konzepte einer wissenschaft

9

Click here to load reader

Upload: h-g-gerlach

Post on 12-Aug-2016

216 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Konzepte einer Wissenschaft

Konzepte einer Wissenschaft Entwicklungslinien in der Kieferorthop~idie

H. G. Gerlach, Ravensburg

Aufgabe der Wissenschaft ist es, neue Erkenntnisse zu fOrdern oder bekannte Sachverhalte zu korrigieren. Die Quelle der Wissenschaft ist die Empirie. Aus dem reichen Fundus an Erfahrungen, welche die Naturmedizin sammelte, entwickelte sich die wissenschaftliche Schulmedizin nach dem Konzept kausal-analytischer Uberlegungen.

Gut tiberschaubar ist die Entwicklung in der Kieferorthop~tdie. Aus dem empiri- schen Wissen entstanden wissenschaftliche Konzepte. Hatten sich diese in abstrak- ten HOhen verloren, so erhielten sie neue Impulse aus der Erfahrung.

Das Jahrhundertkonzept

Aus den historischen Studien von Weinberg [30] geht hervor, dab vor der Jahr- hundertwende Zahnregulierungen nach rein empirischen Gesichtspunkten ausge- ftihrt wurden und dab dabei vor allem die L6sung technologischer Probleme im Vordergrund stand. Diese Epoche der ,,Zahnregulierung" fand durch den prakti- schen Realismus eines Angle [2, 3] ihren historischen AbschluB. Sein Interesse war darauf gerichtet, gewisse Leitlinien ft~r ein Fach zu bestimmen, welches zunehmende Bedeutung gewann. Das Konzept war einfach. Es orientierte sich an rein morpholo- gischen Symptomen. Hunter und Davenport [18, 7] hatten ibm den Weg schon vor- gezeichnet. Gegentiber den jeder freien Sicht entzogenen inneren Strukturen von Auge, Ohr und Nase lassen sich die wesentlichen Elemente des Gebisses frei beo- bachten. Als ModellabguB kann es dazu leicht aus dem Organverband herausgel6st werden. Bei der Gegeniiberstellung von Gebissen, einmal mit anatomisch perfekter Okklusion, das andere Mal mit gest6rter Okklusion, land Angle [2, 3] das, was er ats den ,,Schliissel der Okklusion" bezeichnete. Ein daraus abgeleitetes Lageverh~iltnis der Molaren zueinander war keine wirklichkeitsfremde Abstraktion. Es ist eine dem Menschen eigenttimliche optimale Anordnung der Z~hne. Mit diesem MaBstab, der sich zwar nur auf eine Raumdimension bezog, war auch das Ziel fiir therapeutische Handlungen vorgezeichnet, namlich einen anormalen Zustand in den von Natur aus vorgezeichneten Zustand zuriickzuftihren. KOrbitz [19, 20] vertiefte dieses Konzept mit dem Hinweis darauf, dab die h~ilftige Symmetrie der GebiBb6gen erst die Vor- aussetzung einer perfekten Okklusion sei.

Damit war erstmals ein naturwissenschaftliches MeBverfahren in die damalige Orthodontie eingebracht und eine zweite Dimension des Gebisses der Analyse zu- g~inglich geworden.

Ein weiter gestecktes Ziel verfolgte Pont [23]. Um die jeweilige GebiBbogenform in der transversalen Dimension festzulegen, bediente er sich korrelationsstatistischer

Fortschr. Kieferorthop. 41 (1980), 543--551 (Nr. 6) 543

Page 2: Konzepte einer Wissenschaft

H. G. Gerlach

Untersuchungen. Obgleich mit der SI ein individuell gebundener Bezugswert heran- gezogen wurde, konnte sich die Theorie nicht mit der Praxis decken. Bei gleicher SI kOnnen die Gebil3bOgen yon derart unterschiedlicher Breite sein, dab die individuel- le Wertigkeit der statistischen Aussage auf Null sinkt. Es widerspricht dem biologi- schen Sachverhalt, normometrische Durchschnittswerte aus einer Summe von inter- individuellen Formen zu ziehen und ihnen volle Befugnis far diagnostische Urteils- findung und therapeutische Handlungen zu geben.

Das Konzept von Angle [2, 3] konnte damit nicht bereichert werden. Seiner Lehre gemgl3 wurde das Wesen einer Anomalie vom beweglichen Unterkiefer und durch dessen jeweilige Stellung zum sch~delfixierten Oberkiefer in mesiodistaler Richtung bestimmt. Damit war zugleich ein einfaches Einteilungsprinzip gegeben. Das Drei- klassenschema wurde zu einem internationalen Verst~tndigungsmittel. Vielleicht blockierte gerade dieser bedeutende Erfolg die weitere Entwicklung der Orthodontie in Richtung auf die biologischen Wesensz~lge.

Mit diesem Fixpunkt wurde ein Symptom vordergrandig kultiviert; der wissen- schaftliche Drang, die Kausalitfit der Erscheinungen zu erforschen, war gelfihmt. Zu jener Zeit liel3 die Lehre auch keinen Raum ft~r alternative Theorien, die fiber den rein morphologischen Zustand hinausreichten, zumal dann nicht, wenn sie mit der Okklusionslehre kollidierten.

Angle's [2, 3] eigene Behandlungsrezidive mochten wohl Zweifel an der Vol'lkom- menheit seines Konzepts geweckt haben. Hellmann [16] berichtete daraber. Rackf~tl- lige Behandlungsergebnisse forderten die Technik heraus. Nach dieser Maxime han- delte Angle [3] und bemt~hte sich, die apparattechnischen Hilfsmittel zu vervoll- kommnen.

Einer seiner deutschen Zeitgenossen, E. Herbst [17], beurteilte die damalige Situa- tion wie folgt: ,,Angle und seine Schiller waren schwer zu bewegen, die Gesetze der Erblichkeit auch auf das GebiB auszudehnen. Sie sagten: Der Mensch wird zahnlos geboren, also hat er keine Zahnstellung bei der Geburt, und was nachher geschieht, ist exogene Anomalie." Andere Praktiker, vor allem solche, die sich nicht nur mit banalen Stellungsanomalien befal3ten und die trotz schulgerechter Therapie Mil3er- folge hatten, machten die Enge des Konzepts dafter verantwortlich [2tl.

Die Frage war berechtigt, ob etwa die einfache Modellbetrachtung, die ,,Prima- vista Diagnose" den biologischen Sachverhalt verschleiern kOnnte. Zwar stellt das Gebift ein autonomes System von Strukturen dar, doch gehOrt es entwicklungsm~- Big in den Verband der fazialen Strukturen, mehr noch in den Verbund mit der gan- zen Pers0nlichkeit seines Tr~igers.

Schon ein Schialer Angles, Dewey [9], suchte nach einer solchen schfirferen Diffe- renzierung zwischen Anomalien, die aus der Entwicklung des Sch~tdels entstanden sind und solchen, die auf anormalen Zahnstellungen innerhalb der Kiefer beruhen.

Greve [15] verwies bei seiner Kritik am Angleschen System schon t915 auf die Notwendigkeit hin, nicht die Zahne, sondern den gesamten Kopf zum Ausgangs- punkt der Diagnose zu machen, das Gebig also wieder in seinen urspriinglichen Ver- band zur~ckzuft~hren.

544 Fortschr. Kieferorthop. 41 (1980), 543--551 (Nr. 6)

Page 3: Konzepte einer Wissenschaft

Konzepte einer Wissenschaft

Das kephalometrische Konzept

Diesem Problem war van Loon [28] nachgegangen. Einer Gipsmaske vom Kopf wurde das Gebii3modell an der entsprechenden Stelle eingeftigt und das Ganze in den aus der Anthropologie bekannten Cubus craniophorus gestellt. Die W~nde des Kubus stellten die drei Raumebenen dar. Daran liel3 sich die verschiedenartige Kiefer-Gebii31age zum Kopf demonstrieren.

Simon [26] gelangte zu einer praktisch einfachen LOsung, die er als ,,Gnathosta- t ik" bezeichnete und die aut3ergew0hnlichen Widerhall fand. Beim Abdruck des Oberkiefergebisses wird dieser unter Zuhilfenahme eines Gesichtsbogens sogleich auf den Tragus und den Orbitalpunkt ausgerichtet. Die Modelle erhielten eine Form, die den nattMichen Beziehungen entsprach, welche die Zahnreihen zu den durch die Bezugspunkte laufenden Ebenen einnahmen. Das waren die Frankfurter Horizon- talebene und die im Orbitalpunkt gef~illte Orbitalsenkrechte. Damit waren erstmals kephalometrische Bezugsebenen eingefahrt.

Auf Grund von Durchschnittswerten biostatischer Untersuchungen stellte Simon [26] die Regel auf, dab die Orbitalsenkrechte durch die Eckzahnspitzen im Oberkie- fer verlfiuft. Das Konzept erschien vielversprechend, war es doch der Beginn einer Entwicklung, welche die gebiBbezogene Orthodontie zur Kieferorthopfidie machte. Lediglich der Umstand, dab Simon [126] die ,,Molarenkonstanz" durch die ,,Kon- stanz der Eckzahnlage" ersetzte, dessen Variabilit~it erheblich ist, brachte diesem Konzept keine tiefere Resonanz. Wissenschaftlich tragf~thig, wenn auch in einer an- deren Richtung, wurde das gnathostatische Modellverfahren in Europa vor allem durch R. Schwarz [25]. Diese Idee der kephalogischen Ausrichtung von Gebigmo- dellen kann auch als Vorl~iufer der modern gewordenen Gnathologie angesehen wer- den. Die Kieferorthop~iden haben dieses Konzept bis jetzt nicht wiederbelebt, ob- gleich es als hOhere Stufe der Analyse bewertet werden mul3.

Ein physiotherapeufisches Konzept

Gewissermagen als Reaktion auf die Einengung biologischer Systeme durch nor- mometrische Regeln, besonders auf die zu buchst~bliche Interpretation solcher Be- funde, kam Ende der zwanziger Jahre die Erfahrungswissenschaft wieder zum Wort. Eine bemerkenswerte Hinwendung zu rein therapeutischen Konzepten wurde aktuell. Angeregt yon dem Nutzeffekt, den Robin [24] mit seinem ,,Monoblock" bei Glossoptose der Kleinkinder erziette, begrtindete Watry [29] eine ,,Physiotherapie". Das Konzept erinnert fast an das, was ein grol3er Mediziner des Altertums, ein Gale- nius, forderte. Er lehrte, dab die spontane Heilkraft der Natur den Zustand der Ge- sundheit wieder herzustellen habe, wobei der Arzt nur Helfer sein konnte. GebiB- anomalien sollten - - so Watry [29] -- durch Umstellung der Atmung ohne mechanisch-orthodontische Einwirkung erfolgen. Ftir Andresen u. Hgiupl [1] wurde der Monoblock Mittel zum Zweck, gewissermal3en sollte er ein Krafttransformator sein, der die vom Patienten selbst erzeugte Muskelenergie auf das Gebig und zu sei-

Fortschr. Kieferorthop. 41 (1980), 543--551 (Nr. 6) 545

Page 4: Konzepte einer Wissenschaft

H. G. Gerlach

ner Umformung tibertrug. Durch eine von Andresen u. t t t iupl [1] konzipierte Theo- rie, die an die Forderung von Farrars [10] nach ,,intermittent forces" erinnert, wur- de die Wirkungsweise spater wissenschaftlich eingerahmt. Eine ungewOhnliche Ne- benwirkung dieser scharf diskutierten Theorie war die Spaltung im Lager der Thera- peuten. Die ,,Funktionskieferorthop~den" waren zu einer Gruppe geworden, die sich von denen absonderte, die daneben den traditionellen Weg der aktiv- mechanischen Behandlung weiter pflegten.

Jede Theorie enthglt Teile eines wahren Sachverhalts. Aber es bleiben immer nur Teilwahrheiten, StOcke aus der biologisch komplexen Wirklichkeit, die den mensch- lichen Organismus betreffen. Es scheint ferner so, dab Konzepte, die ihre Verwirkli- chung an technische Vorrichtungen binden (Aktivator, Bionator, Funktionsregler etc.), an Oberzeugungskraft einbOgen, je mehr sie in offenen Wettbewerb mit ande- ren therapeutisch einsatzf~higen Mitteln treten. Dennoch dienten die Auseinander- setzungen t~ber den ,,wahren Weg" zur Heilung yon Kiefer-GebiBanomalien mit funktionskieferorthop~tdischen Ger~ten dem Fach. Das BewuBtsein war gestSrkt, das GebiB als Teil eines stomatognathen Komplexes anzusehen, dem benachbarte Systeme funktionell zugeordnet werden muBten, soweit sie EinfluB auf sein Wachs- tum und seine Form nehmen k0nnen.

Wachstumskonzept

Wachstum, diese Eigenschaft der Volumenzunahme lebender Organismen, ist dem Prozef5 der Entwicklung und Differenzierung sozusagen untergemischt. Seine genetischen Faktoren wie seine hormonellen Stimulantien sind nicht vorher zu be- stimmen. In dem Reifungsvorgang vom kindlichen Gesicht zu dem des Erwachsenen spielt das GebiB eine wesentliche Rolle. Fortlaufende Messungen am Lebenden soil- ten den Zusammenhang zwischen dem Wachstum der Kiefer-GebiBregion und dem des Gesichtsskeletts herausfinden. Doch es fehlte d~e Einsicht in die skelett~iren Strukturen des lebenden Menschen. Das TelerOntgenverfahren gab dazu die MOg- lichkeit. Die technischen Voraussetzungen waren Anfang der dreigiger Jahre gege- ben.

Broadbend [5] und Brodie [6] benutzten bekanntlich das Verfahren ft~r Langzeit- untersuchungen bezOglich der Verlaufsrichtung im Wachstum der Sch~idel- Gesichtsstrukturen. Aus der Uberlagerung lateraler ROntgenbilder aus jeder Wachs- tumsperiode lieB sich unmittetbar die altersm~gige Zuwachsrate der einzelnen im Profilbild vermerkten Strukturen ablesen. Ebenso wurden die verschiedenartigen Richtungen des Wachstums angezeigt, welche die Natur bis zur Ausreifung dieser Strukturen verfolgte. Solche Untersuchungen gaben den ersten Einblick in das Wachstumskonzept der Natur, aber sie beschr~nken es au f zwei Ebenen und auf Durchschnittswerte. VOllig offen bleibt die Qualitgt und Quantit~t und der zeitliche Ablauf dieser Struktur~inderung bei der Einzelperson. Statistische Durchschnitts- werte sind die Ausnahme, die Abweichung davon sind beim Menschen die Regel.

Bei allen Vorbehalten hat die normometrische Differenzierung, bezogen auf die Abhfingigkeit zwischen dem dentoalveol~tren System und dem kraniognathobasalen

546 Fortschr. Kieferorthop. 41 (1980), 543--551 (Nr. 6)

Page 5: Konzepte einer Wissenschaft

Konzepte einer Wissenschaft

System, bemerkenswerte Erkenntnisse gebracht. Als anatytisch-diagnostische Hilfe wird sie nicht mehr zu entbehren sein. Die Einschrfinkung ist durch die Tatsache ge- geben, dab ein ROntgenschnittbild ein Zeitrafferbild yon einem Individuum ist, der Status yon einem meist noch in der Wachstumsphase stehenden Individuum, yon ei- nem unter Milliarden. Diese haben keinen anderen einheitlichen Nenner als den, der ihnen statistisch zudiktiert wird. Praktisch gesehen, kommt es also nicht so sehr auf die absoluten Mel3werte an, als auf die gegenseitige Abstimmung der Befunde unter Beachtung und Mitbewertung anderer individueU geprfigter Merkmale.

Daftir ein Beispiel. Im statistischen Durchschnitt stehen die Achsen der unteren Inzisiven bei anatomisch perfekter Okklusion senkrecht zur mandibul~ren Basis (Tweed). Stehen sic inkliniert, so kann dieses im Fall einer K1. III nut als gfinstig ge- wertet werden. Es gibt AnlaB anzunehmen, dab einem t~bergewichtigen Tonus der Kinnmuskulatur ein untergewichtiger Tonus der Mundboden-Zungenmuskulatur gegentibersteht. Diese Neutralisation und individuell eingespielte Balance wird kein Therapeut etwa dutch Proklination des unteren frontalen Segments st6ren wollen. Das am Durchschnitt gemessene Anormale ist hier individueI1 normal und ein grin- stiges Momem ffir die Therapie.

Entwicklung neuzeitlicher Konzepte

Alle diese hier kurz umrissenen Konzepte haben unser Wissen bereichert. Auch wenn manche von ihnen mit der Zeit an praktischem Wert eingebtiBt haben, so ha- ben andere einen festen Platz behalten. Das gilt besonders ffir die, welche sich auf die unumgfinglich notwendige GebiBanalyse beziehen.

Als Warty [29] einmal den Satz pr/igte, wit behandeln nicht die Protrusion, son- dern den Patienten mit der Protrusion, da fehlten noch sachtiche Unterlagen zur Verwirklichung dieses Konzepts. Ahnliches wird immer wieder gesagt. Jedoch wur- de von dieser ,,Ganzheitlichkeit" mehr geschw~mt, als dab ein wissenschaftlich be- griindeter und praktisch gangbarer Weg gewiesen wurde, wie die Individualit~it fiir die Praxis zu erschlieBen ist. In der bloBen Behauptung, die Kieferorthop/idie sei keine Millimeterarbeit, man mfisse die groBen Zusammenh~tnge beachten, etwa sol- che konstitutioneller Art, liegt wenig f.)berzeugungskraft. Ohne diese allgemein me- dizinische Richtung herabsetzen zu wollen, so ist doch wiederum daran festzuhal- ten, dab wir letztlich und fast mehr an das ,,kleine MaB" gebunden sind als an die mehr zuffilligen und mitunter mit einer GebiBanomalie kombinierten konstitutionel- len Abwegigkeiten. Die Okklusion lfiBt dem Therapeuten doch tatsfichlich nur den Spielraum von Millimetern. Somit bleibt die Okklusion mit allen ihren Details das zentrale Problem. Sie wird jedem neuen Konzept zur Schicksalsfrage. Wer sich ernstlich und mit allen Erscheinungen von GebiBanomalien auseinandersetzt, der wird die ,,Okklusionsanalyse" nicht mit dem Klassenschema allein identifizieren. Sie gibt nur eine erste Richtung an, sie ist das ,,kleine a" des Alphabets. Wet am Anfang der Erkenntnissuche stehen bleibt, ger/it in Gefahr, das apparatetechnische Instrumentarium mehr als Zwangsmittel zu gebrauchen denn als Heil- oder Linde- rungsmittel. Das diagnostische Konzept steUt weitere Ansprtiche, von denen der tra-

Fortschr. Kieferorthop. 41 (1980), 543--551 (Nr. 6) 547

Page 6: Konzepte einer Wissenschaft

H. G. Gerlach

ditionelle Symmetrievergleich Zahnwanderungen eleminiert oder auf asymmetrische Wachstumsabweichungen hinweisen kann, die eine h6here Stufe der Analysentech- nik erfordern.

Mit der bivalenten Segmentanalyse [14] geben sich Disproportionen im ZahngrO- genverhNtnis zu erkennen. Zugleich k0nnen differentialdiagnostische Entscheidun- gen getroffen werden, zur Deutung, ob die Verkt~rzung der vorderen Zahnbogenl~- ge (Korkhaus [21]) ffir etwaigen sagittalen Raummangel im Eckzahnbereich verant- wortlich zu machen ist. Es massen nicht immer alle Tests durchgefiihrt werden. Mit einer ,,Stufenanalyse" bleibt der Weg zu weiteren Erkundungen t~ber das Wesen ei- ner Anomalie und zu einer gezielten Therapie often.

Dazu z~hlt weiter die Abkl~trung von asymmetrischen Wachstumstendenzen mit Hilfe des kephalostatisch orientierten Gnathostatmodells, die Teler0ntgenanalyse, die rOntgenologische Darstellung des Kiefergelenks auch in basaler und frontookzi- pitaler Projektion. Klinische Tests werden leider zu wenig get~bt, obgleich sie man- che Aufschlt~sse geben. Dariiber wird noch einiges zu sagen sein. Die perfekte Ok- klusion ist das Merkmal optimaler Gebigverh~ltnisse, welches sich im Zuge der menschlichen Evolution etablierte. Doch alles fliegt, und auch die Evolution ist ein dynamisch fortwirkender ProzeB, der zu Formwandlungen ft~hrt. Der Formenreich- rum der menschlichen Gesellschaft beweist es, und das ,,egoistische Gen" [8] fiihrt ihn weiter. Von allen Organen wird der Gesichtsabschnitt mittelbar wie unmittelbar betroffen. Die Wirkungen lassen sich am sichersten erfassen, wenn das stomato- gnathe System in seine drei morphologischen Komponenten mit ihren verschieden- artig biologischen Qualit~iten aufgelOst wird.

Steht das Gebig als dentoalveol~res System im Zentrum, so ist es peripher-kranial von seiner Matrix, dem kraniognathobasalen System, getragen und zirkumzentrisch von einem Muskel-Bindegewebsband umschlossen. Dieses, das myofunktionelle Sy- stem mit seinem mimischen und mastikatorischen Anteil, ist v o n d e r Mund- Innenseite her dutch die Mundboden-Zungenmuskulatur im Gleichgewicht gehal- ten. So stabilisiert die Innenmuskulatur die GebigbOgen gegen etwaigen Llberdruck seitens der Augenmuskulatur. Bei dieser Betrachtungsweise sind dem Muskeltonus auch Variationen kinetischer Art und morphologische Variationen gleichgestellt. Qualitative wie quantitative Interferenzen in diesem dynamischen Kraftfeld (Tonus- unterschiede) k0nnen dem sich entwickelnden kindlichen Gebig unablgssig zuset- zen, die Balance ver~ndern und die Gebigbogenform beeinflussen. Solche Behaup- tungen sind lgngst aus dem Bereich empirischer Hypothesen heransgeft~hrt und durch klinische Forschung zu t~berprfifbaren Thesen gemacht. Beweismaterial ha- ben insbesondere englische Autoren genug geliefert [4, 27]. Auch der Verfasser hat dazu selbst mit grogem klinischen Aufwand alas Prinzip der Wirksamkeit myofunk- tioneller Aberrationen nachgewiesen [11, 12]. Der gr0gte Teil mug als genetische Mitgift, als geprggte Eigenart seines Tr~gers aufgefagt werden. Nur ein geringer An- teil ist temporgr und Symptom einer Entwicklungsperiode des Kindes.

Der Statistik wird ein hoher Weft beztiglich der wissenschaftlichen Beweisffihrung zugebilligt. Gegent~ber der klinischen Erfahrung, auch soweit sie sich auf experi- mentelle Best~tigung berufen kann, bleibt Skepsis zuriick. Es w~re sicher mOglich,

548 Fortschr. Kieferorthop. 41 (1980), 543--551 (Nr. 6)

Page 7: Konzepte einer Wissenschaft

Konzepte einer Wissenschaft

die wechselnde St~irke des Muskeltonus zu quantifizieren, jedoch hat die Erfahrung gelehrt, dab auch rein klinische Methoden wie Palpieren, Auskultieren usw. ver- wertbare Daten in der Medizin liefern. Das heil3t nicht, sie der Spekulation zu Ober- lassen. Auch solche Methoden reassert vom Prinzip der Wissenschaft getragen wer- den. Was nicht oder was noch nicht zu messen ist, bleibt dennoch Realit~tt.

Das bezieht sich besonders auf den vierten Teil des stomatognathen Komplexes, der in den psychosomatischen Bereich des Individuums reicht und dem nachweisba- re Beziehungen zum stomatognathen Komplex zukommen. Dieses Thema h~itte vor einem Jahrzehnt kaum grol3e Hoffnung geweckt, ftir die Kieferorthop~idie wesentli- che Erkenntnisse und praktische Nutzanwendung zu bringen. Die besondere Note des Psychischen liegt darin, dab es in teils unbewul3te Tiefen verlagert ist, dag es hOchst wandelbar und vielschichtig ist.

Die Kieferorthop~die arbeitet bevorzugt mit Kindern. Sie sind Einzelpersonen im Entwicklungsalter und das im Sinne einer Ganzheit. In diesem durchaus nicht neuen Konzept wird das Phgnomen der Individualit~it des Patienten, seine Unteilbarkeit, st~ndig angesprochen. Zu den Bausteinen z~ihlt die evolution~ire Vergangenheit, ge- netische und famili~tre Besonderheiten, die allgemeinen konstitutionellen und geisti- gen Merkmale. Zwangsm~il3ig muB die naturwissenschaftliche Forschung auch das Unteilbare, um es zu verstehen, zuvor in abstrakte Teile auflOsen. Die analytische Methode mug sogar die maximale Aufl0sung ermOglichen. Konsequenterweise wird daraus fiat jeden Fall ein die Anomalie bedingender Komplex erkennbar. Obligate Faktoren werden sich von den fakultativen trennen lassen. Qualitativ wie quantita- tiv hat jeder Einzelfaktor seine Bedeutung. Selbst die kindliche Psyche in Verbin- dung mit dem Gestaltwandel ist nicht ausgenommen [13]. Hiermit gewinnt der medi- zinische Begriff vom ,,Konditionalismus" (s. u. [22]) auch in der Kieferorthop~idie Boden. ,,Konditionalismus" ist keine Hypothese, sondern eine Arbeitsanleitung, ein Konzept im Range der medizinischen Wissenschaft. Um es zusammenzufassen, so sind dabei jene Faktoren zu differenzieren und wertm~tgig zu klassifizieren, die eine Anomalie bedingen. Wenn man die Gesamtheit jener Faktoren erkundet, die in einem Zeitpunkt und for einen Zustand mal3gebend sein kOnnen, so ist das keine kausalgenetische Forschungsaufgabe. Es ist ein realistischer Weg, sich ungebunden aller verfOgbaren analytischen Hilfsmittel zu bedienen, um mOglichste Klarheit zu gewinnen, weshalb die Natur gerade diesem Menschen eine perfekte Okklusion vor- enthalten hat. Dann kann eine Therapie rationell durchgefiihrt werden. AuslOsende Elemente sind zu eliminieren oder, wenn nicht anders, ist das individuelle Gebil3 die- sen unver~mderlichen biostatischen Grundbedingungen des jeweitigen Individuums anzupassen.

Nach diesem Konzept wird sich herausstellen, was beim Einzelindividuum alles machbar ist. ,,Machbar" gemeint im Sinn des biologisch vertretbaren. Pal3t sich ein reguliertes Gebil3 trotz ausgedehnter Retentionszeit den spezifischen Gegebenheiten seines Trfigers durch ein Rezidiv wieder an, so ist das eine unerwtinschte Antwort auf die Frage nach der ,,Machbarkeit". Dann abet wird zu sp~tt nach den individuel- len Besonderheiten gefahndet, die die Indikation fiir eine unschematische Therapie

Fortschr. Kieferorthop. 41 (1980), 543--551 (Nr. 6) 549

Page 8: Konzepte einer Wissenschaft

1-1. G. G e r l a c h

g e g e b e n h~itte o d e r f o r die e in e inschr~inkendes p r o g n o s f i s c h e s U r t e i l s c h o n v o r Be-

g inn e iner B e h a n d l u n g h~itte ers te l l t w e r d e n sol len .

Die P r o g n o s e w i r d zu e i n e m k r i t i s chen D i a l o g a u c h m i t sich selbst , ob u n d wie-

wei t d e m j ewe i l i gen P a t i e n t e n zu vOll iger G e s u n d h e i t i m S inne e iner a n a t o m i s c h per -

f e k t e n O k k l u s i o n v e r h o l f e n w e r d e n k a n n . A u s de r a u f g e s t u f t e n A n a l y s e , die b e i m

k le inen , , a b c " de r M o d e l l a n a l y s e des d e n t o a l v e o l a r e n Sys t ems b e g i n n t u n d sich

d a n n bedarfsm~ti3ig a u f d ie a n d e r e n S y s t e m e a u s d e h n t , w e r d e n d ie G r u n d e l e m e n t e

darges te l l t , d ie g e r a d e d ieser o d e r j e n e r m i t b r i n g t . Dieses K o n z e p t w i r d n i ch t y o n ei-

ne r Wissenschaf t sg l~ tub igke i t b e s t i m m t , s o n d e r n es ist v o n d e r E n t w i c k l u n g ge t ra -

gen , die bis h e u t e i m m e r h i n 80 J a h r e b e a n s p r u c h t e . Das J a h r h u n d e r t k o n z e p t war

e in Beg inn , es b e d a r f n u r de r E r w e i t e r u n g d u r c h b i o l o g i s c h f u n d i e r t e E r k e n n t n i s s e .

Zusammenfassung

Die zurCtckliegende Jahrhundertwende Offnete eine neue wissenschaftliche ~ra bez~glich der Erken- nung und Behandlung yon Kiefer-Gebil3anomalien. Eine achtzigj~hrige Geschichte regt zum Nachdenken dart~ber an, welchen Entwicklungslinien die Kieferorthop~idie seitdem folgte und welche Perspektiven sich damit 6ffneten. Es wird das Bemtihen sichtbar, sich yon der rein morphologischen Betrachtung frei- zumachen und die biologischen Wesensztige der Gebil~anomalie herauszustellen. Das deutet sich in neuen Konzepten an, die der Verfasser mit dem medizinischen Begriff vom ,,Konditionalismus" identifiziert.

Summary

The turn of the century witnessed the start of a new scientific era in the recognition and treatment of maxillodental malformations. Eighty years of history are reason enough to reflect upon the development trends in orthodontics since that time, and on the perspectives that have opened up as a result. Clearly, there has been a shift of emphasis away from the purely morphological view and towards more concen- tration on the biological characteristsics of dental malformations. This is hinted at in new concepts which the author identifies as belonging in the medical category of ,,conditionalism."

R~sum~

Vers la fin du si~cle dernier, une nouvelle ~re scientifique s'est ouverte dans le domaine de la d~tection et du traitement des anomalies dento-maxillaires. L'historique de quatre-vingts ann6es conduit ~t r~fl6chir sur les tendances du d6veloppement de l'orthodontie et sur les perspectives qui en ddcoulent. La tendance ~t se libErer des considerations purement morphologiques et h dEgager les traits caractEristiques biologi- ques des anomalies de la denture aboutit h des conceptions nouvelles que l'auteur identifie au concept medical du ,,conditionalisme".

Schrifttum

1. Andresen, V., K. H~upl: Funktions-Kieferorthop~tdie, II. Aufl. H. Meusser, Leipzig 1939. 2. Angle, 1-1. E.: The upper first molar as a basis of diagnosis in orthodontia. Dent. Items (1906), 421. 3. Angle, 1t. E.: The latest and best in orthodontic mechanism. Dent. Cosmos 51 (1929), 260. 4. Ballard, C. F.: The facial musculature and anomalies of the dento-alveolar structure. Trans. Europ.

orthodont. Soc. (1951), 137. 5. Broadbent, B. H.: A new x-ray technique and it's application to orthodontia. Angle Orthodont. 1

(1931), 45. 6. Brodie, A. G.: On the growth pattern of the human head from the third month to the eighth year of

life. Amer. J. Orthodont. 68 (1941), 209.

550 Fortschr. Kieferorthop. 41 (1980), 543--551 (Nr. 6)

Page 9: Konzepte einer Wissenschaft

K o n z e p t e e iner W i s s e n s c h a f t

7. Davenport, o r. B.: Zit. n. Weinberger, Bd. II, S. 611. 8. Dawkins, R.: Das egoistische Gem J. Springer, Berlin--Heidelberg--New York, 1978. 9. Dewey, M.: Praktische Orthodontie. St. Louis 1919.

10. Farrar, J. iV.: (1887) Zit. n. Weinberger, Bd. II., S. 898; 935. 11. Gerlach, H. G.: Muskeldynamik und Anomalien des Kauorgans. Fortschr. Kieferorthop. 23 (1962),

184. 12. Gerlach, H. G.: Kieferwachstum und individuelle Struktur. Dtsch. Zahn-, Mund- u. Kieferheilk. 45

(1965), 223. 13. Gerlach, H. G.: Kieferorthop~dische Beziehungen zum psychophysischen Gestaltungswandel.

Fortschr. Kieferorthop. 28 (1967), t3. 14. Gerlach, H. G.: Strukturelle Disharmonien als Indikation zur Extraktion und das Klassenschema

nach Angle. Fortschr. Kieferorthop. 29 (1968), 145. 15. Greve, 1-1. Chr.: Die Extraktionsfrage in der Odonto-Orthop~idie mit besonderer Berticksichtigung

der systematischen Extraktion. list. Ung. Viertelj. f. Zahnh. 1915. 16. Hellmann, M.: Amer. J. orthod, oral Surg. 30 (1944), 429. 17. Herbst, E.: Fehlgriffe in der Orthodontie. Misch. Fortschr. d. Zahnheilk. 1927, Bd. III,1,869. 18. Hunter, J.: Zit. n. Weinberger, Bd. I, S. 159. 19. K6rbitz, A.: Die Hilfsmittel der moderneu Orthodontie. Ost. Z. f. Stomat. (1908). 20. Ki~rbitz, A.: Kursus der systematischen Orthodontik. Leipzig 1914. 21. Korhkaus, G.: Handbuch der Zahnheilkunde, Bd. 4, 1. und 2. Aufl. J. F. Bergmann, Mtinchen

i939, S. 308. 22. Lubarsch: Ursachenforschung, Ursachenbegriff und Bedingungslehre. Dtsch. med. Wschr. 1 (1919). 23. Pont, A.: Der Zahnindex in der Orthodontie. Zahn~rztl. Orthodont. 3 (1909). 24. Robin, P.: La glossoptose, un grave danger pour nos enfants. Gaston Doin, Paris 1929. 25. Schwarz, R.: Anthropologie. Misch. Fortschr. Zahnheilk., Bd. 2., 1. Teil. 26. Simon, P. W.: Grundz%e einer systematischen Diagnostik der Gebig-Anomalien. H. Meusser, Ber-

lin 1923. 27. Tulley, W. J.: The influence of the soft tissues in perspective. Trans. Europ. orthodont. Soc. (1964),

188. 28. Van Loon: A new method for indicating normal and abnormal relations of the teeth to facial lines.

Dent. Cosmos 1914. 29. Watry, 17.: Les respirateurs bucceaux. J. dent. beige 6 (1925), 213. 30. Weinberger, B. W.: Orthodontics. An historical review of its origin and evolution. St. Louis 1926.

Anschr. d. Verf.: Prof. Dr. Dr. med.dent. H. G. Gerlach, Zwergerstral~e 4, D-7980 Ravensburg.

Fortschr. Kieferorthop. 41 (1980), 543--551 (Nr. 6) 551