie töpfern also?“

Elise lachte. Es war ein unbefangenes, sehr natürliches La-chen. „Ja, so könnte man wohl sagen.“

„Nur aus Spaß oder beruflich?“, erkundigte sich Trina auf dem Weg zur Haustür.

„Ach, ich mache eigentlich gar nichts, wenn’s mir keinen Spaß macht!“, antwortete Elise und lachte erneut unbefangen. „Zum Glück lässt sich das, was ich mache, aber auch verkaufen.“

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„Ich würde irgendwann sehr gern einmal Ihre Sachen sehen“, sagte Trina mit echtem Interesse.

„Ja, sicher … jederzeit“, entgegnete Elise, während sie die Haustür öffnete und ins Freie hinaustrat. „Ich komme in ein paar Stunden und hole Jen wieder ab. Wäre Ihnen das recht?“

Plötzlich hatte Trina eine Idee. „Sie und Ihr Mann könnten doch zu uns zum Abendessen kommen“, erwiderte sie. „Sie ha-ben sicher einen anstrengenden Tag hinter sich und ich würde Sie gern bei uns in der Nachbarschaft willkommen heißen.“

„Ach, ich weiß nicht recht“, sagte Elise und schaute sie nach-denklich an. „Ich möchte Ihnen keine Umstände machen oder mich beziehungsweise uns aufdrängen.“

„Ach, überhaupt nicht“, beruhigte Trina sie. „Es wäre doch eine großartige Gelegenheit, dass sich unsere Familien ein bis-schen kennenlernen. Ich habe das Gefühl, dass unsere Töchter künftig ziemlich viel Zeit miteinander verbringen werden.“

„Da könnten Sie durchaus recht haben“, entgegnete Elise lächelnd.

„Ach bitte, kommen Sie doch“, insistierte Trina. „Also, ich muss erst noch mit Nathan darüber reden – das ist

mein Mann. Und außerdem haben wir auch noch einen Sohn – Charlie.“

„Er ist natürlich ebenfalls herzlich willkommen.“ „Na gut, wir kommen. Falls es nicht klappt, rufe ich aber

noch mal an“, sagte Elise und wandte sich zum Gehen. „Ach ja, wann sollen wir denn da sein?“

„Wäre halb sieben in Ordnung?“, erkundigte sich Trina. „Ja, das passt gut“, antwortete Elise und winkte dann noch

ein letztes Mal, bevor sie zu ihrem Wagen ging. Trina beobachtete, wie Elise zu ihrem uralten türkisfarbenen

VW Käfer Cabrio ging. Jeder Zentimeter Chrom an dem Auto glänzte.

„Schönes Auto“, rief Elise ihr hinterher. „Mein ältester und bester Freund!“, sagte Elise noch, bevor

sie einstieg und den Motor anließ.

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Elise setzte zurück, bog von der Hauseinfahrt auf die Straße und fuhr dann in einem Tempo davon, über das Trina sich mit Sicherheit aufgeregt hätte, wenn ein anderer Fahrer es sich er-laubt hätte.

Einen Augenblick lang stand sie einfach so da, während der Käfer aus ihrem Blickfeld verschwand. Sie fragte sich, ob da gerade etwas ganz Wunderbares begonnen hatte oder etwas, bei dem ihr nie so richtig wohl sein würde. Als es auf der Straße wieder still geworden war, ging sie zurück ins Haus.

ZWEI

ES WAR ZWEI MINUTEN VOR SIEBEN und die Lovetts waren im-mer noch nicht da. Trina fragte sich, ob sie und Elise sich mög-licherweise missverstanden hatten. Vielleicht hatte Elise ja auch gesagt, dass Trina nicht mit ihnen rechnen solle, es sei denn, sie riefe noch an. Alles war bereit – und zwar schon seit fast einer halben Stunde. Sie seufzte und warf einen raschen Blick durch die Küche ins Esszimmer, wo der Tisch für acht Personen mit ihrem guten Geschirr gedeckt war. Zwei Auflaufformen mit La-sagne, die auf den Punkt gegart und gebräunt war, warteten mit Alufolie abgedeckt auf dem Herd darauf, verzehrt zu werden. Daneben stand Knoblauchbrot, das nur noch kurz in den Grill geschoben werden musste. Der Duft von Knoblauch, Basilikum und Parmesan durchzog das ganze Haus. Sie gab den Lovetts jetzt noch zehn Minuten, dann würden sie eben einfach ohne sie anfangen müssen.

Michelle, die seit 18 Uhr alle zehn Minuten in die Küche kam und dann wieder hinausging, kam jetzt schon wieder, um zu sagen, dass sie hungrig sei, und Trina vertröstete sie ein weite-res Mal mit einem Keks. Megan und Jen waren immer noch in Megans Zimmer, wo sie den ganzen Nachmittag gespielt hat-ten. Nur einmal waren sie herausgekommen, um zu fragen, ob

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Trina ihnen helfen könne, den Barbie-Friseursalon vom obers-ten Regalbrett herunterzuholen.

In dem Augenblick, als Michelle wieder aus der Küche abge-zogen war, kam Trinas Mann Gordon aus dem Wohnzimmer, wo er sich ein Basketballspiel im Fernsehen anschaute. Bei der Salatschüssel, die Trina auf dem Küchentresen deponiert hatte, blieb er stehen, fischte eine Gurkenscheibe heraus und schob sie sich in den Mund.

„Und du bist wirklich ganz sicher, dass sie kommen?“, fragte er, und schon sein Tonfall verriet, dass ihm eines klar war: Das war in diesem Augenblick keine besonders geschickte Frage ge-wesen. Noch einmal griff er in die Salatschüssel und pickte sich eine Cocktailtomate heraus.

Trina wusste, dass Gordon nach dem anstrengenden Mon-tag in der Firma nicht gerade begeistert war, dass sie Überra-schungsgäste zum Abendessen hatte. Sein Job als Chefeinkäu-fer bei Sony brachte häufig Überstunden mit sich, von denen die meisten mit den ständigen Bemühungen ausgefüllt waren, für eine undankbare Produktionsabteilung Wunder zu vollbrin-gen. Sie wusste auch, dass ihm die Aussicht, mit Nathan Lovett Konversation betreiben zu müssen – mit einem Mann also, den er noch nicht einmal kannte –, Unbehagen bereitete. Megan hatte wahrscheinlich ihre zurückhaltende Art von ihrem Vater geerbt.

„Elise hat gesagt, sie käme mit ihrem Mann und ihrem Sohn um halb sieben, wenn nicht, würde sie noch mal anrufen“, wie-derholte Trina noch einmal mit fester Stimme, so als wollte sie sich und Gordon noch einmal gut zureden. Sie drehte sich zur Spüle um und ließ ohne ersichtlichen Grund Wasser ein, um mit einem Küchentuch das Spülbecken sauber zu wischen.

„Vielleicht hat sie es ja vergessen“, warf Gordon ein und sti-bitzte sich eine Karottenscheibe aus der Salatschüssel.

„Das Abendessen mag sie ja vielleicht vergessen haben, aber doch nicht ihre Tochter!“, entgegnete Trina jetzt in fast pat-zigem Ton und wurde mit jedem Augenblick ärgerlicher. Ihr

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Ärger galt dabei gar nicht Gordon, sondern der Ungewissheit im Zusammenhang mit Megans neuer Freundschaft. Deshalb entschuldigte sie sich auch schnell bei ihrem Mann.

„Tut mir leid, Gordon“, sagte sie. „Ich wollte es nicht an dir auslassen.“

Gordon zuckte nur mit den Schultern. „Das wird wohl kei-nen bleibenden Schaden hinterlassen“, meinte er und lehnte sich mit dem Rücken an den Küchentresen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete seine Frau.

„So, und nun sag mir doch mal bitte, was wirklich los ist!“, meinte er schließlich.

Trina drehte sich um und sah ihn an. Sie war dankbar, dass er sie so gut kannte, aber auch ein bisschen ärgerlich darüber, dass sie wirklich gar nichts vor ihrem Mann verbergen konnte. In den zehn Jahren, die sie jetzt verheiratet waren, hatte sie Gordon nie mit irgendetwas wirklich überraschen können. Er wusste genau, wo sie unsicher war, was sie am meisten fürchtete, woraus sie ihre Kraft bezog und auf welche Weise sie versuchte, ihre Sorgen zu verbergen. Es war diese Art von Intuition, die sie damals am meisten angezogen hatte, als sie gemeinsam an der San Diego State University studiert hatten. Sie hatten sich in einem Studentenhauskreis kennengelernt, als sie in ihrem zweiten Jahr Bibliothekswesen studiert hatte und er kurz vor seinem Examen in Betriebswirtschaft stand. Die Fragen, die Gordon bei den Hauskreistreffen gestellt hatte, und sein tiefes Verständnis biblischer Inhalte hatten Trina damals sehr fasziniert. Er konnte stundenlang über ein Thema disku-tieren und es von allen Seiten beleuchten, selbst wenn er per-sönlich von keiner dieser Betrachtungsweisen und Positionen überzeugt war.

Als sie ein Jahr später heirateten, hatte Gordon lange Haare, fuhr einen Datsun Pickup und hatte kühne Träume. Zehn Jahre später hatte er sehr viel weniger Haar, fuhr einen viertürigen Se-dan, und seine Träume von der großen Karriere waren von der Realität verdrängt worden. Trina wusste, dass ihm sein Job bei

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Sony nicht besonders gefiel, aber sie waren beide dankbar dafür, dass er ihn hatte. Er verdiente dort zwar nicht das große Geld, wie er es sich als Student erhofft hatte, aber sie hatten ein Dach über dem Kopf, und in Südkalifornien war allein das schon eine beachtliche Leistung.

Sie merkte, wie er sie durch seine randlose Brille musterte und darauf wartete, dass sie auf seine Frage antwortete.

„Ich habe Angst um Megan“, sagte Trina, während sie gleich-zeitig das Spültuch zusammenfaltete und es über den Wasser-hahn legte. „Ich fürchte, sie ist so ausgehungert nach Freund-schaft, dass sie in der ersten Freundschaft, die sie eingeht, völlig auf- oder sogar untergehen könnte. Ich habe Angst, dass sie sich dadurch verändert.“

Gordon blinzelte und erwiderte nichts. Trina wusste, dass er jetzt überlegte, wie er das, was er zu sagen hatte, in Worte fas-sen sollte, ohne Ärger mit ihr zu bekommen.

„Sie kennen sich doch erst einen Tag, Trina“, meinte er vor-sichtig. „Was hat dieses kleine Mädchen denn heute getan, dass du dir solche Sorgen machst?“

„Es ist gar nicht mal das, was Jen gemacht hat“, antwortete Trina fast flüsternd, wobei sie sich umschaute, um sich zu verge-wissern, dass sie auch wirklich mit ihrem Mann allein war. „Es ist Megans Verhalten. Sie kommt mir so verändert vor, Gordon. Sie ist heute zum Telefon gerannt, als es geklingelt hat.“

„Und was soll daran falsch sein?“, hakte Gordon nach. „Gar nichts“, sagte Trina mit einem Seufzer und wünsch-

te, dieses Gespräch wäre beendet. Gordon war Realist, ein analytischer Denker, und obwohl sie ihn liebte, wünschte sie manchmal, er könnte die Dinge auch einmal mit anderen Au-gen betrachten. „Es sieht ihr nur so gar nicht ähnlich.“

Das Licht von Autoscheinwerfern fiel von draußen durchs Fenster und verschwand dann gleich wieder. Ein Auto war auf die Auffahrt gebogen.

„Ich glaube, sie sind da“, sagte Gordon und fügte dann noch hinzu: „Oh Mann!“

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„Was ist denn?“, erkundigte sich Trina und stellte sich neben ihn, damit sie sehen konnte, was er sah.

„Er fährt einen BMW“, meinte Gordon in einer Mischung von Ehrfurcht und Enttäuschung.

Trina beobachtete, wie die Lovetts aus dem Auto stiegen. Nathan, der groß und athletisch gebaut war, hatte dieselbe ge-sunde Ausstrahlung wie seine Frau und seine Tochter. Er hatte aschblondes Haar, das an den Schläfen bereits ein paar graue Sprenkel hatte, und trug eine Twillhose, ein marineblaues Polo-shirt und eine braune Lederjacke. In den Händen hatte er zwei Weinflaschen. Und Trina hatte nicht einmal daran gedacht, auch Weingläser auf den Tisch zu stellen, denn Gordon und sie selbst tranken kaum Alkohol. Sie verzog das Gesicht, als sie daran dachte, wie verstaubt ihre Weingläser wahrscheinlich waren.

Trina seufzte und beobachtete, wie Elise um den Wagen he-rum ging und dann neben Nathan stand. Sie hatte sich umge-zogen und trug jetzt ein fast knöchellanges dünnes, fließendes Kleid mit Batikmuster, dazu Goldsandalen, obwohl es seit dem Nachmittag richtiggehend kühl geworden war. Trina fragte sich im Stillen, was Gory wohl von Elises kleiner Tätowierung halten würde.

Ein etwa neun- oder zehnjähriger Junge folgte Elise und Na-than zur Haustür. Charly war seinem gutaussehenden Vater wie aus dem Gesicht geschnitten – natürlich abgesehen davon, dass er keine grauen Schläfen hatte. Elise sah Trina am Küchenfens-ter stehen und winkte ihr zu.

„Na, dann mal los“, meinte Gordon und bedeutete Trina mit einer Geste voranzugehen.

Der Abend verlief völlig anders, als Trina ihn am Nachmittag spontan und unter Zeitdruck geplant hatte. Das Essen gelangte gar nicht erst von der Küche ins Esszimmer und das gute Ge-

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schirr blieb ebenso unberührt wie unbemerkt. Es gab keine ru-hige Musik zum Essen und auch kein gemütliches Kaminfeuer fürs Ambiente.

Stattdessen waren Nathan und Charlie hocherfreut, dass Gor-don sich gerade das Basketballspiel im Fernsehen anschaute, und blieben den ganzen Abend mit ihm zusammen vor dem Fernseher sitzen, worüber Gordon sichtlich erleichtert war. Die Lasagne wurde auf den Küchentresen gestellt, damit sich jeder dort selbst bedienen konnte, und es wurde von Trinas alltäglichem Stein-gutgeschirr gegessen. Die Mädchen aßen am Küchentisch und die Männer und Charlie balancierten ihre Teller auf den Knien. Trina und Elise hatten sich zum Essen an den Küchentresen ge-setzt. Es war ein lockerer, ungezwungener Abend, eigentlich so, wie Trina es am liebsten mochte. Aber an diesem Abend machte es sie nervös, und sie wusste auch genau, warum. Es war ihr auf diese Weise einfach nicht möglich, unauffällig Informationen über Jens Eltern zu sammeln, und die brauchte sie unbedingt, um sich nicht länger über die neue Freundschaft ihrer Tochter zu sorgen.

Sie brachte allerdings in Erfahrung, dass die Lovetts von Los Angeles nach San Diego gezogen waren, dass Nathan Softwareentwickler war und dass Elise leidenschaftlich gern töpferte und jetzt einen Job als Bühnenbildnerin im Old Globe Theater in Balboa Park hatte. Es gestaltete sich jedoch äußerst schwierig, das herauszubekommen, was Trina am allermeisten interessierte und worauf es ihrer Meinung nach eigentlich an-kam: Sie wollte wissen, wie Elise tickte, wie sie die Welt und das Leben betrachtete. Sie wollte wissen, ob sie an Gott glaubte, was Elternsein für sie bedeutete und welche Werte und morali-schen Grundsätze sie vertrat.

An diese Themen kam sie aber nicht weiter heran als bis zu dem Punkt, an dem sie Elise fragte, ob sie auf der Suche nach einer Kirchengemeinde seien.

„Nein“, antwortete diese und biss ein Stück von dem Knob-lauchbrot ab.

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„Also sind Glaube und Kirche für Sie nicht wichtig?“, hakte Trina deshalb noch einmal so vorsichtig wie möglich nach.

„Um Gottes Willen, nein!“, sagte Elise daraufhin, und dann lachte sie laut auf. „Haben Sie das gehört? Ich habe ,um Gottes Willen‘ gesagt.“

Trina gelang es, ein etwas gezwungenes Lächeln aufzuset-zen.

„Tut mir leid!“, fügte Elise hinzu, als sie sich wieder ein bisschen gesammelt hatte. „Ich merke schon, dass diese Dinge Ihnen wichtig sind, Trina. Ich will das, was Sie glauben, auf keinen Fall abwerten. Ehrlich nicht. Ich persönlich kann bloß mit offizieller und organisierter Religion wenig anfangen. Das ist nichts für mich. Ich gehe am Sonntag lieber Paragliden oder Klettern und bin von Gottes Schöpfung umgeben statt von dem, was Menschen gemacht haben. Das ist Gott für mich – er ist in der Schönheit der Natur um uns herum und nicht in irgendeinem Gebäude zu finden!

Dieses Brot ist übrigens wirklich hervorragend. Sie haben es mit frischem Knoblauch gemacht, nicht wahr? Das schmeckt man sofort. Ich nehme noch ein Stück. Möchten Sie auch noch eines?“

In diesem Augenblick wusste Trina, dass es mit Elise kaum Gespräche über geistliche Themen geben würde, wenn Gordon nicht dabei war. Er wusste, wie man sich mit Leuten unterhielt, die Gottes Schöpfung liebten, aber nicht seine Gemeinde. Trina empfand das schmerzliche Gefühl von Unzulänglichkeit.

„Ja, gern. Ich nehme auch noch ein Stück“, sagte sie.

Als das Basketballspiel zu Ende war, die Gäste gegangen waren und die beiden Mädchen im Bett lagen, saß Trina schweigend auf der Bettkante in ihrem Schlafzimmer und wartete darauf, dass Gordon sie fragen würde, was sie gerade dächte. Und sie wusste genau, dass er das fragen würde.

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Er machte das Licht im Bad aus, das an ihr Schlafzimmer grenzte, und ging auf seine Seite des Bettes. Er schüttelte das Kopfkissen auf, schlüpfte unter die Decke und griff nach den „Bekenntnissen“ von Augustinus, die auf seinem Nachttisch lagen – seine derzeitige Bettlektüre.

Aber er schlug das Buch nicht auf. „Also, bringen wir’s hinter uns“, meinte er mit sanfter

Stimme und bedeutete Trina, zu ihm herüberzurutschen. Trina legte sich mit unter die Decke und schmiegte sich an

Gordons Brust. Sein Flanellschlafanzug roch nach Aftershave. Er legte seinen linken Arm um sie und wartete.

„Sie sind nett“, setzte sie an, schwieg dann aber wieder. „Ja, das sind sie“, pflichtete Gordon ihr bei. „Aber sie sind so anders als wir. Ich glaube nicht, dass ich

schon mal einem Menschen wie Elise begegnet bin“, sagte Trina nachdenklich.

Gordon schloss die Augen und lehnte sich an sein Kissen, das er am Kopfende des Bettes aufgestellt hatte. „Ich treffe solche Leute wie Nathan eigentlich ständig“, meinte er schließlich.

„Wirklich?“, entgegnete Trina. „Ja, andauernd“, bestätigte Gordon erneut. „Ich wette mit

dir, dass Nathan irgendwann Millionär ist. Er weiß genau, was er will, und er hat keine Hemmungen, es sich zu nehmen, auch wenn er dafür alles aufs Spiel setzen muss, was er hat. Ich begegne Leuten wie ihm bei der Arbeit fast täglich. Es sind die Leute, die die Management-Karriereleitern im Rekordtempo hinaufsteigen, ohne überhaupt zu wissen, was sie dort oben erwartet.“

„Ich bin froh, dass du nicht so bist“, erwiderte Trina rasch und kuschelte sich noch ein wenig enger an ihn. „Solche Män-ner sind meist erbärmliche Ehemänner und Väter.“

„Manchmal schon“, sagte Gordon. Nachdem sie über das Gesagte kurz nachgedacht hatte,

meinte Trina: „Glaubst du, dass du und Nathan irgendwann mal etwas miteinander unternehmen, zum Beispiel Golf spielen oder etwas Ähnliches?“

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„Das halte ich für eher unwahrscheinlich“, sagte Gordon lächelnd. „Nathan spielt nämlich gar nicht Golf. Er liebt Fall-schirmspringen, surft und läuft Ski. Ich glaube, er liebt das Leben und kostet alles aus – jeden Bereich seines Lebens –,immer auch am Rande der Gefahr und sogar der Katastrophe. Er braucht diesen Kick.“

„Weißt du, wo die beiden in den Flitterwochen waren?“, fragte Trina, und bevor Gordon antworten konnte, tat sie es selbst: „In Kenia. Sie waren auf einer Safari in Kenia. Kannst du dir das vorstellen?“

„Ja, das kann ich“, meinte Gordon. „Ich glaube, das Einzige, was Nathan und ich gemeinsam haben, ist unsere Begeisterung für Basketball … und schöne Ehefrauen.“

Trina kuschelte sich noch einmal näher an ihn und genoss das Kompliment. Gordon lachte leise glucksend.

„Was ist denn?“, erkundigte sich Trina. „Ich habe ihn gefragt, ob er schon mal etwas von C. S. Lewis

gehört hat, und da hat er gefragt, ob Lewis ein Jazzmusiker sei.“

Trina lachte leise, aber dieser Irrtum war noch ein weiterer Hinweis auf die Unterschiede zwischen den beiden Ehepaaren. Gordon spürte, was sie dachte, und zog sie ein wenig fester an sich.

„Wir können Megan nicht von allem fernhalten, Trina. Und das sollte auch gar nicht unser Ziel sein.Wir werden einfach weiterhin das mit unseren Mädchen und für unsere Mädchen tun, was wir immer getan haben. Sie anleiten, sie lehren, für sie beten und sie immer wieder Gott und seinem Schutz anbe-fehlen. Vielleicht hat Gott die Lovetts in unser Leben gebracht, damit sie durch die Freundschaft unserer Töchter mehr über den Glauben erfahren.“

„Ja, vielleicht“, sagte Trina leise. Beide hingen ihren eigenen Gedanken nach, als es leise an

ihrer Schlafzimmertür klopfte. „Mama?“ Es war Megan.

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Trina setzte sich auf. „Komm rein“, rief sie. Die Tür ging auf, und Megan stand da, in sanftes gelbes

Licht getaucht, das von dem Nachtlicht im Flur kam. „Was ist denn los, Schätzchen?“, erkundigte sich Trina. „Ich kann nicht einschlafen“, erwiderte Megan und verzog

das Gesicht. „Kannst du mir den Rücken kraulen?“ Trina hatte den Kindern schon als Babys den Rücken ge-

krault, wenn sie nicht einschlafen konnten. „Klar, mein Schatz“, sagte Trina und stand auf. „Komm mal her, kleiner Muffin“, sagte Gordon zu Megan,

während sich Trina einen Morgenmantel überzog. Megan rannte zu ihrem Vater und schlang die Arme um sei-

nen Hals. „Träum süß“, sagte er und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann gingen Trina und Megan in das Kinderzimmer zurück.

Schimmerndes Mondlicht fiel durch die Vorhänge und warf Lichtstreifen auf Megans Bettdecke.

Als Trina ihrer Tochter ins Bett half, fragte sie diese, ob es der Mond sei, der sie wach hielte.

„Nein, den Mond mag ich. Der ist wie Gottes großes Nacht-licht. Das habe ich in der Sonntagsschule gelernt“, sagte sie.

Trina lächelte und begann, sanft den Rücken ihrer Tochter zu kraulen.

Eine Weile sagte keine von beiden etwas. „Ich bin so froh, dass ich Jen kennengelernt habe“, meinte

Megan dann leise. Zunächst sagte Trina nichts, sondern rieb ihrer Tochter nur

etwas kräftiger den Rücken. „Ich freue mich, dass du froh bist“, sagte sie schließlich. „Mama, kannst du mir bitte das Pferdelied singen?“, bat

Megan. „Aber sicher“, flüsterte Trina. Und in sanftes Mondlicht getaucht, sang Trina leise das Lied

von all den schönen Pferden, bis die Atmung ihrer Tochter langsam und gleichmäßig wurde.

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Vorsichtig stand sie von der Bettkante auf und ging zurück in den Flur. Als sie an der eigenen Schlafzimmertür angekommen war, hörte sie von draußen Gordons leises, aber doch vernehm-liches Schnarchen. Sie drehte sich um und ging durch den Flur zurück ins Wohnzimmer und von dort aus in die Küche. Einen Moment lang stand sie einfach nur da und ließ schweigend den Tag noch einmal Revue passieren. Sie goss sich ein Glas Wasser ein und trank es an die Tür zum Esszimmer gelehnt, wo noch immer das gute Geschirr auf dem Tisch stand und im Mond-licht glänzte.