kultur und gesellschaft€¦ · wechselnde identitäten, über rassismus und nationale stereotype -...

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1 COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 300 Titel der Sendung : „Born in the USSR.“ An-kommen und Schreiben in New York AutorIn : Olga Hochweis Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : NN Regie : Friederike Wigger Besetzung : Sprecherin für Autorin; Sprecher/Zitator 1; Sprecherin/Zitatorin 1; Sprecherin/Zitatorin 2; Sprecherin/Zitatorin 3 O-Töne Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur

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Page 1: KULTUR UND GESELLSCHAFT€¦ · wechselnde Identitäten, über Rassismus und nationale Stereotype - und es sind Geschichten über New York. 3.Atmo: (Japanische, englische, französische

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COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden.

KULTUR UND GESELLSCHAFT

Organisationseinheit : 46

Reihe : Literatur

Kostenträger : P 62 300

Titel der Sendung : „Born in the USSR.“ An-kommen und Schreiben in

New York

AutorIn : Olga Hochweis Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : NN

Regie : Friederike Wigger

Besetzung : Sprecherin für Autorin; Sprecher/Zitator 1;

Sprecherin/Zitatorin 1; Sprecherin/Zitatorin 2;

Sprecherin/Zitatorin 3

O-Töne

Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig

© Deutschlandradio

Deutschlandradio Kultur

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„Born in the USSR.“ Junge New Yorker Autoren und ihre russisch-jüdischer Herkunft Autorin: Olga Hochweis Deutschlandradio Kultur: Redaktion: Barbara Wahlster Anfang Track 1

Atmo 1 Straßenmusiker improvisiert mit Gitarre und Stimme über Herkunft von

Touristen (“Good morning, Mam, where are you from?“ Singt los: .. she came

from Brooklyn..

Drüber: O-Ton Collage 1 englische O-Töne

Ulinich, Sprecherin 1:

Ich verstehe mich als Amerikanerin. Einfach weil ich die amerikanischen

Werte teile und kulturell hier geprägt wurde. Ich habe nie als Erwachsene in

Russland gelebt. Ich weiß überhaupt nicht, wie das ist, wie die Gesellschaft

dort funktioniert.

1. Vapnyar , Sprecherin 2:

Wenn man mich fragt, ob ich mich in Amerika zu Hause fühle, fällt mir eine

Antwort schwer. Aber ganz sicher bin ich in New York zu Hause, einfach

weil es eine Stadt der Immigranten ist. Die meisten Menschen hier - oder

sagen wir, sehr viele! - haben einen Akzent. Es sind jedenfalls genug Leute,

damit ich mich hier wohlfühlen kann.

3. Shteyngart , Sprecher 1:

Ich bin ein russischer Autor, ein russisch-amerikanischer Autor, ein jüdischer

Autor. Alle diese verschiedenen Bezeichnungen treffen zu. Vor allem aber bin

ich ein New Yorker Autor – und ein New Yorker Bürger, der hier gerne lebt.

Atmo 2: russische Musik NAutilus Pompilius

O-Ton-Collage 2 russische O-Töne

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1. Shteyngart, Sprecher 1:

Vielleicht bin ich nicht ganz so lustig, wenn ich russisch rede. Da klinge ich

immer ein bisschen mürrisch.

2. Vapnyar, Sprecherin 2:

Ich bin von Natur aus kein besonders geselliger Mensch. Meine Nachbarn

denken bis heute, daß ich kein Englisch spreche. Die wissen gar nichts von

meinen Büchern.

3. Krasikov , Sprecherin 3:

Ich habe einen Akzent, wenn ich Russisch spreche. Ich reiße mich nur ein

bisschen zusammen, hier am Mikrofon.

Autorin 1:

Die Muttersprache hat gelitten - Sana Krasikov ist acht Jahre alt, als sie mit ihrer

Familie aus Georgien in die USA emigriert. Gary Shteyngart, geboren in

Leningrad, kommt mit sieben nach New York. Lara Vapnyar verlässt Moskau

als 23Jährige. Anya Ulinich, ebenfalls Moskauerin, ist bei ihrer Ausreise

siebzehn. Als Kinder und Jugendliche haben die vier Russisch gesprochen. Ihre

Romane und Erzählungen schreiben sie auf Englisch. Es sind Geschichten über

wechselnde Identitäten, über Rassismus und nationale Stereotype - und es sind

Geschichten über New York.

3.Atmo: (Japanische, englische, französische Wortfetzen - Geige plus

Fährengeräusch)

Autorin 2:

Die Warteschlange ist lang. Hunderte von Touristen – Japaner, Franzosen, Süd-

und Nordamerikaner drängeln am frühen Vormittag hinter den Absperr-Gittern

am Battery Park. Mehr oder weniger geduldig warten sie auf die Überfahrt nach

Ellis Island – gut gelaunte Straßenmusiker verkürzen ihnen die Zeit.

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4.Atmo schon vorher drunter (Mexikanische Musik, danach for he´s a jolly

good fellow..) Blende Fährgeräusch..

Autorin 3:

Die Fähre braucht keine zwanzig Minuten nach Ellis Island. Wie im Flug

vergeht die Zeit. Die meisten Passagiere auf dem Oberdeck rennen hin und her,

staunen und fotografieren die Skyline von Manhatten und die Freiheitsstatue.

Unter dem Blick der imposanten Lady haben die Boote im 19. und frühen 20.

Jahrhundert Tausende von Immigranten an die Pforte zur Neuen Welt

transportiert. Heute fahren vollbeladene Touristenschiffe im Halbstunden-Takt

nahezu dieselbe Route.

5.Atmo unter folgenden Autorintext , (Fähre, Lautsprecher-Ansage

hochziehen,)

When the Federal government took over the process of immigration in the 1890,

a new receiving station was constructed on Ellis Island. By the beginning of the

20th century thousand reached the Island´s shore every day..)

6.Atmo (langsam drüber alte jiddische Musik aus dem Museum Ellis Island)

Autorin 4:

Zwischen 1880 und 1910 kamen zweieinhalb Millionen Osteuropäer nach Ellis

Island, auf die kleine Insel vor der Südspitze Manhattans – vor allem Juden aus

Russland, der Ukraine und aus Polen. Einer davon war der Schriftsteller Henry

Roth. 1906 in Galizien geboren, erreichte er New York als einjähriges Kind mit

seiner Mutter. Aus der Sicht eines kleinen Jungen beschrieb Roth den

Überlebenskampf in der Lower Eastside, der sogenannten „Jewtown“ - im

Roman „Call it sleep“ von 1934. Ein Klassiker jüdisch-amerikanischer

Literatur– für Gary Shteyngart bis heute eines der besten Bücher über

Immigration. Ein Bild darin hat sich ihm besonders eingeprägt:

5. Atmo-Fähre (Motorengeräusch, drüber O-Ton

1.O-Ton Shteyngart , Sprecher 1:

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Die Schiffe fahren ein und da kommen diese Juden aus Österreich-Ungarn, und

Schweden und Italiener. Sie alle starren auf diese Wolkenkratzer. Damals war

das ja noch was Besonderes. Aber damals: diese monströsen roten Stein-

Monumente. Die Leute rufen:„Schau her, die goldene Medina, das goldene, das

vergoldete Land“ – in Jiddisch haben sie das gesagt. Wenn du heutzutage

zeitgenössische Literatur von Immigranten liest, merkst Du gleich den

Unterschied. Jetzt gehen die Einwanderer, vor allem die aus Asien, zwar auch

durch die Straßen von New York, aber sie wissen: hier sind die Straßen längst

nicht mehr mit Gold gepflastert. Du musst dich halbtot schuften, um etwas zu

erreichen.

6. Atmo (Columbia-Campus, Studenten , Schritte)

Autorin 5:

Ich treffe Gary Shteyngart ganz im Norden von Manhattan, an der 116.Straße

zwischen Broadway und Amsterdam Avenue. Hier liegt der Campus der

renommierten Columbia University, wo Shteyngart seit ein paar Jahren kreatives

Schreiben unterrichtet. Im Gegensatz zum lauten Treiben vor der Tür herrscht in

seinem engen Büro erholsame Stille. Shteyngart - schwarze Haare, Bart, Brille -

knabbert munter an einem Stück Kuchen, wirkt im Gespräch aber sehr

konzentriert. So wie ihn stellt man sich vielleicht den jüdischen Klischee-

Intellektuellen aus New York vor: weltläufig, schlagfertig, ein bisschen

melancholisch und doch voller Witz und Ironie.

2.O-Ton Shteyngart, Sprecher 1:

Das Ironische ist: wir sind eine Nation geworden, in der sich jeder unbedingt

selbst ausdrücken muß. Wir sind ein Land von Schreibern statt von Lesern

geworden. Niemand will hier irgend etwas lesen. Jeder denkt, er sei der Beste

und müsse sich durch permanentes Schreiben mitteilen.

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Autorin 6:

Mitte der 90er Jahre beginnt auch Gary Shteyngart zu schreiben. Sein dritter

Roman „Super Sad True Love Story“ ist im Juli 2010 in den USA erschienen.

Eine deutsche Übersetzung ist in Arbeit. Für diesen Herbst plant Shteyngart die

amerikanische Erstausgabe einer Essay-Sammlung über Orte seiner russischen

Kindheit. Diese russische Kindheit geht, rein geographisch betrachtet, 1979 zu

Ende. In diesem Jahr emigriert der 7jährige, damals heißt er noch Igor ! mit

seinen Eltern und Großeltern nach New York. Die Familie gehört zur großen

Welle jüdischer Emigranten aus der Sowjetunion, die in den 70er Jahren

ausreist.

Musik Vertinksij langsam hoch.

Autorin: Das Regime empfinden diese Menschen als konkreten Feind. Viele

fliehen vor Antisemitismus und politischer Verfolgung. Einer von ihnen war der

Dichter Iosif Brodskij. Im New Yorker Exil schrieb er jahrzehntelang über sein

verlorenes Leningrad - über die Literatur, Musik, Geschichte und Architektur

dieser Stadt. St.Petersburg, wie es heute wieder heißt, ist auch die Geburtsstadt

Gary Shteyngarts – eine noble Herkunft, auf die viele Russen stolz sind. Auch

Shteyngarts Eltern.

3.O-Ton Shteyngart (My father especially..)

Sprecher 1:

Vor allem mein Vater pflegte seine jüdische Identität. Er spürte diesen

Antisemitismus am eigenen Leib. Das war der Antrieb, der Motor in seinem

Leben. Und der Witz ist: als er dann in die USA kam, und ich in dieser

orthodoxen jüdischen Schule angemeldet war, gab es kaum etwas Schlimmeres,

als russischer Jude zu sein. (Lachen): er hat das nie verstehen können. Die sind

doch auch Juden! Genau wie wir. Da wird man geboren mit einer Idee von

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ethnischer Solidarität, und dann erlebt man am Fall seines Kindes etwas völlig

anderes. Ich hab´ das alles ja nur mit ausgiebiger Therapie überlebt. Religiöse

Erziehung ist doch etwas sehr Furchteinflößendes. Warum ist so etwas

heutzutage immer noch möglich?

Autorin 7:

Aus dem gedemütigten russischen Igor wird nur langsam ein halbwegs

selbstbewusster amerikanischer Gary. Bis zu seinem 14.Lebensjahr bleibt Gary

Shteyngart der russische Akzent erhalten, weil es wenig Gelegenheit gibt,

Englisch zu reden. Ein Fernseher kommt lange nicht ins Haus. Das Leben wird

einfacher, als Shteyngart zum Politik-Studium ans Oberlin-College geht, eine

progressive humanistische Hochschule in Ohio. Russe zu sein hat hier auf

einmal einen exotischen Reiz – die Zeiten haben sich geändert, Gorbatschev und

der Perestroika sei Dank. In Gary Shteyngarts literarischem Debüt macht sich

die Hauptfigur Vladimir seinen Exoten-Status als Russe zunutze. „Handbuch für

den russischen Debütanten“ erscheint 2003 in deutscher Übersetzung.

4. O-Ton Shteyngart Sprecher 1:

Vladimir Girshkin - die Hauptfigur des Buchs – sagt mal, er sei das Opfer eines

ganz konkreten Streichs, den ihm die Geschichte gespielt hat. Und das fühlt sich

wie meine eigene Erfahrung an. Geboren unter Brezhnev, aufgewachsen unter

Reagan. Schlimmer kann es ja nicht kommen.

Autorin 8:

Der 25jährige Protagonist des Buches ist wie Shteyngart als Kind in die USA

gekommen. Und ebenso wie sein Schöpfer arbeitet Girshkin Mitte der 90er

Jahre als kleiner Angestellter in einer Flüchtlings-Organisation zur „Förderung

der Immigranten-Integration“. Girshkin kümmert sich dort lustlos und

desinteressiert um „sowjetische Juden in Bedrängnis“. Keine Karriere in Sicht –

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„Failurcha Vladimir“ , der Versager in russisch-amerikanischer

Wortneuschöpfung – ist wenig ambitioniert. Doch seine Eltern, vor allem die

Mutter, erhoffen sich für ihren Sohn eine amerikanische Erfolgsgeschichte.

Dafür hatten sie schließlich ihr russisches Leben geopfert:

Atmo: (zuvor schon drunter) Vertinskij ..

Sprecher 1/Zitator:

Dr.and Mrs.Girskhin waren mit Anfang 40 in den Staaten angekommen. Ihr

Leben war regelrecht zweigeteilt worden, so dass nur noch verblassende

Erinnerungen an sonnige Ferien in Jalta geblieben waren, an selbst gebackene

Marzipankekse und Kondensmilch, an kleine Privatpartys in irgendeiner

Künstlerwohnung mit schwarz gebranntem Wodka und hinter vorgehaltener

Hand erzählten Brezhnev-Witzen. Sie hatten ihre handverlesenen Petersburger

Freunde, ihre Verwandten und sämtlichen Bekannten von früher aufgegeben,

eingetauscht gegen lebenslange Einzelhaft in einem Mini-Herrenhaus in

Scarsdale.

(Gary Shteyngart, Handbuch des russischen Debütanten, aus dem

Amerikanischen von Christiane Buchner und Frank Heibert, Berlin Verlag

2003)

Musik hoch

Weiter Sprecher 1/ Zitator:

Da saßen sie nun und fuhren einmal im Monat nach Brighton Beach, um

eingeschmuggelten Kaviar und höllenscharfe Kielbasa zu besorgen, und um sie

herum wimmelte es von diesen komischen neuartigen Russen in billigen

Lederjacken, diesen Frauen mit hochzeitstortenartigen blonden Dauerwellen auf

dem Kopf – eine vollkommen fremde Rasse, die nur zufällig in der

Muttersprache gackerte – und zumindest theoretisch derselben Religion

angehörte wie die Girshkins. Waren Vladimir und seine Eltern Petersburger

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Snobs? Vielleicht. Schlechte Russen? Vermutlich. Schlechte Juden? Ganz

sicher. Normale Amerikaner? Nicht einmal annähernd.

(Gary Shteyngart, Handbuch des russischen Debütanten, aus dem

Amerikanischen von Christiane Buchner und Frank Heibert, Berlin Verlag

2003)

Autorin 9:

Die Identitäts-Suche Vladimirs nimmt in Shteyngarts Roman „Handbuch des

russischen Debütanten“ skurrile Züge an. Vladimir Girshkin will seiner reichen

New Yorker Freundin etwas bieten und steigt bei der Russen-Mafia ein, für die

er in der Stadt Prawa - einer bösen Prag-Karikatur - eitle, selbstverliebte

Amerikaner nach Strich und Faden ausnimmt. Alle nur denkbaren Stereotype -

von ignoranten amerikanischen Möchtegern-Schriftstellern bis hin zu brutalen

Primitiv-Russen - prallen im Buch aufeinander.

5. O-Ton Shteyngart Sprecher 1:

Es muß jemanden geben, der hier mit Satire rangeht und einen anderen

Blickwinkel einnimmt. Gogol kommt ja aus Rußland. Ein russischer

Schriftsteller zu sein, das ist für mich auch ein Synonym dafür, Satiriker zu sein:

Weil es einfach soviel gibt, worüber man sich lustig machen muß. Und so viele

Mythen, die man entlarven muss. Ich hasse Mythen, ich hasse Mythologien –

und es ist schön, diese Dinge auseinander brechen zu sehen, wie z.B. den

Mythos des großen mächtigen Russlands, oder auch den Mythos der großen

mächtigen USA.

Autorin 10:

Shteyngarts Hauptfigur Vladimir Girshkin reüssiert bei seinen diversen

amerikanischen Freundinnen wegen des Akzents und wegen seiner schillernden

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Andersartigkeit. Doch bei allem Erfolg, den er als Russe hat, bleibt der

Minderwertigkeitskomplex gegenüber Amerikanern unauslöschlich.

Klangakzent Atmo/

Sprecher 1/Zitator:

Es war reines Pech, ein sonnengeblendeter Storch, der ihn in dem Geburtshaus

auf dem Tschajkowskij-Prospekt statt in der berühmten Cleveland-Clinic

abgesetzt hatte. Ach, die alten Fragen des Beta-Immigranten: wie schaffte man

es, seine gurgelnde Aussprache, seine halb kaputten Eltern, ja, den Gestank des

eigenen Körpers zu verändern?

(Gary Shteyngart, Handbuch des russischen Debütanten, aus dem

Amerikanischen von Christiane Buchner und Frank Heibert, Berlin Verlag

2003)

Atmo: Klangakzent

Autorin 11:

Vieles von dem, was Gary Shteyngart in seinen Büchern beschreibt, klingt nach

überspitzter Satire. Oft stecken aber hinter absurden Szenen reale Erfahrungen

des Autors. Diskriminierung hat er in seinem Leben zuhauf erlebt, und sie hat

nicht nur mit seiner Herkunft, sie hat auch etwas mit seinem Aussehen zu tun.

Leicht desillusioniert erzählt Shteyngart von einer Begegnung in Berlin.

6.O-Ton Sprecher 1:

Da waren diese Skinheads und sie dachten, ich sei ein indischer Computer-

Programmierer. Die Leute denken immer, ich sei entweder Italiener oder Inder.

Alles, was sie hassen: ich bin´s! Und sie fingen an zu schreien: „Kinder statt

Inder“.

Ich sagte, „nein, kein Inder- ich bin Russe“- und sie darauf gleich: „Oh, die

Russen - das sind großartige Soldaten.“ Wo immer ich hinkomme, passiert mir

so etwas. In Azerbaidzhan dachten sie, ich sei ein iranischer Terrorist, weil ich

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ihrer Meinung nach persisch aussehe- also wurde ich von dortigen

Sicherheitsleuten auf den Boden geworden. Als ich sagte, ich bin nur ein Jude,

hieß es. „Oh, ein Jude, zeig uns deine Brieftasche“ – egal, wo ich hingehe,

passiert so etwas. Nur in New York nicht. Da spielt es echt keine Rolle. Jeder

hier sieht komisch aus- und das macht die Schönheit dieser Gesellschaft aus. Für

mich ist das ein Paradies, in dem ich einfach durch die Straßen laufen kann und

keinen schert´s.

Autorin 12:

Im „Handbuch für den russischen Debütanten“ findet Shteyngarts Held Vladimir

Girshkin ein kleines Happy-end in der amerikanischen Provinz, im Mittleren

Westen, weit weg von New York. Aber die Hoffnung, irgendwann doch noch

ein richtiger Amerikaner zu werden, gibt er auf. Diese Hoffnung richtet er auf

seinen ungeborenen Sohn. Girshkins amerikanische Ehefrau - eine proppere

Ärztin aus guter Familie – beendet seine Mafia-Laufbahn und sorgt für russisch-

amerikanische Versöhnung. Großmutter Girshkin, endlich mit „failurcha“

Vladimir zufrieden, freut sich schon auf ihr Enkelkind – sie weiß: Säuglinge in

den USA können schneller krabbeln als russische Babies.

Musikblende Mit georgischer Musik,langsam hoch

1.O-Ton Krasikov Sprecherin 3:

Georgien war eine eigene Welt. Es war Teil der Sowjetunion und es war

kommunistisch, aber in einem ganz oberflächlichen Sinn. Sie stellten einem dort

keine Hürden in den Weg.

Autorin 13:

Sana Krasikov wirkt nachdenklich und älter als 31. Als ihre Familie Georgien

1987 verlässt, ist die große Emigrantenwelle schon ein gutes Jahrzehnt her. Seit

1980 waren die sowjetischen Grenzen verschlossen, als Reaktion auf den

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westlichen Boykott der Olympischen Spiele in Moskau. Glasnost und

Perestroika ändern die Lage - und lockere georgische Behörden

beglückwünschen die Krasikovs sogar zur Emigration. New York heißt die erste

Station in den USA.

2.O-Ton Krasikov

Sprecherin 3:

Es hat etwas von diesem modernen Babylon. Man hört so viele unterschiedliche

Stimmen, so viele unterschiedliche Sprachen. Und in Georgien war es ganz

ähnlich. Es gab Griechen, Armenier und Azerbaizhani, und Georgier und Polen.

Es war einfach sehr multikulturell, sehr multi-ethnisch.

Musik georgisch ..

Autorin 14:

2008 veröffentlicht Sana Krasikov ihren Erstling, den Erzählungsband „One

more year“ - auf deutsch erscheint er 2009 unter dem Titel „In Gesellschaft von

Männern“. Die Figuren der acht Geschichten kommen aus Georgien,

Tadschikistan, Russland oder aus der Ukraine. Sie arbeiten - legal oder illegal -

in den USA, als Pfleger, als Babysitter oder als Putzkraft. Sana Krasikov hat

selbst ähnliche Jobs gemacht.

3.O-Ton Krasikov

Sprecherin 3:

Ich habe eine Menge unterschiedlichster Erfahrungen gesammelt und kenne

viele, die nur für kurze Zeit hier waren und alle möglichen Jobs gemacht haben.

Leute, die in ihrer Heimat Tierarzt oder Buchhalter waren, und die dann in

Amerika als Hausangestellte oder Pfleger gearbeitet haben. Ihre Kämpfe und

ihre konkreten menschlichen Dramen sind in diesen Geschichten sehr real.

Eigentlich ist der Job aber das mit Abstand Uninteressanteste an ihnen. Mir ging

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es um ihren Abstieg in der sozialen Stufenleiter, und wie sie es schafften, dabei

sie selbst zu bleiben.

Atmo Track 18: (Spielplatz langsam hoch - bei Literatur-Zitat weg)

Autorin 15: Da ist zum Beispiel Gulia, die Protagonistin in Krasikovs

Erzählung „Asal“. In ihrer Heimat Tadschikistan hatte sie studiert und in einer

Bank gearbeitet. In den USA verdient sie ihr Geld als Babysitterin.

Sprecherin 3/Zitatorin:

In den fünf Monaten, die sie jetzt in New York war, hatte Gulia noch mit

keinem der anderen Kindermädchen und auch mit keiner der Großmütter, die

auf den Bänken am Spielplatz saßen, ein Wort gewechselt. Sie alle lebten nach

rätselhaften persönlichen Regeln. Nur die fülligen Frauen von den westindischen

Inseln mit den lackierten Nägeln zirpten untereinander in ihren Dialekten,

während ihre Kinder stumpfsinnig in Sportwagen saßen. Die wenigen

russischen Kindermädchen, denen Gulia begegnete, vermuteten nicht, dass sie

sie verstand. Auf den Straßen ihrer Heimatstädte hätten sie vielleicht richtig

geraten, dass sie Tadschikin ist, hier jedoch, in der East Sixty-Eigth street, ging

sie in den zahlreichen unbekannten Rassen unter, war sie nur ein unbestimmtes

Gesicht aus dem Osten mehr. Jetzt, wo sie unsichtbar geworden war, entglitt ihr

auch ihre Vergangenheit nach und nach in eine andere Welt - fast unerreichbar.

(Sana Krasikov, In Gesellschaft von Männern, aus dem Amerikanischen von

Silvia Morawetz, Luchterhand 2009)

4. O-Ton Krasikov

Sprecherin 3:

Es ging mir nicht so sehr um Identitäten, als ich diese Geschichten schrieb. Ich

dachte dabei vor allem an die Menschen, die ich getroffen hatte, an die

Geschichten, von denen ich gehört hatte, an Menschen, die ich kannte. Vieles

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davon hat mich geprägt, ist Teil von mir geworden – und ich habe eigentlich erst

mit dem Erscheinen dieses Buchs so richtig begriffen, wie anders meine

Perspektive ist als z.B. die eines, sagen wir, durchschnittlichen Amerikaners.

Meine Sensibilität hat mit den unterschiedlichen Orten in meinem Leben zu tun.

Musik: alte jüdische Musik aus dem Ellis Island Museum , Text drüber

Autorin 16:

Sana Krasikov wird 1979 in Korestin geboren – einem ehemals jüdischen

Städtchen in der Ukraine. Die Eltern, Ingenieure, ziehen der Arbeit wegen nach

Georgien - in die Hauptstadt Tiflis, wo Sana bis zu ihrem achten Lebensjahr

aufwächst. Ihre Teenager-Jahre erlebt sie in Brooklyn. Fürs Chemie-Studium an

der Cornell University geht sie nach Ithaca, NewYork. Im Mittleren Westen

schließlich, in Iowa, studiert Sana Krasikov Literatur und Geschichte. Ihre

Erzählungen spielen überwiegend in New York. Seit einem Jahr lebt sie mit

ihrem Mann in Philadelphia.

Musik: Georgisch

5.O-Ton Krasikov –

Sprecherin 3:

Ich war immer daran interessiert, jüdisches Denken und jüdische Traditionen

besser zu verstehen. Zwar habe ich keine - im strengen Sinne - jüdische

Erziehung erhalten. Aber über die Jahre habe ich mich in Sachen Judentum

einfach selbst weitergebildet. Ich bin keine große Thora-Gelehrte, aber mich

interessiert schon, was da erzählt wird. Die Thora, die Bibel haben mich immer

fasziniert. Ich bin davon überzeugt, dass die Traditionen, aus denen man

stammt, immer auch einen großen Schatz an Weisheiten bergen. Und die wollte

ich kennenlernen.

Autorin 17 :

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2009 erhält Sana Krasikov für ihren Erzählungsband „One more year“ den

Sami-Rohr-Preis , einen hoch-dotierten jüdischen Literaturpreis. Überraschend

nicht nur, weil sie als einzige der fünf Nominierten mit Erzählungen und nicht

mit einem Roman, vertreten war. Überraschend vor allem auch, weil Krasikovs

Prosa jüdische Themen eher beiläufig streift. Neben Juden zählen zu den

Protagonisten ihrer Geschichten auch Christen und Muslime. Religiöse Fragen

beschäftigen diese Figuren nur am Rande. Im Vordergrund stehen irdische

Sorgen und Nöte: materielle, soziokulturelle, seelische Folgen der

Einwanderung – wie in der Geschichte „Maja in Yonkers“ über die Georgierin

Maja und ihren Sohn Gogi.

Sprecherin 3/Zitatorin:

„Gogi kneift die Augen zusammen und tritt einen Schritt zurück, als hätte er

eine Verrückte auf der Straße vor sich. „Dann zeig´s mir doch einfach nicht.

Schreit er plötzlich. Warum zeigst Du mir das alles? Ich kann sowieso nicht

hierbleiben.“

(Sana Krasikov, In Gesellschaft von Männern, aus dem Amerikanischen von

Silvia Morawetz, Luchterhand 2009)

6.O-Ton Krasikov,

Sprecherin 3:

Ich hatte von diesem Jungen gehört, der seine Mutter hier in den USA besuchte -

sie bekamen Streit, weil er unbedingt eine Jacke kaufen wollte, die zu teuer für

die Mutter war. Ich konnte diese Frau förmlich vor mir sehen, verstehen, was

hier los war. Um ihr Kind groß zu ziehen, hatte sie diesen Teufelspakt

geschlossen, um den Preis, dass sie ihn verlor. Sie unterstützte ihn von New

York aus, gab ihn in Georgien in eine Privatschule. Aber er wuchs eben ohne sie

auf, und gewöhnte sich daran, sie irgendwann nur noch als Stimme am Telefon

wahrzunehmen. Fünf Jahre später müssen die beiden real miteinander umgehen,

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sich plötzlich damit auseinandersetzen, wie sie wirklich sind. Allein dieses

Detail mit der Jacke hat mir ein Gefühl für die Tiefe, die epische Qualität dieser

Beziehung vermittelt. Es ist manchmal, als würde man ein Puzzle legen, kleine

Teile sind schon vorhanden, an mir liegt es, eine Geschichte daraus zu

entwickeln.

Atmo: Touristen

Sprecherin 3/Zitatorin:

In New York kann ihn nichts beeindrucken. Er schlurft, wenn sie rennen

müssen, um einen Bus zu erwischen. „Wieso haben die überall ihre Flaggen

rumhängen?“ fragt er alle fünf Ecken, „Ist heute schon wieder ein Feiertag?“ .

Am dritten Vormittag, nachdem sie in der Schlange am Empire State Building

angestanden haben, erwartete Gogi offenbar, dass der Fahrstuhl sie in einem

Rutsch bis zur Injektionsnadel des Gebäudes hinaufbefördert. Als er sie auf der

Besucherplattform im 85.Stock ausspie, drehte sich Gogi enttäuscht und

verdrossen um und wanderte davon.

(Sana Krasikov, In Gesellschaft von Männern, aus dem Amerikanischen von

Silvia Morawetz, Luchterhand 2009)

Autorin 18:

Gogi, dessen kurzer New York-Besuch von Scham und Wut und von viel Neid

getrübt wird, bekommt am Ende seine Marken-Jacke. Nicht die Mutter bezahlt

sie, sondern die wohlhabende Amerikanerin, deren Hauspflegerin Maja ist. Und

so wird aus dieser Geschichte einer Entfremdung nebenbei auch die einer

Demütigung. Unbewußt zwar, eigentlich wohlmeinend, aber eben doch

demütigend, daß eine gönnerhafte alte Lady die Probleme zwischen Maja und

ihrem Sohn einfach mit Geld lösen will.

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Musik: Titel „Alain Delon nepjet ..“ Nautilus (länger stehen lassen )..

0. Ulinich:

Alain Delon trinkt kein Eau de Cologne, das wurde geschrieben, als in Russland

strikte Prohibition herrschte .

1.O-Ton Ulinich

Brooklyn ist der einzige Ort, den ich mir zum Leben vorstellen kann. Ich würde

natürlich auch gern in Manhattan leben, aber das kann ich mir einfach nicht

leisten.

Atmo Track 14, U-Bahn (7th avenue bound train, Text drüber..)

Autorin 19:

Dunkle Brownstones mit langen Treppenaufgängen, die adretten Gebäude an

schnurgeraden Alleen aneinander gereiht– ich treffe Anya Ulinich in Park Slope,

direkt an der Seventh Avenue in Brooklyn. Nicht ganz so teuer wie Manhattan,

trotzdem kein billiges Pflaster. Die jüngere der beiden Töchter von Anya

Ulinich geht hier zur Schule. Die Familie wohnt einige Autominuten entfernt an

der Südseite des riesigen Prospect Parks, im günstigeren Kensington.

Cafe-Atmo hoch ..

Autorin 20:

Wir laufen im verabredeten Cafe fast aneinander vorbei. Anya Ulinich hat wenig

zu tun mit der Frau auf dem Schutzumschlag ihres Romans „Petropolis“. Sie

wirkt viel lebendiger, viel unkonventioneller. Die schwarzen Locken und

dunklen Augen sind in ständiger Bewegung. Sie sei gern lustig, sagt Anya

Ulinich. Was wohl auch mit den absurden Dingen in ihrem Leben zu tun habe.

2.O-Ton Ulinich, Sprecherin 1:

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18

Vieles war absurd. Diese Sowjetunion, in der ich aufgewachsen bin, ist ja eine

verschwundene Welt. Als Gorbatschev an die Macht kam, war ich in der

6.Klasse. Bis zu diesem Zeitpunkt war das ein isolierter, ganz seltsamer

Kosmos. Jeder trug dieselben Schuhe, dieselben Klamotten, aß diesselben

Lebensmittel. Kilometerweit graue Hochhaus-Reihen. Wir mussten eine halbe

Stunde Bus fahren, bis wir an der U-Bahn waren, und dann dauerte es noch mal

fast eine Stunde bis zum Kreml. Unsere Vorstadt-Siedlung war völlig isoliert:

Betongebäude auf Feldern aus Lehm und Matsch. Die Gebäude waren alle neu

hochgezogen worden, es gab also ringsum keine Landschaft. Schon lustig,

unsere einzige Unterhaltung war der Lebensmittelladen nebenan.

Autorin 21:

Mit einem einfachen Touristenvisum verlassen Anja Ulinich und ihre Familie

ihre Heimatstadt Moskau im Jahr 1990. Die Emigrantenwelle dieses Jahrzehnts

verläuft weit weniger dramatisch als während der Zeit des Sowjet-Regimes.

Kein klar umrissenes Feindbild mehr, niemand muß vor einem repressiven

System fliehen. Aber die unsicheren Lebens-Perspektiven in Rußland bieten

genug Anlaß zur Emigration.

3-O-Ton Ulinich

Sprecherin 1:

Alle verließen das Land. 1990. Da war die wirtschaftliche Situation einfach

furchtbar. Es gab praktisch keine Lebensmittel, - das Ergebnis der Jahre unter

Präsident Jeltsin. Es schien damals, als würde dieses Land einfach

auseinanderbrechen. Ich habe außerdem einen kleinen Bruder, da war also

immer die Gefahr, dass er zur Armee eingezogen würde. Daran dachten meine

Eltern auch. Viele ihrer Freunde hatten das Land bereits verlassen, es war fast so

eine Art Trend: wer konnte, der ging.

Autorin 22:

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19

Es verschlägt die Familie Ulinich nach Phoenix/Arizona. Die Eltern,

Angehörige der russischen Mittelklasse, sind auf Unterstützung angewiesen. Sie

besorgen sich bei Wohlfahrtsorganisationen Konserven und Kleidung. Und sie

putzen die Etage einer großen Anwaltskanzlei als Gegenleistung für eine

billigere Wohnungsmiete im selben Gebäude.

4-O-Ton Ulinich, Sprecherin 1:

Ich bin sicher, dass auch die russische Gesellschaft allerlei Ungleichheiten

bietet. Es ist nur so, dass ich nie zuvor Leute erlebt hatte, die einer anderen

sozialen Klasse angehörten. Niemand hatte eine Putzfrau, niemand hatte eine

Kinderfrau. Jeder schrubbte selbst seinen Fußboden, alle trugen dieselben

schäbigen Klamotten. Wenn jemand Geld hatte und reisen konnte, kaufte er ein

paar spanische Moonboots oder eine Jacke in Polen. Das war schon das

Maximum an Differenz. Und plötzlich in den USA musste ich als

Hausangestellte arbeiten, als Putzfrau in einer Villa. Ich fand es unglaublich zu

erleben, dass soziale Klasse an die Herkunft geknüpft ist. Viele dieser

Dienstboten-Jobs werden von Immigranten und Minderheiten gemacht. Sie

arbeiten für Weiße. In New York ist es etwas anders als im Rest von Amerika.

Anderswo sitzen sie ja alle in ihren Autos. Hier aber in Park Slope siehst du

tagtäglich all diese schwarzen Nannies, wie sie weiße Babies herumschieben.

Dieses Klassen-Phänomen springt dir einfach ins Auge. Der Umzug in die USA

hat mich quasi in eine zornige Marxistin verwandelt.

Musik - Nautilus Pompilius..

Autorin 23:

Den Kopf voller Geschichten macht Anya Ulinich sich bald nach ihrem Umzug

nach New York an ihren ersten Roman. 2008 erscheint „Petropolis“ in deutscher

Übersetzung. Es ist die tragikomische Geschichte des russischen Mädchens

Sascha Goldberg, das sein tristes Leben in einem sibirischen Kaff namens

Asbest 2 aufgibt, um als sogenannte „Katalogbraut“ in die USA zu gehen.

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Sascha hat sowohl jüdische als auch afrikanische Wurzeln – ihre Großmutter

hatte während der Sowjetischen Jugendfestspiele in den 50er Jahren eine Affäre

mit einem afrikanischen Studenten. Das Kind, Saschas Vater, gab sie zur

Adoption frei. In den USA erlebt Sascha nicht weniger Rassismus als in

Russland. Er kommt nur anders daher. Zum Beispiel in der Romanfigur Heidi -

einer aufgeschlossenen New Yorkerin, die sich wissenschaftlich mit Russland

beschäftigt und mit Saschas Vater liiert ist. Ausgerechnet Heidi hält Sascha bei

ihrer ersten Begegnung auf einem Spielplatz für eine Kriminelle.

Atmo: Spielplatz schon vorher drüber..

Sprecherin 1/Zitatorin:

S. 312 ff Sie hörte das Gatter zufallen und drehte sich um. Noch eine

Kinderfrau. Ein dickes schwarzes Mädchen in einer schmutzigen roten

Ballonjacke. Die Haare straff zum Pferdeschwanz gebunden, einen krisseligen

Heiligenschein um die Stirn. Heidi gab der Schaukel einen Schubs. Das

Mädchen kam den Drahtzaun entlang und stand einfach vor ihr. So ganz ohne

Kind. Und auch ohne einen Großhandelskarton mit Bonbons. Jetzt werde ich

überfallen, dachte Heidi, lächelte einfach weiter und drückte die Angst nach

innen zurück.

Sie hat Angst vor mir. Der Gedanke ist so komisch, dass Sascha Goldberg

vergisst, was sie sagen wollte. Sie reißt nur instinktiv die Arme hoch und drängt

die sorgfältig zurechtgelegten Sätze zurück ins Hirn. „Sie haben über Russland

geforscht“, fängt sie an. „Wie viele schwarze Russen, glauben Sie, gibt es? Sie

sind mit einem verheiratet. Das ist mein Vater.“

(Anya Ulinich, Petropolis, aus dem Amerikanischen von Pieke Biermann, dtv

premium, 2008)

Musik . Nautilus, ..

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5.O-Ton Ulinich, Sprecherin 1:

Die traditionelle Immigrantengeschichte geht so: man flieht vor etwas Bösem

und landet bei etwas Gutem. Aber es ist in Wirklichkeit alles nicht ganz so

eindeutig.

Autorin 24:

Das gilt auch für die Darstellung jüdischer Identität im Roman „Petropolis“.

Bevor Sascha Goldberg- die Protagonistin - nach New York kommt, lebt sie wie

eine Gefangene bei einer reichen jüdischen Familie russischer Herkunft. Deren

Nachname Tarakan - Kakerlake - spricht Bände. Die Tarakans geben

selbstgefällige Benefizparties für „arme Juden“ aus Russland, lassen sie in ihrem

schloßartigen Anwesen als Dienstpersonal arbeiten. Und die Tarakans drängen

ihre Schützlinge mit paternalistischem Eifer zum gelebten Judentum. Sascha

versteht schnell.

Sprecherin 1/Zitatorin:

Sie ging in ihr Kellergemach, zog ihr Heilsarmee-Samtkleid an und bürstete sich

die Haare. Das Kleid hatte einen runden Halsausschnitt. Sascha nahm die Kette

mit dem Davidstern aus der Schatulle und legte sie um.

„Liebling! Du siehst bildhübsch aus!“ rief Mrs. Tarakan und schlang die Arme

um Sascha. „Komm, Zeit zum Anzünden der Schabbat-Kerzen.“

Natürlich war Kerzenanzünden besser als Scheibenwischen. Sascha rechnete mit

einem riesigen Leuchter, den sie in Brand setzen sollte, und war enttäuscht, als

Mrs. Tarakan aus einer Schublade zwei Kerzen nahm, in silberne Halter steckte

und ihr eine Streichholz-Schachtel in die Hand drückte.

„Habt Ihr das in der Sowjetunion auch gemacht?“

„Manchmal“, log Sascha

„Kennst du das Gebet?“

Sascha schüttelte den Kopf „Nein“

„Ach nein, natürlich. Sprich mir einfach nach: Baruch Ata Adonaj…“

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(Anya Ulinich, Petropolis, aus dem Amerikanischen von Pieke Biermann, dtv

premium, 2008)

6.O-Ton Anya Ulinich, 33´56- 35´05

Sprecherin 1: Ich war eigentlich immer stolz auf dieses „Jüdische“ in mir- aber

ich konnte nicht an Gott glauben. Ich bin damit einfach nicht aufgewachsen. Ich

habe keine Vorstellung von überirdischem, spirituellen Leben. Meine Familie ist

schon in dritter Generation atheistisch, vor allem meine Großmutter. Religiös zu

sein bedeutet für sie rückwärts gewandt zu sein, hat mit dem Leben ihrer

Vorfahren auf dem Dorf zu tun. Es bedeutet für sie Dummheit. Ich hätte mich

natürlich trotzdem mit meiner jüdischen Identität auseinandersetzen können,

kulturell mit dem Judentum. Aber als wir nach Phoenix, Arizona kamen und

unsere Familie ein Fall für die Wohlfahrt einer chassidischen Synagoge wurde,

da hatte es sich mit meiner Begeisterung für das Judentum schnell erledigt. Ich

war siebzehn damals und 50jährige Männer, mit langen Bärten sprachen meine

Mutter an, ob sie nicht ein Date mit mir kriegen könnten. Meine Mutter sprach

kein Englisch und war komplett überfordert damit. Das Ganze war schrecklich -

ich konnte es nicht fassen.

Atmo-Cafe . Text drüber..

Autorin 25: Schnell verlässt Anya Ulinich Phoenix und die dortige jüdische

Szene. Mitte der 90er Jahre erhält sie ein Stipendium und studiert an einem

College in Kalifornien Malerei. Der Job ihres Mannes, eines Computer-

Spezialisten, führt die Familie von dort für ein paar Jahre nach Chicago. Als der

Ehemann sie überredet, ins Künstler-Mekka New York zu ziehen, gibt Anya

Ulinich ausgerechnet das Malen ganz schnell auf. Denn Ateliers sind - auch in

Brooklyn – unbezahlbar. Und der Vorzug des Schreibens ist: es funktioniert

selbst im kleinsten Cafe.

Atmo: Musik

U-Bahn Atmo Coney Island bound train)

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23

Atmo: Lärm und Russen-Pop an der Brighton Beach Avenue

Autorin 26 (über vorhergehende Atmo):

Mit dem Q-Train geht es quer durch ganz Brooklyn, bis an die Südspitze, an den

Atlantischen Ozean – hier liegt Brighton Beach – das konzentrierte russische

Leben New Yorks, oder vielleicht auch seine Karikatur. Die U-Bahn rattert

oberirdisch - in entsetzlicher Lautstärke - über die Haupteinkaufsstraße. Direkt

am U-Bahn-Ausgang „Brighton Beach Avenue“ schallt schrille Pop-Musik und

laute Werbung aus einem kleinen Elektronik-Laden. Daneben

Lebensmittelgeschäfte, die russische Bonbons und eingelegte Dillgurken

anpreisen. Die angebliche „Buchhandlung“ bietet Puzzles mit russischen

Zarenköpfen an – und Toilettenpapier mit aufgedruckten US-Dollarnoten.

Atmo (s.o.) hoch

Autorin 27:

In der Bar Tatjana, direkt an der Uferpromenade, verbreiten Kellner den

zwielichtigen Hauch mafiöser Halbwelt. Draußen auf den Bänken sitzen

Babuschkas und unterhalten sich mit alten Herren, die beim Lächeln ihre

Goldzähne blitzen lassen. Es ist eine bizarre Welt, und sie irritiert nicht zuletzt

auch russische Besucher. Lara Vapnyar ist eine davon:

1.O-Ton Vapnyar,

Sprecherin 2:

Ich habe eine Haßliebe zu Brighton Beach. Es gibt sogar eine Geschichte, die

ich geschrieben habe, die heißt „Ich hasse Brighton Beach - ein Liebesbrief“ es

ist also sehr konfliktgeladen. Da sind Teile von Brighton Beach, die liebe ich

und die besuche ich gern, und es gibt andere Ecken, die mich einfach ärgern.

Aber ich habe festgestellt: je länger ich hier lebe, desto weniger hasse ich es.

Autorin 28:

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24

Auch Mischa lebt in Brighton Beach. Er ist die Hauptfigur in der Erzählung

„Die Mätresse“, eine der allerersten Geschichten von Lara Vapnyar. Der

neunjährige Mischa muß seine Großmutter häufig zu Arztbesuchen begleiten,

um dort ihre unappetitlichen Krankheitsgeschichten zu dolmetschen. Als

Mischas unbeschäftigter Großvater an einem Englischkurs für Immigranten

teilnimmt und dort eine Dame namens Jelena Pawlovna kennenlernt, kommt

Glanz in sein graues Leben. Mischa wird Zeuge dieser zarten Romanze.

Sprecherin 2/Zitatorin:

Mischas Großvater und Jelena Pawlowna hatten die heiße Schokolade

zusammen zubereitet. Sie sagten „Danke schön“ , „Bitte“ und „Dürfte ich“

zueinander und lächelten viel. Sie sprachen wie die Figuren in den Tschechow-

Stücken, die Mischas Mutter in Russland immer so gern ansah, und doch spürte

Mischa, dass die Sache mit seinem Großvater und Jelena Pawlowna kein

Theaterstück war. „Wie heißt Du?“ fragte Jelena Pawlowna, „Michael“ sagte

Mischa. „Michael?! Du sieht aber nicht aus wie ein Michael. Mischa würde viel

besser zu Dir passen. Darf ich Mischa zu Dir sagen?“ Mischa nickte, pustete

vergnügt auf sein viel zu heißes Getränk und biss in ein Plätzchen mit köstlicher

Himbeermarmelade.

(Lara Vapnyar, Es sind Juden in meinem Haus, aus dem Amerikanischen von

Monika Schmalz, Berlin Verlag 2005)

2.O-Ton Vapnyar,

Sprecherin 2:

Ich bin in Moskau aufgewachsen und natürlich empfinde ich eine gewisse

Nostalgie für die Stadt. Aber diese Nostalgie gilt ganz bestimmt nicht der

Sowjetunion. Am ehesten weckt wohl meine Kindheit nostalgische Gefühle. Ich

glaube aber nicht, daß ich ein glückliches Kind war. Aus der heutigen

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25

Perspektive, wenn ich zurückschaue, vermisse ich meine Kindheit, aber ich habe

sie nicht genossen, als ich Kind war.

Atmo Track 18 (Kinder, Lachen)

Autorin 29:

Kinder sind allgegenwärtig in den Geschichten von Lara Vapnyar. Aber nicht,

weil sie die besseren Menschen wären. Lara Vapnyar benutzt kindliche Helden,

weil sie das Material für ihre Geschichten aus eigenen Kindheitserinnerungen

schöpft. Wie in der Erzählung „Eine Frage an Vera“. Vera ist die Puppe der

kleinen Katja, die im Kindergarten mit ihrem „Anderssein“ konfrontiert wird.

Sprecherin 2/Zitatorin:

S. 96

Ira Baranova flüstere: „Ich weiß was über Dich“. Jetzt stand Ira vor Katja und

versperrte ihr die Sicht auf die Waschbecken. Ira war groß. Sie war das größte

Kind in der Gruppe. „Du bist eine Jüdin“ sagte Ira. „Ich weiß das. Ich merke

das.“ Katja machte einen Schritt zurück gegen die Wand und spürte die kalten

Fliesen an den Schulterblättern. Katja wusste nicht, was eine Jüdin war, oder ein

Jude, nicht einmal Jüdisch. Sie hatte dieses Wort weder in ihrer Familie noch im

Fernsehen jemals gehört, aber irgendwie war ihr sofort klar, dass sie das nicht

sein wollte. „Guck Dir mal Deine Augen an“ sagte Ira. „Deine Augen sind zu

groß. Das ist nicht normal.“ Katja dreht sich um und guckte sich Iras Augen an.

Sie hatte Recht. Ihre Augen waren doppelt so groß wie die von Ira. Katja fand

sie sofort furchtbar. „Und jetzt guck Dir Deine Nase an. Siehst Du, sie zeigt

nach unten, nicht nach oben.“ Das stimmte. Verzweifelt versuchte Katja, ihr

Kinn hochzuschieben, doch ihre Nasenspitze zeigte beharrlich nach unten.

(Lara Vapnyar, Es sind Juden in meinem Haus, aus dem Amerikanischen von

Monika Schmalz, Berlin Verlag 2005)

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3.O-Ton Vapnyar, Sprecherin 2:

Ich hatte eigentlich keine wirkliche russische Identität, bis ich hierher kam. Erst

hier in den USA haben Leute begonnen, mich als Russin wahrzunehmen. Dort in

Russland war ich die Jüdin und ich fühlte mich immer als Außenseiterin. Nie

fühlte ich mich als richtige Russin.

Sprecherin 2/Zitatorin:

(S. 101)

Katja dachte an die wütende Frau im Gemüseladen. „Hör auf mit deinen

jüdischen Mätzchen!“ Plötzlich ging Katja auf, dass die Kundin, die die

Gemüsefrau damals angekeift hatte, Katjas Mutter gewesen war. Es war Katjas

Mutter gewesen, die sich nur die guten Tomaten heraussuchen und die

vergammelten hatte dalassen wollen. Katja wusste nicht, was daran schlecht

war, aber offensichtlich war es so. Außerdem hatte ihre Mutter große, nicht

normale Augen und eine nach unten zeigende Nase. Ihre Großmutter ebenfalls,

ihr Bruder ebenfalls. Sie alle waren Juden. Und Katja auch.

(Lara Vapnyar, Es sind Juden in meinem Haus, aus dem Amerikanischen von

Monika Schmalz, Berlin Verlag 2005)

Autorin 30: „ Eine Frage an Vera“ ist eine von sechs Erzählungen von Lara

Vapnyar. In Deutschland erschienen sie 2005 unter dem Titel „Es sind Juden in

meinem Haus“. Die Titelgeschichte spielt im belagerten Leningrad während des

2.Weltkriegs. Eine Russin bekommt allmählich Zweifel daran, ob sie ihre

jüdische Freundin weiter versteckt halten soll. Die Freundin spürt den

Vertrauensbruch und flieht vor der Gefahr.

4.O-Ton Vapnyar, Sprecherin 2:

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Es ist sehr wichtig für mich. Ich spüre, daß ich jüdischer bin als ich es

wahrhaben will, aber ich mag all diese formalen Dinge nicht, ich glaube einfach

nicht daran. Wobei auch der Holocaust eine ganz große Rolle für mich spielt,

das bewegt mich sehr - und ich habe viel darüber recherchiert, als ich z.B. diese

Geschichte geschrieben habe. Irgendwo tief drinnen in meiner Seele bin ich auf

eine ganz private Art und Weise jüdisch.

Autorin 31:

Lara Vapnyar macht einen zarten, fast zerbrechlichen Eindruck. Das blasse

Gesicht wirkt durch die langen dunklen Haaren noch schmaler. Vor 16 Jahren

kam Lara Vapnyar in die USA. Da war sie schon 23 Jahre alt, verheiratet und

frischgebackene Absolventin eines Studiums der russischen Literatur.

5.O-Ton Vapnyar, Sprecherin 2:

Meine ersten Eindrücke von New York waren wirklich negativ. Ich war

schwanger und mir war morgens immer übel. Ich schob das einfach auf die

Stadt. New York macht mich krank, dachte ich. Aber als es dann vorbei war,

habe ich begonnen, die Stadt zu mögen – auf einmal lief ich gern hier durch die

Gegend. Und ich begriff, daß New York vielleicht mehr Ähnlichkeiten mit

Moskau hat als mit dem Rest der USA. Es ist so anders als das übrige Amerika.

Atmo Track 9 , (Cafe Glechik Track, Handy-Klingeln mit Tschajkowskij-

Melodie) ..

Autorin 32:

Anderswo in Amerika wäre die Existenz eines Ortes wie des Cafe Glechik kaum

so selbstverständlich. Mitten in Brighton Beach, an der Coney Island Avenue

liegt das Lokal, ein schmuckloses Mini-Restaurant, unprätentiös, aber immer

voll. Es gibt hier für wenige Dollars russische und ukrainische Speisen, Bortsch

und Schtschi, Pelmeni, Vareniki, Pliny. Die Bedienung ist kurz angebunden,

geradezu unwirsch. Ungefragt bekommt man die Rechnung serviert. Der Tisch

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wird benötigt. Russland pur! Lara Vapnyar wechselt wie automatisch in ihre

Muttersprache:

6.O-Ton Vapnyar, Sprecherin 2:

Ich will diese russische Sphäre eigentlich verlassen, denn selbst wenn ich über

Russen schreibe, geht es mir in den Geschichten nicht so sehr um russische

Details. Es kommen einfach nur eben Russen vor, weil ich vor allem Russen

kenne.

(Atmo: Cafe Glechik weg)

Autorin 33:

Weniger zufällig als die Wahl ihrer Figuren ist die der Sprache, in der Lara

Vapnyar schreibt. Russisch ist für die Familie reserviert. Englisch für ihre

Erzählungen und Romane. Es fällt schwer zu glauben, dass sie diese Sprache bei

der Emigration mit 23 kaum beherrscht hat. Oder daß sie heute amerikanische

Studenten an der New York University als Dozentin für „Creative writing“

unterrichtet: Aber: Sprache ist für Lara Vapnyar Mittel zum Zweck – und sie

geht pragmatisch damit um.

7.O-Ton Vapnyar, Sprecherin 2:

Manchmal schreibe ich auf Russisch, aber das passiert selten genug. Ich

bevorzuge mein Englisch, weil mein Russisch sehr emotional, sehr sentimental

ist. Meine Sätze werden im Russischen immer viel zu lang. Oder sie klingen

weinerlich, oder hysterisch. Mein Englisch ist viel präziser - vielleicht, weil ich

mich emotional nicht so gebunden fühle.

Atmo-Cafe kurz hoch

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8. O-Ton Vapnyar, Sprecherin 2:

Es ist wirklich lustig. In der Regel kommentiere ich mein Englisch auch immer

am Anfang eines neuen Kurses “Seht mal“, sage ich dann zu meinen Studenten.

„Wenn jemand so Englisch spricht wie ich – und euch trotzdem beibringt, wie

man schreibt - was sagt das eigentlich aus über den Zustand der

amerikanischen Literatur? Aber sie können damit ganz gut umgehen ..(Lachen)

Atmo: Track 11 (Chinatown) (Schritte. Gespräche, Text drüber)

Autorin 34: Von Brooklyn geht es zurück nach Manhattan, an die Lower Eastside im

Südwesten der Insel. Ins frühere „Jewtown“ - die Judenstadt, wie sie Henry

Roth in seinem Roman „Call it sleep“ beschrieben hat. Man findet kaum noch

historische Spuren der osteuropäischen Juden, die hier jahrzehntelang gelebt

hatten. Heute dominieren Chinesen das Viertel. Aber in der Eldridge Street,

ganz in der Nähe der U-Bahn-Station Canal Street ragt eine Art Ausrufezeichen

aus den grauen Mietshäusern: eine prächtige Synagoge - ein funkelnder Juwel,

völlig deplaziert neben den chinesischen Garküchen und kleinen Import-Läden.

Das opulente Gebäude aus dem Jahr 1887 ist die älteste von Osteuropäern

erbaute Synagoge New Yorks. Vor wenigen Jahren wurde sie komplett und

aufwändig restauriert. Die jetzige Gemeinde ist klein, 30 - 40 Leute kommen im

Durchschnitt zu den Gottesdiensten. Auf sehr viel mehr Resonanz stösst das

säkulare Programm der Synagoge. Gary Shteyngart, Anya Ulinich, Sana

Krasikov und Lara Vapnyar haben hier aus ihren Büchern gelesen. Und viele

Besucher kommen zu diesen Lesungen – egal, ob sie Juden, Muslime oder

Christen sind, Russen oder Amerikaner, Immigranten oder nicht. Denn in den

Geschichten der vier Autoren geht es um Menschen wie sie. Um Menschen in

New York.

Atmo Menschen auf der Straße.

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30

Musik .Ende, Musik hoch vom Anfang (des Straßenmusikers, Where you from?.. She came from..) Ende