kommentierung, Überlieferung, nachleben () || bemerkungen zum aristoteles latinus: spuren einer...

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BERND SCHNEIDER, Berlin BEMERKUNGEN Z U M A R I S T O T E L E S LATINUS: S P U R E N E I N E R R E V I S I O N D E R POLITIKÜBERSETZUNG D E S W I L H E L M V O N MOERBEKE Wilhelm von Moerbekes lateinische Übersetzung der aristoteli- schen Politik ist uns in über einhundert Handschriften überliefert 1 . Der größte Teil dieser Manuskripte ist vom Exemplar der Pariser Universität abhängig 2 , dessen Text nicht selten größere Abweichun- gen vom ursprünglichen Wortlaut der Version des Wilhelm zeigt 3 . Kaum zehn Handschriften bieten einen von der Universitätsüberlie- ferung unabhängigen Text. Sie zerfallen in zwei Gruppen, von de- nen die eine, zu der die Codices Bruxellensis, Bibl. Reg. IV. 460, Eto- nensis, Bibl. Coli. 129, Neo-Eboracensis, Columb.Univ. Plimpt. 17 und Parisinus, Bibl. Ars. 699 gehören, eine Anzahl gemeinsamer Feh- ler mit der Universitätsüberlieferung hat, so daß anzunehmen ist, daß die Manuskripte dieser Gruppe und das Exemplar der Pariser Universität auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen. Der Text der zweiten Gruppe, die von den Codices Toletanus, Bibl. Capit. 47.9, 1 Ein Verzeichnis der Manuskripte findet sich in Sancti Thomae de Aquino opera omnia iussu Leonis XIII. P.M. edita. T.XLVIII: Sententia libri Politicorum. Ta- bula libri Ethicorum. Cura et studio Fratrum Praedicatorum. Romae 1971, A 49- A 51; hier ist auch jeweils die Nummer angegeben, unter der die betreffende Hand- schrift im Katalog des Aristoteles Latinus beschrieben ist. 2 In acht (zu den von P. Dondaine und P. Bataillon in der Preface zu Sancti Thomae de Aquino opera. T.XLVIII, A 51-A 53 angeführten sieben Handschriften ist der Vat. Ross. 551 hinzuzufügen, der f. 24 v den Hinweis auf den Beginn von Pecia IV und f. 29 r den Hinweis auf den Beginn von Pecia V enthält) Handschriften sind noch mehr oder weniger vollständig die Anfänge der Pecien verzeichnet. Das Ex- emplar bestand demnach aus 17 Pecien; das deckt sich genau mit der Angabe in der Liste der Pariser Universitätsexemplare vom 25. Februar 1304: Item in textu politico- rum XVIIpectus XII den. (vgl. H. Denifle et Aem. Chatelain, Chartularium Univers. Paris., t.II, Parisiis 1891, 107). 3 Einen analogen Befund bietet ζ. B. die Überlieferung der Rhetorikübersetzung des Wilhelm von Moerbeke; vgl. Arist. Lat. XXXI 1-2, XLVsqq. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/7/14 11:35 PM

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Page 1: Kommentierung, Überlieferung, Nachleben () || Bemerkungen zum Aristoteles Latinus: Spuren einer Revision der Politikübersetzung des Wilhelm von Moerbeke

BERND SCHNEIDER, Berlin

B E M E R K U N G E N Z U M A R I S T O T E L E S L A T I N U S :

S P U R E N E I N E R R E V I S I O N D E R P O L I T I K Ü B E R S E T Z U N G

D E S W I L H E L M V O N M O E R B E K E

Wilhelm von Moerbekes lateinische Übersetzung der aristoteli-schen Politik ist uns in über einhundert Handschriften überliefert1. Der größte Teil dieser Manuskripte ist vom Exemplar der Pariser Universität abhängig2, dessen Text nicht selten größere Abweichun-gen vom ursprünglichen Wortlaut der Version des Wilhelm zeigt3. Kaum zehn Handschriften bieten einen von der Universitätsüberlie-ferung unabhängigen Text. Sie zerfallen in zwei Gruppen, von de-nen die eine, zu der die Codices Bruxellensis, Bibl. Reg. IV. 460, Eto-nensis, Bibl. Coli. 129, Neo-Eboracensis, Columb.Univ. Plimpt. 17 und Parisinus, Bibl. Ars. 699 gehören, eine Anzahl gemeinsamer Feh-ler mit der Universitätsüberlieferung hat, so daß anzunehmen ist, daß die Manuskripte dieser Gruppe und das Exemplar der Pariser Universität auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen. Der Text der zweiten Gruppe, die von den Codices Toletanus, Bibl. Capit. 47.9,

1 Ein Verzeichnis der Manuskripte findet sich in Sancti Thomae de Aquino opera omnia iussu Leonis XIII. P .M. edita. T.XLVIII : Sententia libri Politicorum. Ta-bula libri Ethicorum. Cura et studio Fratrum Praedicatorum. Romae 1971, A 49-A 51; hier ist auch jeweils die Nummer angegeben, unter der die betreffende Hand-schrift im Katalog des Aristoteles Latinus beschrieben ist.

2 In acht (zu den von P. Dondaine und P. Bataillon in der Preface zu Sancti Thomae de Aquino opera. T.XLVIII , A 51-A 53 angeführten sieben Handschriften ist der Vat. Ross. 551 hinzuzufügen, der f. 24v den Hinweis auf den Beginn von Pecia IV und f. 29 r den Hinweis auf den Beginn von Pecia V enthält) Handschriften sind noch mehr oder weniger vollständig die Anfänge der Pecien verzeichnet. Das Ex-emplar bestand demnach aus 17 Pecien; das deckt sich genau mit der Angabe in der Liste der Pariser Universitätsexemplare vom 25. Februar 1304: Item in textu politico-rum XVIIpectus XII den. (vgl. H . Denifle et Aem. Chatelain, Chartularium Univers. Paris., t .II, Parisiis 1891, 107).

3 Einen analogen Befund bietet ζ. B. die Überlieferung der Rhetorikübersetzung des Wilhelm von Moerbeke; vgl. Arist. Lat. XXXI 1-2, XLVsqq.

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Vaticanus Lat.2104 und Vaticanus Lat.3004 gebildet wird4, kommt offenbar dem Original am nächsten. Gemeinsame Fehler sind in die-ser Gruppe selten und lassen sich jeweils am ehesten durch Zufall er-klären, so daß sich vermuten läßt, daß diese drei Handschriften un-abhängig voneinander auf das Autograph des Wilhelm zurückgehen5.

Eine besondere Stellung nimmt unter den drei zuletzt genannten Manuskripten der Vaticanus Lat.2104 ( = Yc) insofern ein, als sein Text an zahlreichen Stellen eine von der übrigen Uberlieferung ab-weichende Lesart bietet. Dabei wird oft derselbe griechische Text durch andere lateinische Worte wiedergegeben, zum Beispiel an den folgenden Stellen:

1257 a 15 άρξαμενη] incipiens Yc: que incipit G (inchoata g ) 6

1257 b 34 οί χρηματιζόμενοι] pecuniativi Yc: pro rebus ad usum habentes G7 (acquirentes g)

1268 a 31 διαγίγνεσθαι] vitam ducere Yc: procedere G (fieri g)

1293 a 26/27 έπιτείνωσι τφ έλάττονες οντες μείζονας ου-σίας εχειν] superexcedant in pauciores existentes maiores habere substantias Yc: invaluerint habere pauciores existentes maiores substantias G

1314b 10 καταλιπεϊν άθροίζαντες] deficere congregantes Yc: derelinquere cum congregaverint G

1314 b 12/13 φοβερότεροι των τυράννων τοις άποδημοϋ-σιν οί φυλάττοντες των πολιτών] terribiliores peregrinantibus tyrannorum qui servant civium Yc: tyrannorum qui servant terribiliores egredienti-bus a populo quam civibus G

4 Der von Dondaine und Bataillon (vgl. Anm. 1,2), A 53 hierzu gerechnete Florenti-n e , Laur.Conv. Soppr.95 ist wohl eher zu den kontaminierten Handschriften Vat. Lat. 2995 oder Parisinus, Bibl. Mazar. 3463 zu stellen.

5 Ausführlich werde ich die handschriftliche Überlieferung des lateinischen Textes in der Praefatio der Ausgabe der Politikübersetzung des Wilhelm darstellen, die als Band XXIX 2 des Arist. Lat. geplant ist.

' Mit dem Sigel G wird die Übereinstimmung aller Handschriften der Translatio Guillelmi mit Ausnahme von Yc bezeichnet; in Klammern ist jeweils, soweit vor-handen, unter dem Sigel g die Lesart der Translatio imperfecta (Arist. Lat. XXIX 1 ed. P. Michaud-Quantin. Bruges-Paris 1961) hinzugefügt.

7 Offenbar liegt hier eine Doppelübersetzung vor, die auf eine Unsicherheit des Übersetzers schließen läßt.

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Spuren einer Revision der Politikübersetzung von Moerbeke 489

In der Mehrzahl der Fälle beruht die Lesart von Yc jedoch auf einem anderen griechischen Text als die Lesart der übrigen Handschriften der Translatio Guillelmi (G), zum Beispiel an folgenden Stellen:

1252 b 20 συνηλθον, om. M P ^ 8 ] convenerunt Yc: om. G (utique venerunt g = άν ήλθον)

1253 b 25 ζην και εύ ζην, sed και - ζην2 om. MP1 S] vivere et bene vivere Yc: vivere G (bene vivere et vivere g)

1255 a 36 Ελένη, sed έλελόγη MS] elena Yc: eleloga G (elena g)

1258 b 4 έφ' οπερ έπορίσθη, sed έφ' φπερ έπορισάμεθα MPS] ad quod quidem acquisita fuit Yc: super quo quidem acquisivimus G (ad quod quidem acquisi-tum est g)

1287 b 33 ϊσος, sed ϊσως MS] equalis Yc: forte G 1294 b 40/41 δει καθιστάναι πολιτείαν . . . και τάς όνομα-

ζομενας αριστοκρατίας, sed δοκεΐ καθεστάναι et νομιζομένας MS] oportet constitui politiam ... et vocatas aristocratias Yc: videtur consistere poly-tia ...et putate aristocratie G

1298 b 33 της συμβουλής] consilium Yc: consiliariis G ( = τοις συμβούλοις)

1305 b 6 έκίνουν, sed έκένουν MS] movebant Yc: evacu-abant G

1314 b 9 έκτοπίζουσι, sed έκτυπίζουσι MS] migrantibus Yc: extorquentibus G

1334 a 3/5 σπουδάζειν οπως και την περί τα πολεμικά και την αλλην νομοθεσίαν toö σχολάζειν ενε-κεν, sed δπως - σχολάζειν om. MS] studere qua-liter et earn que circa bellica et aliam legislationem vocandi [scrib. vacandi ] gratia Yc: studere gratia G

9 Für die griechischen Handschriften sind dieselben Sigla wie in der Ausgabe des griechischen Politiktextes von A. Dreizehnter (München 1970) benutzt; wegen der UnZuverlässigkeit der Ausgabe (vgl. meine Rezension im Gnomon 45, 1973, 336-345) sind die Lesarten der griechischen Manuskripte jedoch in der Regel an den Mikrofilmen des Aristoteles-Archivs der Freien Universität Berlin überprüft und ggf. korrigiert worden.

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1340 a 12 άκροώμενοι των μιμήσεων, sed άκ + lac.M'S] audientes representationes Yc: lac. + imitationum G

1342 a 17/18 θετέον τους την θεατρικήν μουσικήν μετα-χειριζομένους, sed θεατέον ΒΕΡ2 et θεατρικήν om. MPS] spectandum teatricam musicam trac-tando Yc: ponendum musicam tractantes G.

Während in fast allen dieser Fälle G Ubereinstimmung mit dem Text der griechischen Handschriften MS beziehungsweise MPS zeigt, folgt die Version in Yc jeweils dem Text der übrigen griechischen Manuskripte. Soweit das Vorhandensein der Translatio imperfecta, die bekanntlich mit 1273 a 30 abbricht, einen Vergleich mit deren Vorlage (γ) zuläßt, können vielfach Ubereinstimmungen zwischen diesem Exemplar und dem griechischen Text festgestellt werden, der der von G abweichenden Lesart in Yc zugrunde liegt, wie etwa fol-gende Stellen zeigen:

1253 b 8 ποίον δει είναι, sed δή MS] quale oportet esse G: quale est aut oportet esse Yc: quale est iam secun-dum esse g ( = ποιόν έστιν ή δει [ήδη] είναι)

1263 b 16 ασμενος] gaudens G: gaudenter Yc g ( = ασ-μένως)

1268 b 1 δύο οικίας] duas domos G: duabus domibus Yc g ( = δύο οίκίαις).

Daß dabei diese Lesarten von Yc nicht innerhalb der lateinischen Tradition aus g geflossen sind, sondern sich direkt aus einer griechi-schen Vorlage herleiten, ergibt sich daraus, daß g und Yc keineswegs immer im lateinischen Wortlaut übereinstimmen, auch wenn g und Yc dieselbe griechische Lesart wiedergeben, die sich in den uns er-haltenen griechischen Codices nicht findet, wie zum Beispiel an der folgenden Stelle:

1260 b 28 δτι μάλιστα] quam maxime G: manifestum quam maxime Yc: palam quod maxime g(? δηλον δτι μάλιστα).

Schwerlich ist jedoch γ, die Vorlage der Translatio imperfecta, selbst das griechische Exemplar gewesen, das den von G abweichenden Lesarten in Yc zugrunde gelegen hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach

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brach ja γ wie die lateinische Übersetzung g mit 1273 a 30 ab9, Yc bietet jedoch auch danach noch weitere Lesarten, die einen anderen griechischen Text wiedergeben als G10, wobei sich gelegentlich auch solche griechische Lesarten erschließen lassen, die von der uns vor-liegenden Uberlieferung abweichen, zum Beispiel:

1299 b 33 εσται] erit G: seiet Yc (ε'ίσεται) 1315 b 26 ό γορδίου] qui gordie G: quantum non Yc

(Ρόπόσον ού) 1338 b 12 ταύτην] hoc G: tanto Yc (τοσαύτην).

Die Varianten, die Yc gegen die übrige Überlieferung der Translatio Guillelmi bietet und die einen anderen griechischen Text als diese voraussetzen, gehen also offensichtlich auf einen Vorfahren von γ, der Vorlage der Translatio imperfecta g, zurück oder auf einen Ge-mellus von γ, der den vollständigen Politiktext enthielt11. Mit diesem griechischen Exemplar wurde die Translatio Guillelmi verglichen und entsprechend geändert, wobei mehrfach auch an Stellen, an de-nen dieser griechische Text keinerlei Abweichungen von der Vorlage von G aufwies, Übersetzungsfehler korrigiert12 und stilistische Glät-tungen vorgenommen wurden. Diese Korrekturen waren offenbar zunächst in einem Exemplar von G am Rand oder zwischen den Zei-len notiert. Beim Abschreiben dieses Exemplars hat dann der Kopist, entweder der Kopist von Yc selbst oder bereits eines Vorfahren von

' Vgl. die Notiz am Ende der Übersetzung: Reliquum huius operis in greco nondum in-vent.

10 Vgl. oben die Angaben zu 1287 b 33, 1294 b 40/41, 1298 b 33, 1305 b 6, 1314 b 9, 1334 a 3/5, 1340 a 12, 1342 a 17/18.

11 Zumindest in einem Fall scheint Yc einen griechischen Text wiederzugeben, der noch mehr entstellt war, als es fü r γ an dieser Stelle anzunehmen ist; 1269 a 18 fin-det sich nämlich in g für έθ ισθείς consuetis, das auf ein έθ ισθε ϊσ ι zurückzugehen scheint. Yc hat hier eine Doppellesart: assuescens cupientibus. Dabei entspricht as-suescens der Lesart von G, während cupientibus wohl ein έρασθε ΐσ ι wiedergibt. Sollte dies tatsächlich in dem fü r die Varianten von Yc herangezogenen Exemplar gestanden haben, läge damit ein Sonderfehler dieses Exemplars vor, der sich in γ nicht fand und somit eine Abhängigkeit des Codex γ von diesem Exemplar aus-schlösse. Es ist aber durchaus möglich, daß cupientibus seine Entstehung lediglich einem Lesefehler verdankt, so daß das zum Korrigieren benutzte Exemplar tatsäch-lich ein Vorfahre von γ gewesen sein kann.

12 Vgl. z.B. die oben zitierte Stelle 1314 b 12/13, an der die Version in G eindeutig falsch ist.

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Yc, diese Marginal- und Interlinearvarianten in den fortlaufenden Text eingearbeitet. Das läßt sich aus einigen Stellen schließen, an de-nen ihm dabei ganz offensichtlich Versehen unterlaufen sind. So fin-den sich mehrfach Doppellesarten in Yc, wobei die eine Lesart den ursprünglichen Text von G, die andere die Korrektur wiedergibt, so zum Beispiel in den folgenden Fällen:

1253 b 3 οίκονομίας] domus G: ykonomie domus Yc 1263 b 27 ΐδίςι] segregatim G: segregatim proprie Yc 1341 a 21 ό αυλός, sed ό αυτός MS] id ipswn G: jystula ad

[scrib. id] ipsum Yc13.

Indessen ist in diesen und ähnlichen Fällen nicht völlig auszuschlie-ßen, daß der Kopist die beiden Lesarten bewußt nebeneinander in den Text aufgenommen hat, um sie dem Leser zur Auswahl anzubie-ten. An anderen Stellen finden sich jedoch in Yc Fehler, die sich nur dadurch erklären lassen, daß der Kopist Korrekturen zwischen den Zeilen oder am Rand nicht richtig verstanden hat, was zu entspre-chender Verwirrung im Text von Yc geführt hat, so zum Beispiel:

1258 b 12 τά κτήματα] possessibilia G: possessas Yc. - In dem griechischen Exemplar, das Wilhelm seiner vollständigen Politikübersetzung zugrunde legte, fand er offenbar für κτήματα ein κτητά oder eine ähnliche Lesart vor14. Die Korrektur, auf die die Lesart von Yc zurückgeht, lautete wohl res possessas, wobei beim Kopieren nur das über possessibilia geschriebene possessas in den Text von Yc gelangte.

1264 b 9 ήπουθεν δή, sed εΐπουθεν MS] si alicunde uti-que G: utique aut unde Yc15. - Hier ist in Yc die Korrektur aut unde (ή πό[υ]θεν) für si alicunde (εΐ πο[υ]θεν) in G an die falsche Stelle geraten.

1265 b 2 ακριβώς εχειν] certe habere G: diligenter Yc. -Vermutlich hat der Korrektor seine Version dili-

13 Vgl. auch die in Anm. 11 zitierte Stelle 1269 a 18. " Möglicherweise hat er aber auch nur κτήματα zu κτητά oder etwas Ähnlichem ver-

lesen. 15 g hat hier aut quomodo non utique, dem wohl ein ή ποϋ θέν δή zugrunde lag (vgl.

die neugriechische Negation δεν).

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genter über certe notiert, die aufgrund des länge-ren Wortes diligenter zumindest noch teilweise über habere zu stehen kam. Das hat der Kopist so verstanden, als solle durch diligenter der ganze Ausdruck certe habere ersetzt werden.

1288 a 15 τοις εύπόροις, sed άπόροις A] opulentis G: vel egenis Yc. - Die Lesart von Yc verrät sich allein schon durch das in diesem Zusammenhang sinn-lose vel als varia lectio, die das ursprüngliche opulentis ganz verdrängt hat, wodurch aber ge-rade erst vel überflüssig wurde.

1336 a 21 την πρώτην] primam ... etatem G 1 6 : primam ... Glo. [= Glossal Yc. - Der Bearbeiter fand hier für etatem in seinem griechischen Exemplar keine Entsprechung und kennzeichnete darum dieses Wort durch ein übergeschriebenes bezie-hungsweise am Rande notiertes Glo. Beim Ab-schreiben ist dieses Glo. in den Text geraten.

Aus diesen und ähnlichen Fehlern im Text von Yc ergibt sich also mit großer Wahrscheinlichkeit, daß in der Vorlage dieser Hand-schrift beziehungsweise einem ihrer Vorfahren Varianten zwischen den Zeilen und am Rande notiert waren, die auf eine Revision des Textes nach einem griechischen Manuskript zurückgingen.

Es spricht vieles dafür, daß diese Varianten von Wilhelm von Moerbeke selbst stammen, der demnach seine Übersetzung einer er-neuten Revision unterzogen hätte. In diesem Zusammenhang ist eine Notiz von Bedeutung, die sich im Codex Parisinus, Bibl. Arsenalis 699 zu 1288 a 15 opulentis von zweiter Hand am Rande findet: seu egenis ut dicit translator se invenisse et bene. Danach stammt egenis, die Lesart also, die sich auch in Yc findet, vom translator, der in einer griechischen Handschrift ein άπόροίς gefunden hat. Daß dieser translator tatsächlich der Autor der uns vorliegenden Politiküberset-zung, Wilhelm von Moerbeke, war17, ergibt sich aus zwei Bemerkun-gen in derselben Handschrift, ebenfalls von zweiter Hand:

16 etatem fehlt in der Universitätsüberlieferung. - Möglicherweise fand Wilhelm hier in seiner griechischen Vorlage ein ήλικίαν vor, das übrigens auch Spengel an dieser Stelle ergänzen wollte.

17 So schon Susemihl in seiner großen Politikausgabe (Leipzig 1872), XXXV.

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1340 a 12 findet sich zur Lücke im Text von G am Rande die Notiz: hie translator invenit album in greco, sed ipse dicit quod debet suppleri quales quidem18. 1340 a 13 wird die Lücke in G für των1, das die Handschrif-ten MS mit Spatium auslassen, so kommentiert: hic etiam in-venit translator album in greco, sed ipse supplevit ymitatione.

Beide Notizen sind nur dann sinnvoll, wenn mit translator tatsäch-lich Wilhelm gemeint ist, der übrigens auch im Fall der Übersetzung von Proklos' Kommentar zum platonischen Parmenides mehrfach eine Lücke in seiner griechischen Vorlage mit der Bemerkung album in greco am Rande seiner Version kommentierte19.

Im Grunde beweist das alles freilich nur, daß in 1288 a 15 die Va-riante egenis von Wilhelm selbst stammt; die gleiche Sicherheit kann für die übrigen Varianten in Yc nicht erreicht werden. Wendet man jedoch auf diese Lesarten die Methode an, die vor allem von L. Mi-nio-Paluello für die Bestimmung der Autorschaft anonym überlie-ferter lateinischer Ubersetzungen entwickelt worden ist und die im wesentlichen darin besteht, das Ubersetzungsvokabular der unbe-kannten Version genau mit dem von eindeutig einem bestimmten Autor zugewiesenen Ubersetzungen zu vergleichen20, so zeigt sich, daß die Varianten in Yc nirgends den Übersetzungsgewohnheiten des Wilhelm von Moerbeke widersprechen. Da Wilhelm auch sonst gelegentlich seine eigenen Übersetzungen noch einmal nach einem anderen griechischen Exemplar korrigiert hat21, kommt der An-nahme, daß auch die Varianten des Codex Yc von ihm selbst stam-men, ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit zu. Wilhelm hätte dem-

18 Die Lesart quales quidem gebe ich hier nur mit großem Vorbehalt, da sie auf dem mir zur Verfügung stehenden Mikrofilm der Handschrift kaum zu entziffern ist. Das von Susemihl im lateinischen Apparat auf S. 353 notierte manifestum ist jedoch mit Sicherheit nicht richtig gelesen.

" Vgl. Proclus, Commentaire sur le Parmenide de Piaton. Traduction de Guillaume de Moerbeke. Tome I: Livres I a IV. t d . critique par Carlos Steel. Leuven - Leiden 1982 (Ancient and Medieval Philosophy. Series I.III), 51*.

20 Dabei dürfen natürlich nur Originalübersetzungen eines Autors berücksichtigt werden, da in Texten, die nur revidiert wurden, vieles Stehengeblieben ist, was nicht den Ubersetzungsgewohnheiten des betreffenden Revisors entsprach.

21 z.B. im Fall der Ubersetzung von De generatione animalium (vgl. Arist.Lat. XVII 2. ν, XIX-XXIII) oder derjenigen der Rhetorik (vgl. Arist. Lat. XXXI 1-2, XXXVIII-XLIII).

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nach die aristotelische Politik zunächst nach einem unvollständigen griechischen Exemplar (γ) übersetzt, das den Text nur bis 1273 a 30 enthielt. Diese Ubersetzung wurde später nach einem vollständigen Manuskript (Γ), das mit den erhaltenen Codices MS eng verwandt gewesen sein muß, überarbeitet und der bis dahin fehlende Text nach dieser Handschrift neu übertragen. Nach Abschluß dieser Ar-beit22 muß Wilhelm Zugang zu einem weiteren vollständigen grie-chischen Manuskript bekommen haben, das wahrscheinlich ein Vor-fahr von γ gewesen ist, und seine Version nach dessen Text mit Varianten am Rand und zwischen den Zeilen versehen haben23. Da-bei hat er auch einige Ubersetzungsfehler der ersten vollständigen Bearbeitung korrigiert und hier und da aus anderen Gründen einen neuen Vorschlag unterbreitet.

Es sieht so aus, als ob nicht alle dieser Varianten und Korrektu-ren nach Yc gelangt sind. Denn Yc ist zwar die Handschrift, die am meisten derartiger Sonderlesarten gegenüber G aufweist, aber doch auch nicht die einzige Handschrift mit Lesarten, die entweder einen anderen griechischen Text als G wiedergeben oder dieselbe griechi-sche Lesart, die auch G vorlag, in eine andere lateinische Fassung bringen24. Ein besonders auffälliges Beispiel hierfür bietet die Über-setzung des Homerzitates δαιτυμόνες δ' ανά δώματ' άκουάζωνται άοιδοϋ ήμενοι έξείης (Od.9,7sq.) in 1338 a 29/30. Hier bieten die von der Universitätsüberlieferung unabhängigen Textzeugen mit Ausnahme des Codex Neo-Eboracensis folgende Version:

congregati super tecta audiunt philomenam sedentes deinceps.

Die meisten der Handschriften, die durch Pecienbezeichnung ihre Abhängigkeit vom Pariser Universitätsexemplar zu erkennen geben, sowie der Neo-Eboracensis haben hier eine andere Übersetzung:

epulantes si audiant cantanti cantilenas residentes continue.

22 Daß Wilhelm nicht schon bei der Abfassung der vollständigen Übersetzung zwei griechische Manuskripte zur Hand gehabt hat, ergibt sich aus 1340 a 12, wo er wohl kaum notiert hätte, daß er in seiner griechischen Vorlage eine Lücke vorge-funden habe, die in der von ihm vorgeschlagenen Weise auszufüllen sei, wenn er gleichzeitig einem zweiten Manuskript das im ersten lückenhaft überlieferte άκροώμενοι hätte entnehmen und mit audientes übersetzen können.

23 In dieser Weise hat Wilhelm auch eine erste Fassung seiner Rhetorikübersetzung bearbeitet; vgl. Arist. Lat.XXXI 1-2, XL sq.

24 Vgl. auch Sancti Thomae de Aquino opera (s. Anm. 1), A 55-A 57.

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Diese Übersetzung unterscheidet sich im wesentlichen in drei Punk-ten von der zuerst zitierten Version:

1. δαιτυμόνες ist hier treffender mit epulantes wiedergegeben. 2. philomenam der ersten Version, das auf der Verwechslung

von άοιδοϋ mit einer Form von αηδών beruht, die sich so entweder schon in der herangezogenen griechischen Vor-lage fand oder die durch Verlesen zu erklären ist, findet hier seine Entsprechung in cantanti cantilenas.

3. Wie der Dativ cantanti vermuten läßt, ist hier άοιδοϋ nicht als von άκουάζωνται15, sondern von έξείης abhängig ver-standen worden.

Das zunächst befremdliche si der zweiten Version läßt sich meines Erachtens sehr einfach erklären und gibt zugleich die Antwort auf die Frage, welche der beiden Ubersetzungen die ursprüngliche Fas-sung des Wilhelm darstellt. Hinter si verbirgt sich nämlich wohl nichts anderes als die verlesene Abkürzung s t für super tecta. Hier wurde also offensichtlich eine alternative Ubersetzung des Odyssee-zitates, aller Wahrscheinlichkeit nach am Rand, notiert, wobei je-doch die Elemente, die aus der ursprünglichen Version übernommen wurden, nicht ausgeschrieben zu werden brauchten, sondern nur durch ihre Anfangsbuchstaben bezeichnet wurden, wie das auch häufig in den Lemmata mittelalterlicher Kommentare zu geschehen pflegt. Die Fassung der Pecienhandschriften erweist sich somit durch das korrupte si als die sekundäre.

Ist aber durch die Varianten des Codex Yc eine erneute Durch-sicht der Translatio perfecta durch ihren Autor Wilhelm von Moer-beke wahrscheinlich gemacht, liegt es nahe, auch diese zweite Fas-sung des Odysseezitates sowie weitere Varianten in Handschriften der Translatio perfecta, die einen anderen griechischen Text voraus-setzen26, seiner Revisionstätigkeit zuzuschreiben. Wie der Befund von Yc zeigt, hat Wilhelm ja seine Korrekturen am Rand oder zwi-schen den Zeilen seiner vollständigen Politikübersetzung ange-bracht. Einem Kopisten stand es dann aber frei, diese Marginalien

25 Vielleicht lag der ersten Version άκουάζονται vor, da hier der Indikativ audiunt erscheint.

26 Vgl. z.B. 1278 a 26 άρχης, sed άρετης MS] virtute G, sed virtute principatu for-i«[!] interpret codd.Paris.Β.Ars.699, Etonensis.

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Page 11: Kommentierung, Überlieferung, Nachleben () || Bemerkungen zum Aristoteles Latinus: Spuren einer Revision der Politikübersetzung des Wilhelm von Moerbeke

Spuren einer Revision der Politikübersetzung von Moerbeke 497

und Interlinearien ebenfalls als Marginalien oder Interlinearien in sei-nen Text zu übernehmen27, sie in den Text einzuarbeiten oder ganz beiseite zu lassen. Der Kopist von Yc oder einer seiner Vorgänger hat offensichtlich den zweiten Weg gewählt, während in das Exem-plar, auf das die Universitätsüberlieferung und die Codices Bruxel-lensis, Etonensis, Neo-Eboracensis und Parisinus, Bibl. Arsenalis zu-rückgehen28, einige der Korrekturen des Wilhelm noch als Margi-nal- oder Interlinearvarianten gelangt und von hier auf verschiedene Weise weitergereicht oder nicht mehr übernommen worden sind. Auf diese Weise läßt sich jedenfalls die wechselnde Bezeugung die-ser Lesarten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Revision des Textes durch Wilhelm von Moerbeke selbst zurückgehen, einleuch-tend erklären.

27 So sind offensichtlich auch Wilhelms Marginalien zu seiner Übersetzung des Pro-kloskommentars zum platonischen Parmenides in den Codex Mediolanensis Am-brosianus A 167 sup. gelangt; vgl. Steel (s. Anm. 19), 50* sq.

28 S. oben S.487.

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