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philosophie

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Page 1: Kaufmann Kritik Der Neukantischen Rechtsphilosophie

Kritik der

/ neukeantifchen Uechtsphilofophie

Eine Betrachtung

über die Beziehungen zwifchen philofophie

und Rechtswiffenfckyaft

von

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Page 2: Kaufmann Kritik Der Neukantischen Rechtsphilosophie

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Uritilr der

neuliantifchen Uechtsphilofophie

. Eine Betrachtung

über die Beziehungen zwifclyen philofophie

und Rechtswiflenfchaft

von

])r. jur. Erich txaufmann

o. 5. profefior an der Univerjität Bonn

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Tübingen

verlag von I, C. 13. mehr (paul Iiebeck)

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Page 3: Kaufmann Kritik Der Neukantischen Rechtsphilosophie

Vorwort.

Lliit diefer Schrift betrete ich zum erften male den Boden.

von dem ich einft ausgegangen bin: den Boden der philofophie.

Troßdem empfinde ich dies weder als eine Rückkehr noch als

eine Abkehr von meinen bisherigen Arbeiten. fondern als deren

Fortentwicklung. Das philofophifche Denken tritt nur. nachdem

es. vielfach unbemerkt. halb oder ganz unter der, Oberfläche

verlaufen war. unmittelbar. an die fichtbare Oberfläche; ich

oerfuche nur. die bis dahin getrennt fließenden Sldern und

klederchen. die leßtlich doch aus einer Quelle gefpeift waren.

zu einem breiteren klrm zu vereinen 1.

mein philofophifcher Ausgangspunkt war der des um die

Jahrhundertwende herrfchenden [leukantianismus. fpeziell des

Ueukantianismus der log. füdweftdeutfchen Ichule; und ich

werde den illcinnernl die mir hier Lehrer und Führer waren.

Wilhelm windelband. Heinrich Wickert. und

vor allem dem Wanne. dem diefe Schrift gewidmet ift. p a ul

H enfel. ftets herzlichften und aufrichtigften Dank zellen.

und muß in diefem Zufammenhange auch des gefallenen

Freundes Emil La sk dankbar und fchmerzlich gedenken.

Über meine wege haben mich von ihnen fortgeführt. f0 daß

L Um diefe Zufammenhänge aufzuzeigen. ?werde ich im folgen-

den auf frühere Arbeiten von mir hinweifen, Durch die Einord-

nung früherer Ausführungen in die allgemeineren Gedankengänge diefer

Zcbrift hoffe ich zugleich manche mißoetftändniffe zerftreuen zu können.

denen fie begegnet waren.

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ich mit einer Rritik der neukantifchen philofophie zum

erften male vor die philofophifclje Oeffentlichkeit trete. Das

ift für den. der meine bisherigen Arbeiten kennt. keine Ueber-

rafchung; enthielten fie doch alle unausgefprochen eine wachfende

Sluseinanderfeßung mit der neukantifchen philofophie und eine

tlblöfung von ihr.

Der metaphgfikfreie. abftrakte Formalismus und der

tranlzendentale Rationalismusund Zntellektualismus. der die

neukantifche philofophie charakterifiert. hätte mich zwar als

Zuriften auf ihm verwandte Erfcheinungen der damals herrfchen-

den rechtswiffenfckxaftlichen Methodik führen können. . Über

auf der einen Ieite hatte das bewußt entftofflichende. von dem

klnfchaubaren und Erlebbaren entfernende Denken der Aeu-

kantianer. das über die ethifchen. politifchen. fozialen und

kulturellen probleme der Gegenwart hinweg nach den reinen

Zormen des tranfzendentalen Denkens ftrebt. in mir einen

ungeheuren Slnfchauungs- und Itoffhunger erweckt. der mich

in die Gefilde der rechts- und ftaatswiffenfchaftlichen. gefchicht-

lichen und politifchen Forfchung und praxis trieb. vermutlich

leßtlich auch aus einem - freilich dem neukantifchen entgegen-

gefeßten - philofophifchen lZedürfnis: wer philojophiert.

muß auch möglichft viel wiffen. gefehen. erlebt haben. über was

er philofophieren kann; fonft wird die philofophie zu einer

unfruchtbaren Jpezialwiffenfchaft. die felbftgenugfam. aber un-

beeinflußt und nicht beeinfluffend. ein kathederhaftes Schatten-

dafein im leßten verftaubten winkel der unjuersjtes ijtekerum

und der Zeit führt. Und auf der anderen Seite glaubte ich die

Unfruchtbarkeit der herrfchenden rechtswiffenfchaftlicljen me-

thodik. je mehr ich mich mit den problemen des fozialen. poli-

tifchen und gefchichtlichen Lebens befchäftigte. um jo klarer

erkennen zu müffen. Die fogenannte rein juriftifche methode

hatte die Rechtswiffenfchaft in eine ähnliche von den Realitäten

des gefellfchaftliclxen und politifchen Lebens ifolierte unfrucht-

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Znhaltsiiberficht.

Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . ll_l7lll

x. Einleitung. . . . , . . . . . . . , 1-5

Das Uachlaffen der rechtsphilofophifcljen Forfchung fett

der llfitte des 19, Jahrhunderts und deffen Folgen (I, 1 f.),

- Die Lleubelebung der rechtsphilofophifchen Jntereffen

feit der Iahrhundertwende und deren Eigenart (I. Z f.), -

Die problemftellung diefer Zchrift (I. 4f.),

2. Erfte Tharalueriftilr des neukantianismus . . . ,. . . . 5-11

was der lleukantianismus von Aant rezipierte und in

welcher Umbiegung (I. 5f.). - Die Unhaltbarkeit diefer

Umbiegung (I. 6f.). - Erkenntnis-theorie und welt-

anfchauung (Z. 7f.). - Das tranfzendente Minimum

(I. 9f.),

5.8ta1nmler.,...,'......-....,11-20

Die verwechflung empirifcljer lillgemeinbegriffe mit der

kategorialen Zphäre (Z, 11 f.). - Die Iondetgemeinfchaft

und die Reigung zum Empirismus (I. 12 f.); - Die

verwechflung der normativen und der kategorialen Iphäre

und die Denaturierung von Recht und wirtfchaft (I. 13 f.),

- Das foziale Ideal und die Grundfäße des richtigen

Rechts (I. 15 f.). - Ztammler und Uant (I. 19 f.)

4.uelfen....„.„....,.... 20-35

Die reine normlogifche Rechtswiffenfclyaft (I. 21 f.). --

Die foziologifche Zubftruktion durch die cjyjtäs mäxjmä

(I. 22 f.). -*- Oenk- und wertökonomifche Zegründung

(I. 25 f.). - Die metaphgfifchen vorausfeßungen Lfelfens

(I. 27 f.). - Die tfapitulation vor dem Empirismus

(5. 29 f.). Y Iander (I. 35 f.).

Erich Aaufmannf rar-ir.

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Seite

5. die füdweftdeutfche. Richtung . , . . . . . . . . . 35-48

Allgemeine Charakteriftik (I. 35 f.). - Das Fehlen des

Dinges an fich (I. 36 f.). - Der Gegenfaß von Forn( und

Itoff und die Aapitulation vor einer empiriftifchen meta-

phgfik (I.-37 f.). - Erkenntnistheorie und weltanfcljauung

(I, 39 f.). - Der Gegenftand der Erkenntnis und das

Ichillern zwifctjen Rationalismus und Empirismus (I. 40f.).

- Die verwechflung der normativen mit der kategorialen

Iphiire (I. 42 f.). - Die normative Umdeutung von em-

pirifchen (lllgemeinbegriffen; das Zewußtfein überhaupt

(I. 45 f.). - Die gefchichtliclfe welt (I. 47 f.).

6. die füdweftdeutfche Rechtsphilofophie . . . . 48-53

Bloß methodenlehre der pofitivenRechtsdogmatik (I. 48 f.).

»- Zlnknüpfung an die Umdeutung Aants durch Hegel

(I. 49 f.). - Die Reinheit der „juriftifcljen" methode

(I. 51 f.).

7. der Begriff des Rechts bei uant und den neulmntianern .

Recht und Iittlichkeit bei den Reukantianern (I. 53 f.). -

Legalitiit und moralitiit bei Uant (I. 56 f.). - Die

Folgerungen aus dem neukantifchen Zegriffe des Rechts

fiir die Rechtsbegriffe (I. 62 f.).

8. die Eindimenfionalität des neuliantifchen Denkens .

Rationaliftifches vereinfachen und berechtigtes verein-

fachen (I. 64 f.), -' Zegrifflicher Gegenfaß und meta-

phgfifcher Dualismus (I. 66 f.). - Recht und Wacht

(I. 67 f.). - Umdeutung begrifflicher Gegenfäße ins

Ethifche (I. 71 f.). - perfonalismus undTransperfonalis-

mus (I. 71 Rote). - Zegriffsbildung und Definition

(s. 73 f.),

53-64

64-75

9. die reinen „juriftifchen" Begriffe . . . . . .

Entgeiftigung und. Technifierung der Rechtsbegriffe

(I. 75 f.). - Rinder (I. 76). -* Die herrfchaftstheorie

(I. 76 f.). - Die willenstheorie (I, 78 f.), - Uelfen

(I. 79 f.). - Der Inhalt der Rechtsnormen (I. 80 f.). -

Die hgpoftafierung der reinen Rechtsbegriffe ins Ethifche

(I. 82 f.), - Die Unmöglichkeit mit diefen hgpoftafierten

Begriffen den geiftigen Gehalt und die relative Rerech-

tigung empirifcher Rechtsbegriffe zu verftehen (I; 85 f.).

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Zelte

10. die foziologifche und die rechtliche auffaffung gefellfclfatt-

licher Erfcheinungen . . . , . . . . . . .

Das vorkantifche Raturrecht als Iozialtheorie (I, 88 f.). --

vie Itellung Uants zum problem der Ioziologie (I. 90 f.).

- Die hiftorifche Ichule und ihr verhältnis zum Ratur-

recht und zu Want (I. 94 f.). - Der hiftorismus und

feine rationale pfgchologie (I. 96 f.).

ryschluß . . . . . . . . . . . 98-101

Der mißerfolg des Reukantianismus (I. 98) - feine

metaphgfik und feine Formenfprache (I. 98 f.). -

Reaktionen gegen den Reukantianismus (I. 100). -

Die Gefahren diefer Reaktionen (I, 100 f.).

Llamensverzeiclfnis . . . . . . . . . . . . , . . . 102

88-98

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Page 8: Kaufmann Kritik Der Neukantischen Rechtsphilosophie

Die deutfche Rechtsphilofophie befindet fich in einer

eigentümlichen und kritifchen Iituation. die mit der Rrifis im

engften Zufammenhange fteht. in der fich unfere philofophie

überhaupt. ja unfer ganzes geiftiges Leben befindet. Rach

dem langfamen Abebben der großen fpekulativen Flut des

deutfchen Idealismus hatten wir lange Zeit überhaupt keine

Rechtsphilofophie. Itahls großes Werk ift die leßte bedeutende

und originelle Erfcheinung auf diefem Gebiete; daneben kommen

höchftens noch die Leiftungen der Rraufefchen Ichule in 13e-

tracht. Hegels Rechtsphilofophie erfchien 1820. die von Itahl

in. erfter Auflage 1829. in fünfter 1878 7 Ahrens' Rechtsphilo-

fophie. als Ueberfeßung aus dem Franzöfifchen 1846. die

fechfte deutfche Auflage 1870; Roeders Raturrecht zuerft 1846-

in zweiter Auflage 1860.- Erendelenburgs Raturrecht in erfter

Auflage 1860. in zweiter 1868. Der deutfche Geift fcheint

nach den gewaltigen Leiftungen feiner Ipekulation philofophifch

erfchöpft. metaphgfifch todmüde zu fein. Er hat andere. bisher

vernachläffigte Aufgaben zu erfüllen. die feine Rraft zu ab-

forbieren fcheinen. die Eroberung der empirifchen welt: den

Ausbau der technifchen Raturwiffenfchaften und der hiftorifchen

und philologifchen Forfchung und den Aufbau feines ftaatlichen

und wirtfchaftlichen Dafeins. Die metaphgfifche periode ift

wie abgefchloffen. wie in einem meere verfunken; die empirifti-

fche Flut hat alles verfchlungen. Faft fcheint es. als ob keine

perbindungslinien zwifchen beiden beftehen. Das ift gewiß

nicht der Foll: denn ohne die metaphgfifche periode. die das

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Page 9: Kaufmann Kritik Der Neukantischen Rechtsphilosophie

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Reich des Geiftes erobert und zugleich die wege zur wirklich-

keit des ftaatlichen und gefellfchaftlichen Lebens aufgezeigt

hatte. ift jene nicht denkbar. Aber beide phänomene ftehen doch

hintereinander und nichtin wechfelfeitiger Durchdringung neben-

einander. wohl in zeitlichem und fachlichem. aber nicht in organi-

fchem. fich dauernd gegenfeitig befruchtendem. lebendigem Zu-

fammenhang, wohl kann die wiffenfchaftliche Forfchung die ver-

bindungslinien von der einen zur anderen ziehen; aber es

bleibt Tatfache. daß wir uns in der wirklichen welt einge-

richtet. Itaat. Recht und wirtfchaft aufgebaut haben ohne eine

begleitende zeitgenöffifche Rletaphgfik und Itaatsphilofophie..

wohl kann man die geiftigen Erbfchaftem die die eine von der

anderen angetreten hat. aufzeigen; aber es find eben Erb-

fchaften. kein unmittelbar von der eigenen Generation erarbei-

teter lZefiß. und darum dazu verurteilt. immer mehr zu Ichat-

ten7 wenn nicht zu leeren phrafen zu verblaffen. Die Intenfität.

mit der der Deutfche als Individuum wie als Ration feine

Aufgaben erfaßt und bewältigt. fcheint die gleichzeitige und

fich gegenfeitig durchdringende Erfüllungmehrerer Aufgaben

auszufchließen. wie fie geiftigflacheren und fchwächeren. aber

dafür foziologifch ftärkeren Rationen befchieden ift. Das jähe

Iteigen und Fallen in geiftiger und politifcher Hinficht. das

unfere Gefchichte charakterifiert. das dialektifche Ausfchlagen

in Antithefen. das ebenfofehr ein Igmptom unferer Tiefe und

unferes inneren Reichtums. wie unferer Ichwäche und unferer

unorganifchen Art ift. dürften mit diefer Veranlagung zufam-

menhängen. weil wir keine Itaats- und Rechtsphilofophie

hatten. weil Itaat und Gefellfchaft nur durch verblaßte Erb-

fchaften. Erbfchaften von Want. Hegel. Itahl und Marx. und

nicht durch eine lebendige eigene Iozialphilofophie unterbaut

waren. ftanden fie leßtlich auf tönernen Fiißen und zerbrachen

in der großen gefchichtlichen probe. die der deutfche Geift

wie der deutfche Itaat im Weltkriege zu beftehen hatten.

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Run foll zwar nicht geleugnet werden. daß wir feit der

Iahrhundertwende doch wieder etwas wie eine Rechtsphilo-

fophie hatten. ja daß die rechtsphilofophifchen Intereffen in

ftarkem lvachfen begriffen waren. 1896 erfchien Itammlers

lvirtfchaft und Recht als erftes feiner drei großen werke. 1904

Lasks kleiner Abriß. 1915 Ehrlichs Ioziologie des Rechts.

* 1914 Radbruchs Grundzüge. 1915 ?Zinders Rechtsbegriff und

Rechtsidee. um nur einige der wichtigften werke zu nennen.

Aber die Tradition war feit den 50er und 60er Iahren völlig

unterbrochen. und lieues ließ fich nicht fo fchnell wieder auf-

bauen. jedenfalls nicht fo wieder aufbauen7 daß es bald zu

einem Zildungsferment der Zeit werden konnte, Es mag fein.

daß fich aus den mannigfaltigen Anfaßpunkten. die wir hatten.

wieder etwas wie eine große Rechtsphilofophie entwickelt

hätte. Zu diefer Auswirkung aber war und ift es jedenfalls

noch nicht gekommen. Und man kann zweifeln. ob das über-

haupt von den vorhandenen Anfaßpunkten aus - ohne Hinzu-

tritt ganz neuer Gedankenmaffen und ohne grundfäßliche Reu-

einftellungen - möglich gewefen wäre. Denn. was wir an

Rechtsphilofophie hatten. war grundfäßlich antimetaphgfifch

wie die philofophie der Zeit überhaupt; und .ein grundfäßlich

jede Metaphgfik ablehnendes philofophifches Denken kann wohl

die Liathederphilofophie einer *Zeit beherrfchen. aber nicht ein

die Zeit felbft beherrfchender oder auch nur mit dem Leben der

Zeit in geiftigem Zufammenhange ftehender Faktor werden.

Mit diefer Tendenz zur bewußten Metaphgfiklofigkeit, der

philofophie hängt es zufammen. daß die rechtsphilofophifchen

Igfteme diefer leßten Iahre keine pofitive Itellung zu den

großen inhaltlichen problemen des fozialen und politifchen

Lebens fuchten. und darum an den metaphgfifchen problemen

des Itaates. der Ehe. des Eigentums. des vertrages ufw.

vorübergingen. Darin war ihnen der Marxismus jedenfalls

über. der zu allen diefen Fragen eine ausgefprochene. wenn

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auch negative Itellung befaß. Ihm und feiner materialiftifchen

Gefchichtsmetaphgfik hatte die „bürgerliche" wiffenfchaft wohl

eine Rritik. aber keine pofitive eigene Uletaphgfik entgegen-

zuftellen vermocht. Auch hier war dem politifchen Zufammen-

bruche der bürgerlichen welt ihr geiftiges verfagen voran-

gegangen. "

Diefe Iachlage ift nur zu verftehen. wenn man fich die

beiden Ausgangspunkte vergegenwiirtigt. auf denen jene

Reublüte der rechtsphilofophifchen Forfchung beruht. Das

ift einerfeits die neukantifche philofophie und anderfeits der

gefellfchaftswiffenfchaftliche. foziologifche Empirismus. wie ihn

namentlich das wefteuropäifche Denken ausgebildet hatte:

zwei geiftige Richtungen. die in grundfäßlichem Gegenfaß zu-

einander ftehen. und deren gegenfeitige Auseinanderfeßung

immer mehr in den Mittelpunkt der rechtsphilofophifchen

Diskuffionen getreten ift. Troß diefer Gegenfiißlichkeit. die

vorläufig mit dem Gegenfaß des Rationalismus und Empiris-

mus charakterifiert fein mag. beftehen Gemeinfamkeiten und

Beziehungen zwifchen beiden. Die folgenden Ausführungen

.ftellen fich nicht die Aufgabe. diefen Gegenfaß zu entwickeln.

wenn fie auch veranfchaulichen wollen. warum es zu jener

großen foziologifchen Reaktion gegen den neukantifchen Ratio-

nalismus gekommen ift. Iie wollen vielmehr das Augenmerk

auf die Beziehungen zwifchen dem Denken der neukantifchen

philofophie und dem der Rechtsphilofophie und Rechtswiffen-

fchaft lenken. Io foll hier weder der verfuch gemacht werden.

den Reukantianismus erfchöpfend zu würdigen und die mannig-

faltigen Förderungen darzulegen. die die neukantifche Rechts-

philofophie durch Auseinanderfeßungen innerhalb der Bewegung

und mit Außenftehenden jedenfalls gebracht hat. noch auch fchon

hier eine grundfiißliche und ins einzelne gehende Rritik am

Reukantianismus vorzunehmen. Die probleme follen nur

fo weit verfolgt werden. als nötig ift. um die Beziehungen

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zwifchen dem philofophifchen Denken der Reukantianer und

dem juriftifcljen Denken der herrfchenden Rechtswiffenfchaft

bloßzulegen. Es wird dem Iuriften nicht unerwünfcht fein.

zu erfahren. wie auch fe i n e Denkmethoden als ein Ausdruck

des allgemeinen Geiftes der Zeit aufgefaßt werden können

und müffen. der fich auch in der zeitgenöffifchen philofophie

eine projektion verfchafft hat. Und anderfeits wird es dem

philofophen wichtig fein. zu hören. wie feine Denkformen in

einer philofophifch befonders intereffanten. zugleich mit der

praxis des Lebens in fteter verbindung ftehenden wiffenfchaft

ausfehen und wirken: das kann und foll fein Gefühl der verant-

wortlichkeit für die Grundrichtung des geiftigen Lebens der Zeit

fchärfen. Und wenn man alle projektionen und Expreffionen

des Geiftes einer Zeit als g e i ft i g e E i n h e it faßt 1. kann

die folgende Zetrachtung zugleich als ein - wenigftens zwei-

dimenfionaler - Beitrag zur Kritik der Zeit aufgefaßt werden.

Es wird ftets eine in der deutfchen Geiftesgefcljichte merk-

würdige und für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts

charakteriftifclje Tatfache bleiben. daß die deutfche philofophie

nach dem Abebben des fpekulativen Denkens auf einen Denker

zurückgegriffen hat. von deffen Rritik man faft zwei Menfchen-

alter vorher ausgegangen war. Es war eine geiftesgefchichtliclge

Rezeption. undjede Rezeption bietet ihre befonderen Er-

klärungsfchwierigkeiten. was war es. was Aant zur Rezeption

durch die Zeit geeignet machte? Ich glaube. es war vor allem

zweierlei. Einmal fchien fein apriorifcher Rationalismus.

feine Lehre von der unbedingten Herrfchaft der rationalen

Gefeßlichkeit einen Halt bieten zu können gegenüber der

überwuchernden. alles verfchlingenden Empirie des immer

komplizierter und unüberfehbarer werdenden modernen Lebens.

1 Zu diefer - faft allen meinen Arbeiten zugrunde liegenden -

Irageftellung: ogl. m ein Ueber den Zegriff des Organismus in der

Itaatslehre des 19. Jahrhunderts I. 1-3.

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feiner ungebändigten Itofflichkeit und den daraus folgenden

Gefahren des Materialismus oder des Relativismus. wo Want

daher nicht geradezu in Agnoftizismus und Relativismus um-

gebogen wurde. ift es das pathos:der abfoluten. reinen. ratio-

nalen Formwerte. der die neukantifche Bewegung in ihren

beiden Hauptfpielarten der fog. Marburger und der fog. füd-

_ weftdeutfchen Ichule charakterifiert. Dazu kam aber ein Zweites.

Die rationale apriorifche Gefeßlickjkeit wurde als eine formale

gefaßt; und diefer formale Rationalismus war der Zeit gerade

wegen feiner Inhaltsleere willkommen. Denn dadurch brauchte

er die Ipezialwiffenfchaften in ihrer Bearbeitung der empiri-

fchen Itoffe und Inhalte nicht zu ftören. Ieine von empirifchem

Itoff befreiteÄ-Reinheit". feine Erhebung der rationalen Be-

griffe und abfoluten Form- und Iollwerte in eine von aller

Empirie unberührte. mit ihr in keinem begrifflichen oder

beg*reifbaren Zufammenhange ftehende Iphäre. feine Auflöfung

der Metaphgfik in Methodologie konnten dem empiriftifchen

und fpezialiftifchen Zeitalter die vermeintlich philofophifche.

„erkenntnistheoretifche" Grundlage und Legitimation bieten.

foweit dies Zeitalter überhaupt noch philofophifches Bedürfnis

und Ichamgefühl befaß. das ihm eine Bedeckung der philo-

fophifchen Racktheit notwendig machte, Die verficherung. daß

jene reine und abfolute welt der werte und Geiftigkeiten

rein formal. bloß erkenntnistheoretifch. nicht metaphgfifch

hgpoftafiert. gemeint fei. ließ dem empiriftifchen Zeitalter den

Reukantianismus als feine philofophie. als Fleifch vom

eigenen Fleifch erfcheinen: diefe philofophie wollte ja keine

Metaphgfik fein. fie wollte ja nur durch kritifche Ielbftbefinn-

ung die formalen Dorausfeßungen der Ipezial-

wiffenfchaften formulieren; von ihr konnte nie ein Uebergriff

gefürchtet werden; fie war eine Ipezialwiffenfchaft neben den

anderen geworden.

Aber der Reukantianismus verfucht Unvereinbares mit-

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einander zu vereinen. Eine tranfzendente welt reiner Zormen

und werte foll der empirifchen welt Rückhalt und Iinn ver-

leihen; aber beide welten werden dualiftifch fo auseinander-

geriffen. daß ihr verhältnis zveinander unbegreiflich wird.

Die Gegenüberftellung von Form und Inhalt ift mehrdeutig.

fie ftellt probleme und löft keines, Die rationale Formwelt

foll für die empirifche fowohl konftitutiv als auch regulativ

und normativ fein. und dies regulative verhältnis wird bald

bloß im Iinne der Beurteilung und des Maßftabes. bald zu-

gleich im Iinne des Zielpunktes. des Ideals der Erkenntnis.

des lvollens. bald fogar im gefchichtsphilofophifchen Iinne

des Richtpunktes der Entwicklung aufgefaßt. Aant hatte

Formen der „Anfchauung". kategoriale und konftitutive Formen

des „Denkens" und regulative „Ideen der vernunft" unter-

fchieden. und durch feine rationaliftifche Gefchichtsmetaphgfik.

die leßtlich auf feiner Ding-an-fich-Ipekulation beruht. den Ideen

der vernunft zugleich eine gefchichtsphilofophifche Funktion

geben können. Daneben hatte er in der Rritik der Urteilskraft

-eine rationale Teleologie zu regulativem und heuriftifchem

Gebrauch für das verftändnis der gefchichtlicchen welt entwickelt.

Das alles fließt in der neukantifchen philofophie in einer je nach

ihren Richtungen verfchiedenen. durchaus unkantjfchen und. was

wichtiger ift. in einer durchaus unklaren lveife ineinander. Man

hatte ja nicht die kantifche Metaphgfik mit rezipieren wollen.

und geriet fo überall da. wo Wants Denken metaphgfifch ver-

ankert ift. in unauflösbare Ichwierigkeiten. nicht nur mit der

Rantphilologie. fondern mit fich felbft. Denn die erkenntnis-

theoretifche Umdeutung des bei Rant metaphgfifch gemeinten

verhältniffes von phänomenalem und noumenalem Reich

nimmt der Formwelt die ihr zugedachte Miffion. der empirifchen

Lvelt Rückhalt und Iinn zu verleihen. Durch „Erkenntniskritik"

aus dem Monismus des Lebens herausgelöfte abftr akte

F or m e n können weder Richtmaß noch Rückgrat fein. Die

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Dernunftideen find bei Rant auch keine reinen Formen. fondern

pofitive Inhalte. wenn Itammler fein formales „foziales Ideal"

mit dem polarftern vergleicht*f zu dem der Ichiffer auffchaut.

nicht um dort zu landen. fondern um fein Fahrzeug danach zu

fteuern. fo hat Rümelin ihm mit Recht erwidert. daß der

polarftern fowenig wie der Rompaß jemals einem den weg

gewiefen. der nicht wußte. wohin er wollte. Und man kann

hinzufügen. daß der polarftern auch kein bloß formaler Begriff.

keine bloß erkenntnistheoretifch abftrahierte Methode des Rich-

. tungf u ch ens. fondern ein an beftimmtem Ort feft lokali-

fierter Richtungs p u n kt ift. Aber der Reukantianismus will

ja gerade diefe formale Rationalität. um die empirifche

wirklichkeit nicht durch metaphgfifche Hgpoftafierungen zu ver-

gewaltigen. Auch das ift ein wefentlicher Beftandteil feiner

Lehre. Damit hat er natürlich recht. aber er kann ihr damit auch

keinen tranfzendenten Rückhalt geben: die rationale Formenwelt

fchwebt fo ,erkenntnistheoretifch abftrakt. fo losgelöft als reiner

Geltungswert über der inhaltlichen wirklichkeit. daß keine

Beziehung mehr zwifchen beiden Iphären denkbar. gefchweige

denn philofophifch anfchaubar ift. Die fcholaftifche Auffaffung

der abfoluten werte als metaphgfifcher Iubftanzen mit meta-

phgfifchen Zwifchenftufen wird vom Reukantianismus abge-

lehnt; aber er feßt nichts pofitiv Greifbares an deren Itelle.

Die Erkenntnistheorie und Methodologie kann den Erfaß nicht

bieten: die unklare Charakterifierung des verhältniffes durch

das von Form und Inhalt läßt das entfcheidende problem.

eben des verhältniffes von Form und Itoff. ungelöft. Man ,

kann die fcholaftifche Metaphgfik ablehnen. kann fie aber nur

durch eine andere Metaphgfik. nie durch formale erkenntnis-

theoretifche Abftraktionen erfeßen.

Der Reukantianismus kann zeigen. daß im Erkenntnis-

akt kategoriale verbindungen und Verknüpfungen. Ignthefen

des Mannigfaltigen zur Einheit vorgenommen werden. daß

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das Erkennen Formelemente enthält. die die „Gegenftände

der Erkenntnis" erft fchaffen; er kann diefe Formen als ein

Iollen. als Rormen auffaffen. die das erkennende Iubjekt

anerkennt und die es im Erkenntnisakt befolgt; er kann felbft

das „Gegebenfein". das „Etwas". das „Diesfein" als Formen

anfehen. ohne die wir einen Romplex von Empfindungs-

inhalten nicht als „gegeben". als „etwas". als gerade „dies"

erfaffen können. Aber felbft wenn es möglich wäre. ein Igftem

folcher reinen Zormen und Rormen aufzuftellen. fo wäre damit

nur ein Igftem von abftrakten Iollungen ge-

geben. wie etwa: verknüpfte Empfindungsinhalte zu Dingen!

feize Relationen zwifchen Empfindungsinhalten! fieh Empfin-

dungsinhalte als ein Gegebenes. als ein individuelles „Dies"

an! Aber niemals kann mit alledem etwas darüber gefagt

fein. wann wir diefem. wann jenem Iollen gehorchen follen.

wann dies. wann jenes richtig ift. ob im einzelnen Er-

kenntnisakte eine Befolgung der Iollensnormen wahrheits-

wert hat. ob wir damit die wirklichkeit erkennen. Es ift eine

„abftrakte" Form „erkenntnistheoretifch" aus dem pfgcljo-

logifchen Erkenntnisakte „begrifflich" herausgelöft. aber keine

dem Erkenntnisakte gegenüberftehende Rorm gegenftändlich

oder als Beurteilungsmaßftab für die Richtigkeit gegenüber-

geftellt. Alle diefe Zormen und Rormen find leer. und es

führt keine Brücke von ihnen nach unten zum Iein. Und es

führt vor allem auch keine Brücke nach oben zum abfoluten

wahrheitswert: die Rorm „erkenne die wahrheit" ift durch*

nichts mit der Rorm „verknüpfe zu Dingen". „feße Relationen".

„erfaffe als Individuelles" verbunden und verbindbar. Die

wirklichkeit foll als eine (vr d nu n g erkannt werden. dazu

find gewiß (vrdnungsformen „begrifflich" „vorauszufeßen"; aber

felbft wenn - was durchaus nicht ausgemacht und vielleicht

nicht einmal ein Ideal ift - ein „gefchloffenes Igftem" diefer

Ordnungsformen auffindbar wäre. fo bliebe dies Formenfgftem

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eben ein a b ft r a k t e s Zormen f x] ft e m und keine materielle

Or d n u n g von Erkenntnis i n h a lt e n. Zum Igftem könnte

die Gefamtheit der lvrdnungsformen auch nur werden unter der

Herrfchaft eines abftrakten Einheitsgefichtspunktes. welcher

follte das fein? Der abfolute wahrheitswert foll ja felber rein

formal fein. und es ift nirgends auch nur der verfuch gemacht.

diefen wert inhaltlich im Gegenfaß zu anderen werten zu be-

ftimmen. weil damit ja fchon der rein formale Charakter diefes

philofophierens verlaffen wäre. Als eine Begriffsbeftimmung

kann jedenfalls die Tautologie nicht angefehen werden. daß

er die „Allgemeingültigkeit" bedeutet. die „bei allen normal

denkenden Menfchen ftattfindet". Dargetan ift von dem Reukan-

tianismus wirklich nur das „tranfzendente Minimum" Rickerts.

eben daß es ein „Iollen überhaupt" gibt: einen abfoluten

wahrheitswert und* kategoriale Zormen der Ignthefis. ver-

knüpfungsformen. Mehr ka n n er auch gar nicht ausfagen.

wenn er feine eigenen vrämiffen .nicht aufheben will. Iogar

der einfache Iaß „etwas ift" ift für ihn unbegreiflich; er kennt

eigentlich nur die formale Rategorie des „Etwas". die

Etwashaftigkeit"x als folche; die verbindung von einem wirk-

lichen mit diefer Etwashaftigkeit. die Ießung eines b e ft i m m-

te n Etwas als Etwas ift für ihn ebenfowenig verftehbar. wie

daß die Ießung von Etwashaftigkeiten überhaupt und die

Ießung von beftimmten Etwaffen gerade w a h r h e i t s w e rt

hat. Der formale Apriorismus läßt uns daher führerlos auf

dem Meere der wirklichkeit umhertreiben 1.

Io muß fich beim Reukantianismus das verhängnis

jedes formalen Rationalismus erweifen. daß er nur durch

Anleihen bei der Empirie. durch Erfchleichungen von Inhalten.

alfo durch unbewußte Hgpoftafierungen von empirifchen Ge-

gebenheiten zu metaphgfifchen Realitäten oder durch pfgcho- '

l vgl. mein Das wefen des völkerrechts und die 6131181113.

febus sic: stautibus I. 149.

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logifche und foziologifche Iubftruktionen feiner reinen Zormen

zu Ergebniffen kommen kann. Ohne folche Anleihen bliebe er

nichts als eine leere pathetik der abfoluten werte. die nicht

von der Itelle kommen kann. -

I t a m m l e r s „reine" Begriffe find - das hat Binder

zutreffend dargetan - durch generalifierende Abftraktion aus

empirifchen Rechtstatfachen gebildet. fie find oberfte Gattungs-

begriffe. empirifche Allgemeinbegriffe. keine apriorifchen Rate-

gorialbegriffe im Iinne Wants. Er erfüllt diefe empirifchen

Allgemeinbegriffe nur mit dem pathos der Unbedingtheit.

er verleiht ihnen die würde der Rategorien. ja der vernünft-

ideen. und er neigt fogar bedenklich dazu. fie zu metaphgfifchen

potenzen zu hgpoftafieren. die den Fortfcljritt in der Gefchichte

garantieren. ganz im Iinne des Jortfchrittsoptimismus der

rationaliftifchen Gefchichtsmetaphgfik. Auch darauf hat bereits

Binder hingewiefen. Und nur durch diefe Erfchleichungen

marfchiert der Itammlerfche abftrakte Rationalismus. Rur

dadurch können auch die aus dem reinen Rechtsbegriff abge-

leiteten „Grundfäße des richtigen Rechts" unmittelbar auf die

Lebenstatbeftände angewandt werden: unter echte Rategorien

kann man nicht wie unter empirifche Allgemeinbegriffe einfach

Iubfumtionen vornehmen; weil aber Itammlers reine Rechts-

begriffe nur empirifche Allgemeinbegriffe find. kann er fie un-

mittelbar an die Tatbeftiinde des Lebens heranbringen ganz ebenfo

wie die empirifchen Begriffe der „technifchen" Rechtsfäße. Iollen

doch die „Grundfäße des richtigen Rechts überall da als Oberfäße

für die juriftifchen Iubfumtionen herangezogen werden. wo die

technifchen Rechtsfijße Lücken enthalten. oder wo fie felbft in

wechfelnden Formulierungen auf die reine Rechtsidee verweifen.

Zur vermittlung zwifchen dem konkreten Itoff und den ab-

ftrakten Grundfäßen fchiebt Itammler den Begriff der „Ionder-

gemeinfchaft" ein. nur als „gedankliches Hilfsmittel". als

formales „Ichematt; aber auch diefer rein abftrakte rationale

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Apparat kann nur dadurch helfen. daß er Anleihen bei dem

pofitiven empirifchen Rechte macht (Erbfolge. pflichtteilsreckjt.

Ausgleichspflichten ufw.). worauf ich bereits hingewiefen

habe 1,

Einerfeits foll nach Itammler „die Iondergemeinfchaft"

nicht „eine Einrichtung auf Grund beftimmter Rechtsordnung"

fein. fondern nur „ein gedankliches Hilfsmittel. welches einen

konkreten Itoff den abftrakten Grundfiißen des richtigen Rechts

zuführen foll". Anderfeits aber führt er aus. daß man fich. um

die Iondergemeinfchaften „zutreffend aufzuftellen". jedes In-

dividuum mit „konzentrifchen Rreifen" umgeben vorftellen

muß; und „die Feftftellung diefer konzentrifchen Rreife gibt

d a s g e f ch i ch t li ch e »R e ch t", Das ift eine Rapitulierung

vor dem pofitivismus. .Und was für eine. wenn wir auf die

Regelung der Erbfolge. des vflichtteilsrechts. der Ausgleichs-

pflichten ufw. verwiefen werden! Die e n t f ch e i d e n d e

Frage für die Löfung von R e ch t s problemen liegt aber ge-

rade in der Beurteilung folcher „Iondergemeinfchaften": wie

fteht der Forderungsberechtigte zum Leiftungsverpflichteten bei

langfriftigen Lieferungsverträgen. wenn Rrieg oder Revolution

nicht-vorherfehbare preisfteigerungen verurfacht haben? wie

der »Bogkottierte zu den Bogkottierenden? was hat der prin-

zipal von feinen Angeftellten hinzunehmen. was diefe von

jenem? was muß die Ehefrauvon ihrem Ehemann hinnehmen.

was er von ihr? Itammler felbft hatte das richtige Gefühl.

daß aus den abftrakten und formalen. überall gleichen Grund-

fäßen des richtigen Rechts eine Entfcheidung nicht gewonnen

werden kann. Darum fchiebt er die „Iondergemeinfchaft" da-

zwifchen. Da er diefe aber wieder - feinem formalen Ratio-

nalismus entfprechend - als bloßes „Ichema". als „verblaßten

Ichatten". ftatt in irgendeiner konkreten Lebendigkeit. faßt.

bietet er Iteine ftatt Brot. Iene fchematifchen konzentri-

1 vgl. Clausulo. I. 207/8,

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fchen Lireife können natürlich niemals das leiften. was fie leiften

fallen: ein r e ch t li ch e s verftändnis für die feinen Differen-

ziertheiten und Mannigfaltigkeiten der G e m e i n f ch a f t s-

verhältniffe. die das bunte Leb en der Gefellfchaft

hervortreibt. Hätte er den Gedanken der Iondergemeinfchaften

in zutreffender Richtung weiter verfolgt. dann hätte er freilich

erkennen müffen. daß in ihnen ein zweites. a u ch „normatives"

problem neben dem der überall identifchen abftrakten Grund- *

fäße fteckt. das zum mind eft en ebenfo wichtig ift. wie

das in jenen rationalen Grundfäßen liegende. Da er aber das

Rormative echt rationaliftifch nur in abftrakten Allgemeinheiten

erkennen kann. fo mußte er jene Iondergemeinfchaften nicht zu

bedeutfam erfcheinen laffen. Darum läßt er fie in der Iphäre

des „bloß" Inhaltlichen. im bloß „gefchichtlicljen Recht". Io

rettet er zwar die alleinige normative Geltung der formalen

Grundfäße. macht aber die eigentliche Entfcheidung aller

Rechtsfragen von dem bloß pofitiven des gefchichtlicljen Rechts *

abhängig. ohne freilich irgendwie begreiflich zu machen. wie dies

die der Iondergemeinfchaft zugedachte Funktion erfüllen kann.

vor allem aber ift auch bei Itammler das Form-Inhalt-

verhältnis ein unklares und wechfelndes. Denn parallel zu der

Tendenz. e m p i r i f ch e n Allgemeinbegriffen eine p h i l o-

fo p h i f ch e Dignität zu verleihen. geht die. das verhältnis

der geftaltenden inh a ltlich e n R o r m zu dem zu geftal-

tenden Itoff in den bloß abftrakt-begrifflichen Gegenfaßvon

a b ft r a k t e r . am Itoffe bloß „haftender" und nur begrifflich

ablösbarer F o r m und ftofflichem „Iubftrat" umzudeuten.

wenn Itammler das Recht als die den Itoff des fozialen Lebens

„bedingende und beftimmende Form" charakterifiert. fo bemüht

er fich. in diefen Ausdrücken und in den näheren Ausführungen

dazu. das verhältnis vonfozialer wirtfchaftund Recht darzulegen

, als ein verhältnis der abftrakten ka t e g o ri ale n F o r m

zu dem Itoff der Empfindungsinhalte: wirtfchaft und Recht find

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in der Realität miteinander ebenfo verbunden. wie die Ding-

haftigkeit mit dem Ding. fie follen aus dem „Monismus des

fozialen Lebens" nur als durch eine begrifflich-erkenntnistheore-

tifche Abftraktion voneinander lösbar angefehen werden. die

Rechtsform ebenfo am fozialen Itoffx-haften". ebenfo in ihm

„ftecken" wie die Dinghaftigkeit am und im Ding. die Gegeben-

heit am und im Gegebenen. Es wird die analgtifche Zorm mit

der wirklich geftaltenden Rorm verwechfelt. Durch diefe fehler-

hafte Gleichfeßung von abftraktem Formgehalt und inhaltlich

normierender. den Itoff inhaltlich geftalten-follender Rorm wird

nun aber fowohl das Recht wie die wirtfchaft denaturiert. Die

„ökonomifchen phänomene" werden zu bloßen „Maffenerfchei-

nungen". die eine eigene „Form" nicht haben; fie entfprechen

dem. was Rant in feiner Lehre von.den Rategorien als das noch

nicht von den kategorialen Ignthefen erfaßte und bearbeitete

„Materiale der Empfindungen" bezeichnet, Und doch haben

die foziologifchen phänomene eine von der rechtlichen Ror-

mierung unabhängige Gegenftändlichkeit. die das „Materiale

der Empfindungen" gegenüber dem abftrakten Formgehalt der:

Rategorien nicht hat. Und zwar dies fchon allein darum. weil

es foziologifche phänomene gibt. die bald einer beftimmten

Rechtsordnung, bald dem richtigen Recht widerfprechen.. wäh-

rend es natürlich den Rategorien widerfprechende Empfin-

dungsinhalte nicht geben kann. Die analgtifche. abftraktiv

gewonnene Form ift im Monismus des Lebens fozufagen

am Itoffe feftgewachfen und nur unter erkenntnistheoretifchen

Gefichtspunkten von ihm ablösbar und als „begrifflich früher“

verftehbar. Die geftalten- und umgeftalten-wollende. beftimmte

Inhalte fordernde. heifchende Rorm ift dagegen nicht am fozio-

logifchen Itoffe feftgewachfen: denn fonft gäbe es kein Unrecht.

Iozialer Itoff und rechtliche Rorm bewegen fich frei gegenein-

ander: fie follen fich gewiß decken. aber fie tun es nicht immer.

Das verhältnis von wert und wirklichkeit ift nicht dasfelbe wie

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das von abftraktem Formgehalt und geformtem Itoff. Io

wird durch diefe bei.Itammler durchgehende Herabdrückung

der llorm zur Rategorie auch das wefen des Rechts verdunkelt.

wir haben bereits gefehen und werden noch weiter beob-

achten müffen. wie in der füdweftdeutfchen Ichule die umgekehrte

Tendenz waltet. die analgtifclje Form zur geftaltenden Rorm

heraufzufchrauben. Es verfteht fich von felbft. daß Itammler

diefen bloß kategorialen Rechtsbegriff nicht konfequent durch-

führt. Aber die Riffe und Lücken in feinem Igftem werden

verdeckt durch die Annäherung der abftrakten Allgemeinbegriffe

von unten her. und die der wertbegriffe von oben her an die kate-

goriale Iphäre. indem eben feine „reinen Begriffe" nach beiden

Ieiten fchillern: fie follen bald wie empirifche Allgemeinbegriffe

zu Iubfumtionsfchlüffen geeignet. bald wie wertbegriffeÄals

Richtmaß verwertbar fein. Da diefe;wertbegriffe nun aber fo-

wohl von den empirifchen Allgemeinbegriffen wie von den kate-

gorialen Formen die Inhaltsleere -übernommenLhaben. können

fie die ihnen überwiefene Aufgabe. ein Richtpunkt und Maßftab

zu fein. nicht erfüllen. Zwifchen fie und das zu beurteilende

Objekt muß immer noch etwas irgendwie Inhaltlicljes einge-

fchoben werden. bald die aus ganz empirifchen Beftandteilen

aufgebaute „Iondergemeinfchaft". bald der Begriff des „rechten

Mittels zum rechten Zweck" 1; und diefe Zwecke find natürlich

nur „empirifch bedingte". Es kann aber durch nichts gezeigt

werden. welche begrifflichen Beziehungen zwifchen dem „fozialen

Jdeal" und diefen einzelnen Zwecken obwalten. „Das foziale

Ideal fchwebt in folcher Reinheit und Unbedingtheit über allem

Empirifchen. daß es ewig unbegreiflich bleiben muß. wie das wirk-

liche Recht auch nur den Anfpruch ,Recht“. ein ,verfuch richtiges

Recht zu fein* erheben kann" i. Auch der Itammlerfche Ratio-

nalismus kann ohne Anleihen bei den empirifchen „bedingten

Zwecken" und der „Iondergemeinfchaft". ohne irgendeine mehr

l vgl. Clausula I. 208/9.

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oder weniger verfteckte „Ronkretifierung" nicht auskommen,

Aus ihnen werden feine Entfcheidungen im Grunde hergeleitet:

„das nicht entfcheidende Abftrakt-Allgemeine und Formale ift

allein wirklich gefehen und herausgearbeitet". während jene

Momente überfehen find und fo ein vom normativen un-

berührtes Dafein führen. ja tatfäcljlich alles überwuchern.

„Einen wirklichen Damm gegen den pofitivismus kann der

abftrakte Rationalismus nicht errichten: er kann ihn an den

oberften Itellen ausmerzen. aber nur. um ihn in den unteren

Regionen um fo ungehinderter wuchern zu laffen" 1. wie bei

Rickert ift nur das „tranfzendente Minimum" feftgelegt. im

übrigen aber dem pofitivismus das Feld überlaffen.

wo Itammler über dies „tranfzendente Minimum" hinaus

zu pofitiven Ergebniffen ftrebt. gefchieht dies durch feinen immer

wiederkehrenden. aber in fich unmöglichen verfuch aus dem

bloß Formalen doch beftimmte Inhalte herauszulocken. Ieine

„Grundfäße des richtigen Rechts" follen rein formal fein;-

daraus folgt. daß fie auch völlig inhaltsleer fein müffen. Das

find fie dennauch in der Eat: denn fie find durchaus tautologifch.

- Der einzelne foll nicht gezwungen werden. „feinen wohl-

berechtigten Intereffen zu entfagen", was ift aber „wohl-

berechtigt"? In einem Grundfaß des Rechts darf doch nicht

wieder der Begriff des Rechts figurieren! - „Es darf nicht der

Inhalt eines willens der willkür eines anderen anheimfallen."

„willkür" find „die bedingten fubjektiven Zwecke des andern";

wie *das wort „Recht" darf natürlich auch das wort „willkür"

nicht in einem Grundfaß. des Rechts ftehen; denn es bedeutet

nichts als einen Gegenfaß zu „Recht". „bedingt fubjektive Zwecke"

find nichts als nicht-objektive Zwecke; was aber objektive

Zwecke find. das ift gerade die Frage; und fie kann *niemals

von einem formalen Rechtsbegriff aus beantwortet werden. »-

Der verpflichtete muß „fich noch der Rächfte fein" können,

l 6131181113 Z. 210.

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Diefer Iaß hebt. wörtlich genommen. jede verpflichtung auf.

die dem verpflichteten unbequem ift oder Opfer zumutet;

Iinn bekommt er nur. wenn man ein „berechtigterweife" oder

Aehnliches hinzudenkt, - Alle diefe tautologifchen Grundfäße

können niemals das leiften. was fie leiften follen. weil fie immer

wieder als bekannt vorausfeßen. worauf fie eine Antwort geben

wollen: was „berechtigt" und nicht „willkürlich". was „objektiv"

und nicht bloß „fubjektiv" ift i. Diefelbe tautologifche Art be-

gegnet uns wieder bei der Deduktion des „fozialen Ideals".

„Das unbedingte Gefeß für den Menfchen ift . . . der gute

wille; das ift die Richtung und Beftimmung empirifcher

Zwecke. die als allgemeingültig auftreten kann. abftrahierend

von den fubjektiven egoiftifchen Trieben." Mit dem „guten

willen" kann aber kein kiriterium für die inhaltlich e.

Richtigkeit einer Ordnung gegeben fein i. bei der es darauf an-

kommt. zu fixieren. w ann ein wille gut. dji. „frei" von

fubjektiven egoiftifchen Trieben ift. und w o d u r ch *fich

diefe inhaltlich vonobjektiv b erechtigten unter-

fcheiden. Und fodann kann mit dem „guten willen" kein

Liriterium für eine fo z i a l e Ordnung gegeben fein. weil es

bei diefer ja gerade .darauf ankommt. eine objektiv richtige

Ordnung von -dem guten willen der Individuen u n a b-

hän g i g zu ftellen. Die Frage. w as objektiv berechtigte.

auch nicht-gutwilligen Individuen zumutbare Z w e ck e find.

läßt fich niemals aus dem f o r m a l e n Begriff der Gerechtig-

keit oder gar dem des „guten willens" herausklauben. fondern

nur aus einer inhaltlichen Ordnung und wertung k o n k r e t e r

Z w e ck e. Rach formalen tautologifchen Grundfäßen ift auch

das foziale „Zufammenwirken" in einer Räuberbande. in einem

Bordell. im Iklavenverhältnis. in einer soojetas leonjno ge-

regelt. Die Allgemeingültigkeit und allgemeine Zumutbarkeit

_Wausuw Z. 150/1.

7 vgl. hiezu unten I. 55 f.. 56 f.

Erich Aaufmann. Aritik. * 2

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einer Rechtsordnung muß neben aller a b ft r a kt e n „Rich-

tigkeit" auf der Allgemeingültigkeit und allgemeinen Zumutbar-

keit des ko n k r e t e n Gemeinzwecks beruhen. dem fie dienen

foll. Und ein folcher konkreter Gemeinzweck ift niemals ein

formaler. inhaltsleerer. fondern ein lebendiger und inhaltlicher.

nur von beftimmten inhaltlichen weltanfchauungen und wert-

haltungen aus beftimmbarer.

Itammlers „foziales Ideal". die „Gemeinfchaft frei

wollender wefen" als „die Idee einer Menfchengemeinfchaft.

in der ein jeder die objektiv berechtigten Zwecke zu den feinigen

macht". ift daher denn auch zwar fehr pathetifch. aber völlig

negativ. Denn „frei" foll heißen „fubjektiv u nbedingt. un-

perfönliclj". Die pofitive Frage aber muß lauten: wie o b-

jektiv? Durch welche pofitiven Rriterien inhalt-

lich beftimmt? Itammler will eine „Regelung des vereinten

Dafeins und Zufammenwirkens. der jeder Rechtsunterworfene

zuftimmenmußfobalder frei von bloß fubjektivem

B e g e h r e n fich entfchiede", Gewiß! Das ift aber eine

bloße Tautologie. und keine pofitive Antwort auf die

eigentlich geftellte Frage. w a s bloß fubjektive. und was im

Gegenfaß dazu o b j e k t i v e Begehren find 1.

. Ichon als „moralifches" Ideal ift daher Itammlers „foziales

Ideal" nicht brauchbar. weil es rein formal und damit bloß

negativ ift. Rur als religiöfes Ideal. als „Gemeinfchaft der

Heiligen" hat es einen Iinn. weil dann der religiöfe Glaube

einer endlichen vereinigung aller Iittlichen in Gott diefem

Ziele den notwendigen I n h a lt durch eine ko n k r et e

Gottesvorftellung zu geben vermag?, Der Begriff

„Gemeinfchaft frei wollender Menfchen" ift nach dem

Mufter des Rantifchen „intuitiven verftandes" geformt. indem

beide Begriffsbildungen den Gedanken einer „vollendeten

1 vgl. 6181181113 I. 149/150.

' vgl. 6131131113 I. 148. 150.

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Ausgeglichenheit" zwifchen niemals Ausgleichbarem formulieren

wollen: im Theoretifchen zwifchen „diskurfivem Denken" und

„intuitivem Anfchauen". im „praktifchen" zwifchen den End-

zwecken der »Gefamtheit und dem fittlichen wollen der die

Gefamtheit bildenden perfänlichkeiten. Lask hat auf eine ähn-

liche Analogie einmal hingewiefen; aber er hatte zugleich mit

Recht hinzugefügt. daß bei Rant der Begriff des „intuitiven

verftandes" eine „ Ziktion" ift. die gerade dazu dienen follte.

die uns allein befchiedene Art der Bewältigung

des theoretifchen Zieles mit mäglichfter Ichärfe durch die For-

mulierung des uns ftets verfchloffenen hervor-

treten zu laffen. wie unkantifch Itammlers „foziales Ideal"

ift. kann man am beften daraus erfehen. daß es Want niemals

eingefallen wäre. den „intuitiven verftand" zum I d e al d e r

menfchlichen Erkenntnis zu erheben: er hat genau

das Gegenteil getan. In der „Gemeinfchaft frei wollender

wefen" ift das für das foziale Leben der Menfchen ebenfo

charakteriftifche wie notwendig mit ihm verbundene Ipannungs-

verhältnis entfpannt; darum kann fie diefem ebenfowenig als

Ideal hingeftellt werden wie der „intuitive verftand" dem

menfcljlictjen Erkennen. das unabänderlich in das zwifchen be-

grifflichem Denken und intuitivem Anfchauen beftehende

Ipannungsverhältnis gebannt ift. Liant hätte die Erhebung

der Ziktion des intuitiven verftandes zum menfchlichen Er-

kenntnisideal mit beißender Ironie gegeißelt.

. wenn man fich die Architektonik der drei kantifchen Ari-

tiken und innerhalb der Rritik der reinen vernunft den Aufbau

auf tranfzendentaler Aefthetik. Analgtik und Dialektik vergegen-

wärtigt und dann die einzelnen Elemente diefes Gebäudes in

dem Itammlerfchen Igftem wieder auffucht. wird man er-

fchrecken über die völlige Zerftärung der großartigen Tektonik

des kantifchen Gedankengebäudes: was hier tragender Balken

war. ift weggefallen. anderes fteht völlig in der Luft. das Ganze

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ohne Dach und ohne Fundament. Das metaphgfifche Funda-

ment des Dinges an fich fehlt. die alles überwölbende und um-

fchließende Ruppel der vernunftideen fehlt. als „Erfaß" ift das

der kantifchen Fiktion des intuitiven verftandes entfprechende

„foziale Ideal" angefügt und daher ohne die verbindung. die

bei Rank zwifchen den vernunftideen und dem Ding an fich

befteht. An der Itelle des „Materiale der Empfindungen"

aus der „Aefthetik" ftehen in unhaltbarer weife die ökonomifchen

phänomene als ungeformte Maffenerfcheinungen. Die „Grund-

fäße der reinen Raturwiffenfchaft" find durch formale und

tautologifche „Grundfäße des richtigen Rechts" erfeßt; der

„Ichematismus der reinen verftandesbegriffe" ift zu dem

„Ichema" der „Iondergemeinfcljaft" verzerrt. Das Recht ift

aus der Iphäre praktifcher vernunftideen in die formaler

Rategorien geraten; empirifche Allgemeinbegriffe. die Rant

*ftets von den Rategorien fcharf gefchieden hatte. find in die

Iphäre der Rategorien erhoben. Die „teleologifche" Betrach-

tung. der Rant nur eine beftimmte heuriftifä)e und

r e g u l a t i v e Funktion in der Rritik der Urteilskraft zuge-

wiefen hatte. ift in die Moralphilofophie verfchlagen. wo fie

eine konftituierende Bedeutung erlangt hat. Es

find allerlei (ijsjeota 1116111613 des kantifchen Bauwerks aus

ihren tektonifchen Zufammenhängen herausgeriffen. befchnitten. .

behauen und transformiert. und dann ift aus ihnen ein ganz

neues Gebäude errichtet worden. das nicht auf feften Funda-

menten ruht. fondern in den luftleeren Raum hineingebaut ift.

Auch der radikalfte verfuch auf neukantifcher Grundlage

den reinen Rechtsformalismus durchzuführen. die Arbeiten

von R e l f e n beftätigen. daß der reine Rationalismus. wenn

er einigermaßen konfequent bleibt. zu gar keinen Ergebniffen

kommen kann. und daß. wo er folche liefert. fie erfchlichen find.

während Itammler die empirifche Rechtswiffenfchaft als bloß

z technifche Rechtslehre beifeite ftellt. will Relfen gerade die

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empirifche Rechtswiffenfchaft von allem Empirifchen reinigen

und zum Range einer „reinen" „normlogifchen" wiffenfchaft

erheben. Das ift ihm möglich dadurch. daß auch fein „reiner"

Rechtsbegriff wie der Itammlers nur ein empirifcher All-

gemeinbegriff. der abftraktefte und darum inhaltleerfte All-

gemeinbegriff ift. Mit apriorifchen Aategorien kann man in

der Tat nicht empirifche Begriffe „reinigen". wohl aber da-

durch. daß man in einem abftraktiven verfahren aus den

empirifchen Begriffen alle ftofflichen Elemente langfam aus-

fcheidet. bis man zu einem inhaltleerften Allgemeinbegriff

kommt. diefen zum „Urfprungsbegriff" macht und aus ihm

durch „logifche Erzeugung" die anderen Begriffe „deduziert".

Lielfen felbft bezeichnet feinen Begriff des reinen Iollens als

„Oberbegriff des Rechts". der „keinerlei materielle Bedeutung

hat". als „einen rein formalen Begriff". wenn nun. wie

lielfen behauptet. die Rechtswiffenfchaft „reine" Rormwiffen-

fchaft ift. die ihrem wefen nach alles auf diefen Begriff des-

reinen Iollens. auf deffen „einfache und reine Relationen"

zurückführen muß. fo verfteht es fich von felbft. daß er an den

Begriffen der empirifchen Rechtswiffenfchaft. die die welt

bis auf Iielfen allein getrieben hat. allerlei ftoffliche Elemente

findet. die auszufcheiden find. und daß alle Begriffe und Unter-

. fcheidungen. die die vorkelfenfche. die von Iander fog. „alte

Itaatsrechtslehre" gemacht hat. falfch find und in der nach-

kelfenfchen „neuen Itaatsrechtslehre" verfchwinden müffen.

wenn man die wirklichkeit unter einem beftimmten abftrakten

Gefichtspunkt betrachtet und von allem anderen als „unwefent-

lich" abfieht. dann fpringt eben immer wieder nur diefer ab-

ftrakte Gefichtspunkt heraus. Das ift ja fo felbftverftändlich.

daß man die dicken Bücher von Relfen. die an zahllofen Bei-

fpielen immer wieder dasfelbe vermeintliche Runftftück vor-

machen. eigentlich gar nicht zu lefen braucht. Das weiß jeder.

der weiß. was abftraktives verfahren ift. wenn das wefen

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der Rechtswiffenfchaft in der Herausholung der reinen Rela-

tionen des formalen Iollens aus dem empirifchen Itoff be-

fteht. dann gibt es „juriftifch" keinen Unterfchied von privat-.

Itaats- und völkerrecht. dann gibt es keinen „juriftifchen"

Gegenfaß von Itaatenbund und Bundesftaat. zwifchen Organ

und Itellvertreter. keinen „juriftifchen" Iouveränitätsbegriff.

fondern dann gibt es „juriftifch" eben nur die reinen Relationen

des formalen Iollens, Das ift die Erivialität. die große Tauto-

logie. über die Relfen als „reiner Rechtstheoretiker" nicht

hinauskommt 1,

wenn er fchließlich doch zu einem beftimmten pofitiven

Ergebnis gelangt. fo ift das natürlich erfchlichen: fonft könnte

fein abftrakter formaler Rationalismus ja niemals aus dem

gefchilderten Zirkel herauskommen. Er projiziert das reine

und formale Iollen auf eine empirifche Organifation. auf

die cjnjtas maxjmu der „weltrechtsgemeinfchaft" und gibt ihm

damit einen beftimmten „politifchen"„ foziologifchen" Inhalt.

Der eigentliche Itandpunkt von Relfen war der. daß es fich

bei dem Begriff des Iollens nur um einen rein fo r m a l e n

Begriff handelt. durch den allein der „r e l a t i v e wert des

pofitiven Rechts als folcher. in feinem fpezififchen Gegenfaß zur

wirklich k eit des fozialen Lebens" erfaßt werden kann.

„o h n e zugleich zur Bedeutung eines abfoluten I d e a ls auf-

zufteigen". Danach hätte dies reine Iollen nur eine erkenntnis-

theoretifche Funktion gehabt. die von jeder foziologifchen

Iubftruktion unabhängig ift. ja ihrem wefen nach bleiben muß.

Der rationale Allgemeinbegriff des formalen Iollens. der

natürlich gar keine räumliche Beziehung hat. wird nun aber

durch Erfchleichungen zuerft in den Begriff einer r ä u ml i ch e n

Allgemeingültigkeit. der Allgemeingültigkeit für die gefamte

welt umgedeutet. und diefe räumliche*Allgemeingültigkeit. die

l Ueber den troß diefes Urteils beftehenden wert der Relfenfchen

Rritik an den herrfchenden Itaatsrechtsbegriffen f. u. I. 79 f.

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zunächft noch eine abftrakteift. fodann in die ko nkr et e To t a-

li t ä t der weltallgemeinheit verwandelt oder zum mindeften auf

die foziologifche „Realität" einer weltorganifation proji-

ziert. Das reine Iollen als folches aber hat natürlich weder eine

räumliche. noch eine foziologifch-organifatorifche Beziehung: in

feinem Begriff liegt nichts als eben ein abftraktes Iollen. womit

gar nichts darüber ausgefagt wird. ob dies Iollen in größeren oder

kleineren Lireifen „gilt". und in welchen foziologifchen Organi-

fationen es „verwirklicht" wird - das waren ja gerade aus der

„reinen Rechtstheorie" zu verweifende. nur der „foziologifch-

kaufalwiffenfchaftlichen" Betrachtung unterliegende pfgcho- ,“x

logifche und politifche Gegenftände. Ießt aber fagt Relfen.:

„daß das fo z i a l e Bewußtfein in feiner E n t w i cklu n g

vom Individuellen zu immer weiteren Rreifen noch nicht die

Ichranken der [lation und des national oder fonft be-

grenzten Itaates g efpr en gt. noch nicht zu einem Menfchen-

bewußtfein fich ausgeweitet hat". Die gefperrten

worte haben natürlich keine rein „normlogifche". fondern

„kaufalwiffenfchaftliche" Bedeutung. wie der ganze Iaß nicht

„normlogifch". fondern „kaufalwiffenfcljaftlich" gedacht ift. und

zwar „kaufalwiffenfchaftlich" falfch: denn die „kaufale" Ge-

fchichte im leßten halben Iahrtaufend ift tatfächlich den umge-

kehrten weg von der einheitlichen „Thriftenheit" zu den impe-

rialiftifchen Machtftaaten gegangen. - ob man dies in einer

„politifchen" wertbetrachtung nun als wertvoll oder als ver-

irrung anfehen mag. Mit normlogifcher Reinheit hat es auch

nichts mehr zu tun. wenn Relfen fchon „unzweifelhaft" „ftarke

Rr Lifte" nach der Richtung der ojujtas maxjmal „wir-

ke n" und die weltgefchichte darum „auf dem ficheren w e g e"

zur „radikalen v e r d r ä n g u n g" der Iouveränitätsvor-

ftellung fieht. Das alles find „kaufale“ Begriffe. freilich ohne

die Grundlage kaufalwiffenfchaftlicher Forfchung. Die „Auf-

löfung der im Denken der Iuriften erftarrten. verdinglichten

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Rechtsgebilde. ihre Zurückführung auf die einfachen und reinen

Relationen des Rechtslebens". die Relfen uns in feiner vorrede

verfprach. ift in diefen metaphgfifchen *Ipekulationen jedenfalls

nicht mehr zu finden. Ia „die Weiterentwicklung der völker-

rechtsgemeinfchaft aus ihrem Zuftande der primitivität" foll

abzielen auf eine „ojnjtas mvxjma - a u ch im p o li t i f ch-

m a t e r i e l l e n I i n n e diefes wortes", Man traut feinen

Augen nicht: das foll die Erfüllung des in der vorrede ge-

gebenen verfprechens fein. eine „reine. insbefondere von

foziologifch-pfgchologifchen und p o litifch e n Elementen

gereinigte Rechtstheorie" zu bringen! Die (Zjxcjtos muxjrrin

foll „auch" einen politifchen Iinn haben! Hatte Relfen doch

die „Zwei-Ieiten"-Theorie des Itaates mit beißendem Hohn

abgelehnt. weil das „gegen den Fundamentalfaß aller Erkennt-

nistheorie" verftoße. „daß der Gegenftand der Erkenntnis

durch die Erkenntnisrichtung beftimmt fei. und daß zwei ver-

fchiedene Methoden zwei ebenfo v e r f ch i e d e n e G e g e n-

ftände erzeugen müßten. die mit dem gleichen Ramen .

,Itaat* zu bezeichnen nur ein irreführender Fehler fein

kann". Der leßte Iaß des Relfenfchen Buches lautet: „Als

unendliche Aufgabe aber muß folcher weltftaat als welt-

organifation allem politifchen Itreben gefeßt fein." Io fteigen

hier doch. troß des anfänglichen programms. die „rein for-

malen" Begriffe „zur Bedeutung eines abfoluten Ideals." auf!

Und es ift wieder derfelbe gefchichtsphilofophifche Hafen der ratio-

naliftifchen Fortfchrittsmetaphgfik. die die reinen „Begriffe" zu

metaphgfifchen potenzen mit empirifcher Realität und wir-

kung herauffchraubt. die wir bereits kennen. In Wants ratio-

naliftifcher Metaphgfik mit feiner Lehre vom Ding an fich.

von den Ideen der reinen vernunft. die etwas ganz anderes

find als abftraktefte empirifche Allgemeinbegriffe und als

apriorifche Rategorien. ift das alles großartig verankert; wenn

man es aus dem Munde des „Reukantianers" Relfen vernimmt.

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ift man verfucht. -mit Relfen zu fagen: „ajffjojle est satjrum

non sorjbero.“ Iander. der urfprünglich auch diefe „ethifch-

politifche" Iubftruktion des weltftaates vorgenommen hatte.

hat fie durchaus konfequent fpäter wieder zurückgenommen.

Es verlohnt aber. dem wege nachzugehen. auf dem Relfen**f

zu diefen Erfchleichungen gekommen ift. Er fieht felbft ein.

daß es der „reinen" „normlogifchen" Rechtswiffenfchaft nicht

möglich ift. die Rechtsordnung als „wir k f a nr e Ordnung"

zu erweifen. da in dem Begriff des „reinen" Iollens und

Geltens nichts von einer „wirklichen" Geltung liegt. daß das

dasfelbe wäre wie der verfuch. „fich felbft auf die Ichulter zu

fteigen" oder wie fich Münchhaufen „an dem eigenen Zopf

aus dem Iumpfe zu ziehen". Um die „Tatfaclje" zu erklären

und zu rechtfertigen. daß troßdem die Rechtswiffenfchaft und

die Rechtspraxis mit dem Begriff des reinen Iollens nicht

auskommen. fondern ein „wirkliches" Gelten verlangen. be-

darf es vielmehr einer Rorm ..ganz anderer Art". eines „poftu-

lates". das „mit dem Begriffe des Rechts

nichts zu tun" hat. Dies findet er in dem auf die

„normative Betrachtung" übertragenen „Grundfaß der Er-

kenntnisökonomie". der darin befteht. „mit möglichft einfacher

Zormel möglichft viel der tatfächlichen Gegebenheit zu er-

klären": alfo in dem poftulat. einen Ausgangspunkt zu fuchen.

durch den „möglichft viel Tatbeftände als normentfprechend"

erfaßt werden können. Diefer Grundfaß ftellt „ein wert-

ökonomifches prinzip. ein prinzip der erkenntnismäßigen Er-

zielung eineswertmaximums dar". Aus diefem prinzip folgt

natürlich die Ablehnung der vorftellung. daß es eine Fülle

von pofitiven Rechtsordnungen gibt. die Unmöglichkeit eines

„Rechtsplurismus". der an fich mit dem Begriff des „reinen".

d. h. von allen räumlichen und foziologifchen Beziehungen

losgelöften Iollens durchaus vereinbar ift. Das denk- und wert-

ökonomifche prinzip hingegen fordert. „daß die Iurisprudenz

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in demfelben Maße wiffenfchaft wird. als fie dem poftulat

der Einheit ihrer Erkenntnis genügt. als es ihr gelingt. alles

Recht als ein einheitliches Igftem zu begreifen". „ Das poftulat

der Einheit der Erkenntnis gilt unbefchränkt auch für die

normative Ebene und findet hier feinen Ausdruck in der Ein-

heit und Ausfchließlichkeit des als gültig vorausgefeßten Rormen-

fgftems." Das drängt dann zu der „juriftifchen Hgpo-

thefe" von dem „primat der völkerrechtsordnung" über

die ftaatsrechtliche Ordnung. Durch fie wird „der Rechts-

begriff zugleich im formellen und materiellen Iinne vollendet:

das Recht wird zur Organifation der Menfchheit und damit

eins mit der höchften fittlichen Idee."

Diefe Argumentationen ftüßen zwar in keiner weife die

fo z i o l o gi f ch e Iubftruktion der weltrechtsordnung in der

Organifation der Menfchheit. oder gar. wie das „Recht" zu

einer -„(l)rganifation" wird. oder wie es einen „Rechtsbegriff

im materiellen Iinne" geben kann; aber fie deduzieren die

„moniftifche Anfchauung" als von der „Einheit des Erkenntnis-

ftandpunktes" gefordert. wie Relfen fie im Iinne der Mach-

fchen Denkökonomie. der auch Iander huldigt. verfteht. Daß

der „Reukantianer" Relfen mit dieferxMachfchen Theorie von

dem Erkennen der welt nach dem ökonomifchen Grundfaß der

geringften Rraftanftrengung - und auf diefer Theorie ruht

fein ganzes Gebäude - von Rant weltenweit abrückt. entbehrt

nicht der pikanterie. Es verfteht fich demgegenüber von felbft.

daß das „ökonomifchfte" Denken nicht das „richtigfte" zu fein

braucht; die Rompliziertheiten und Differenziertheiten der

wirklichkeit. die Ipannungen und Antinomien des Lebens.

die doch auch real find. können nach dem prinzip der denk-

ökonomifchen v e r e i n f a ch u n g nie begriffen werden. Daß

bei „Rechtspluralismus" Antinomien zwifchen den verfchiedenen

Rechtsordnungen beftehen. ift klar. ebenfo. daß fie durch einen

weltrechtsmonismus theoretifch befeitigt werden könnten.

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was fich aber fragt. ift: erftens ob fie befeitigt werden-i

fo l l e n 7 -zweitens ob fie befeitigt werden k ö n n e n. und

für welchen preis. für welche Opfer diefe Befeitigung zu haben

ift; - drittens ob es Aufgabe der pofitiven Rechtswiffenfchaft

ift. die rechtlichen phänomene bereits heute. wo diefe Anti-

nomien nun einmal tatfächlich beftehen. foziologifch vorhanden

find (man mag dies bedauern oder nicht). fo zu konftruieren. als

beftänden fie nicht. ob eine folche Ronftruktion gegenüber der

Rechtswirklichkeit irgendwelchen Erkenntniswert hat; - vier-

tens. ob eine folche Ronftruktion irgendeinen Einfluß auf die

Umgeftaltung der Rechtswirklicljkeit im Iinne jenes (vermeint-

lichen oder wirklichen) Ideals hat. ob die D e nk ö k o n o m i e

in irgendwelchem parallelismus zu der Auswirkung der realen

foziologifch-politifchen Rräfte der hiftorifchen wirk-

lichkeit fteht. Relfen beantwortet implizite alle diefe Fragen mit

einem unbedenklichen Ia. ohne Begründung und natürlich auf der

Grundlage einer beftimmten metaphgfifchen Einftellung. Diefe

Einftellung ift ein fchrankenlofer. nicht etwa bloß erkenntnis-

theoretifcher. fondern metaphgfifcher Rationalismus. Das

gefamte Leben fo ll durch abftrakte Rechtsfäße rationalifiert

werden: das ift natürlich nur möglich durch den primat der

völkerrechtsordnung. oder wie er felbft fagt: „richtiger welt-

rechtsordnung". Die preis- und Opferfrage kümmert feinen

rationalen Rigorismus gar nicht. Die Rationalifierung durch 0

abftrakte weltrechtsfäße kann erfolgen. denn fie muß es:

natürlich nur durch eine „Revolutionierung unferes Rultur-

bewußtfeins": aber der ihr im wege ftehende Iouveränitäts-

begriff „muß radikal verdrängt werden". wie das gefchehen

kann. unterfucht er nicht: „ftarke Rräfte" „wirken" „unzweifel-

haft" „nach diefer Richtung": welche. fagt er nicht; von „ftarken

kiräften". die dagegenwirken. weiß er nichts. Die „Rräfte"

fcheinen ihm aber doch wieder nicht auszureichen. denn er

ftellt das Ziel zugleich dem „politifchen I t r e b e n" als

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„unendliche Aufgabe". Daß die fo ziolo gifch entiräfte und

das fittliche Itreben zu demfelben Ziel führen. feßt eine präfta-

bilierte Harmonie zwifchen dem orclke nature] und der menfch-

lichen Iittlichkeit oder eine Erhebung der fittlichen Ideen der

Menfchen zu real wirkenden metaphgfifchen potenzen voraus.

Daß dies Ziel dann doch wieder ins „Unendliche" verlegt wird.

fteht in widerfpruch mit der Hineinprojizierung diefes Zieles in

die Endlichkeit und mit der Jorderung. die empirifche Rechtswelt

bereits nach dem Ichema diefes Zieles zu konftruieren. wenn

er das troßdem tut. fo beruht das auf der Hgpoftafierung des

empirifchen Allgemeinbegriffs. von dem er ausging. zu einer

metaphgfifchen potenz. *Daß er mit der Ronftruktion der

empirifchen Rechtswelt. „als ob" das im Unendlichen liegende

Ziel bereits erreicht wäre. diefe vergewaltigt. verfteht fich von

felbft. Daß diefe empirifche Rechtswelt feinem Rationalismus

„ein unbefriedigender Zuftand" ift. mag ihn in weltfchmerz

zufammenbrechen laffen. berechtigt ihn aber nicht. diefen Zu-

ftand bei feiner wiffenfchaftlichen Erfaffung zu ignorieren. Es

ift unzweifelhaft richtig. daß die Begriffe der empirifchen

Rechtswiffenfchaft politifche. pfgchologifche und foziologifche

Elemente enthalten. die fich nicht aus dem Begriff des reinen

Iollens logifch „erzeugen" laffen. Gerade darum aber können

fie eben nicht rein „normlogifch". fondern nur auch mit hifto-

rifchen. pfgchologifchen und foziologifchen Methoden erfaßt

werden. Gewiß find die Gegenfäße zwifchen öffentlichem und

privatrecht. zwifchen Itaats- und völkerrecht. zwifchen Bundes-

ftaat und Itaatenbund. find der Iouveränitätsbegriff. der Begriff

des fubjektiven Rechts keine formal-apriorifchen Begriffe. fon-

dern für befondere hiftorifch-politifche. foziologifche und pfg-

chologifche verhältniffe beftimmte und mit ihnen zufammen-

hängende. Daraus folgt aber nur. daß fie zur juriftifchen Er-

faffung diefer empirifchen verhältniffe gar nicht anders aus-

fehen dürfen; denn diefe müffen als das. was fie find. behandelt

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werden. nicht als das. was fie wären. wenn der Aelfenfche

Rechtsmonismus in der Unendlichkeit verwirklicht wäre. Die

pofitive Rechtswiffenfchaft fängt haarfcharf an dem punkte an.

wo Relfen aufhört. Es ift daher auch nur durch eine radikal

logiziftifche Metaphgfik zu begründen. wenn Relfen überzeugt

ift. daß die Reinigung der Begriffe nach dem weltrechts-

moniftifchen Ideal zu deffen v e r wir k li ch u n g irgend etwas

beitragen könnte: er glaubt. daß mit der „Ueberwindung des

D o g m a s von der Iouveränität des Einzelftaates" fich „die

E x i ft e n z" der weltrechtsordnung. der ejujtas Maxjma „durch-

feßen" wird. Es ift vielmehr klar. daß fich an der foziologifch-hifto-

rifchen wirklichkeit auch nicht ein Atom ändern wird. wenn eine

„reine" „normlogifche" Rechtstheorie aus Gründen einer denk-

und wertökonomifchen Methodenlehre den Iouveränitätsbegriff

leugnet. oder. wie Iander fordert. „die vernichtung des meta-

rechtlichen Rechtsbegriffes" vornimmt. Die Metaphgfik diefes

rationaliftifchen Logizismus ift fo grotesk. daß fie faft etwas

Grandiofes bekommt.

Diefer metaphgfifche Logizismus ift das Grundmotiv der

Relfenfchen Rechtsphilofophie. Das erhellt aus Folgendem.

wir hatten gefehen. daß die denkökonomifchen Argumentationen

wohl den weltrechtsmonismus im Iinne eines a b ft r a k t e n

R e ch t s fg ft e m s für die gefamte Menfchheit. nicht aber deffen

fozio lo gifch e Iubftruktion durch eine „zur Fortbildung.

Anwendung und Durchfeßung des völkerrechts" zu fchaffende

w e lt o r g a ni f atio n ftüßen kann. Diefe Iubftruktion wird

durch folgenden metaphgfifchen Gedankengang vermittelt. Die

„m e t a j u r i ft i f ch e" Argumentation aus einem „mehr

oderweniger(sje1) erkenntnistheoretifch en prin-

zip" kann bei der weltrechtsordnung durch ein „j u r i ft i f ch e s

(Ziel) prinzip".erfet_zt werden. Bei der „relativ höchften. d. h.

nur unter dem völkerrecht ftehenden Zwangsordnung menfch-

lichen verhaltens" wird „ein gewiffer Grad von w i r k f a m-

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Page 37: Kaufmann Kritik Der Neukantischen Rechtsphilosophie

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k e it diefer Ordnung. von F a k t i z i t ät vorausgefeßt".

Alfo doch! Die grundfäßlich von Relfen für die „juriftifche"

Betrachtung abgelehnte. weil mit dem „unüberbrückbaren

Gegenfaß von Iein und Iollen" unvereinbare verbindung

des „Rormlogifchen" mit einem bloß „Iaktifchen" muß

an der oberften Itelle doch wieder geknüpft werden. Mit

Recht; dennpfonft fchwebt alles Iollen in der Luft, Diefe

„dualiftifche Ronftruktion des weltbildes" aber war ja gerade

der Ausgangspunkt von Relfen. die er zwar als „unbefrie-

digend" und als „unleidlichen Zwiefpalt" empfunden hatte;

in feinem „Denken" aber hatte er „keinen weg" „fehen" können.

der über ihn „hinwegführt". Ießt hat aber Aelfen diefen weg

doch gefunden: er hat dem Iein. der Faktizität. dem Iozio-

logifchen doch opfern müffen. Es ift die *Rache des fonft überall

vergewaltigten Irrationalen. daß es fich a m E n d e wenig-

ftens nicht mehr ignorieren ließ; wie ein Robold. der fich

fo viel narren laffen mußte. fteht es am Ichluffe da und fchlägt

dem rationaliftifchen Uebermenfchen ein Ichnippchen. Und

wie rettet fich diefer vor dem unheimlichen KGefellen? „Da-

durch. - fagt er - daß das Faktifche zum Inhalt einer Rorm

.* wird. erfährt es einen ganz eigenartigen B e d e u t u n g s-

xwandel. es wird fozufagen denaturiert. fchlägt

Lin fein Gegenteil um. wird felbft zum Rormativen.

Richt von einer ,normativen Rraft des Faktifchenß fondern

von einer Metamorphofe des Faktifchen zum

! R o r m a t i v e n müßte man fprechen." wer kann dies

mgftifche Itammeln noch verftehen? es fei denn im Iinne

einer reftlofen Rapitulation vor dem extremften Empirismusl

Und unfer rationaliftifcher Uebermenfch fagt weiter: „Frei-

lich gerät hier das völkerrecht an die ä u ß e r ft e G r e n z e

des Bereichs normaiiver Erkenntnis. an die äußerfte Grenze

des Rechts. Es ift vielleicht (Ziel) gerade no ch (3j01)

Recht. wenn es-den fundamentalen Gegenfaß

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Page 38: Kaufmann Kritik Der Neukantischen Rechtsphilosophie

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..k . "

von Iein und Iollen gefährdend (sjoli) -

zwar nicht jede faktifche Macht als Rechtsmacht zu etablieren

bemüht ift. aber doch nur eine beftimmte fa k t i f ch e M a ch t

als Rechtsmacht gelten laffen will. Und in

diefer Ichwäche des völkerrechts gegenüber

der faktifchen Macht. in diefer Reigung des

völkerrechts vor den Tatfachen zu kapi-

tulieren. zeigt fich feine wahre Ichwäche als

Recht." Die Ehrlichkeit. mit der der unermüdliche Itreiter

gegen die verquickung von Iein und Iollen. von juriftifcher

und foziologifcher Betrachtung. von Recht und Macht. hier.

getrieben durch die eiferne Ronfequenz des eigenen Denkens.

kapituliert. muß jedem. der ein Gefühl für Denkermut hat.

im höchften Maße aufrichtige Bewunderung abnötigen: ich

fenke zum Gruße meinen Degen vor ihm. - Aber es ift und

bleibt eine völlige Rapitulation. wenn das Recht „leßtlich"

doch eine verbindung mit dem Ioziologifchen. mit den tat-

*fächlichen Machtverhältniffen braucht. muß fich die Frage er-

heben: warum gerade nur das völkerrecht? Der primat des

völkerrechts war ja nur teils denkökonomifch. teils durch eine

rationaliftifche und logiziftifche Gefchichtsmetaphgfik begründet.

wenn man beides ablehnt und den „Rechtsplurismus" als

eine (vielleiäjt unerfreuliche. aber doch in diefer wirklichkeit nun

einmal entweder ftets beftehende oder nur in der Unendlichkeit

aufhebbare) Tatfache hinnimmt. dann wird die verbindung

zwifchen dem Rechtlichen und Ioziologifchen für alle diefe

vielen Einz elrechtsordnungen. nicht etwa bloß die ftaatlichen.

zu einer ebenfo unabweisbaren Rotwendigkeit. wie fie es bei

lielfen felbft für das völkerrecht ift. Und die damit unzweifel-

haft verbundenen Antinomien wären nur ein Igmptom der z

Antinomien. die nun einmal diefe ganze wirkliche welt be-

herrfchen. und deren Befeitigung dem Menfchen niemalsmög-

lich fein wird. Der abftrakte Rationalismus wäre damit bankerott

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Page 39: Kaufmann Kritik Der Neukantischen Rechtsphilosophie

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?und unfer rechtsphilofophifcljes Denken einem grenzenlofen

.Pofitivismus und Empirismus ausgeliefert. Es ift wieder

dasfelbe. uns bereits bekannte Bild. Relfen hat recht. wenn

er felbft fagt: „wenn mich ein vorwurf trifft. ift es nicht der.

daß ich zu wenig. fondern eher der. daß ich zu fehr pofitivift

bin." Aber das ift - wie wir immer wieder fehen werden -

nur die eine Ieite feines fchillernden Igftems: er kann fich auf

?der anderen Ieite nicht genug tun in der Bekämpfung des

4 naiven Realismus.

l Bei feiner Begründung des Umfchlagens vom Faktifchen

zum Rormativen auf der oberften weltrechtlichen Itufe fagte

er. daß diefe darauf beruhe. daß hier „das F a k t i f ch e zu m

I n h a lt einer Rorm wird". Ift das-denn nicht überall.

wo es Rormen gibt. der Fall? Relfenfelbft fagt an anderer

Itelle. wo er uns die pofitiviftifche Ieite feines Ianuskopfes

zuwendet: er fei fich wohl bewußt. daß eine „verfaffung ihre

rechtlich relevante G e ltu n g zwar aus der vorausgefeßten

Urfprungsnorm. ihren Inhalt aber aus dem empiri-

fch e n willensakt der konftituierenden Autorität holt"; auch

hier wird alfo „das Faktifche zum Inhalt einer Rorm". Iene

_von ihm daher nur an der oberften Itelle vorgenommene

„Metamorphofe des Faktifchen zum Rormativen" muß eigent-

:lich überall eintreten. wo es inhaltlich e Re chts-

tn o r m e n gibt; und damit wären wir ganz in Gedankengänge

eingemündet. die eigentlich feine Geg.enpole darftellen. Denn

das ift ja die Grundthefe fowohl der „foziologifchen" Rechts-

lehre. die eine „normative Araft des Faktifcljen" zur voraus-

feßung hat. wie die des-verwaltungsrechtlich gewiß verdienft-

lichen. aber - philofophifch fo abftrufen Buches von walter

Iellinek mit feiner Lehre von dem „Rechts faß" charakter

der „wirklichkeit". von den „Tatfachen mit abgeleiteter

Rechtsfaßwirkung": der Rrieg. das Erlöfchen einer Ieuche. die

Gefchichte. ein Rurort. die Heilung des Biffes von einem

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.ir-

tollwütigen hunde im pafteurfchen Inftitut. die Mode. die

Rervofität ufw. find nach ihm alles Rechtsfäße von derfelben

juriftifchen Art wie die Rechtsfäße in Rechtsverordnungen.

Auch Iander fagt. nachdem er feine alte weltrechtstheorie

.aufgegeben hat. nur noch. daß es darauf ankommt. ob „die

R e ch t s e r f a h r u n g eine oölkerrechtliche verfahrensreihe

als höchfte Itufe der Rechtserfahrung ausgez eich-

net hat". und daß „mit dem wechfel der Rechts-

e r f a h r u n g auch die Th e o r i e der Rechtserfahrung

andere und wieder andere verfahrensgrundreihen ankn eh-

m e n mu ß". Abgefehen davon. daß es unklar ift. was bei

den .Ianderfchen prämiffen eine „Rechtserfahrung" fein kann.

foll hiernach eine Rechts e r f a h r u n g eine verfahrensreihe

als „höchfte" „auszeichnen" und die Theorie

nötigen. verfahrens-Grund-Reihen „a n z u n e h m e n". Es f

ift alfo auch hier die Erfahrung. die gewiffe Inhalte?

und Tatfachen zum Re cht ftempelt: die Rapitulation des

Rechts vor dem Empirismus. vor der Faktizität. die den

Inhalt der Rormen fchafft - radikaler foziologifcher

Empirismus! - Da Iander feine eigene frühere und Lielfens

weltrechtstheorie mit diefen Iäßen ableugnet. kommt er

damit auch in eine für ihn bedenkliche verwandtfchaft mit

gewiffen Ausführungen von mir. die für ihn jedesmal.

wenn er uns die nicht-pofitiviftifclje Ieite feines Ianuskopfes

zukehrt. das Ichulbeifpiel der konfequent zu Ende gedachten

„alten Itaatsrechtslehre" find. Denn auch ich zeige. daß. wenn

man nur von dem abftrakten Begriffe des Rechts ausgeht. man

zu dem kommen muß. was Relfen „Rechtsplurismus" nennt.

und werfe die Frage auf. ob wir bei diefem „Relativismus"

von inhaltlich verfchiedenen Rechtsordnungen ftehenbleiben

müf*fen. oder ob eine „Rangordnung" unter ihnen beftehe;

hier feien „verfchiedene wege möglich": im Mittelalter hätten

wir die einheitliche Thriftenheit. alfo eine weltrechtsordnung

Erich Aanfmann. kiritik. 3

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gehabt. in der natürlich für „fouveräne" Itaaten kein plaß

war; aber mit dem Beginne der Reuzeit fei dies „Rulturfgftem"

zerftört und „Raum für neue Löfungen des Rechtsproblemes"

gefchaffen worden; und dann wird gefchildert. wie der moderne

Itaat entfteht und zum fouveränen Itaat neben anderen. fich

ebenfo fouverän fühlenden Itaaten wird. Rach Ianders Termi-

nologie hat eben „mit dem wechfel der Rechtserfahrung" die

„Theorie der Rechtserfahrung" im Laufe der gefchilderten ge-

fchichtlichen Entwicklung „andere und wieder andere verfahrens-

grundreihen annehmen müffen". Denn auch ich habe nirgends

die „verfahrensgrundreihe" „moderne Itaaten" als etwas „Un-

bedingtes" hingeftellt. im Gegenteil gerade ihre Bedingtheit

überall fcharf betont: es fei ein wechfel univerfaliftifcher und

nationaler Epochen in der Gefchichte zu beobachten. es habe

den kirchlichen weltftaat gegeben. auch die „Rirche"könne unter

beftimmten vorausfeßungen und Bedingungen neben dem

Itaat „verfahrensgrundreihe" fein. ja je nach den gefchicht-

lichen und gefellfchaftlicljen Bedingtheiten könnten auch andere

Faktoren -ich verwies auch auf Revolutionen - „mit dem

wechfel der Rechtserfahrung" „verfahrensgrundreihen" wer-

den. was mich von dem „pofitiviftifchen" Iander unter-

fcheidet ift alfo jedenfalls nicht. daß ich dem „Rormativen"

weniger Bedeutung zumeffe als er - wie es bei der pole-

mik des „normlogifchen" Iander ausfieht. - fondern m e h r:

das geht aus meiner Ablehnung der von Bruno Ichmidt ver-

tretenen „empirifch-fozialen. fozial-dgnamifchen" Rechtstheorie.

des damaligen Tgpus empiriftifch-foziologifcl; er Rechtslehre. und

meiner Ablehnung „der normativen Rraft des Faktifchen" her-

vor !, was uns unterfcheidet. ift. daß ich mich nicht der neu-

kantifchen verwechflung der abftrakten kategorialen Formwelt

-und der normativen Iphäre fchuldig gemacht habe. daß ich

das Rormative nicht nur in rationaliftifcher Form kenne und

* vgl. 6131131113 I. 55 f.. I. 9 Anm. 1 u. a. m.

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jeden harmonifierenden vereinfachungs-Rationalismus ab-

lehne. *

Die füdweftdeutfche Ichule hat bisher noch nicht

zwei fo abgefchloffene und charakteriftifche Leiftungen wie die

von Itammler und Relfen zu verzeichnen; dagegen hat fie einen

ungewöhnlich ftarken Einfluß auf die pofitive Rechtswiffenfchaft

ausgeübt. Und felbft wo folche unmittelbaren kaufalen Beein-

fluffungen nicht zu erweifen find. erfcheint das. was die füd-

weftdeutfche Rechtsphilofophie geleiftet hat. wie der methodo-

logifche Unterbau zur herrfchend gewordenen Behandlungsart

rechtsdogmatifcher probleme: fie ift - und das bedeutet noch

mehr als eine kaufale verbindung - aus demfelben Geifte

geboren wie jene und fo eine wahrhaft tgpifche Erfcheinung

in der deutfchen Geiftesgefchichte der leßten Iahrzehnte, Beide

Tatfachen. die fich fcheinbar zu widerfprechen fcheinen. der

Mangel an abgefchloffenen und charakteriftifcljen Leiftungen

und der große Einfluß auf die herrfchende Rechtsdogmatik.

wurzeln tief in der Eigenart diefer neukantifchen Richtung,

Denn in ihr ift nicht nur einbeftimmter. aus Rant rezipierter

Ideengehalt lebendig. fondern auch viel von der nachkantifchen

Ipekulation. der die Marburger faft völlig ablehnend gegenüber-

ftehen. als Erbgut erhalten geblieben: namentlich in windel-

band und Henfel. bei denen die fgnthetifche und zum Igftem

tendierende Art Rickerts und die bohrende Denkenergie und

begriffliche Leidenfchaft Lasks. des vielleicht bedeutendften.

leider nicht zur vollendung gekommenen Denkers diefer

Ichule. nicht fo ftark entwickelt find. die dafür aber einen fei-

neren philofophiegefchicijtlichen Iinn befitzen. der den Mar-

burgern faft völlig mangelt. und die daher eine befondere Rote

als philofophifche perfönlichkeiten haben. wenn hier daher auch

bisher noch die große Igftematik der Marburger fehlt. die in

ihrer Gefchloffenheit und radikalen Einfeitigkeit nicht zu über-

bieten ift. die aber auch keine Fortentwicklung mehr zuläßt. fo

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find dafür nicht nur die geiftesgefchichtlictjen verbindungslinien

zur vergangenheit erhalten geblieben. fondern es liegen in ihr

auch Reime. die eine Zortentwicklung über fie hinaus nicht

ausfchließen: hat doch Lask in feinen leßten Arbeiten vielfach

die Ichranken diefer Richtung bereits fo ftark durchbrochen.

daß man zweifeln kann. ob er ihr noch ganz zugerechnet wer-

den kann. *

Der formale Charakter des philofophifchen Denkens wird

hier fo intenfiv durchgeführt. das Rormative fo hoch über die

empirifche wirklichkeit erhoben. daß auch für die probleme

der Irrationalität und des gefchichtlichen Lebens wenigftens

der „erkenntnistheoretifche" Ort auf dem 31011118 intelleotualjs

feftgelegt. wenn auch nicht zu einer Metaphgfik der Gefchichte

oder des Geiftes fortgefchritten werden konnte und die Ge-

fchichtsphilofophie leßtlich doch in einer Methodenlehre der

empirifchen pragmatifchen Gefchichtswiffenfchaft ftecken bleiben

mußte, Die tranfzendente Höhe. in die die abfoluten werte

verlegt werden. das Fefthalten an dem formalen Charakter

diefer werte. die fchroff dualiftifche Auseinanderreißung von

wert und wirklichkeit. von „kritifcher" und „genetifcher" Be-

trachtung. mußten es unmöglich machen. die Beziehungen

zwifchen diefer formalen tranfzendenten welt und der Inhalt-

lichkeit der empirifchen Iphäre begreifbar und anfchaulich zu

machen.

Das kantifche Ding an fich. das vielleicht für die tranf-

zendentale Aefthetik und Analgtik entbehrlich fein oder hier

nur als „Grenzbegriff" funktionieren mag. ohne das aber

bereits die tranfzendentale Dialektik nicht verftanden werden

kann. und das jedenfalls als verbindungsftück zwifchen den

drei Rritiken und als Grundlage der kantifchen Gefchichts-

philofophie nicht wegzudenken ift. ift - nach Fichtefchem vor-

bilde - über Bord geworfen. ohne daß es durch den Fichtefchen

abfoluten willensrationalismus oder den Hegelfchen abfoluten

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Geift erfeßt wäre. Mag auch Rant in gewiffem Iinne Dualift

gewefen fein. fo war es ein Dualismus zwifchen der noumenalen

und phänomenalen welt. d. h. der Dualismus zwifchen dem

Ding an fich und feiner Erfcheinung. alfo leßtlich doch ein

Monismus. Die „Ratur" ift bei ihm nicht nur die Erfcheinung.

fofern fie unter allgemeinen Gefeßen begriffen werden kann.

fondern zugleich ein wertbegriff: der hinter den Erfcheinungen

fteckende oräre nuturel. die fich in der menfchlichen Iittlichkeit

und Gefchichte entfaltende noumenale welt. deren Bürger

auch der Menfch in feinem metaphgfifchen Rerne ift. Und wenn

auch diefe noumenale welt als „Gegenftand" der „theoretifchen

Erkenntnis" entzogen ift. fo-ift doch ohne fie anderfeits auch

bereits eine Erkenntnis der empirifchen welt nicht möglich. und

ift ferner diefe noumenale welt keine welt formaler werte.

fondern von inhaltlichen vernunftideen. die darum eine regu-

lative und normative Funktion erfüllen können. Durch die Itrei-

chung des Dinges an fich klafft in dem Denken der füdweftdeut-

fchen Richtung eine metaphgfifche Lücke. Der Dualismus zwifchen

formalen abfolutenwerten und dem empirifchen Itoff ift etwas

ganz anderes-als der zwifchen Ding an fich und Erfcheinung.

wenn man von dem Gegenfaß von Form und Inhalt

fpricht. fo bleibt der Gegenfaß ein rein abftrakter. begrifflicher. er-

kenntnistheoretifcher. dem irgendwie noch ein realer Monis-

mus entfprichtrdenn es „gibt" nur am Itoff haftende Form und-

geformten Itoff. Man kann alle jene Gegenfaßpaare zwar

unter b e ft i m m t e n „erkenntnistheoretifchen" Gefichts-

punkten auseinander-d e nk e n . aber fie müffen unter

a n d er e n Gefichtspunkten wieder als Einheit erfcheinen. Iede

bloß „begriffliche" Unterfcheidung ift eine relative. die einem

beftimmten relativen Erkenntniszweck dient; unter anderen

Erkenntnisgefichtspunkten erfcheint das früher Getrennte als

vereinigt. Io find auch die Begriffe Form und Inhalt relative:

je nach dem Gefichtspunkt erfcheint bald dies bald jenes Ele-

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ment als Zorm. wenn f man eine unt er beftimmtem

relativen Gefichtspunkt ftehende begrifflich e

Unterfcheidung mit einer w ertfarbe umkleidet und fo die

unfinnliche abftrakte Zorm zur üb erfinnlichen erhebt. hgpo-

ftafiert man etwas bloß Gedachtes. Abftraktes zu metaphgfifcher

Dignitöt: man verleiht dem relativen Unterfcheidungsgeficljts-

punkt abfolute Bedeutung. wenn daher das aus erkenntnistheo-

retifchen Gründen in Zorm und Inhalt Auseinander-Gedachte zur

Grundlage der philofophie überhaupt gemacht wird. verleiht

man damit der Erkenntnistheorie metaphgfifche. ontologifche

Bedeutung und fteht mitten in einer nicht nur rationaliftifchen.

fondern auch intellektualiftifcljen weltanfchauung. Eine Duali-

tät. die nur unter beftimmten. relativ berechtigten

Gefichtspunkten auseinander-g e d a ch t werden kann. kann nicht

Grundlage einer p hilo f o p h i e werden. fondern nur

eine folche. die unter keinem Gefichtspunkt zufammen-

gedacht. die nur auseinander-erlebt werden kann.

ift dazu zu verwenden. wenn man. ohne der unfinnlichen

abftrakten Zorm eine metaphgfifche Farbe zu verleihen. bei

dem Form-Inhaltverhältnis ftehenbleibt. kommt man zu einem

metaphgfifchen Monismus. an dem nur unter

„erkenntniskritifchen" Gefichtspunkten ein Romplex von ab-

ftrakten „Momenten" begrifflich herauspräparierbar ift: alfo

zu einem radikalen metaphgfifchen Empirismus oder empi-

rifchen Realismus. Es befteht nicht nur die von Rickert

felbft betonte „Harmonie" zwifchen feinem tranfzendentalen

Idealismus und dem empirifchen Realismus. fondern völlige

metaphgfifche Identität.. Die „brutale wirklichkeit". auf die

fich der Realismus beruft. kann durch das b e griffli ch e

Herauspräparieren reiner Zormen nicht aufgehoben werden;

nur „ineinemerkenntnistheoretifchen Zufammen-

hange" ift der Hinweis auf dies „faotum brutum“ „brutal":

fagt Rickert felbft. wie aber eine Erkenntnistheorie . die

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„Metaphgfik" des empirifchen Realismus befeitigen kann. ift i

unerfindlich: fie intereffiert. fich ja nur für das. was „b e-

grifflich früher" ift als die Erkenntnis der wirklichkeit.

Man kann aber das „erkenntnistheoretifche pro-

blem". das in dem „Begriffe" des faotum brutum „fteckt". fehr

wohl „f e h en". wie Rickert nur fordert. und doch metaphgfifch

brutaler und radikaler Empirift bleiben. Rickert hat recht: der

„tranfzendentale Idealismus" braucht den „empirifchen Realis-

mus" nicht zu „beunruhigen"; er „beabfichtigt" es ja nicht

einmal. Mit bloßer Erkenntniskritik kann man in der Tat

keine Metaphgfik widerlegen oder aufheben.

Run ift ja aber natürlich auch Rickert weit entfernt von

folcher falfchen philofophifchen Befcheidenheit. wie» er fie ge-

legentlich in feinen Ichriften (wir fprechen fchon von dem

„tranfzendenten Minimum") zur „Beruhigung" des herrfchen-

den naiven Empirismus zur Ichau trägt. Er ift „zugleich der

Ueberzeugung. daß allein in der .E r k e n n t n i s th e o r i e

die Bafis für eine wiffenfchaftliche philofophie zu finden ift".

Diefe „Ueberzeugung" von der über-erkenntnistheoretifchen

Bedeutung der Erkenntnistheorie kann natürlich nicht wieder

erkenntnistheoretifch begründet fein. was Rickert freilich glaubt.

Ia. er will die für feine „weltanfchauung" entfcheidende Lehre

vom. primat der prattifcljen vernunft „erkenntnistheoretifch"

begründen. Daß das nur auf Grund einer extrem intellektuali-

ftifchen Metaphgfik möglich ift. leuchtet ein: oder glaubt er auch

fie erkenntnistheoretifch begründen zu können? Für windel-

band „geht die Erkenntnistheorie weder der Metaphgfik voraus.

noch folgt fie ihr. fie ift weder die vorausfeßung noch die

Rechenprobe der Metaphgfik. fondern fie ift die Metaphgfik

felbft". Die Unhaltbarkeit diefer erkenntnistheoretifchen Be-

gründung der Metaphgfik oder gar diefer Identifizierung von

Erkenntnistheorie und Metaphgfik wird nun aber auch bei

diefer neukantifchen Richtung dadurch verdeckt. daß einerfeits

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die Iphäre des abfoluten wahrheitswertes mit der Iphäre der

abftrakten Rategorialformen vermifcht wird und anderfeits die

abftrakteften empirifchen Allgemeinbegriffe in die Höhe der

kategorialen Iphäre. ja in die der normativen werte erhoben

werden. 4

Das wefen der wahrheit foll nach windelband beftehen in

der „immanenten fa ch li ch e n Rotwendigkeit der vorftellungs-

inhalte". und darum foll die in der wahrheitserkenntnis

liegende „Zuftimmung" „aus den rein fa ch lich en v er-

h ä l t n i f f e n der vorftellungs i nh a lt e hervorgehen".

wenn hiermit auch wieder das Entfcheidende nicht gefagt ift.

nämlich. welcher Art „Iachlicljkeit" und „Rotwendigkeit" als

fpezififch erkenntnis- und wahrheitsmäßige gemeint

fein foll _ denn fachliche Rotwendigkeit muß bei allen

wertfragen (es gibt fittliche. rechtliche. äfthetifche. fachliche

„Rotwendigkeiten") vorliegen - fo ift doch jedenfalls deutlich

gefagt. daß es fich um „verhältniffe der vorftellungs-

inhalte" handelt: fie bilden den „Gegenftand" der Er-

kenntnis. der über deren „Richtigkeit und Unrichtigkeit entfchei-

det"; „Gegenftändlichkeit" ift „fachliche Rotwendigkeit". Dann

aber kommt ein völliges Abbiegen von der bisherigen Thefe.

wenn es weiter heißt: „In Ignthefis befteht das. was wir

den G e gen ft a n d des Bewußtfeins zu nennen haben." Damit

find wir unvermittelt in die kategoriale Iphäre hinübergeglitten:

denn Ignthefis foll ja eine „Funktion" der verknüpfung fein

für vorftellungsinhalte. während es vorher die vorftellungs-

inhalte waren. d eren „fachliche verhältniffe" den „Gegen-

ftand" der Erkenntnis bilden follten. Die Ignthefis kann

nicht als kategoriale Funktion im Gegenfaß zu den vorftellungs-

inhalten ftehen. und zugleich ebenfo den „Gegenftand" der Er-

kenntnis bilden. wie das auch die „fachlichen verhältniffe"

eben der (zu ihr im Gegenfaß ftehenden) „vorftellungs-

in h a l t e" tun follen. Die kategoriale „Ignthefis" foll

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„den wert der Erkenntnis befißen". wenn „die A rt der ver-

knüpfung fachlich in den Elementen felbft begrün-

det ift". Danach foll alfo wieder der wahrheitswert in den

vorftellungsinhalt en begründet fein. und nicht in der

fg n th e ti f ch e n verknüpfung. fondern in dem „Z u-

fa m m e n h a n g e" liegen. der den vorftellungsi nh a l t e n

„fa ch li ch zu k o m m t". welcher das ift. ift aber doch die

Frage. wenn die Ignthefis. die verknüpfungs f or m. und nicht

-das ift ja die Thefe - die vorftellungsinh a lt e den „Gegen-

ftand" der Erkenntnis bilden. dann kann man doch nicht die

Ignthefis wieder durch den den vorftellungs i nh alte n

„fachlich zukommenden Zufammenhang" beftimmen. nicht „ab-

hängen" laffen „von der e m p i r i f ch e n Bewegung des

Denkens".

Diefe Erkenntnistheorie pendelt immer zwifchen einem

grenzenlofen Empirismus und einem grenzenlofen Ratio-

nalismus hin und her. fie fchillert bald mehr nach der einen.

bald mehr nach der anderen Ieite. wie wir das bei allen

Formen des Reukantianismus beobachtet haben und weiter

beobachten werden. Bald heißt es: wahrheit fei „irgendeine

Beziehung des Bewußtfeins zum Iein".

bald ihr wefen fei die „I g nth efis" als folche. bald die

„f a ch l i ch e Rotwendigkeit der vorftellungs i n h a l t e",

Die Formel. daß das Erkennen „die Gegenftände felbft er-

zeugt". verfteckt das Durcheinandergehen diefer drei einander

entgegengefeßten Erkenntnislehren. Iie ift richtig. infofern

fie befugt. daß die kategorialen verknüpfungsformen der Ding-

haftigkeit. der Gegebenheit ufw. erft die vorftellungsinhalte

zu „gegebenen Dingen" ufw. „machen". Iie ift falfch. infofern

doch auch die vorftellungsinhalte und der ih n e n „f a ch li ch

zukommende Zufammenhang". ihre „fachliche Rotwendig-

keit" etwas ift. was nicht in den fgnthetifcljen F orm en liegt. ja

auch nicht mit dem fachlichen Zufammenhange eines etwaigen

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" 3.-.: * *1

Igftems der Beziehungsformen identifchift. Iieift weiter

falfch. infofern die Beziehung des Bewußtfeins zum Iein

zwar in der Charakterifierung der Ignthefis als „felektive"

zum Ausdruck kommt (wenn auch unbeftimmt bleibt). aber dies

Moment der Ielektion von Teilinhalten aus der Totalität des

Ieins eben eine Totalität des I e i n s vorausfeßt. die doch ge-

rade vom Denken n i ch t „erzeugt". fondern vorausgefeßt wird.

Es ift alfo keine ausreichende Erklärung der Thefe. daß die

I g nth e f i s den „Gegenftand der Erkenntnis" bildet. wenn

gefagt wird. daß die „R o t w e n d i gk e i t". mit der wir jene

Ignthefen vornehmen. das durch fie „Erzeugte" dem „naiven"

Menfchen als Gegenftand er f ch ein e n läßt: denn diefe

Rotwendigkeit foll ja gerade nicht im fgnthetifchen B e w u ß t-

fein. fondern in dem „fachlichen Zufammenhange“ der Be-

wußtfeinsinhalte liegen und von ihm beftimmt fein 1.

wir find eben vollftändig aus der Iphäre des normativen

wahrheitswertes in die der kategorialen Zormen hinüber-

geglitten. und es ift ein eitles Beftreben. in der ka t e-

g o r i a l e n Iphäre fgnthetifcher Funktionen den w a h r-

heit s wert der Erkenntniffe begründen zu wollen. Der

Ichein. daß das geht. wird dadurch vorgetäufcht. daß die fgn-

thetifchen Funktionen zu Rormen derfelben Qualität und Digni-

tät heraufgefchraubt werden wie die wahrheitsnorm: fei

wahr! erkenne die wahrheit! Es wird einerfeits ganz richtig

hervorgehoben. daß die kategoriale Form bloß die würde des

abftrakten Zormgehalts habe. alfo „i n d e r wirklich-

keit ft e cke". daß die in den Rategorien erfaßten Gegen-

1 Rant fagt im Gegenfaß zu diefer „neukantifcben" Erkenntnis-

lehre: „verftand und Iinnlichkeit können nur in ver-

bin d u n g G e g e n ftä n d e beftimmen. wenn wir fie trennen.

fo haben wir Anfchauungen ohne Begriffe. oder Begriffe ohne An-

fchauungen. in b e i d e n Fällen aber vorftellungen. die wir auf

keinen beftimmten Gegenftand beziehen können.i (Rr.

d. r. v. - Uehrbach - I. 237/8).

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ftände „nach Inhalt und Form zu r R e a lität g e h ö r en".

Anderfeits aber wird wieder betont. daß diefe kategorialen

verknüpfungsformen „Rormen" find. - und das find fie

auch. infofern wir d i e f elb e n I nhalte mit verfchie-

denen Rategorien erfaffen können und die wahl unter diefen

verfchiedenen Kategorien bzw, den verfchiedenen Möglich-

keiten einer Rombination der einzelnen Rategorien abhängt

von den konkreten und relativen Erkenntniszwecken; aber fie find

es nur infofern. Dieim abfoluten wahrheitswert liegende Rorm

aber ift von ganz anderer Art: denn diefe Rorm „fteckt"

in keinem Iinne in-der wirklichkeit. „gehört" in keinem Iinne

zur Realität. fondern fie begründet eine D i g n i t ät unferer

Erkenntniffe. die nicht allen. fondern nur einigen unferer fgn-

thetifchen verknüpfungen zu Gegenftänden innewohnt. Der

wahrheitswert ift nicht - wie wir bereits vom Rechtswert

fagten - am Itoffe feftgewachfen. fondern bewegt fich frei

zum kategorial geformten Itoffe der Erkenntnis. wie die

„Richtigkeit" des Rechts zum fozialen Leben. Troß diefer

grundfäßlichen Differenz und troß der richtigen Erkenntnis. daß

die kategoriale Form zum „Monismus" der wirklichkeit

gehört. wird die kategoriale „Rorm" als wertnorm be-

handelt. wenn ihr nachgerühmt wird. fie fei „als Rorm für

jede individuelle Art des vollzuges der Ignthefis anzufehen".

und daß zwifchen der logifchen „Form" und den vorftellungs-

inhalten eine „nicht weiter auflösbare vualität" beftehe. Die

vualität zwifchen logifcher Form und Itoff ift aber nur darum

durch das Denken nicht weiter auflösbar. weil fie nur vom

Denken gefchaffen wurde: dagegen-ift fie gerade darum

im Monismus der Realität. in der ja auch die kategorialen

Formen „ftecken". aufgelöft. Richt auflösbar - jedenfalls

nicht reftlos aufhebbar - dagegen ift die Dualität zwifchen

wert und wirklichkeit. zwifchen richtiger Erkenntnis und tat-

fächlicljer Erkenntnis. zwifchen richtigem Recht und pofitivem

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Reäjt. Abftrakter Zormgehalt und Itoff können n u r ausein-

ander-g e d a cht werden; wert und wirklichkeit dagegen können

nie ganz zufammen-gedacht werden: fie find ausein-

ander-e r l e b b a r. Eine fchroff dualiftifche w e lt a n f ch a u-

u n g kann durch die a b f o lute* Auseinanderreißung von

wert und wirklichkeit begründet werden. eine moniftifche durch

deren untrennbare verkoppelung. Das find leßte w e r t-

erleb niffe. die zu verfchiedenen Metaphgfiken führen.

abermit erkenntnisth eoretifch en problemennichts

. mehr zu tun haben.

wie der Ichein. daß fgnthetifche Funktionen den wahr-

heitswert der Erkenntniffe begründen können. durch die Herauf-

fchraubung des kategorialen Iollens zur würde des wahrheits-

follens vorgetäufcht wird. fo wird diefe Täufchung erleichtert

durch die rein formale Ratur des wahrheitswertes. der dadurch

feiner fpezififchen würde entkleidet und in die fgnthetifch-

kategoriale Iphäre heruntergefchraubt wird: wieder ganz wie

bei dem formalen „fozialen Ideal" Itammlers. „Allgemein-

gültigkeit". „normaler" Menfch. „voluntariftifche" Zuftimmung

oder Ablehnung bei der Bejahung und verneinung von Urteils-

fgnthefen. das „Gefühl" der „Evidenz" - das alles find rein

formale Charakterifierungen. die mehr oder weniger glückliche

U m fchreibungen des „wertes" ü b e r h a u p t. aber keine

B e fchreibungen des fpezififchen w g h rh e it s wertes find.

Io kann keine Brücke gefchlagen werden zwifchen dem fpezi-

fifchen wahrheitsmoment und den fgnthetifchen Zormen;

und warum das durch fie zur Einheit verknüpfte gerade

-. w a h r e E r k e n n t n i s vermittelt. muß unklar bleiben.

* * Man kann auch der Meinung fein. daß es gar" nicht der Fall ift.

* fondern daß die enge verbindung. die der Rationalismus feit

- * * . . . . Iahrhunderten zwifchen der kategorialen Ignthefe und der wahr-

. *. . . . heit vornimmt. irrig ift und auf einer intellektualiftifchen Meta-

phgfik und Ontologie beruht. die überwunden werden muß.

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Aber darauf kommt es hier nicht an: fondern allein darauf. zu

zeigen. wie jenes Herübergleiten von einer Iphäre in die

andere auch den wahrheitswert denaturiert. und daß die neu-

kantifche Erkenntnistheorie. die fich vermißt. Metaphgfik fein

oder begründen zu können. eine wahrheitstheorie ohne einen

Begriff der wahrheit ift.

Das Bild der verwirrung wird nun aber erft dadurch

vollftändig. daß auch noch überall jene unglückliche ver-

wechflung der empirifchen Allgemeinbegriffe mit der über-

empirifchen „Formwelr“. die wir bereits bei den Marburgern

beobachtet haben. wieder ihre Rolle fpielt. Die Formbegriffe

follen* durch „Abfehen" von Inhalten. der Begriff des „Be-

wußtfeins überhaupt" durch „Abftreifung" alles „Indivi-

duellen" gebildet werden. fo daß er als „leßte und leerfte

Abftraktion" bezeichnet werden kann. Troßdem wird er

nicht nur zum „Grenzbegriff". fondern auch zum „I d e al"

eines die welt erkennenden Iubjektes. ja zur „I d e e einer

Totalität". zum „Gedanken einer Aufgabe". wie eine

„leßte und leerfte Abftraktion" eine „Totalitär“. eine „Auf-

gabe". ein „Ideal" bezeichnen kann. muß unverftändlich bleiben.

Ia. felbft wenn man ihn faßt als „ein Iubjekt. das alle die

tranfzendenten Rormen anerkennt. durch deren Anerkennung

die F o r m der Gegebenheit und die F o r m e n der objek-

tiven wirklichkeit entftehen". fo ift damit immer erft ein Iubjekt

da. welches vermittelft diefer Formen ü b e r h a u pt v e r-

knü p f en foll und verknüpfen kann. das* aber nie wiffen

kann. mit welcher diefer Formen es die einzelnen

Inhalte je w e i l s verknüpfen foll. Als „Ideal" des erkennen-

den Iubjekts ift es das Ideal des objektlofen formalen Denkens.

das mit gezückten leeren Formen der Ignthefis fich auf die

Empfindungsinhalte ftürzt ohne jeden Maßftab dafür. wo es

welche Form betätigen foll. wenn man im übrigen zugibt.

daß es einen Erkenntniswert hat. den Rategorialbegriff fo weit

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zu faffen. daß auch die „Gegebenheit". das „Dies fein". das

„Etwas" als formale Rategorien darunter fallen -- und unter

beftimmten erkenntnisth eoretifchen Gefichtspunk-

ten hat das einen wert. wenn man dann nicht noch weiter

gehen muß -. fo ift nicht einzufehen. warum das Gegeben-

fein. das Etwas ufw. durch die R a t e g o r i e n der Ge-

gebenheit. der Etwashaftigkeit ufw. beffer erklärt find als

durch die T a t f a ch e . daß es ein gegebenes Etwas in der

wirklichkeit gibt. Das wäre höchftens der Fall.

wenn die Rategorien aus einem inhaltlichen wahrheitswert

begrifflich hergeleitet werden könnten; das ift aber natürlich

nicht möglich, Als bloße „Iollungen" find fie genau fo brutale

Iollensfakten. wie fie für den empirifchen Realiften brutale

Ieinsfakten find; und warum einfach hinzunehmende Iollens-

und Geltungsfakten. die noch dazu bloß abftraktiv gewonnen

find. wertvoller find als Ieinsfakten. ift wieder nicht einzufehen.

Unverftändlich muß weiter fein. wie einerfeits diefe ab ftr akten

Iollungen. die ja nicht als „pfgcljifche Akte" aufgefaßt werden

follen. in dem einzelnen erkennenden Iubjekte wirkfam wer-

den können. und wie anderfeits die für das erkennenfollende

und -wollende Iubjekt geltenden verknüpfungsnormen.

- von denen man auf diefelben Empfindungsinhalte je nach

den einzelnen Erkenntniszwecken mehrere. bald diefe. bald jene

anwenden kann. - eine „objektive". d. h. von den verfchie-

denen einzelnen Erkenntniszwecken u n a bh ä n gi g e Or d nu n g .

Denn-

unter den Empfindungsinhalten herftellen können.

ich kann diefelben Empfindungsinhalte z. B. bald unter der

Uategorie des Individuellen. bald unter der des Generellen an-

fehen: es ift nun nicht nur nicht gefagt. w a n n das eine und

wann das andere richtig ift. fondern auch unklar. warum

dadurch derfelbe Gegenftand nur auf zwei Arten erkannt

wird. und nicht. wie es in der Aonfequenz der Lehre von dem

Iollen als Gegenftand der Erkenntnis und der „Erzeugung" der

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Gegenftände durch das Denken läge: zwei verfchiedene Gegen-

ftände. von denen freilich unklar wäre. wie fie fich zueinander

verhielten. Die wirklichkeit ift eben nicht nur brutal. fondern

auch hart: fie läßt fich nichtreftlos kategorial durchdringen und

in Formen der Ignthefis auflöfen. wie bei Itammler die

„Iondergemeinfchaft" eine durch das Igftem felbft nicht be-

gründete vermittlerrolle zwifchen dem empirifchen Itoff und

der Formwelt übernehmen muß. fo tritt in der füdweftdeutfchen

Erkenntnistheorie die „vorwiffenfchaftliche Begriffsbildung"

als der unklare und unklärbare Begriff auf. durch den alle von

den eigentlichen Grundlagen aus unverftändlichen probleme

ihre Löfung finden follen.

Roch größere Ichwierigkeiten und Unklarheiten ergeben

fich aus den problemen der gefchichtlichen welt als folcher.

wenn es fich um diefe felbft und nicht bloß um die Metho-

denprobleme der pragmatifchen Gefchichtswiffenfchaft handelt.

Eine fcheinbare Harmonie und Einheit mit den Grund-

pofitionen kann nur durch allerlei weitere verwechflungen.

verfchiebungen. Hgpoftafierungen und Iubftruktionen her-

geftellt werden. Die Begriffe Urteilen und Beurteilen. ab-

ftrakter Begriff als Gegenfaß zum pfgcljifchen Akt und als

Begriff von einem pfgchifchen Akt. wert und Rategorie. wert

und Zweck. konftitutiv und regulativ. teleologifche verknüpfung

und wertbetrachtung. - die alle in verfchiedenen Ebenen

liegen. - find niäjt fcharf auseinandergehalten; das abftrakte

normative „Bewußtfein überhaupt" wird zum Rollektivbewußt-

fein. ja zum Menfchheitsbewußtfein umgedeutet. allerlei intel-

lektualiftifche und individualiftifche Metaphgfik liegt gewiffen

leßten Entfcheidungen und wertungen zugrunde. Und als

leßtes Auskunftsmittel der rationaliftifchen Metaphgfik. die fo

oft begriffliche Gegenfäße in metaphgfifche umdeutet. fehlt auch

nicht die „Lift der vernunft". die immer da auftreten muß.

wo bloß Auseinander-Gedachtes leßtlich .doch nicht völlig

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auseinander-erlebt. auseinander-gefchaut werden kann. und

fo auf irgendeiner - und fei es auf der oberften - Itufe

des Igftems das Getrennte doch wieder zu einer harmonifchen

Einheit zufammengeführt werden muß.

Aus alledem erklärt fich. daß das füdweftdeutfche Denken

fo mannigfaltig fchillert. zugleich aber feine unzweifelhaft ge-

waltig anregende Araft. wenn es auch unmöglich ift. in ihm

zur Ruhe zu kommen. Rechtsphilofophifch konnte es die Grund-

lage abgeben fowohl für den fkeptifchen Empirismus von Georg

Iellinek. wie für den abfoluten Relativismus von Radbruch.

wie endlich für den pofitiviftifchen Rechtsformalismus von

Binder. Die formalen abfoluten werte fchweben fo punktuell

erhaben über der wirklichkeit. daß diefe von ihnen ganz un-

berührt bleiben muß: ihre formale Ratur kann die vermeintlich

normative und regulative. die Maßftabsfunktion nie aktuell

werden laffen. Das pathos der Unbedingtheit muß ein for-

males und hohles. leßtlich ermüdendes. weil nicht glaubhaftes.

bleiben. Ift doch der füdweftdeutfche „Rritizismus“ fogar ftolz

darauf. daß er „weit entfernt. den Empirismus abzulehnen.

ihn vielmehr beftätigt und begründet".

Rarl Ichmitt-Dorotiö hat richtig beobachtet. wenn er

in feiner Befprechung von Binder hervorhebt: „Aber

das Auffällige an Binders Rechtsidee ift. daß fie nach

den mehrfach zitierten Umfchreibungen verabfchiedet und

insbefondere bei der Erörterung der juriftifchen Bearbei-

tung des pofitiven Rechts ausdrücklich ignoriert wird." Das

ift jedoch nicht „auffällig". fondern im Rern des füdweft-

deutfchen Rritizismus begründet. „ Die wiffenfchaft des

pofitiven Rechts - fagt er weiter - betätigt fich. als wären

Rechtsnorm und Rechtsidee nie gewefen. Danach kann nicht

anerkannt werden. daß die kantifche Rechtslehre bei Binder

die Grundlage feiner Rechtslehre bedeute; fie* ift der vo r-

bau einer pofitiviftifchen Rechtslehre ge-

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worden." Das ift alles durchaus zutreffend erkannt. Zugleich

liegt darin natürlich einer der Gründe dafür. daß diefe „Rechts-

philofophie" das Lieblingskind der empiriftifcljen Rechts-

dogmatik wurde: Lefefrüchte aus ihren Ichriften find die

beliebteften Ornamente in dogmatifchen Unterfuchungen ge-

worden. denen fie einen faft zur Mode gewordenen „philo-

fophifchen" Anftrich geben konnten. Da auch Itammler die

„technifche Rechtslehre" mit feinem formaliftifchen Rationalis-

mus ungekränkt ließ und nur bei Lücken und verweifungen

einen plaß bei der „Rechtsanwendung" forderte. ift auch er

diefer Mode zum Opfer gefallen. Da war Relfen mit feiner

unerbittlichen und alles durchdringenden Denkenergie fchon

fehr viel unbequemer: jedoch hat feine fcharfe und - wie

wir fehen werden - vielfach berechtigte Rritik nicht verfehlt.

bei der Erörterung von Einzelproblemen große Beachtung

zu finden. Ikonnte nach alledem der füdweftdeutfche Reu-

kantianismus eine eigentliche Rechtsphilofophie nicht begrün-

den. fo konnte er auf der anderen Ieite durch fein Einmünden

in den Rechtspofitivismus und feine Tendenz. philofophifche

Fragen in methodologifche Fragen aufzulöfen. die M e t h o-

denlehre der pofitiven Rechtswiffenfchaft

fördern und anregen. Und das hat er -troßdem die fcharfe

Icheidung von generalifierender naturwiffenfchaftlicher und

idiographifcher. auf werte beziehender kulturwiffenfchaftlicher

Forfchung für die Rechtswiffenfcljaft eigentlich keinen metho-

dologifchen Ort ließ1 - feit Rickerts kurzen Bemerkungen

über den juriftifch-en Begriff in feiner „Lehre von der Defini-

tion" unzweifelhaft getan.

Hier konnte der Reukantianismus bereits an Traditionen

anknüpfen. die bis in die fpekulative periode zurückreichen. Die

„Reduzierung aller Rechtsbeziehungen auf willensverhältniffe“

l Auch Lasks verfuch nach diefer Richtung dürfte mehr die Ichwie-

rigkeiten gezeigt haben als eine Löfung darftellen.

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war einer der Beftandteile der kantifchen Rechtslehre. Das war.

wie wir noch im einzelnen fehen werden. bei Rant als eine

„objektive Ordnung" von „intelligibelen" willensverhält- .

niffen gemeint. wurde aber in der Hegelfchen Rechtsphilofophie

zur „Thefis" des bloß „abftrakten Rechts" umgedeutet. wie die

kantifche „Moralität" zur „Antithefis" der bloß „fubjektiven".

letztlich im probabilismus ausmündenden „Moralität" umge-

deutet war. die beide in der Ignthefis des „objektiven Geiftes"

„aufgehoben“ fein follten. wir werden fehen. wie ganz anders

Rant das verhältnis von Legalität und Moralität gefaßt hatte.

aber auch wie der Reukantianismus eine ganz ähnliche Um-

deutung der kantifchen Metaphgfik der Iitten vornahm.

freilich ohne den „objektiven Geift" Hegels mit zu übernehmen

oder durch etwas anderes zu erfeßen. Durch diefe Hegelfche

Umdeutung der kantifchen Legalität zur „Abftraktheit" des

Rechts war die objektive Ordnung der willensverhält-

niffe zu einem abftrakten willensformalismus ge-

worden. durch den Hegel auf die pofitiviftifche Rechtsdogmatik

einen gewaltigen. bis heute fortwirkenden Einfluß ausgeübt

hat. Io fand der Reukantianismus. infolge feiner analogen

Umbiegung Rants vom Metaphgfifcljen ins Abftrakt-Formale.

in der Rechtsdogmatik Anfchauungen vor. die ihm entfprachen.

Auch Iavigng und Itahl find von diefen Beftandteilen des

hegelifch umgedeuteten kantifchen Denkens nachhaltig beeinflußt

gewefen und haben fie über puchta und Bruns auf windfcljeid

und Thoel der ziviliftifchen. über Zoepfl und H. A. Zachariä auf

Gerber und Laband in der publiziftifchen wiffenfchaft vererbt 1.

vor allem durch Iherings klaffifch gewordene Lehre von der

juriftifchen Begriffsbildung ift diefe formaliftifche Rechts-

dogmatik über Zitelmann und Iellinek auf unfere Tage ge-

1 vgl. mein Ueber den Begriff des Organismus I. 18 fg..

22fg.. 26 fg.. 31 fg. -- und m ein verwaltung. verwaltungsrecljt im.

wörterbuch des Itaats- u. verw.R. Bd. lll. I. 717.

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kommen und beherrfcht die juriftifchen Difziplinen um fo mehr.

je mehr fie fich - unzweifelhaft durch diefen Rechtsformalis-

mus beftärkt - zu rein „fgftematifchen". von der rechtsge-

fchicljtlichen wurzel gelöften wiffenfchaften entwickelt haben.

die auf ihre ftreng „juriftifche" Methode ftolz find. Zwifchen

diefer Methode und dem Reukantianisrnus beftand fo nicht

nur eine hiftorifche verbindung. fondern auch eine innere

fachliche wahlverwandtfchaft: kein wunder. daß er ihr daher

nicht nur hervorragende Helfersdienfte und Itüßen geliefert.

fondern auch feinerfeits die markanteften Leiftungen auf

dem Gebiete der Methodik der pofitiven Rechtsdogmatik

aufzuweifen hat. Der Gegenfaß von Iein und Iollen. von

genetifcher und normativer Betrachtung. von abftrakter Form

und konkretem Inhalt. den er für die philofophifche Iphäre zum

Ausgangspunkte genommen hatte. legte zum mindeften den

Gedanken einer „Analogie" und eines „parallelismus" zu dem

verhältnis von Rechtsfaiz. und fozialer wirklichkeit nahe. bei

dem die füdweftdeutfche Rechtsphilofophie im allgemeinen

ftehenblieb. während bei Iellinek. Riftiakowski und vor allem

bei Relfen die pofitive Rechtswiffenfchaft felbft geradezu zur

„Rormwiffenfchafü wurde, Die Rechtsdogmatik fuchte fich

dementfprechend immer mehr nicht nur von der „bloß" „geneti-

fchen" und „kaufalen" Rechtsgefcljichte zu emanzipieren und auf

eigene Füße zu ftellen. fondern fah auch ihren Itolz darin. die

juriftifchen Begriffe dadurch zu wirklich „juriftifchen" zu machen.

daß fie nur folche Elemente in ihnen duldete. die von dem

..fozialen Iubftrat" und anderen „metajuriftifchen" Faktoren

nichts mehr enthielten. daß diefe von allen außer-„juriftifcljen"

Beftandteilen „gereinigt" wurden und ein formal-„juriftifcljer“

purismus als leßtes Ziel und höchfte Mode erfchien. Lask hat

zwar auf manche darin liegenden Gefahren und meift überfehene

probleme fcharffinnig aufmerkfam gemacht. aber grundfätzlich

hat auch er diefen purismus der Iurisprudenz als „formalifti-

-_ q. .....- o-.."-

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fcher Rulturwiffenfchaft" nicht nur gebilligt. fondern als Ideal

der juriftifchen Begriffsbildung hingeftellt. Es ift vielfach als

fo felbftverftändliche methodologifche Grundlage der Rechts-

dogmatik angefehen worden. daß die „Reinigung" geradezu

zum Ielbftzweck wurde und man völlig aus den Augen verlor.

daß es fich doch nur um eine Reinigung für die Zwecke der

„Rechts"anwendung handelt. und daß der Rechts gedank e.

alfo ein fpezififcher w ertgedanke dabei nicht zu kurz kom-

men darf. ,

Unter Billigung von Relfen hat Laband fogar den „Zweck"

der Rechtsinftitute als außerhalb der ftreng „juriftifchen"

Begriffsbildung liegend betrachtet. Die elegante formale

„RonftruktionK die begriffsfcharfe Antithefe. die formale

Igftematik und Lilaffifikation als folche treten bei vielen. und

nicht den unbekannteften Ramen fo allein dominierend in den

vordergrund. daß jeder. der auch mit foziologifchen. pfgcho-

logifchen. ethifchen und hiftorifchen Aategorien arbeitete. als

nicht „juriftifch" abgelehnt wurde; ja man konnte fich vielfach

des Eindrucks nicht erwehren. daß aus dem Bedürfnis nach

„juriftifcher" Reinheit die Iurisprudenz eine „Rechtswiffen-

fchaft ohne Recht" geworden war1. Die Rechtswelt erftarrte

und verfteinerte. das Denken über Rechtsprobleme wurde r ein

ft a t i f ch . wie das der exakten Raturwiffenfchaften: verhäng-

nisvoll überall. politifch gefährlich geradezu für das ftaats-

rechtliche Denken. Die „juriftifche" Reinheit war zu einem

Fetifch geworden. dem man opferte. und den man fo laut und

pathetifch pries. daß man darüber gar nicht merkte. daß von

der Rechtsidee nichts mehr in den entleerten Begriffsformen

übriggeblieben war. Die Mahnungen Gierkes wurden überhört

und der große Iurift als Richt-„Iurift". als Metaphgfiker und

Mgftiker beifeitegefchoben. und Haenels polemik gegen den

formalen Rechtsbegriff und feine kkonfequenzen von der herr-

1 vgl.-61311s1113 I. 128/9 und das I. 50 Rote 1 Zitierte.

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fchenden LabandfchenIchule befpöttelt. Den Reukantianismus

trifft die große Ichuld. alledem nicht nur nicht entgegengetreten

zu fein. fondern es geradezu gedeckt zu haben. war doch auch

- wie wir fahen - f e i n pathos der reinen und rationalen

Formen zu einem hohlen und unglaubhaften geworden. und

hatte doch auch er die formale Rechtsidee in eine fo abftrakte

Höhe verfeßt. daß er fie vor dem Eintritt in die Iphäre der

Methodik des Rechtspofitivismus „verabfchieden" und aus-

drücklich „ignorieren" mußte. Bei Eohen wird geradezu der

Rechtsformalismus zum „methodifchen vorbild" der Ethik des

reinen wollens. zum „Igmptom feiner abfoluten werthaftig-

keit. feiner Reinheit. feines Apriorismus", Relfens „norm-

logifche" Energie ift tief im , Reukantianismus verwurzelt.

Io hatte diefer nichts in fich. was er folchem Treiben gehaltvoll

entgegenftellen konnte. Aber diefes völlige verfagen gegen-

über dem pofitiviftifchen Rechtsformalismus ift noch tiefer

begründet. in dem Rechtsbegriff felbft. Denn gerade. auch

wo er fich unter Befinnung auf den Rechtsbegriff über die

Auslefeprinzipien klar werden wollte. nach denen jener

Reinigungsprozeß vorzunehmen fei. wurde er infolge eben diefes

Rechtsbegriffes immer tiefer in eine Formalifierung und Ent-

feelung der juriftifchen Begriffe verftrickt.

Die neukantifche Rechtsidee ift freilich durchaus nicht

identifch mit der kantifchen. wenn das auchwieder den Reu-

kantianern vielfach nicht zum Bewußtfein kommt. Rant hatte

zwar auch feine Iittenlehre. feine „Metaphgfik der Iitten"

dualiftifch aufgebaut. die Tugendpflichten den Rechtspflichten.

die Moralität der Legalität. die autonome der heteronomen

Gefeßlichkeit. die moralifche Freiheit den rechtlichen Zwangs-

gefeßen. die Regeln des inneren denen des äußeren verhaltens

gegenübergeftellt. Der Reukantianismus übernahm diefen

Dualismus. aber er wandelte ihn zugleich um. indem er -

feinem Beftreben. Rant zu entmetaphgfizieren und ins Formale

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umzudeuten entfprechend - die Rantifche Ethik als forma l e

G efinnung s ethik auffaßte und die formalen Begriffe der

pflicht und der fittlichen Autonomie zu den einzig e n

Tragepfeilern der Ethik machte: ganz wie Hegel auf der „Itufe"

der „fubjektiven Moralität". Diefe formalen Begriffe follten

wieder als normative Beurteilungsmaßftäbe dienen. was

unmöglich ift. da Inhalte nie an einer Zorm gemeffen werden

können. Die Zormalifierung der Ethik entwertete zugleich auch

das Recht. Denn das Recht konnte feine Inhalte nun nicht mehr

aus der ja rein formal gewordenen Iittlichkeit erhalten und

mußte fo zu einem bloßenMittel für die Zwecke der formalen

Iittlichkeit herabfinken: zu einer „empirifchen Mafchinerie".

welche die äußeren Bedingungen ficherftellt. die den Individuen

ein fittliches Leben ermöglichen. Das führte zugleich oft dazu.

daß das Recht „gänzlich aus der wertfphäre herausfiel": was

Rechtsnorm ift. ließ fich nur formal beftimmen. als das. was

der Itaat als Rechtsnorm vorfchreibt. als das äußere ver-

halten. welches er „gebietet" oder „verbietet" und nötigen-

falls „erzwingt". Die Rechtsnorm ift kr a ft ihr e r fo r-

m a l e n A u t o r i t ä t verbindlich: hatte doch auch Rant.

troßdem er ein begeifterter Bewunderer der franzöfifchen

Revolution war. die klaffifche widerftandslehre aus for-

malem Rigorismus abgelehnt. jedes Rot- und widerftands-

recht (jedes Recht auf Revolution und Rrieg) beftritten

und fich den formalen obrigkeitsftaatlichen Rechtsbegriff des

Abfolutismus zu eigen gemacht. Auch wo der Reukantianismus

Rant hierin nicht folgte und den Rechtsbegriff anders be-

ftimmen wollte. mußte er fich doch. wenn er konfequent bleiben

wollte. mit einer formalen Rechtsbeftimmung begnügen:

Recht fei. was von den Rechtsgenoffen „anerkannt" werde.

Das „Rechtliche" am Recht. das was eine „anerkannte" oder

„befohlene" erzwingbare Rorm inhaltlich zu einer rechts-

gemäßen machen muß. ift fo überall durch die allein maßgeb-

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lichen formalen Begriffselemente verdrängt. die Rechtsidee

durch die Betonung der bloßen Legalität. Erzwingbarkeit. äußer-

lichen Regelung. Heteronomie lediglich n e g a t i v beftimmt.

Es ift das große verdienft von Itammler. dies gefehen und den

verfuch gemacht zu haben. den Iinn des Rechtsgedankens pofitiv

zu beftimmen. Dadurch. daß aber auch er dem neukantifchen

Glauben huldigte. einen objektiven Beurteilungsmaßftab formal

beftimmen zu können. wurden feine Grundfäße des richtigen

Rechts und fein formales „foziales Ideal" zu bloßen Tauto-

logien. Der einzige verfuch von neukantifcher Ieite. das

Recht nicht bloß negativ und formal. fondern inhaltlich zu be-

ftimmen. ift die Bezeichnung des Rechts als „ethifches Mini-

mum". Diefe von Iellinek geprägte Formel ift von Lask und

windelband akzeptiert worden. Aber ganz abgefehen davon. daß

folche ethifche Gradation zwifchen Maximum und Minimum

unmöglich ift und das wefen des Rechts ebenfo verfälfcht wie

das der Ethik. liegt in diefer Begriffsbeftimmung ein wider-

fpruch zu der Auffaffung der Ethik als formaler Gefinnungs-

ethik: fie feßt voraus. daß es beftimmte ethifche Inhalte gibt.

ohne zu fagen. worin die liegen und woher fie ftammen. D.er

neuefte Rechtsphilofoph der füdweftdeutfchen Richtung. Binder.

hat fie daher auch. durchaus konfequent. abgelehnt 1.

wenn der Reukantianismus konfequent Moralität u n d

Legalität formalifiert. fallen Recht und Iittlichkeit vollkommen

auseinander. fie werden zu zwei inhaltlich und formell getrennten

Iphären. die nur durch den abftrakten Allgemeinbegriff des

„praktifchen" verhaltens von Menfchen untereinander verbun-

den find. Und wenn fie zu inhaltlich gleichem verhalten ver-

pflichten. fo muß das als unbegreiflicher Zufall erfcheinen. Die

1 Um fie freilich neueftens in der Ichrift über „Recht und Macht"

doch anzunehmen. Hier wird das Recht zugleich als eine „Ignthefe

von Macht und Iittlichkeit" charakterifiert: was das jedoch bei einer

formalen Gefinnungsethik bedeuten kann. ift unverftändlich.

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formale Gefinnungsethik ift zwar formal rigoriftifch. aber inhalt-

lich relativiftifclj. ja anarchifch und probabiliftifch; die formale

Legalitätslehre radikal autoritär. wenn anderfeits die ver-

bindung des Rechts mit der Iittlichkeit dadurch hergeftellt wird.

daß das Recht zu einem bloßen Mittel zurHerftellung der

äußeren Bedingungen für die Entwicklung der ethifchen perfön-

lichkeiten gemacht wird. wird das Recht jedes eigenen wertes be-

raubt und zur bloßen. fozialen Technik. ohne geiftigen Gehalt ge-

macht, wenn endlich die Befolgung der Rechtsnormen zur fitt-

lichen pflicht erhoben. das Recht alfo dem ethifchen Individuum

ins Gewiffen gefchoben wird. dann wird der ganze Inhalt der

Legalitätsnormen zur fittlichen pflicht und die autonome Frei-

heit der Moralität erdroffelt. Das find die unhaltbaren Ronfe-

quenzen. zu denen die neukantifche Rechtslehre mit ihrem

Dualismus von Legalität und Moralität unweigerlich getrieben

wird. wenn fie nicht mit Itammler das Recht zum allein be-

ftimmenden und bedingenden Zormwert für das foziale Leben

erheben und damit die Moralität auf die bloße „Bearbeitung

der w ü n f ch e n d e n Gedanken" befchränken und fo jeder

Tendenz auf ein Handeln berauben will: lediglich die „Frage

des Zürnens" ift für Itammler eine ethifche Frage. „die des

Tötens" dagegen nur eine rechtliche.

Diefer fchroffe und durch nichts überbrückbare Dualismus

zwifchen Moralität und Legalität. der für alle Formen der

neukantifchen Rechtslehre charakteriftifch ift. befteht nun wieder

bei R a nt nicht. der im begrifflichen „Trennen" immer nur eine

erfte. aber nicht die leßte Aufgabe fah und als wirklicher philo-

foph das unter beftimmten Gefichtspunkten Auseinander-

gedachte metaphgfifch zufammenhielt. Die noumenale. intelli-

gibele welt der Iittlichkeit ift der gemeinfame Boden. auf dem

Moralität und Legalität erwachfen. in dem fie beide ihren

„Urfprung" haben. Auch das Recht gehört zur „fittlichen"

welt. zum „Reiche der Freiheit": die „Rechtslehre" ift der erfte

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Teil der „Metaphgfik der Iitten". Und dies noumenale Reich

der Freiheit ift ihm keine welt formaler werte. fondern ein

Rosmos pofitiver Inhalte. inhaltlicher Ideen: eine „intelligibele

Ordnung der Dinge". kein abftraktes Igftem von

formalen Iollungen und Rormen. von bloßen Gültigkeiten.

Zwar kann die theoretifche. „fpekulative vernunft" dies Reich

nicht gegenftändlich „erkennen"; aber diefe welt mitihrer intelli-

gibelen Ordnung der Dinge befißt darum doch eine „unbezweifel-

bare" „objektive Realität". wenn die theoretifche vernunft daher

auch diefe Ordnung nicht als Gegenftände erkennen kann. fo kann

fie aber anderfeits ihre objektive Gegenftändlichkeit auch nicht

leugnen: beides wäre die gleiche Grenzüberfchreitung der Ipeku-

lation. Iie muß diefer. „objektive Realität" befißenden welt viel-

mehr einen „plaß offen laffen". ift fie doch felbft leßtlich in ihr ver-

ankert. Denn auch ihr „Itreben" zum „Unbedingten" ift legitim.

kann fie doch ohne dies auch nicht die phänomenale welt erkennen.

da ohne den regulativen Gebrauch der in jener intelligibelen welt

beheimateten „vernunftideen" auch eine Erkenntnis der Er-

fcheinungswelt nicht möglich wäre. wenn auch unfere theoretifche

vernunft die noumenale Ordnung nicht „erkennen" kann.

fondern nur die phänomenale. fo ift doch diefe nicht „meta-

phgfifclj" von jener getrennt. fondern eben „ihre" Erfcheinung.

Im orclre nature] des Dinges an fich wirkt fich nicht nur der

„Raturmechanismus" der gefchicljtlichen Entwicklung aus. den

die theoretifche vernunft zwar nicht „gegenftändlich" erkennen

kann. den wir aber nach den regulativen und heuriftifchen

prinzipien der teleologifchen Urteilskraft bei der Erforfchung

der gefchichtlichen welt nachkonftruieren können; fondern in

ihm find auch die fittlichen Gefeße als eine objektive Ordnung

metaphgfifch verankert. fo daß der Zufammenhang beider

Gefeßlichkeiten zwar von der theoretifchen vernunft nie als

„Gegenftand" erkannt werden kann: er ift aber in der welt-

ordnung. die eben wegen der „Iittlichkeit" der „intelligiblen Ord-

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nung der Dinge" eine fittliche weltordnung ift. metaphgfifch

garantiert. Hier klafft nichts bloß abftrakt-begrifflich-dualiftifcl;

auseinander. Da nun die fittliche welt eine „Ordnung der Dinge“

ift. find die „moralifchen Gefeße" die Ordnungsgefeße

.diefes „Reiches der Freiheit". die nicht nur für die Menfchen

gelten. fondern für alle „vernünftigen wefen überhaupt".

.Und diefe „moralifchen Gefeße" bilden ebenfo den Inhalt der

„Rechtspflichten" wie der „Tugendpflichten". Ift es doch eine

dem Menfchen geftellte Aufgabe. ein „fittliches" Reich der Frei-

heit zu verwirklichen. d. h. die objektive „Ordnung" des „Reiches

der Freiheit" in das „Reich der Ratur" einzubilden: wobei das

wort „fittlich" v o r der Unterfcheidung von Moralität und

Legalität fteht und eine durch „allgemeine Gefeße". die „mo-

ralifchen Gefeße". geregelte „Ordnung" bedeutet. Die Grund-

frage fowohl der Rechtslehre wie der Tugendlehre ift daher.

ob man in einer welt leben kann. in der ein beftimmtes ver-

halten zu einem „allgemeinen Gefeß" erhoben werden.

in der* betrogen. geftohlen. unterfchlagen werden darf. Als

„objektive Ordnung" unterfcheiden fich die Rechts- und die

Moralordnung nicht. fie haben beide denfelben Inhalt. Legalität

und Moralität unterfcheiden fich nur im „Motiv“. im „Beftim-

mungsgrund des willens". in der „Triebfeder". Rants Ethik

ift nicht. wie die neukantifch-füdweftdeutfche und die „Itufe"

der bloß fubjektiven Moralität bei Hegel. bloß formal rigoriftifch.

fondern auch m at er i e ll ri go rifti f ch. „ Das moralifche Gefetz

in mir" ift nicht das formelle pflichtgefeß. fondern das materielle

Gefeß. das die Ordnung der Dinge in der intelligibelen welt

beherrfcljt: wie ja auch „der Iternenhimmel über mir" nicht

die abftrakte formale Raturgefeßlichkeit. fondern die materiellen

Ordnungsgefeße der natürlichen welt meint. Rant fpricht von

dem ethifchen und natürlichen „Rosmos". Für Rant ift in der

Tat der gefamte Inhalt der Rechtspflichten zugleich Inhalt der

Tugendpflichten. der Inhalt der Legalität auch Inhalt der

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Moralität.

Die Moralität hat „mit dem Rechte pflichten.

aber nur nicht die Art der verpflichtung gemein". Die „mo-

ralifchen" Beifpiele. die Rant gibt. find darum nicht zufällig

dem Rechtsgebiet entnommen. Und es erhellt. wieweit fich

der füdweftdeutfche Aantianismus. ohne es zu bemerken. von

Rant entfernt hat. wenn z. B. Binder im Hinblick auf die

kantifchen Formeln der Legalität und Moralität findet. daß

„man wird kaum daran zweifeln wollen. daß in wahrheit eine

begriffliche Unterfcheidung zwifchen beiden nicht befteht".

Und doch findet fich in der einen Formel das wort „Maxime".

das in der anderen fehlt. In der „Maxime" des Handelns. der

..Triebfeder". dem „Beftimmungsgrund des willens" liegt

in der Tat allein der Unterfchied von Legalität und Moralität.

„ Die Ethik gibt nicht Gefeße für die Handlungen. denn das tut

die Rechtslehre. fondern nur für die Maximen der Hand-

lungen -"; „das Rechthandeln mir zur Maxime zu machen.

ift eine Forderung. die die Ethik an mich ftellt". Die befonderen

„Tugendpflichten". die in der Metaphgfik der „Iitten" neben

den „Rechtspflichten" entwickelt werden. find alles nur pflich-

ten für die „Triebfedern". die „Beftimmungsgründe" des

wollens: Ielbfterhaltung. wahrhaftigkeit. Liebespflickjten. Ach-

tungspflichten ufw. Und wenn fowohl in der Moralitäts- wie

in der Legalitätsformel das Zufammenbeftehen der eigenen

Freiheit der willkür mit der aller anderen „nach einem all-

gemeinen Gefeize" vorkommt. fo ift eben damit auf den gemein-

famen Inhalt beider. die objektive Ordnung der moralifchen

welt verwiefen. der beide Iphären zufammenhält. Der Be-

griff des Guten und Böfen kann eben nach Liant „nicht v o r

dem moralifchen Gefeß (dem er dem A n f ch e i n. nach fogar

zugrunde gelegt werden müßte). fondern nur nach dem-

felben und durch dasfelbe beftimmt" werden: auch die

Moralität feßt das „moralifche Gefeß". das die intelligibele

Ordnung der Dinge beherrfcht. voraus. Iie unterfcheidet fich

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nur dadurch von der Legalität. daß für fie dies Gefeß nicht bloß

Beurteilungsnorm. fondern zugleichauch Beftim-

m u n g s g r u n d ift. wenn das „Gefeß" auch „Triebfeder"

und „Maxime" ift. ift der wille „moralifch"; wenn es bloß Beur-

teilungsnorm ift. ift der wille nur" „legal". Der „formale" Rigo-

rismus der kantifchen Ethik liegt darin. daß jede Befolgung der

moralifchen Gefeße. die nicht darauf beruht. „daß das moralifche

Gefeß unmittelbar den willen beftimmt". die „von dem

Zwecke" der Handlung. ftatt von dem Gefeße als folchem

„ausgeht". die nicht „eine wirkung überlegter. fefter und immer

mehr geläuterter Grundfäße" ift. bloß legal ift. Denn dannift der

wille „empirifch". „pathologifch affiziert". Auch wer aus „Ge-

wohnheit". aus Furcht vor himmlifcher Itrafe. aus „Fertigkeit"

das moralifche Gefeß befolgt. handelt nur legal: „der Beftim-

mungsgrund des willens ift nicht in die intelligib ele Ordnung der

Dinge verlegt." wer dagegen die R e chts pflichten befolgt. weil

er fich das „Rechthandeln" zur „Maxime" gemacht hat. handelt

„moralifch"; denn die Triebfeder feines willens ift dann das mora-

lifche Gefeß. alfo nichts Empirifches. fondern etwas Intelligibeles.

Der Rechtszwang ift gerechtfertigt und nötig. weil man mit

der Errichtung des Reiches der Freiheit nicht „warten" kann.

bis die Triebfedern aller Menfchen nur im Roumenalen ver-

ankert find.

Trotz gelegentlicher peffimiftifcher Aeußerungen ift Rant

feft überzeugt. daß die wachfende „Aufklärung". die harte

rigoriftifche Ichule des friderizianifchen Abfolutismus und

der gewaltige Zortfchritt durch die franzöfifche Revolution (die

beiden großen Erlebniffe des philofophen. auf die er ftets

exemplifiziert). aber auch der Freihandel die Menfchheit diefem

Ziele immer näher bringen werden, *Das Entfcheidende bleibt.

daß man „von feiner vernunft in allen Itücken öffentlichen

Gebrauch" machen darf. daß die „publizitöt" überall gewahrt

bleibt; denn dadurch werden alle Dinge zur öffentlichen Dis-

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kuffion vor dem „eigentlichen publikum. nämlich der ganzen

welt". vor der „weltbürgergefellfchaft" geftellt und einem

Forum von „Gelehrten" unterbreitet. die der vernunft zum Iiege

verhelfen werden. Daß ein „publikum fich felbft aufkläre". ift

ihm nicht nur „möglich"; „ja es ift. wenn man ihm nur Frei-

heit läßt. beinahe unausbleiblich". Io ift für Rant der Dualis-

mus von Legalität und Moralität leßtlich auch formal nur ein

vorläufiger. zur Aufhebung in der reinen Moralität beftimmter:

in und hinter der Erfcheinungswelt fteckt das Ding an fich als

fittliche welt; der Menfch ift ein Bürger beider welten; und

der „Raturmechanismus" der pragmatifchen Gefchichtsentwick-

lung. deffen Zufammenhang mit jener noumenalen Ordnung

nicht erkennbar ift aber objektiv befteht. bewirkt von felbft.

- vor allem durch die Rot und durch Rriege. - daß diefe hinter

den Erfcheinungen fteckende fittliche Ordnung immer mehr „aus-

gewickelt" wird. Man fieht auch hier wieder. wie das Ding an

fich das Rernftück des kantifchen Denkens. das unentbehrliche

verbindungsglied zwifchen den Elementen feines Igftems ift.

Ieine Itreichung läßt nur die cijsjeoba rnernbra der neukantifchen

philofophie übrig. die höchftens durch „die Lift der vernunft“

notdürftig zu einem Ganzen wieder zufammengefügt werden

können. Die Entmetaphgfizierung und Formalifierung Rants

durch den Reukantianismus und die vermeintlich von Rant inau-

gurierte Auflöfung der philofophie in Erkenntnistheorie oder ihre

Bafierung auf Erkenntnistheorie morden die Ieele der kantifchen

Ipekulation; fie laffen nicht feinen Geift. fondern ein unheimliches

Gefpenft in feinem Gewande unter uns umgehen. Auch in der

. Hegelfchen Rechtsphilofophie. die - wie wir fahen - von der

Antithefe des abftrakten Rechts und der fubjektiven Moralität

ausgeht. wird diefer Dualismus dialektifch überwunden und

aufgehoben in der Ignthefis des objektiven Geiftes. in der der

abfolute Geift fich gewiffermaßen foziologifch-hiftorifcl) offen-

bart.

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Es erfchien notwendig. hier den wirklichen Rant etwas

ausführlicher zum worte kommen zu laffen. nicht weil es

wünfchenswert oder auch nur möglich wäre. zu ihm zurück-

zukehren: das deutfche volk hat im 19. Iahrhundert zu viel

„erlebt". als daß ihm diefe philofophie. - die doch wohl im

leßten Grunde mehr das Ende einer großen Geiftesbewegnng

als der Anfang einer neuen ift. - heute mehr fein könnte als

eines der erhabenften weltbilder. das der deutfche Geift in be-

ftimmter gefchichtlicher Lage gezeichnet hat. Gerade das follte bei

der Befchwörung feiner Manen empfunden werden. In unferem

Zufammenhange kam es aber vor allem darauf an. bewußtzu-

machen. wie eine wirkliche philofophie ausfieht. in der der

Dualismus von Moralität und Legalität eine Itätte hat; denn

die Entleerung der kantifchen Iittenmetaphgfik von Metaphgfik

und von inhaltlichen werten. leßtlich von geiftigem Gehalt.

hat das philofophifche Gefühl fo abgeftumpft und denaturiert.

daß man feine Iittenmetaphgfik gar nicht mehr verftand und

ihm ein farblofes und unphilofophifches Ichemen imputierte.

für das er nichtverantwortlich gemacht werden kann. Endlich

aber kam es darauf an. begreiflich zu machen. warum die um-

gebogene und entgeiftigte Rechtsidee des Reukantianismus

als Auslefegefichtspunkt für die Elemente. die als „wefentliche"

in die echten Rechtsbegriffe aufzunehmen feien. die Rechts-

begriffe geiftig entleeren. ja geradezu rechtlich denaturieren.

warum die unter dem Zeichen d i e f er „Rechtsidee" ftehende

juriftifche Begriffsbildung die Rechtswiffenfchaft ebenfo zu

einer „Rechtswiffenfchaft ohne Recht" machen mußte. wie wir

die neukantifche Erkenntnislehre als eine wahrheitstheorie

ohne wahrheitsbegriff bezeichnen mußten.

wenn man das wefen des Rechts nur formal und negativ

beftimmt als heteronom. als gebietend und verbietend. als das

von den Rechtsgenoffen Anerkannte. als Zwangsvorfchriften.

als bloß äußerliches verhalten fordernd. dann müffen in der

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Tat alle Merkmale. die über diefe Beftimmungen hinaus-

gehen. als rechtsfremde aus den juriftifchen Begriffen aus-

gefchieden werden. Und da in diefen die *Rechtsidee kon-

ftituierenden Merkmalen nichts von Gerechtigkeit. nichts von

dem Inhalt der fpezififch rechtlichen Ordnung gerade als

rechtlicher Ordnung. nichts von der Funktion des Rechts

für die Rechtsgemeinfchaften. nichts*von den Beziehungen

des Rechts zum fozialen Leben und zu den anderen Mächten

des geiftigen Dafeins. nichts von dem Herauswachfen des

Rechts aus den foziologifchen Gegebenheiten und Geftal-

tungen. von feinen hiftorifchen und foziologifchen Bedingt-

heiten fteckt. fo müffen natürlich alle diefe Beziehungen und ver-

webungen als nicht-rechtliäje. als metajuriftifche Beftandteile

aus den juriftifchen Begriffen verwiefen werden: das ift ein

Gefeß der Begriffslehre. Und es ift wahrlich kein Zeichen be-

fonderer Rlugheit oder Begriffsklarheit. wenn .man dies

Runftftück nun überall vollzieht und dem. der fich weigert.

d i e f e n Reinigungsprozeß vorzunehmen. weil für ihn auch

jene mannigfaltigen Beziehungen und verwebungen mit zum

wefen des Rechts gehören. begriffliche Unklarheit und

„Methodenfgnkretismus" vorzuwerfen. Hinter folchem puris-

mus fteckt das rationaliftifche vorurteil. daß das „Einfache"

zugleich das methodifch wertvolle. oft fogar geradezu. daß es

das metaphgfifch wertvolle fei. was bei der Hgpoftafierung

methodifcher und erkenntnistheoretifcher Begriffsbildungen

ins Metaphgfifche vielfach ineinander übergeht. Die denk-

und wertökonomifchen prinzipien Relfens find von folchen

rationaliftifchen vorurteilen ebenfo beherrfcht wie Rickerts

Lehre von der naturwiffenfchaftlichen Begriffsbildung. deren

„Ideal" möglichfte „ vereinfachung" der wirklichkeit ift. Dadurch

werden natürlich die Raturwiffenfchaften. die nicht bis

zur weiteftgehenden Auflöfung der Qualitäten in quantifizier-

bare Elemente fortfchreiten. zu weniger vollkommenen Uatur-

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wiffenfchaften. Als ob nicht jede Raturwiffenfchaft ihr fpezi-

fifches. und damit einen fpezififchen Eigenwert befißendes.

Begriffsbildungsprinzip hätte! Auch die am meiften» das

Qualitative „zerfällenden" Raturwiffenfchaften nehmen diefen

prozeß natürlich zu beftimmten Erkenntniszwecken vor: der

Reduktion der wirklichkeit auf meßbare und wägbare Größen.

Und das Meffen und wägen ift ein ganz konkreter. neben

anderen konkreten. relativ ebenfo berechtigten ftehender

Erkenntniszweck: nicht um j11 abstraoto zu „vereinfachen".

zerfällen einige Raturwiffenfchaften die bunte Mannigfaltigkeit

in Atome. fondern um gewiffe Teile derfelben meffen und

wägen zu können. Das Meffen und wägen kann aber nur für

den eine vorzugsftellung unter den menfchlichen Zwecken

einnehmen. der von der alten rationaliftifchen vorftellung.

. .» daß die Mathematik das „methodifche" vorbild aller wiffen-

fchaften fei. oder gar uns das „wefen" der Dinge enthülle.

noch nicht frei ift. Relfen vergleicht ganz konfequent die

Rechtswiffenfchaft mit der Geometrie. Es war eine feine Be-

obachtung. wenn Hatfchek von der „naturwiffenfchaftlichen

Begriffsbildung" im Rickertfchen Iinne bei der Rechtswiffen-

fchaft fprach und „Grenzen" diefer B*egriffsbildung forderte:

ob er nicht noch weiter hätte gehen und ihr Ende hätte fordern

müffen? “

Es ift die für jeden Rationalismus charakteriftifcije Ein-

dimenfionalität des Denkens. die fich in diefer Ten-

denz zum „Einfachen" dokumentiert. Io wird Erklären nicht

nur zu vereinfachen. fondern zu möglichft ftarkem vereinfachen.

Gewiß ift jedes Erkennen. jedes Handeln. jedes Geftalten ein

vereinfachen: eine Rettung aus der erdrückenden unendlichen

Mannigfaltigkeit des Ieins. der verwobenheiten. der Gefichts-

punkte. eine aus dem tiefften Einheits- und Rraftzentrum der

I e e l e notwendige Ielbftbefreiung aus der abfoluten Lähmung.

in die uns die abfolute Unendlichkeit der Tatfachen und Ein-

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ftellungsmöglichkeiten verftricken müßte. Aber es ift fubftanz-

lofer Rationalismus. wenn das vereinfachen zum Ielbftzweck

wird. und nicht ein aus den konkreten [löten der Ieele ge-

borener Zwang zu adeliger Härte gegen fich felbft und gegen

die welt bleibt. der zum Ichaffen und Geftalten. zur verein-

fachenden Ronkretifierung drängt. weil ohne fie die metaphgfifche

Iubftanz der Ieele in der empirifchen Unendlichkeit verloren-

gehen würde. wo diefe metaphgfifche Iubftanz fehlt und damit

die konkreten Röte der Ieele. aus denen fich die geftaltenden

vereinfachungen löfen. nicht empfunden werden. wird das

vereinfachen zum leeren und abftrakten vereinfachen als

folchem. zur mechanifierenden und zerfeßenden Rationalifie-

rung. die einen Halt nirgends finden kann und erft zur Ruhe

kommt. wo das vereinfachen nicht mehr weiter getrieben

werden kann: im eindimenfionalen Denken. das als wertvoll

erfcheint nicht wegen der befonderen und konkreten Form-

werte. die gerade auch das Eindimenfionale hat. fondern weil

eine leer gehende Ieele vorher keinen Halt finden. und weil

es nicht mehr überboten werden kann. Der metaphgfikfreie

Reukantianismus ift fubftanzlofer Rationalismus. Ihm eignet

daher notwendig jener Ianuskopf. deffen eine Gefichtshälfte

die Züge eines fchrankenlofen Empirismus. und deffen

andere die eines ebenfo fchrankenlofen Formalismus trägt: er

kann dem alles erdrückenden Empirismus nur die abfolutefte

Eindimenfionalität einer abftraktiv gewonnenen rationalen

Zormenwelt gegenüberftellen.

Als tgpifch rationaliftifch erfcheint darum auch die für

den Reukantianismus charakteriftifclje Reduzierung auf ein-

... 7.,-,

dimenfionale Beziehungen: kaufale Beziehungen. teleolo- *

gifche Beziehungen. wertbeziehungen. begriffliche Antithefen.

dualiftifche Gegenüberftellungen. Die Rategorie der „wech-

felwirkung" fpielt keine Rolle: Radbruch ift daher echter

Reukantianer. wenn er aus dem inftinktiven Gefühl. daß er

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fie für fein tgpifch eindimenfionales Denken nicht braucht.

ja daß fie es geradezu gefährden müßte. ablehnt und

ausdrücklich ausfcheidet. Ebenfo charakteriftifch ift. daß der

Reukantianismus. fofern er doch - wie ja bei der „Unver-

meidlichkeit" der Metaphgfik felbftverftändlich ift - unbewußt

Metaphgfik treibt. gerade folche* eindimenfio-

n a l e n B e z i e h u n g e n hgpoftafiert: der fchroffe meta-

ph g fi f ch e Dualismus. auf dem feine rational-formaliftifclje

Ieite beruht. befteht ja. wie wir oft fahen. auf der Herauf-

fchraubung eindimenfionaler b e g r i f f l i ch e r A n t i t h e-

fen zu metaphgfifcher Dualität, Daß alfo alle

jene eindimenfional nicht faßbaren Beziehungen. verwebungen

und Bedingtheiten des Rechts von *ihm ignoriert werden. ift

wieder in feiner unbewußten Metaphgfik. der Metaphgfik der .

Iubftanzlofigkeit. begründet. wie wert und wirklichkeit. wird

auch das Recht und fein foziologifches Iubftrat als Recht

u n d M a cht dualiftifch auseinandergeriffen und diefe Aus-

einanderreißung zum m etap h g fi f ch e n Ausgangspunkt ge-

nommen. fo daß völlige Blindheit eintritt gegenüber allen

Ausführungen. die diefe Hgpoftafierung von bloß begrifflichen

Antithefen nicht mitmachen. Ein begr ifflicher Gegenfaß

fchließt aber nicht aus. daß zwifchen dem Unterfchiedenen doch

Beziehungen beftehen. wenn der Gegenfaß nur ein abftrakt-

begrifflicher ift. ift fogar fchon damit gefagt. daß unter allen

anderen Gefichtspunkten als dem. unter dem die Unterfcheidung

fteht. das Getrennte eine Einheit bildet. wenn der Gegenfaß zu-

gleich auch auf einem Auseinander-Erleben-Müffen beruht. fo

wäre damit allerdings ein metaphgfifcher Gegenfaß gegeben;

aber es kann und muß auch dann noch die Frage aufgeworfen

werden. ob die Gegenfaßpaare auch ftets auseinanderfallen

m ü f f e n. oder ob fie nicht auch unter gewiffen Bedingungen

doch zufammenfallen k ö n n e n. Auch in der Richtbeachtung

diefes Unterfchiedes liegt eine Hgpoftafierung von bloß Be-

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grifflictj-Abftraktem zum Metaphgfifcljen: die Umdeutung eines

bloßen Rönnens in ein metaphgfifcljes Müffen. Zugleich macht

ein folches verfahren blind für die Frage. unter welchen Beding-

ungen und vorausfeßungen das A u s e i n a n d e r f a l l e n-

können ftattfindet. und unter welchen das Zufammen-

falle n-können eintritt. Io fehr wert und wirklichkeit. Recht

und Macht frei gegeneinander beweglich find und auseinander-

erlebbar find. weil fie auseinanderfallen können. fo wenig

m ü f f e n fie auseinanderfallen: die beiden frei gegeneinander

beweglichen Iphären können fich auch d.e ck e n. Die Einficht

in diefe Tatfache und damit in den gefamten gewaltigen

Fragenkomplex. der mit ihr gegeben ift. wird durch die Hgpo-

ftafierung des Gegenfaßes zu einem unüberbrückbaren meta-

phgfifchen Dualismus verbaut. ja es entfteht eine völlige Blind-

heit gegenüber allen. die diefe Metaphgfik nicht mitmachen.

Rur aus folcher rationaliftifchen Ieelenblindheit ift es

zu erklären. daß meine früheren Ausführungen zu diefen

problemen von neukantifcher oder dem Reukantianismus

naheftehender Ieite fo mißverftanden worden find. Ich habe

niemals das Recht auf die Macht bafiert. niemals. wie Heller

es von feiner rationaliftifch-dualiftifchen Metaphgfik aus nennt.

einem „Machtmonismus" gehuldigt. fondern nur das ver-

brechen begangen. einen relativen Gegenfaß nicht zu einem

abfoluten heraufzufchrauben. Ich fprach von dem „dem

Itaate immanenten Machtgedanken". wie ja jedes fozio-

logifche phänomen. jede „foziologifche Gruppe" ein „Macht-

element" enthält: d. h. überhaupt foziologifche „wirklichkeit"

und den willen zur „wirkfamkeit" befißt. Aber ich fage zugleich:

„die Macht als folche genügt nicht". was ich bekämpfe. ift

„die einfeitige Betrachtung der Macht als G e g e n f a ß zum

Recht". Ich fage. „daß der Itaat feiner Id ee nach

auf der (präftabilierten) Harmonie von Recht .und Macht be-

ruht"; aber es fei natürlich „eine abfolute Garantie und eine

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mechanifch wirkende veranftaltung" nicht gegeben. „daß immer

nur das ,Richtige“ g e k o n nt wird". da das von allen mög-

lichen „irrationalen Faktoren" abhänge. „Macht und Recht

fcheinen nur einer oberflächlichen. an den verhältniffen der

einzelnen Individuen haften bleibenden Betrachtung G e g e n-

fäße zu fein: fie find in der weltordnung dazu be-

ftimmt. fich zu fuchen und zu finden". Alfo gerade

kein Machtmonismus: Macht und Recht find nicht eins;

aber fie f o ll e n eins w e r d e n. Aber auch kein Recht-und-

Macht-D u a li s m us: fondern ein zur Aufhebung in einem

Monismus beftimmter Du-alismus. Der Monismus ift „Auf-

gabe": aber kein Machtmonismus. fondern ein „der Idee nach"

zu erftrebender Macht-Rechts-Monismus.

wie Binder demgegenüber in feiner neueften Ichrift über

Recht und Macht die Behauptung aufftellen kann. ich fuchte

vom ftaatlichen Machtgedanken aus den weg zum Begriffe

des Rechts zu gewinnen. was natürlich unmöglich fei. ift fchwer

zu verftehen. Gehe ich doch gerade den umgekehrten weg.

vom Rechtsgedanken aus. den ich in polemifcher Auseinander-

feßung mit allen bloß pfgchologifch fundierten Theorien zu

analgfieren verfuche 2. Dann aber zeige ich. daß ein im Ab-

ftrakten ftecken bleibender Rechtsbegriff zu einem Relativismus

führt. der eine wertdifferenz zwifchen den einzelnen Rechts-

ordnungen. z. B. der ftaatlichen Rechtsordnung und der einer

Räuberbande nicht zuläßt. Binders gegen mich polemifch ge-

richteter Hinweis auf die Räuberbande ift alfo doch wohl -

nicht ganz am pläße, warum freilich die Räuberbande

„keine Rechtsgemeinfchaft" *darfte/llt. kann Binder nicht

begründen: denn der Hinweis auf die „Ignthefe von Macht

und Iittlichkeit". die den Inhalt .der Rechtsidee ausmachen foll.

kann bei dem rein formalen Charakter der neukantifchen Ge-

1 6131181113 I, 140. 148. 152/5.

1 vgl. 6131181113 I, 129

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finnungsethik gar nichts helfen. Demgegenüber führte ich aus.

daß der wert der einzelnen Rechtsordnungen niemals aus dem

abftrakten Rechtsbegriffe als folchem erkannt werden könne. .

fondern nur aus dem werte der konkreten Ge-

m ein f ch aft. deren verhältniffe die Rechtsordnung „ge-

recht" regeln will. aus dem werte. der „Zumutbarkeit". der

„Allgemeingültigkeit". die den k o n k r e t e n G e m e i n-

f ch a f t s z w e ck e n auf Grund einer beftimmten welt-

anfchauung und des ihr eigentümlichen konkreten Ethos zu-

kommt. Reben den abftrakten Elementen des Rechtsbegriffs

komme es auf die „konkreten verteilungsgefichtspunkte"1 an.

unter denen jede Rechtsordnung als „Gerechtigkeitsordnung"

fteht, Gerade weil das Recht als foziologifche Erfcheinung ein

„Machtelement" enthalten muß. kann das Recht nur. dann.

wertvolles Recht fein. wenn diefe Macht in den Dienft von

wertvollen. den Rechtsgenoffen „zumutbaren" konkreten Ge-

meinfchaftszwecken geftellt ift, Gewiß ift das Recht ohne es

tragende und ftüßende Macht und reale Intereffen. die fich in

feinen Dienft ftellen. kein „wirklich geltendes" Recht. keine das

Leben wirklich beherrfchende „Macht". „ Die .R i ch ti g k e i t*

und ,Allgemeingültigkeif des Rechts ruht auf

dem werte des Iubjekts diefer Interef-

fe n" 2, Alfo: nicht auf „Intereffen" ruht das Recht als

„Recht". fondern auf „dem werte von Intereffen". Das ift ein

Unterfchied. den auch Binder verftehen follte. „Ieine letzte

Berechtigung kann der Rechtszwang nur daraus fchöpfen. daß

die zwingende Gemeinfchaft richtig e Z i e l e verfolgt".

fage ich an anderer Itelle 3, Rie und nirgends habe ich gefagt.

daß die Macht das Recht konftituiert. fondern das Gegenteil:

„Das Recht muß in dem realen Ganzen. das es regeln will.

t Z. LZ. 6131181113 Z. 151.

j 6131181113 Z. 190.

7 6131181118 Z. 145.

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gelten. in ihm eine reale Macht. die es zufammenfchweißen

hilft. fein ; denn nur folange eine Rechtsordnung noch wirklich

gilt. ift und bleibt das reale Ganze ein folches. Und es kann

immer nur eine Rechtsordnung fein. dieeinreales

Ganzes im leßten Grunde zufammenhält:

denn nur der R e ch t s w e r t . als richtiger Maß- und ver-

teilungswert. vermag jedem den ihmsub speeje des Ganzen

richtigen plaß einzuräumen; nur eine Rechtsord-

nung kann eine wirklich geltende willens-

o r d n u n g fein. da nur fie von den Genoffen als eine n ö t-

wendige und nicht willkürliche anerkannt

und empfunden werden kann. Diefe eigentümliche. durchaus

notwendige Tatfache wird in allen jenen Rechtsdefinitionen. die

lediglich auf die Geltung. Anerkennung.

Garantie ufw. abftellen. überfehen" 1. Ich weiß

nicht. wie man deutlicher von je d e r das Recht le d i g li ch

fo z i o l o gi f ch begründenden Theorie abrücken kann. wenn

das von Binder und anderer Ieite immer wieder mißverftanden

wurde. fo liegt das an der tgpifch neukantifchen Unfähigkeit.

das. was nicht in analgtifche eindimenfionale Gedankengebilde

und Beziehungen aufgelöft wurde. zu verftehen. an der Blindheit

für die wechfelwirkungsverhältniffe. für die Antinomien. für

die niemals reftlos antithetifch formulierbaren. komplizierten

Beziehungen. die die wirklichkeit uns nun einmal bietet. .

Umgekehrt allerdings denkt der metaphgfifche rationaliftifche

Dualift: Recht und Macht find Gegenfäße; fie werden zu abfo-

luten hgpoftafiert. fo daß das von aller Macht freie. „reine" Recht

zum abfoluten wert herauf-. die Macht zum abfoluten Unwert

heruntergefchraubt wird. Für die wiffenfchaftliche Betrach-

tung der fozialen phänomene müffen darum die foziologifchen *

Machtelemente in die wertlofe Itofflichkeit verwiefen und die

„reinen" Rechtselemente als das allein wertvolle heraus-

1 6131181113 I. 132.

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gearbeitet werden. Die abfo lute Gegenfäßlichkeit von Recht

und Macht. in die die zum Teil bloß b egrifflich e Gegenfäß-

lichkeit umgedeutet ift. zwingt dann zu der eindimenfionalen

Zrageftellung. ob das Recht auf der Macht. -oder die Macht auf

dem Recht beruht. während die bloße Relativität .des Gegen-

faßes fchon diefe F r a g e ft e llu n g ausfchließen müßte 1. Run*

kommt aber noch die Tendenz hinzu. diefe ins Abfolute hgpo-

ftafierten Gegenfäße ins Ethifche zu transponie-

r e n. Es ift diefelbe Tendenz. die wir z. B. in der neukantifchen

Lehre vom primat der praktifchen vernunft beobachten können:

Rant hatte diefe Lehre metaphgfifch durch fein Ding an fich

begründet. der Reukantianismus tut es durch Umdeutung des

1 R a d b r u ch s bekannte antithetifche Gegenüberftellung von

perfonalismus und Transperfonalismus. von Individualismus und

Ueberindividualismus (die auf einer vergröberung Laskfcher Gedanken

beruht). ift in derfelben rationaliftifchen Denkmethode begründet. die

das Antinomifche. das in der I a ch e fe l b ft als reftlos nie aufheb-

barer Gegenfaß gegeben. aber als „in der Idee" aufzuhebender „auf-

gegeben" ift. wiffenfchaftlich allein dadurch erfaffen zu können glaubt.

daß fie diefen relativen Gegenfaß zu einem abfoluten hgpoftafiert.

Dadurch wird der weg zum verftändnis der fozialen wirklichkeit. die

überall auf einem beftimmten verhältnis zwifchen den beidenizanti-

thetifch auseinandergeriffenen Begriffspolen beruht. rettungslos ver-

baut. Ich bin fo wenig „Ueberindividualift". wie ich „Machtmonift" bin.

Ohne daß die individualiftifchen Intereffen in einem überindividuellen

Ganzen irgendwie ihr Genüge finden und die Intereffen des Ganzen

auf denen der es bildenden Individuen aufgebaut find. ift ein über-

individuelles Ganzes gar nicht „möglich". Zreilich wird und muß ftets

ein gewiffes „Ipannungsverhältnis" zwifchen der Gefamtheit und

den Mitgliedern der Gefamtheit oder einem Teil diefer Mitglieder be-

ftehen bleiben: wie zwifchen Macht und Recht. wirklichkeit und wert.

Das problem jeder fozialen Gruppe liegt aber gerade in diefem nie

reftlos zu überwindenden Ipannungsverhältnis. Iede Betrachtung

fozialer phänomene. die nicht eben dies Ipannungsverhältnis zur Grund-

- (age nimmt. fondern es entweder harmoniftifch auflöft oder in zwei

antithetifche Betrachtungsarten auseinanderlegt. von denen jede die

entgegengefeßte harmoniftifcl)e Löfung des problems geben zu können

glaubt. ift von vornherein zur Unfruchtbarkeit verurteilt. Räheres vgl.

insbefondere 6131131119. I. 140-145.

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*ri-r*

bloß begrifflich-erkenntnistheoretifchen Iollens in ethifches

Iollen und hält diefe U m d e u t u n g eines erkenntnis-

theoretifchen Inhalts für eine „erkenntnistheoretifche" „B e-

g r ü n d u n g". Ebenfo wird für das verhältnis des „reinen

Rechts" zur foziologifchen Macht. diefe wegen ihrer bloßen

Itofflichkeit. wertfremde Größe mit dem ethifchen Unwert-

begriff der „Gewalt" gleichgefeßt. Dabei können Macht und

Gewalt geradezu Gegenfäße fein. wie fchon aus der Möglich-

keit einer verbindung der Begriffe „fittlich" und „religiös"

mit dem der „Macht". und der Unmöglichkeit ihrer verbindung

mit dem der „Gewalt" hervorgeht 1. Dann wird alle Macht-

politik. d. h. alle.politik. die darauf aus ift. in der empirifchen

wirklichkeit ein wirkender. d. h. beftimmender

oder mitbeftimmender Faktor zu fein. alfo jede politik. die

in etwas anderem befteht als im Reden. im Deduzieren aus

abftrakten prinzipien und im Iubfumieren unter folche. zur

„Gewaltpolitik": denn nur dann kann ja das „reine". das von

allen foziologifchen Machtfubftraten freie Recht verwirklicht

werden. -- Es ift die Eindimenfionalität des rationaliftifch-

vereinfachenden Denkens. die zu diefen Hgpoftafierungen und

Transpofitionen zwingt. wenn überhaupt aus der Iphäre der

rein begrifflichen Unterfcheidungen ein Ausweg. ins Freie

möglich fein foll: das rationaliftifche Denken kommt bei feiner

1 wie fern meinen Ausführungen über die Bedeutung des Macht-

gedankens der Gewaltgedanken gelegen hat. geht daraus hervor. daß

ich einerfeits immer wieder betonte. Machtbehauptung fei nur auf

fittlich er Gr u n dla g e möglich. die ftaatliche Macht feße ver-

trauen und vertrauenswürdigkeit bei den Itaatsangehörigen voraus.

beruhe auf einer unlöslichen gegenfeitigen Durchdringung von Herr-

fchaft und Genoffenfchaft. einem fich gegenfeitigen Itüßen. einem Tragen

. und Getragenwerden (6131181113 I, 140. 146. 152 u. pass.; fo aber auch

bereits in Itudien zur Itaatslehre des monarchifchen Prinzips I. 30 f..

33). und daß ich anderfeits auch die R i r ch e als ein dem Itaate mög-

licherweife koordinationsrechtlich gegenüberftehendes Machtfubjekt fchil-

dere (61811181118 I. 155

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vereinfachung der Erfcheinungen erft zur Ruhe. wenn es diefe

auf eindimenfionale. in ihrer Einfachheit nicht mehr zu über-

bietende Beziehungsverhältniffe zurückgeführt hat; und das

ift erft erreicht bei einer vollendeten Inhaltsentleerung. bei der

Herauspräparierung der reinften und abftrakteften Formen;

und weil diefe abftraktive welt eben eine rein formale

ift. können zur bunten Itofflichkeit des Lebens keine Be-

ziehungen mehr geknüpft werden - ift doch gerade be-

wußt alle Itofflichkeit aus ihnen entfernt. Uur durch H g p o-

ft a f i e r u n g ins inhaltlich Metaphgfifche. durch T r a n s-

ponierungins Ethifche. durch Iubftruierung mit

pfgchologifchem und Ioziologifchem kann die. an fich ja

gerade abgebrochene. Brücke zur ftofflichen wirklichkeit wieder

gefchlagen werden. Im Ergebnis ift daher die eindimenfionale

vereinfachung der welt nicht eine Deutung der welt

unter beftimmten. feelifch notwendigen Gefichtspunkten und

Einftellungen. fondern eine U m d e u t u n g der welt in eine

aus einfachften Elementen aufgebaute. oder. bei der Trans-

ponierung der reinen Formwerte ins Ethifche. d i e F o r d e-

rung eines Reubaues der welt aus den

„einfachften" Elementen. Gewiß handelt es fich

beim Erkennen nie um ein mechanifcljes Abbilden. fondern

um ein - wenn man den Ausdruck gebrauchen will - ver-

einfachen. aber nicht um ein vereinfachen um des verein-

fachens willen. um ein abftraktes. fubftanzlofes vereinfachen.

fondern um ein Deuten. d. h. ein fubftantielles. aus ko n-

.kreten feelifchen Bedürfniffen notwendiges

vereinfachen. deffen Berechtigung mit deren Berechtigung

und innerlicher Rotwendigkeit fteht und fällt.

Das technifche Mittel. mit dem der vereinfachende Ratio-

nalismus arbeitet. ift die D efinitio n. von der er ftets

feinen Ausgang nehmen muß, Die Definition will einen „Be-

griff" „beftimmen" durch „Abgrenzungen“; und dies Gefchäft

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gilt als vollendet. wenn einem Artbegriff ein ihm fpezififches

Merkmal beigefügt ift. Das hat natürlich feine Berechtigung.

aber nur eine relative. Denn dadurch wird der Begriff nur

von einem a n d er e n in „einfachfter" weife abgegrenzt;

er wird alfo nur von diefem. von allen anderen aber g ar

nicht abgegrenzt. feine Beziehungen zu allem anderen

bleiben daher unberückfichtigt: ein durch eine Definition gewiß

auf das einfachfte beftimmter Begriff ift daher nur r e l a t i v

beftimmt. im meiften aber unbeftimmt. wenn man nun in

einer folchen Definition nicht bloß eine fehr relative und in f o-

fern wohl mögliche und zuläffige Beftimmung des Be-

griffes fieht. fondern eine Zormel für fein „wefen". fo

„rationalifiert" man den Gegenftand des Begriffes in u n z u-

läffiger weife. und macht fich blind für alle anderen

Beziehungen des Begriffes. wenn man daher den Begriff

des Rechts „definiert" - ob nun nach diefer oder nach jener

Richtung -. hat man unzweifelhaft etwas fehr „Einfaches"

gewonnen. aber etwas ganz Unvollftändiges und damit Ichte-

fes. ja Falfches, Denn man hat im günftigften Falle ein e

Ieite und e i n e Beziehung des Rechts „ifoliert". alle anderen

Ieiten und Beziehungen aber totgefchlagen. wenn man das

w efen d e s „G eifti g en“ in einer gewiffen „Totalität". einer

gewiffen „fubftantiellen Einheit" fieht. fo kann man unzweifel-

haft diefe Totalität und Einheit als folche nie begrifflich erfaffen.

fondern nur durch gewiffe ifolierende und felektive Betrach-

tungen. Aber diefe Ifolierungen und Ielektionen müffen einer-

feits beruhen auf einer Anfchauung der Totalität. der fub-

ftantiellen Einheit. aus der die einzelnen Ifolierungen und

Ielektionen gefpeift werden. deren projektionen und Ex-

preffionen fie find. und anderfeits auf einer Herausarbeitirng

der Beziehungen. die zwifchen den mannigfaltigen einzelnen

Ifolierungen und Ielektionen obwalten. und die fie mit der.

zwar als folcher begrifflich nicht faßbaren. aber anfchaubaren

* 1

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und innerlich erlebbaren fubftantiellen Einheit der geiftigen

Iubftanz verbinden. Iedes bloße Ifolieren. das nicht durch

Zufammenfügung der einzelnen mannigfaltigen Ifolationen

untereinander und diefer mit dem fubftantiellen Ouell- und

Einheitspunkt des Geiftigen ergänzt wird. fchließt daher die

Erfaffung eines Objektes als eines geiftigen aus. Io muß auch

eine Betrachtung des Rechts. die auf einer ifolierenden Defini-

tion beruht. die Betrachtung des Rechts als „geiftiger" Erfchei-

nung bereits an der Ichwelle ausfchließen; und eine juriftifche

Begriffsbildung. die unter der Herrfchaft einer folchen De-

finition fteht. den geiftigen Gehalt aus den juriftifchen Be-

griffen eliminieren. Auch wer das Recht nicht als bloße „em-

pirifche Mafchinerie" definiert. muß. fchon infolge der Bafie-

rung auf eine ifolierende Definition. die juriftifchen Begriffe

entgeiftigen und zu bloß technifchen Begriffen machen. Denn

bloße Ifolierung ift ftets zugleich Technifierung. Es foll damit

keineswegs jeder Technifierung auch .auf dem Gebiete des

geiftigen Lebens das Recht abgefprochen werden; fie ift in

gewiffem Umfange und gewiffen Grenzen fogar nötig: darum

liegt auch in der „Rechtstechnik" ein relativer wert, Es kann

nur die r e l ativ e Berechtigung der Rechtstechnik und die

Grenze diefer Berechtigung nie erkannt werden. wenn

man die Technik zum p r i n z i p macht. fei es bewußt durch

Definition des Rechts als fozialer Technik. fei es unbewußt

durch den Ausgang von einer ifolierenden Definition. Auch

die Rechtstechnik :hat eine geiftige Funktion; fie kann aber als

„geiftige" wie als „Funktion" natürlich nur verftanden werden.

wenn man das Recht als etwas Geiftiges auffaßt.

Diefe Ausführungen follten den leßten Grund dafür an-

deuten. daß die rationaliftifchen vorurteile. die hinter der

neukantifchen Lehre vom „juriftifchen" Begriff ftecken. etwas

in ihrer Gefchloffenheit und „Einfachheit" gewiß Fafzinierendes

in die von allem „Metajuriftifchen" gereinigte Rechtswiffen-

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fchaft gebracht haben. daß fie aber zugleich für den ungewöhn-

lichen kulturellen Tiefftand eines großen. leider nochimmer nicht

völlig überwundenen Teiles unferer Rechtswiffenfchaft. den

deren künftiger Gefchichtsfchreiber ficher feftftellen wird. verant-

wortlich find. Die fchwindende Anziehungskraft der Iurispru-

denz auf geiftige Menfchen. die Geringfchäßung. die fie zu

verzeichnen hat. find dafür ebenfo fgmptomatifch. wie die Ab-

ftumpfung des wirklichen. natürlich inhaltlichen Rechtsgefühles

in unferem volke und deffen widerftandslofigkeit gegenüber

der handfeften Bafierung des Rechtes auf die wirtfchaftlichen

Intereffen durch den Marxismus und gegenüber dem Anarchis-

mus der extremen Freirechtler: muß man doch ehrlicherweife

zugeben. daß in beiden gegenüber dem technifchen Rechts-

formalismus ein relativer wahrheitsgehalt fteckt.

was foll man dazu fagen. wenn durchaus konfequent vom

Itandpunkt der formalen und negativen Definition der Rechts-

idee z. B. Binder den Begriff der „Rechtspflicht" als jenfeits des

Rechts liegend ausgemerzt wiffen will. und den Iaß als grund-

legend für die „Rechtswiffenfchaft prägt und wiederholt: „ Das

Recht verpflichtet rechtlich zu nichts"? Dann ift natürlich auch

das „juriftifche" wefen des Ichuldverhältniffes keine verpflich-

tung zur Leiftung. und die „juriftifch" inkorrekte Zormulierung

des BGB. bedarf einer Rorrektur. - wenn Laband das juri-

ftifche „wefen" des Itaates als „Herrfchaft" „definiert". dann

muß die rein juriftifche Methode natürlich alles Richt-Herr-

fchaftliche wegkonftruieren oder in Herrfchaftliches umkonftruie-

ren. Io wird die Feftftellung des Inhalts d er G e f e ß e durch

die gefeßgebenden Faktoren als „juriftifch irrelevant" bezeichnet

und das einzig „juriftifch" Relevante in eine zwar nicht vorhan-

dene. aber zu konftruierende „Erteilung des Gefeßes b ef e h l e s"

verlegt. und dem. der auf das Richtvorhandenfein diefes

Aktes hinweift. mit Rennermiene entgegengehalten. daß das

Recht ja ,nichts „Reales" fei. fondern eine bloße „Funktion

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des Bewußtfeins". die Rechtswelt „daher" eine welt abftrakter

und gedachter Beziehungen. Zugleich aber befteht daneben

immer wieder die oft erwähnte Tendenz. diefe bloß gedachten

Beziehungen durch reale vorgänge zu fubftruieren. fie auf

reale vorgänge zu projizieren: alfo z. B. die „Erteilung des

Gefeßesbefehles" in dem „Akte" der Ianktion zu finden und

dann diefen „Akt". in dem natürlich gar nichts von Hinzufügung

des „Gefeßesbefehls" zu einem davon unabhängig feftgeftellten

„Gefeßesinhalt" liegt. als den im Gefeßgebungsverfahren

wefentlichen und entfcheidenden zu betrachten. Das verftändnis

der Ianktion und ihrer Bedeutung ift fo rettungslos verbaut.

Und wenn nun die Ianktion in einem beftimmten verfaffungs- .

. recht als Inftitut fehlt. dann dichtet man fie in dies Recht hinein

und projiziert den -.doch zunächft nur in der „juriftifchen Be-

griffswelt" für nötig gehaltenen - Begriff der Erteilung des

„Gefeßesbefehls" als „Ianktion" auf irgendeinen „Akt". den dies

Recht vorfchreibt. und erhebt den zu dem „wefentlichen“. Das

ift keine fingierte Rarikatur der „juriftifchen Methode". fondern

ein tgpifches Beifpiel 'für jene als ungeheuren Fortfcljritt ge-

priefene ftreng juriftifche Methode. die fich fo vornehm dünkt

und auf alle. die ihr nicht folgen. fo verachtungsvoll herabfchaut.

mit der wir nun feit Iahrzehnten genarrt werden. Man wird

in diefer Denkart die tgpifche Denkart der neukantifchen philo-

fophie mit ihrem Itreben zur formalen Reinheit und mit ihren

Hgpoftafierungen. Iubftruktionen und projektionen wieder-

erkennen. wie ja auch die geiftige verwandtfchaft der Erteilung

des Gefeßesbefehls als des „wefentlichen" bei der Gefeßgebung

mit der füdweftdeutfchen Lehre von der voluntariftifchen „Zu-

ftimmung" zu der im Urteil vollzogenen Ignthefe von Iubjekt

und prädikat als dem „erkenntnistheoretifch" „wefentlichen"

Element im Urteilsakt einleuchtet. Denn wenn man alles In-

haltliche aus den Begriffen ausfcheidet. kann das „wefentliche"

nur noch in einem von a u ß e n zu dem „begrifflich" Irrele-

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vanten der i n h a l t li ch e n verbindungen Hinzutretenden

liegen. welches diefen erft die fpezififche logifche und juriftifche

Dignität verleiht. * _

-wie die Herrfchaftstheorie die Itaatsrechtswiffenfchaft

der Labandfchule beherrfcht. fo fpielt eine analoge Rolle die

wille nsth e o rie in der privatrechtswiffenfchaft 1. Auch hier

ift ein ähnliches. echt neukantifch-rationaliftifches Hinübergleiten

von der abftrakten Iphäre bald in die normative und bald in die

empirifch-foziologifche zu beobachten. wenn man in allen

Rechtsbeziehungen willensbeziehungen fieht. dann muß die

„juriftifche" Ronftruktion in der begrifflichen Reduzierung auf

- folche beftehen. auch da. wo ein empirifcher wille gar nicht

nachweisbar ift: 11 und 13 haben bei einem vertragsfchluß an

beftimmte Fragen. über die fpäter Itreit entfteht. nicht gedacht.

deren Regelung alfo gar nicht in ihren „vertragswillen" auf-

genommen. Das kann die willenstheorie nur dadurch „kon-

ftruieren". daß fie die Entfcheidung der Itreitfragen troßdem.

wie Lenel fagt. „der partei in die Ieele fchiebt". „indem man

die Fiktion des parteiwillens als ftets bereites Tifchlein-deck-dick;

in Izene feßt". Es wird ein ftillfchweigender wille. ein hinter

dem empirifchen willen ftehender „wirklicher" wille ange-

nommen. in den man die Entfcheidung.- die natürlich aus ganz

anderen Erwägungen ftammt. hineinprojiziert. Um alles auf

den „willen" abftrakt-begrifflich zurückführen zu können. wird

ein von dem empirifchen willen losgelöfter. abftrakter wille

konftruiert und dann diefer abftrakte wille wieder zu einem

empirifchen willen hgpoftafiert. Denn mit einem wirklich rein

begrifflich-abftrakten willensbegriff kann man natürlich nicht

arbeiten. fo daß wieder die pfgchologifche Iubftruktion nötig

wird. wenn der Rarren des Denkens nicht in der bloß begriff-

lichen welt ftecken bleiben foll, Dies zunächft im privatrecht

1 Mit ihr habe ich mich eingehend 6131181113 I. 83-111 auseinander-

gefeßt.

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übliche. dann aber auch in der Itrafrechtswiffenfchaft und

neuerdings auch in der des öffentlichen Rechts (feit diefe Difzi-

plin den Ehrgeiz hat. an formal-juriftifcher Methode den älteren

Ichweftern nicht nachzuftehen) herrfchend gewordene ver-

fahren. mit einer willenspfgchologie zu beginnen. die Ergeb-

niffe diefer Analgfe des empirifchen willens ins Abftrakt-

Begriffliche hinübergleiten zu laffen. die mit der empirifchen

wirklichkeit nicht mehr im Einklang befindliche abftrakte Be-

grifflichkeit damit zu rechtfertigen. daß es fich ja um „juriftifche"

phänomene. alfo um reine „Gedankendinge" handelt. und

fchließlicl) doch wieder diefe bloßen Begriffe zu behandeln als

feien fie pfgchologifche Realitäten. alfo nach der vornahme ge-

wiffer Gedankenmanipulationen an den ab ftrakten willens-

verhältniffen wieder in die e m p ir i f ch e Iphäre zurückzugleiten.

ift echt neukantifch. Es ift die vieldeutigkeit des willens-

begriffes. die die Unhaltbarkeit folchen verfahrens verdeckt.

und man wird - wie ich darzulegen verfucht habe l -finden.

daß es ein. freilich nie ganz rein feftgehaltener. rationaliftifcher

willensbegriff ift. der diefer „Methodik" im wefentlichen

zugrunde liegt.

Der große Erfolg von Relfen und auch fein großes ver-

dienft beruhen zum großen Teil darauf. daß er alle jene

Umkippungen aus dem bloß Formalen in die empirifchen

Iubftruktionen fchonungslos und mit einer kritifchen Ichärfe.

die ihresgleichen in unferer juriftifchen Literatur nicht hat.

daß er alle die „Halbwahrheiten" als folche erkannt und auf-

gedeckt hat, Er ift der Meifter des Rechtsformalismus. der

die anderen „meiftert". Man wird ihm in kaum einer feiner

polemiken - und feine Bücher find .ja nur *eine Rette von

polemiken - nicht .recht geben können. Infofern feine werke

Halbwahrheiten bekämpfen. find fie von höchftem kritifchem

wert; nur korrigieren fie diefe Halbwahrheiten nach der ver-

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kehrten Richtung. Man kann auch fagen. daß nach feiner

Reinigungsarbeit die eigentliche pofitive Aufgabe erft beginnt.

daß er aber gerade diefe pofitive Aufgabe aus „normlogifchem"

purismus ablehnt. Der Unterfchied von Relfen und den anderen-

befteht nur darin. daß diefe bereits in den unteren Regionen

ohne erkennbaren Grund bald hier. bald da. bald mehr. bald

weniger. fgftemlos. ins bloß Faktifche umkippen. während

Relfen das nur auf der leßten und oberften Itufe tut. Ieine

Arbeiten haben darum die größere Ronfequenz und den

geringeren pofitiven Erkenntniswert.

wenn man erkenntnistheoretifch als leßten Begriff auf das

Urteil abftellt. wird entfprechend auf dem Gebiete des Rechts

der Begriff des „Rechtsfaßes" der leßte Begriff: fo Relfen.

wenn man erkenntnistheoretifch die Urteilsfunktion zum leßten

Begriff wählt. entfpricht dem in der Rechtswiffenfchaft das

* „Rechtsverfahren": fo Iander. Für Relfen ift daher der Itaat

nichts weiter als ein durch Re chtsf äße gefchaffener „Zurech-

nungspunkt". für Iander „die Beharrlichkeit des Rechts-

verfahrens. welche alle empirifchen Rechtsverfahren auf

eine verfahrensgrundregel als objektiven Maßftab aller Rechts-

erzeugungen kontinuierlich rückbezieht -". alle anderen Be-

zeichnungen find „unjuriftifch". Die Fragen. w a r u m denn

die Rechtsfäße foviel Zurechnungen auf den einen „punkt"

häufen. warum die empirifchen Rechtsverfahren gerade

auf eine beftimmte verfahrensgrundreihe kontinuierlich rück-

bezogen werden. welchen I i n n folches vorgehen hat. warum

gerade das Recht folches fordert. werden nicht geftellt. ja

ihre Berechtigung vermutlich beftritten. Alle diefe nicht bloß

formalen Fragen. die eigentlichen Rechtsfragen.

fallen ebenfo aus der normlogifchen Rechtslehre heraus. wie

die Rickert gegenüber aufgeworfenen Fragen nach dem ver-

hältnis der formalen Iollensnormen zum wahrheitswert und

nach der Anwendung der verfchiedenen Iollensnormen auf

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die jeweiligen Empfindungsinhalte aus der erkenntnistheo-

retifchen Zrageftellung des tranfzendentalen Rritizismus her-

ausfallen. Und wie diefe formale Erkenntnistheorie in einem

fchrankenlofen metaphgfifchen Empirismus mündet. fo mün-

det die formale Rechtstheorie in einem fchrankenlofen juri-

ftifchen Empirismus. Das juriftifche wefen der perfön-

lichkeit und des willens foll bei Relfen nur in der „Loka-

lifierung eines Zurechnungsendpunktes" beftehen; und es

muß nach ihm „mit Rachdruck hervorgehoben werden. daß es

ganz im Belieben der Rorm liegt. auch etwas

anderem als dem Einzelmenfchen die perfonen- und willens-

qualität zu verleihen. fo wie es ja auch von ihr abhängt. ob

überhaupt der Menfch und welcher Menfch perfon. d. h. willens-

fähig wird". - wirklich ganz im Belieben des Rechtsfaßes?

Oderbeftehennichtdochrechtliche Gefeßlichkeiten.

die das eine als dem Rechte entfprechend. das andere als

es verleßend erfcheinen laffen? Aber gerade diefe recht-

lichen Gefeßlichkeiten fallen aus dem Rahmen der

ftreng „juriftifchen" Methode. wie das mit allen Rategorial-

formen ausgeftattete „Bewußtfein überhaupt" keinen Gefichts-

punkt bietet. nach dem diefe Formen r i ch ti g e r w e i f e auf

die wirklichkeit anzuwenden find. und das erkennende Iubjekt

führerlos in dem Meere der Empfindungsinhalte läßt. fo

werden die rechtfeßenden Faktoren. die mit allen denkbaren

formalen „Relationen der Rechtsordnung" ausgeftattet find.

ohne Maßftab der A n g e m e f f e n h e it diefer Relationen

für das foziale Iubftrat gelaffen. Alles fteht in ihrem „Belieben".

Recht ift. was die rechtfeßenden Faktoren nach ihrem Belieben

beftimmen. Das ift der radikalfte obrigkeitsftaatliche

Rechtsformalismus. der denkbarift. Ebenfoiftfür die „An-

erkennungstheorie" alles Recht. was die Rechtsgenoffen aner-

kennen. Ob es anerkennbar oder anerkennungswürdig ift.

ob eine Rorm inhaltlich fo geftaltet ift. daß fie mit Recht zu-

Erich Raufmann. Reiki'. 6

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mutbar ift. liegt ebenfo außerhalb der Anerkennungstheorie

wie außerhalb der formalen „aus der Lehre vom Rechtsfaß ent-

wickelten" Itaatsrechtslehre Relfens. Rant hatte als „probier-

ftein" den Iaß aufgeftellt. daß das rechtens fei. was ein „ volk über

fich felbftbefchließen darf": aber auch folche Frageftellung lehnt

die formale reine „Rechts"theorie ab. Io fchrumpft das „Recht"

für Binder zufammen zu einem „Befehl" an die Beamten des

Itaates; und für Relfen ift der „Itandpunkt des Richters"

zugleich der des „theoretifchen Iuriften": Recht ift das pofitiv

Gefeßte und Befohlene. das Richter und Beamte zu befolgen

haben. An die Rechtsgenoffen ift die Rechtsnorm garnicht

„adreffiert". Die Rechtswiffenfchaft arbeitet nur die norm-

logifchen. die formalen Relationen. die reinen Formen heraus.

die in jeder „brutal" pofitiv-gefeßten Rechtsordnung als abftrakte

Elemente ftecken. ebenfo wie die Erkenntnistheorie nur die in

der brutalen wirklichkeit fteckenden formalen verknüpfungs-

normen herauspräpariert. Der brutalfte Rechtspofitivismus

braucht fich ebenfowenig zu „beunruhigen" wie der brutalfte

empirifche Realismus; es wird gar nicht „beabfichtigt". fie zu

beunruhigen.

Io befcheiden ift aber auch die neukantifche Rechtsphilo-

fophie natürlich nicht. Auch fie hgpoftafiert wieder die begrifflich

herauspräparierten abftrakten Zormen ins Metaphgfifche und

Ethifche. wird doch mit diefen Zormen das „wefentliche". das

eigentlich „wertvolle" herauspräpariert. wer außer diefen

„wefentlichen" Merkmalen noch andere in feine Betrachtung

zieht. ift nicht etwa nur ein fchlechter Erkenntnistheoretiker. fon-

dern ein fchlechter Rerl. Zwar dürfte- konfequenterweife das Urteil

über ihn nur lauten: er habe „Methodenfgnkretismus" getrieben;

die Rechtswiffenfchaft habe „fehr enge" „Grenzen". wie Relfen

ausdrücklich fagt; wer über diefe Grenzen fchreite. könne über

foziologif che. hiftorifche und pfgchologifche probleme. die vielleicht *

-_ und bei den „engen Grenzen" der Rechtswiffenfchaft eigentlich

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unzweifelhaft - fehr viel wichtiger find als „juriftifche" pro-

bleme. allerlei Beachtenswertes und Richtiges fagen. das feien

bloß keine „juriftifchen" Tatfachen. Und folche „befcheidenen"

Aeußerungen fehlen bei Relfen. Iander und Binder eb'enfo-

wenig wie bei Rickert. Aber auch fie ftreben über die abftraktiven

Formen und. was erft bedenklich wird: . v er mitte l ft der

abftraktiven Formen zur „weltanfchauung". Reben den Be-

fcheidenheitsformeln. dann .diefe immer mehr zurückdrängend

und fchließliclj alles beherrfchend. tritt die Behauptung. daß die

normlogifche Methode nicht ein e Methodezur Behandlung der

fozialen phänomene neben anderen ift. fondern d i e Methode.

die einzig le gitim e: daß fie allein die Gegenftände des

fozialen Lebens konftituiere. logifch „erzeuge". wie für Rickert

das „formale Iollen" und für windelband die „felektive Ign-

thefis" der „Gegenftand der Erkenntnis" find. Und nun bricht.

wie bei Rickert. ein leidenfchaftlicher Rampf aus gegen den

..naiven Realismus". (fo fagt auch Iander) der verkennt.

daß „jede Gegenftändlichkeit nicht an fich. fondern nur in

einer Urteilsfunktion. in einer Urteilsrelation entfteht und be-

fteht". Die „Theorie von der Mehrfeitigkeit hiftorifch-politifcher

vorgänge" ift „Metaphgfiktfl wie Rickert und windelband

gegen den „tranfzendenten Gegenftand der Erkenntnis". gegen

das „Ding an fich" kämpfen. fo führt auch Iander aus: „Iede

rechtliche Gegenftändlichkeit kann nur indenRelatio-

nen der Rechtsurteile. in Rechtsfaßfunktionen.

nicht aber als ein jenfeits des Rechts beftehendes. alfo

rechtlich unbeftimmbares .D i n g a n fich* Beftand ge-

winnen." Als fchlimmfter verftoß gegen die metaphgfikfreie

Rechtswiffenfcljaft wird der „naive Realismus" bezeichnet.

der vermeint. daß „Gefchichte Ethik. politik. Ioziologie.

.pfgchologie Iurisprudenz. eventuell auch ,Biologie jede für

ihren Teil mit der Erklärung ,eines und desfelben* Itaats-

wefens befchäftigt feien". wie der Reukantianismus das Ding

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an fich vernichtet hat. fo fordert Iander auch die „radikale Ex-

ftirpation des metarechtlichen Itaatsdinges". weil

Hugo preuß einmal von der „obljgatjo 11101j6116j“, von der Hin-

gabe an den Itaat bis zur Aufopferung des Lebens fpricht.

weil wolzendorf die „fittlichen Gerechtigkeitsbewertungen"

betont. die in dem Gedanken des volksheeres liegen. werden fie

.für Relfen und Iander mit Gierke und mir zu „Militariften".

während fie uns. von ihrem formalen Rechtsbegriff aus. doch -

wenn ich von ihrer Ablehnung des Ding-an-fich-Begriffes

und der Mehrfeitigkeitstheorie zunächft einmal abfehe - nur

vor-werfen könnten. daß das nicht in eine „normlogifche" Rechts-

theorie gehöre. Aber beide machen bald wirklich Ernft mit

ihrer Ablehnung des Dinges an fich. bald können fie das doch

nicht durchführen und verfallen felbft wieder in den böfen

„naiven Realismus". Io fagt Iander auf derfelben Ieite zuerft:

„Leider e r e i g n e n fich niemals fo intereffante I z e n e n

wie die. daß der Itaat verbrecher zum Tode führt. feinen

willen durchführt . . . All das fin d fchlichte Rechtsfaß-

funktionen und nur eine phantafievolle .M e t a j u r i-s p r u-

denz. welche hinter den Rechtserfcheinungen

ein 11111j01j gefeßtes Itaatsding als abfolute

I u b ft a nz annimmt. kann die Rechtsfaßfunktionen als

T ä t i g k e i t e n eines mächtigen Itaates a n f e h e n."

Ipäter aber fagt er felbft: „Ienes deutfche Heer. das die deutfchen

Ichlachten fchlägt. ift nicht jenes deutfche Heer. das allein für

die Rechtserkenntnis in Betracht kommt und eine (f u b j e k-

tiv i ft i f ch e) Zufammenfaffung von Tatbeftänden aus-

macht." Gottlob: wir hatten fchon an unferem verftande ge-

zweifelt; es „gibt" alfo doch offenbar ein „ Ding" wie das deutfche

Heer und dann wohl auch ein „Ding" wie den Itaat. der ver-

brecher zum Todeführt. und nicht bloß „fchlichte Rechtsfaßfunk-

tionen." Es wäre ja auch gar nicht auszudenken. was es wirklich

bedeuten würde. wenn Relfen und Iander konfequent blieben.

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Ronfequent ift es natürlich auch nicht. wenn Relfen.

ganz wie Rickert. aus feinen abftraktiven Formen weltanfchau-

ungsmäßige Ronfequenzen zieht. Er bezeichnet durchaus zu-

treffend feine Methode als „Ronftruktion mit der einfachen

Ebene". Ielbft wenn man diefe Eindimenfionalität des Denkens

als ein Ziel der Er k e n n t n i s anerkennt. fo ift damit doch

weiter nichts gewonnen als die geometrifche projektion eines

ftereometrifchen Rörpers auf eine Ebene. Die welt bleibt aber

natürlich farbig und räumlich. auch wenn man zu beftimmten

Erkenntniszwecken von der Farbigkeit und Räumlichkeit abfehen

darf und kann. Die Möglichkeit einer R o n ft r u k ti o n mit

einer Ebene macht die w elt felb ft nicht zu einer eindimen-

fionalen; ja fie läßt nicht einmal den Ichluß zu. daß die ein-

dimenfionale projektion das wefen der welt am beften erfaßt.

Zu diefem Ichluß kann man nur gelangen. wenn man in der

mö glichften vereinfachung der welt das leßte Erkenntnisziel fieht

und zugleich das leßte Erkenntnisziel mit dem metaphgfi-

fchen Iinn der wirklichkeit gleichfeßt. von diefem metaphgfi-

fchen Rationalismus aus ift es dann freilich nur noch ein Ichritt.

diefen mit dem leßten Erkenntnisziel gleichgefeßten Iinn der

welt auch noch mit dem leßten Ziel ethifch-politifchen w o lle ns

gleichzufeßen. Auch diefen Ichritt tut Relfen. wenn er in feiner -

Ronftruktion mit der einfachen Ebene die Begründung eines

„Reoliberalismus" zu geben glaubt. In diefem Iinne hat dann

auch waldecker den Begriff der Ronftruktion mit der einen

Ebene rezipiert und kämpft nun mit diefer „Ronftruktion" gegen

Obrigkeitsftaat und konfervative Itaatsauffaffung: als ob man.

wenn es fich bei diefer Ronftruktion um eine m e t h o d i f ch

* n ot w en d i g e Ronftruktion des Rechts handelt. nicht je d e s

Rechtsfgftem nach derfelben Methode konftruieren könnte und

müßte.

Gewiß: der Gegenfaß von öffentlichem Recht und privat-

recht und der von Itaatsrecht und völkerrecht. - alfo die Mehr-

-Wq ei., j -- -. -. 7.::* Ö-L-:I-*WM- :..k..*:;:

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heit der Ebenen. um dies Bild zu rezipieren. - ift kein apriori-

fcher. kein durch das reine Denken zu erzeugender. wie ja über-

haupt die Buntheit und Mannigfaltigkeit der welt nicht durch

ein ftofflofes Denken erzeugt werden kann. Darin ftimme ich mit

Relfen gegen alle die überein. welche jene Gegenfäße apriorifch

aus dem Denken über das wefen des Rechts begründen wollen.

von der Bedingtheit unferes heutigen völkerrechts war bereits

die Rede. Denfelben Rachweis habe ich auch für den Gegen-

faß von öffentlichem und privatrecht zu erbringen verfucht.

indem ich auf die hiftorifch-politifcljen Bedingungen feiner Ent-

ftehung. auf den in den einzelnen Itaaten verfchiedenen Zeit-

punkt diefer Entftehung und auf die grundfäßlichen verfchieden-

heiten hinwies. die diefen Gegenfaß namentlich in Deutfchland

und Frankreich charakterifieren 1. wenn diefer Gegenfaß daher

denn auch kein apriorifcher ift. fo ift er darum doch nicht nicht-

vorhanden. Daß er ein hiftorifch-politifch bedingter ift. macht ihn

natürlich nicht zu einem für das pofitive Recht bedeutungslofen.

Im Gegenteil: folange er in den hiftorifch-politifchen voraus-

feßungen begründet ift und hier eine Funktion zu erfüllen hat.

muß er in diefen feinen Bedingtheiten erforfcht werden. Ia.

nur wenn man diefe hiftorifch-politifchen Bedingtheiten kennt.

kann man auch einfehen. wann er und inwieweit er infolge

Aenderung oder Zortfalls diefer Bedingtheiten überflüffig wird.

Rur dann kann man auch in der Einführung diefes Gegenfaßesin

das Rechts- und Itaatsleben und in der Art feiner Durchführung

den Ausdruck eines beftimmten geiftigen Gehaltes.

eines beftimmten L e b e n s g e fü h ls fehen 4 und ihn als

folchen verftehen und beurteilen. ja gegebenenfalls. wenn man

diefen geiftigen Gehalt für überlebt. das Lebensgefühl für ge-

ftorben hält. ihn überwinden. Den weg zu folchem ver-

ftändnis der Rechtsprobleme verbautman aber e b e nfo durch

die Ießung des Gegenfaßes als apriorifchen. wie durch

1 vgl. verwaltung. verwaltungsreecljt I. 701 f.

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die aus der Leugnung der Apriorität gezogene Folgerung.

der Gegenfaß fei. weil nicht bloß formal und „rein". auch

unberechtigt. Denn das infolge rationaliftifcher Iubftanz-

lofigkeit erft bei leßter Inhaltsleere zur Ruhe kommende

vereinfachungs- und Ronftruktionsbedürfnis kann niemals

die hiftorifch-politifche Berechtigung oder Richtbe-

rechtigung eines hiftorifch-politifchen Begriffs

erweifen. Gemeffen an der abfoluten eindimenfionalen Ein-

fachheit aller rationaliftifchen Ronftruktionen müffen alle

Begriffe von g e i ft i g e n G e h a lt e n als unvollkommen

und wertlos beurteilt werden. Zwifchen den beiden polen

der bloß pofitiven Itofflichkeit und der abftraktiven formalen

Allgemeinheit. die der neukantifche Rationalismus allein

kennt. ift für eine Erfaffung konkreter geiftiger Gehalte als

projektionen eines beftimmten Lebens-

g efü hls kein Raum. wenn man die Metaphgfizie-

rungen wider willen. die der neukantifche- Rationalis-

mus vornimmt. fcharf ins Auge faßt. fo bieten fie das faft

groteske Bild dar. daß die abftrakt-begriffliche Form gegen

den Itoff. an dem fie haftet. - die verknüpfungsform

gegen den zu verknüpfenden Gegenftand. - der des Inhalts

entleerte Allgemeinbegriff gegen die inhaltlichen Objekte. aus

denen er gebildet wurde. ausgefpielt wird, Ins Ethifch-

politifche übertragen. bedeutet es die Forderung. den ftofflichen

Inhalt zu revolutionieren durch die aus diefen Inhalten heraus-

geklaubten formalen Abftraktionen. die ..DingeU zu zerftören.

..radikal zu exftirpieren" durch die „Dinghaftigkeit"!! Bedarf

es eines wortes. daß folche Ungereimtheiten durchaus un-

kantifch find? Bei Rant follte die theoretifche vernunft fich

- gerade auf Grund der Erkenntniskritik - befchränken

und befcheiden; fie follte den „ plaß offen laffen" für die nou-

menale welt des Dinges an fich mit ihrer objektiven intelligi-

belen Ordnung der Dinge; gerade diefen plaß aber belegt die

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Page 95: Kaufmann Kritik Der Neukantischen Rechtsphilosophie

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neukantifche Erkenntniskritik durch ihre metaphgfifch und ethifch

hgpoftafierten erkenntnis-theoretifchen Zormbegriffe mit Befchlag .

Auch der vorkantifche Rationalismus hat fich

diefer verfehlungen des nach- und neukantifchen Rationalismus

nicht fchuldiggemacht. Unfer verftändnis für das rationaliftifche

Raturrecht hat freilich vielfach durch die nach- und neukantifchen

Einftellungen ftark gelitten. Bald hat man bei der Darftellung

der naturrechtlichen Gedankenreihen den Hauptton auf den

fpezififch-rechtlichen Gehalt der Rechts- und Itaatstheorien

gelegt: fo namentlich Gierke. der fich aber bewußt geblieben ift.

damit nur ein Element aus' deren Gedankenwelt heraus-

gearbeitet zu haben. wie er ausdrücklich hervorhebt. Bald hat

* man den Hauptton auf die Abhängigkeit der inhaltlichen Ele-

mente der naturrechtlichen Itaatstheorie von den pofitiv-

rechtlichen Anfchauungen der Zeit gelegt: fo jüngft namentlich

wolzendorf in feiner Itudie über das widerftandsrecht. er frei-

lich in dem Glauben. damit das wefentliche und Entfcheidende

herauszuarbeiten. Das p h i l o f o p h if ch wefentliche und

Entfcheidende ift freilich durch beide einfeitige Analgfen nicht

erfaßt. Es ift gewiß richtig. daß die naturrechtlichen Lehren einen

rechtlichen Gehalt haben. der auf die Ausgeftaltung der fozialen

und politifchen welt einen entfcheidenden Einfluß ausgeübt hat.

wie es auch unzweifelhaft ift. daß. troß alles Itrebens nach

zeitlofer Rationalifierung der welt. doch zeitliche Gebunden-

heiten einen bedeutfamen Faktor bei der Ausgeftaltung im ein--

zelnen darftellen. Das teilt aber der naturrechtliche Rationalis-

mus mit allen philofophifchen Itaatstheorien. was feine

Eigenart ausmacht und ihn von allen anderen philofophifchen

Itaats- und Rechtstheorien unterfcheidet. feine fpezififche Auf-

faffung vom wefen des Itaates und des Rechts. liegt in an-

derem: in dem. was wir heute als foziolo gifche Auf-

fa ffu n g zu bezeichnen pflegen 1. Das rationaliftifche Ra-

. 1 während diefe foziologifche Auffaffung bei einigen Raturrechtlern

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Page 96: Kaufmann Kritik Der Neukantischen Rechtsphilosophie

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turrecht will nicht Rechtstheorie im neukantifchen Iinne. fon-

dern I o z i a l th e o r i e fein. wie der Rationalismus ver-

fucht. die natürliche welt als aus Atomen konftruktiv aufgebaut

zu verftehen. fo will er auch die fittliche und foziale welt als

auf den fozialen Atomen. den Menfchen. konftruktiv aufgebaut

erfaffen. wie die Grundeigenfchaften der Materie. die Gefeße

der Anziehung und Abftoßung. die natürliche welt konftituieren.

fo follen auch die fozialen Gebilde aus den einfachen Grund-

eigenfchaften der menfchlicljen Ratur (ob diefe nun als Ielbft-

erhaltungstrieb. als Iozialtrieb oder fonftwie gefaßt wer-

den) hergeleitet werdenL: diefe Grundeigenfchaften find

die foziologifchen Grundgefeße. auf denen

jene beruhen. und aus denen fie allein verftanden

werden können. Gewiß *ift die Rategorie des vertrages.

die für die Ronftruktion der fozialen Gebilde zur Grund-

lage genommen wird. eine juriftifche. aber nicht „juriftifch" im

neukantifchen Iinne. als ein Gegenfaß zum Ioziologifchen.

fondern im Gegenteil als etwas zugleich Iuriftifches und

Ioziologifches: der vertrag ift eine fozialtheoretifche Rategorie.

die juriftifchen Gefeße find zugleich foziologifche. Mit der

Lehre von dem Aufbau des Itaates auf einem vereinigungs-

und einem Unterwerfungsvertrage follte ebenfo ein fpezififcher

foziologifcher Charakter des Itaates ausgedrückt werden wie

mit der. die den Itaat allein auf dem Herrfchaftsvertrage oder

allein auf dem vereinigungsvertrage aufbaut. Das alles follen

keine „juriftifche". vom Ioziologifchen abfehende „formale"

„Ronftruktionen" imheutigen Iinne fein. fondern gerade Aus-

ganz im vordergrunde fteht. namentlich. bei H obbes. gefellen fich bei

anderen noch weitere. auch die fpezififch rechtlichen Gefichtspunkte

betonende Gedankenelemente. wie fie zuerft das ftoifche und dann das

chriftliclje Raturrecht entwickelt hatte. hinzu. Aber auch fie find ftets

auf die ..Ratur des Menfchen" (f. u. I. 91 f.. 95 f.) begründet.

1 vgl. p aul H en f e l s fchöne Itudie über Iwift in den von

E. Hoffmann herausgegebenen Rleinen Ichriften und vorträgen

I. 45 f.

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fagen über das foziologifche wefen des Itaates1: juriftifche und

foziologifche Rategorien follen keine Gegenfäße fein. fondern

umgekehrt die juriftifchen Rategorien a u s d e n f oz i o-

logifchen Grundeigenfchaften der menfch-

lich e n R atur hergeleitet werden. wenn der vertrag

dabei die Grundkategorie ift. fo beruht das auf dem rationalifti-

fchen Individualismus und der rationaliftifchen pfgchologie

der Zeit. die überall von den „einfachften Elementen" der

wirklichkeit ausgehen; und es ift zunächft weder individualiftifch

im modernen Iinne noch auch revolutionär. fondern im Iinne

einer foziologifchen „Ronftruktion" gemeint.

Die R antifch e Leiftung gegenüber diefem Raturrecht ift

nun vom Reukantianismus vielfach völlig mißverftanden wor-

den. weil er meift weder die Rantifche Iittenmetaphgfik noch

das vorkantifche Raturrecht richtig zu deuten gewußt hat: Rants

Rechtslehre falle aus feiner vernunftkritik heraus. fie fei noch

ganz im Raturrecht befangen. Beides ift unzweifelhaft falfch.

In wahrheit ift Rants Rechtslehre. wie wir fahen. durchaus

in feinem ganzen „Igftem" begründet und weder dies ohne

jene. noch jene ohne dies verftändlich. Rants vernunftkritik

hatte vielmehr mit ihrer Rritik der rationalen Rosmologie.

pfgchologie und Theologie zugleich auch die rationale Iozio-

logie. das rationale Raturrecht zerftört. Der „alles zer-

malmende Rant". als welchen ihn feine Zeitgenoffen viel-

fach mit Recht empfunden. hatte in der. Tat den ganzen

konftruktiven Rationalismus. der aus den einfachen Ele-

menten der körperlichen. pfgchifchen und übernatürlichen

welt eine rationale Rosmologie. pfgchologie. Ioziologie und

Theologie aufbauen wollte. aus den Angeln gehoben. Die

rationalen Elemente der empirifchen wirklichkeit wurden zu

Rategorien des erkennenden verftandes. die nicht-rationalen

zum Materiale der Empfindungen. und hinter beiden ftand das

1 vgl. Itudien zur Itaatslehre des monarch. Prinzips I. 30/1. 33 f.

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Ding an fich. felbft kein Gegenftand der theoretifchen Erkenntnis.

aber als noumenale Ordnung der intelligibelen Dinge der

Gegenftand der praktifchen vernunft, wie die natürliche welt

nicht mehr begriffen werden darf als.aus den rationalen Ele-

menten der Rörperwelt aufgebaut. fo auch nicht mehr die fitt-

liche und foziale welt aus den rationalen Elementen der pfgcho-

logifch-foziologifchen menfcljlicljen Ratur. Die fittliche und

foziale welt ift vielmehr in der intelligibelen Ordnung der

Dinge „gegeben". und darum dem Menfchen als Bürger beider

welten zur verwirklichung in diefer welt „aufgegeben". Die

intelligibeleOrdnung kann durch wiffenfchaftliche Erkenntnis nicht

konftruiert. nicht begriffen werden; ihr wefen befteht in der v öl-

ligen Losgelöftheit von allem Empirifchen. von

all em pfgchologifchen und Ioziologifchen. Das Band

zwifchen der pfgchologifclj-foziologifchen Iphäre und der Rechts-

fphäre. das in jeder Iozialphilofophie vom Altertum an bis

zum rationalen Raturrecht felbftverftändlichfte Grundlage war.

ift von Rant zerfchnitten worden. Itammler hat das durch--

aus zutreffend erkannt. wenn er formuliert: das Recht dürfe

nicht wie im vorkantifchen Raturrecht aus der „Ratur des

Menfchen". fondern müffe aus der „Ratur des Rechts" er-

faßt werden 1. Der Unterfchied zwifchen Rant und dem Reu-

kantianer zeigt fich aber wieder darin. daß bei jenem das Ding

an fich die Brücke fchlägt. die bei diefem fehlt. Denn bei Rant

foll die Rechtsordnung nur nicht aus der e m pir i f ch-

pfgchologifchen Ratur des Menfchen ver-

ftanden werden. dagegen ganz in der n o u m e n a l e n

R a t u r d e s M e n f ch e n. in der intelligibelen Ordnung

des Dinges an fich begründet fein k. Io hat zwar Rant - und

1 vgl. gegen Itammler 61311811111 I. 209.

* L Rants Ablehnung der empirifchen Ioziologie beruht auf feiner

rigoriftifchen Ieelenlehre. nach der das empirifche Gefühls- und willens-

leben - ,weil ftets hedonifch und „pathologifckj affiziert" - jeder

kategorialen „Gefeßliclykeit" entbehrt und darum auch nicht erkannt

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das ift für die deutfche Geiftesgefchichte und das deutfche Denken

über die probleme der fozialen welt von entfcheidendfter

Bedeutung geworden - das Recht ohne jede Beziehung

zu den foziologifchen und pfgcljologifchen Rräften der Men-

fchen gelaffen; aber er hat wenigftens in feiner Gefchichts-

philofophie den foziologifchen Rräften wieder einen plaß

vergönnt. Die foziologifchen Mächte der Rot und der

Rriege forgen dafür. daß die Menfchen wenigftens heteronom

dazu gezwungen werden. die intelligibele Ordnung allmählich

und in fteter Annäherung in das Reich der Ratur einzubilden.

Aber die Auswirkung diefer foziologifchen Rräfte kann nach

Rant nicht Gegenftand einer wiffenfchaftlichen Erkenntnis fein.

da fie fich in dem 0l'(1l.6 1111111161 des jenfeits der erkennbaren

wirklichkeit ftehenden Dinges an fich vollzieht. Io hat Rant

nicht nur die rationale Ioziologie des Raturrechts

zerftört. fondern auch jede empirifche Ioziolo gie

überhaupt als eine Lehre von den Beziehungen zwifchen

den empirifchen fozialen Mächten. zwifchen Recht und Iitte.

Recht und wirtfchaft. von den foziologifchen vorausfeßungen

und Bedingtheiten empirifcher rechtlicher Ordnungen ge-

leugnet. Es ift nur eine Zortfchrittsmetaphgfik übriggeblie-

ben. in der fich einige metaphgfifch-foziologifche Hgpothefen

befinden: diefe find aber nur als heuriftifche prinzipien für

eine den Zortfchritt in der Menfchheitsgefchichte darlegende

pragmatifche Gefchichtswiffenfchaft verwendbar. müffen fich

aber jeder empirifchen. und fei es auch nur befchreibenden.

Betrachtung entziehen.

In Rant liegt demnach der erfte große Bruch

zwifchen demdeutfchen Denkenüber die pro-

bleme des fozialen Lebens und dem wef-

e u r o p as und Amerikas. Denn das wefteuropäifche Den-

werden kann. Die „Gefeßlicljkeit" des willens ift nur eine noume-

nale. ethifche; und diefe ift kein Gegenftand der theoretifchen. fondern

nur der praktifcher! vernunft.

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ken hat die Fäden mit der rationalen Ioziologie des Ratur-

rechts niemals zerfchnitten. Das. was man dort feit

Tomte Ioziologie nennt. ift nichts als eine Fortfeßung des

naturrechtlichen Denkens: ein gedanklicher Aufbau der fozialen

Gebilde auf der pfgchologifchen Ratur der Menfchen. gewiß

bereichert durch mancherlei Gedanken. die erft das 19. Iahr-

hundert in den vordergrund gerückt hat. und neueftens auch

durch allerlei Methoden. die dem rein konftruktiven Denken

des 18. Iahrhunderts noch fern lagen. Aber der Z u-

fammenhang zwifchen der „Ratur des Men-

fchen" und der „Ratur des Rechts" hat ftets

im vordergrunde des Intereffes geftanden. Die nach- und

neukantifche Zerreißung des Bandes zwifchen juriftifcher

und foziologifcher Betrachtung. die Loslöfung der abftrakten

juriftifchen Formwelt von dem foziologifchen Iubftrat ift

dem außerdeutfchen Denken fremd. Es führt eine ununter-

brochene Linie und Tradition von Hobbes zurück zur empirifchen

Ioziologie des mittelalterlichen Raturrechts und vorwärts

zu Mill und Ipencer. Der deutfche Geift hat dagegen in Rant

einen revolutionären Traditionsbruch mit dem einheitlichen

Geifte der übrigen Rulturnationen vollzogen. der zu den Groß-

taten der menfclxlicljen Geiftesgefchichte gehört; aber er hatihn er-

kauft mit einer geiftesgefchiclytlichen Ifolierung. Und

er hat weder die Rraft gehabt. aus diefer Ifolierung den Itolz

und das Ielbftbewußtfein zu fchöpfen. zu denen fie berechtigte.

noch dies Erbe fo fortzubilden. wie es nötig gewefen wäre.

um ihn zu einem dauernden geiftigen Befiß zu machen: einer-

feits den wahrheitsgehalt. der in der Loslöfung des Rechtlichen

vom Ioziologifchen liegt. feftzuhalten. ohne einer Herabdrückung

des Ioziologifchen zum bloß ftofflichen Iubftrat zu verfallen.

und anderfeits die in Rants Teleologie-Lehre und Gefchichts-

philofophie enthaltenen Anfäße zu einer Ioziologie des gei-

ftigen Lebens um- und weiterzubilden. Im Reukantianismus

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ift die intelligib ele Ordnung des Rechtlichen zum ab ftrakt-

Allgemeinen oder gar zum rechts-technifchen F01-

malismus entartet und das metarechtlich-Ioziologifche zum

wertfreien Iubfumtions-Material degradiert. Unfer Denken

über die gefegllfchaftlichen phänomene hat etwas Itarres.

Itatifches. Doktrinäres und Formal-Iuriftifches

bekommen und zu einer Unterfchäßung der foziologi-

fchen Rräfte. wie zu einer Ueberfchäßung der Rechts-

formen geführt. die inner- und äußerpolitifch gleich verhäng-

nisvoll find.

Den von Rant inaugurierten Bruch vollendete die Roman-

tik und die hiftorifche Ichule. Mit Rant richtet fie fich

gegen den konftruktiven Rationalismus des Raturrechts. aber

nicht. wie er. wegen der eudämoniftifchen und empiriftifchen

Grundlage. auf der er ruhte. fondern vor allem. “ weil er durch

die vereinfachende rationale pfgchologie. die aus *beftimmten

*einfachften Ieeleneigenfchaften die foziale welt verftehen und

„rechtfertigen" wollte. die unendliche Rompliziertheit der

fozialpfgchologifchen prozeffe verkannt fah und die damit

gegebene Mechanifierung und Technifierung des geiftigen

und .fozialen Lebens bekämpfen wollte. Aber g e g e n

Rant fuchte fie die verbindung zwifchen dem Recht und

dem foziologifchen Iubftrat neu und vertieft zu knüpfen. die

diefer zerriffen hatte. Hierin fteht fie mit d em Ratur-

r e cht gegen Rant. lehnt nur die naturrechtliche einfache

pfgchologie und rationale Ronftruktion ab und eröffnet damit

einen weg zum verftändnis deffen. was fowohl bei Rant wie

beim Raturrecht unter den Tifch fallen mußte: der kon-

kreten Geiftigkeit der einzelnen gefchicht-

li ch e n p h ä n o m e n e. Denn deren Dignität war bei

beiden vernichtet: im Raturrecht durch die Rechtfertigung

alles Gefchichtlichen durch die bloß rationale Ronftruktion aus

der fich -ewig gleichbleibenden Menfchennatur. bei Rant

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durch die Betrachtung alles Gefchichtlichen als bloßer Itufe im

Fortfchritt der Menfchheit. alfo als bloßen Mittels zu einem

höheren Ziel. Die metaphgfifche Eigenwürde jeder

konkreten Geiftigkeit war fo vernichtet; die hiftorifche Ichule

erobert fie. indem fie alle perioden gleich nahe zu Gott ftellt.

Aber auch diefer Großtat des deutfchen Geiftes. mit der

er fich von einer zweiten Ieite aus der

wefteuropäifchen Geiftesgefchichte loslöfte.

fehlte die große weltgefchichtliclje Auswirkung. Denn der

Rantianismus ftand ihr ebenfo feindlich gegenüber wie

der wefteuropäifche Rationalismus; nur die politifche Reak-

tion verftand ihren metaphgfifchen Gehalt politifch aus-

zumünzen. während der deutfche Liberalismus. was an fich

durchaus möglich gewefen wäre. aus ihm nicht zu fchöpfen

verftand. vielmehr im nachkantifchen und wefteuropäifchen

Rationalismus verankert blieb. Die hiftorifche Ichule verftand

es weder. von einer zeitlich geordneten Dar-

ftellung der gefchicljtlichen und foziologifchen probleme

zu einer fachlichen Erforfchung der gefell-

fchaftlichen phänomene als folcher. noch zu

einer neuen Gefchichts- und Iozialphilofophie vorzudringen 1.

wie der Bruch mit dem 18. Iahrhundert. den Rant vollzogen

hatte.* eine eigene deutfche konftruktive. Ioziologie nicht hatte

aufkommen laffen. fo verhinderte das Iteckenbleiben der

hiftorifchen Ichule in der zeitlich geordneten Darftellung und

ihr verfagen in Bezug auf eine große Gefchichts- und Iitten-

metaphgfik das Entftehen einer nicht-rationalen*foziologifchen

Erforfchung der Beziehungen und Bedingtheiten der gefell-

fchaftlichen phänomene. Es ift v. Below gewiß darin rechtzu-

1 Die Rechts- und Itaatsphilofophie von Itahl. die ich in

meinen Itudien zur Itaatslehre des monarcljifchen prinzips zu

analgfieren verfucht habe. ift der wertvollfte philofophifche Ertrag diefer

Richtung: fie enthält Anfäße. aber eben nur Anfäße. zu einer Gefchichts-

und Iozialphilofophie.

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geben. daß fich eine Fülle von foziologifchen Erkenntniffen in

unferen großen gefchichtswiffenfchaftlichen Forfchungen zer-

ftreut findet. Aber es fehlte eben doch an der Ignthefe diefer

Ergebniffe: ein übertriebener Ikeptizismus in bezug auf --

wenn auch vorläufige und korrekturbedürftige - verall-

gemeinerungen hielt die fozialwiffenfchaftliche Forfchung in

den Banden einer nur die individuellen Bedingtheiten und

verknüpfungen berückfichtigenden. generalifierungsfcheuen

Methodik. die einem philologismus und Hiftorismus. den

Zwillingsbrüdern eines nicht metaphgfifch verankerten pofi-

tivismus. den weg bereiten mußte. Empiriftifcher Hiftoris-

mus und formaler neukantifcher Rationalismus1 gehören

fo. auch von diefer Ieite aus gefehen. geiftesgefchichtlich

zufammen. -Und wie der metaphgfikfreie for-

male Rationalismus der Reukantianer in feiner

Iubftanzlofigkeit nur bei den leßten und inhaltleerften Abftrak-

tionen haltmachen konnte. fo mußte der metaphgfikfreie

Hiftorismus in feiner Iubftanzlofigkeit dazu führten. mit

einer hiftorifchen pfg cholo gie zu arbeiten. die

an Trivialität. ja teilweife an materialiftifcher Brutalität

kaum zu überbieten ift. fofern nicht der intuitive Tiefblick

eines Genies feinere foziologifche Zufammenhänge inftinkt-

haft herauszulefen verftand, windelband charakterifiert die

pfgcljologie. mit der die pragmatifche Gefchichtswiffenfchaft

arbeitet. gewiß nicht fehlerhaft. wenn er fie - bezeichnender-

weife übrigens nicht tadelnd. fondern als im wefen der Iache

begründet - als die pfgchologie „des täglichen Lebens".

als die der „Menfchenkenntnis und Lebenserfahrung des ge-

meinen Mannes" charakterifiert. Und je mehr bei dem Ab-

fterben der Metaphgfik als einzige die des ökonomifchen Mate-

rialismus von Marx übrig blieb. um fo mehr mußte die hifto-

1 vgl. Auswärtige Gewalt und Rolonialgewalt in den ver-

einigten Itaaten I. 11c.- 61311811111 I, 711.

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rifche pfgchologie in den Bann diefer brutalen und ungeiftigen

rationaliftifchen konftruktiven Gefchichtsmetaphgfik. dem leßten

Ausläufer des konftruktiven foziologifchen Raturrechts. ge-

zogen werden. Die foziologifchen und hiftorifchen vorgänge

erfchienen in ihrem eigentlichen wefen erft wirklich erkannt.

wenn fie auf den Generalnenner diefer „rationalen pfgcho-

logie". irgendein wirtfchaftliches Macht-

inter effe. gebracht waren. wie der metaphgfikfreie

Rationalismus in *pofitiviftifchem Empirismus verfanden muß.

fo muß der metaphgfikfreie Hiftorismus in einem pfgcholo-

gifchen Rationalismus ausmünden: beides die notwendigen

Begleiterfcheinungen eines materialiftifcljen Zeitalters. Der

Marxismus bietet die leßten Formeln für eine folche Epoche.

er muß darum ihre ftärkfte Rraft fein; zumal wenn man

dazu bedenkt. daß der Marxismus fich nicht damit begnügt.

die traurige verftricktheit der Menfchheit in den Banden

der ftets mit Ausbeutungen verknüpften. harten ökonomifchen

Gefeßlichkeiten zu fchildern. fondern leßtlich diktiert ift von der

Iehnfucht. diefe Bande abzuftreifen. und darum eine Lehre

von der Erlöfung des Menfchengefchlechts darftellt. Es mag

ideengefcljickjtlicl) halb richtig fein. daß Rant bereits den Marxis-

mus durch feine Zerftörung der „rationalen pfgchologie" „über-

wunden" hatte. daß Marx im Grunde „vorkantianer" ift, Aber

Rant hatte die foziologifchen probleme aus feinem *Igftem

und aus der Iphäre wiffenfchaftlicher Erforfchbarkeit verbannt;

- fie find jedoch nicht zu bannen. weil fie ewige probleme

find. Der Reukantianismusfidie „fragwürdige Geftalt". in der

der „Geift" Rants unter uns umgeht. konnte ihre Fragen erft

recht nicht zum Ichweigen bringen. vor allem aber in unferem

Geiftesleben nicht die Gegengifte bilden. die nötig gewefen.

wären. um das gefährliche materialiftifche und utopifche Gift des

Marxismus zu paralgfieren. Daß das Eigentum Diebftahl fei und

der Itaat ein kapitaliftifcher Ausbeutungsmechanismus. das find

Erich Aaufmanrukiritik. 7

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Lehren. an die man glauben kann. die anfchaubar. die erlebbar 1

find. Aber daß der Itaat eine verfahrensgrundreihe. ein

Zurechnungspunkt fei und das Eigentum eine leßte Entfcheidung.

das ift fchlecljthin unerlebbar und darum als weltanfchauung

oder als Grundlage einer weltanfchauung des „Iinnes" ent-

behrend. .

Die neukantifche philofophie war ausgegangen von dem

weltanfchauungsmäßigen Beftreben. ein Reich abfoluter werte

über der wirklichkeit als deren Halt und Maßftab ficherzuftellen,

Dies Ziel ift verfehlt worden. weil er in einem erkenntnis-

theoretifch-formalen Rationalismus ftecken blieb. und ftecken

bleiben mußte. da er - legtlich doch felbft aus dem Geifte der

Zeit geboren - dem empirifchen pofitivismus keine pofitive

M e t a p h g fik entgegenzuftellen wagte. Iein erkenntnistheoreti-

fcher Rationalismus fteht an weltanfchauungsmäßigem Gehalt

weit hinter dem Rationalismus der vorkantifchen Zeit und dem

Rants zurück. Denn es fehlt ihm deren Ieele: der berge-

verfegende Glaube an die Rationalität der empirifchen wirk-

lichkeit. an die unendliche perfektibilität des Menfchen und

den ewigen Zortfchritt in der Gefchichte. wo er Anklänge an

diefe leßten Hoffnungen hat. wurzeln fie nicht in feinen eigenen

Grundlagen. fondern find im widerfpruche zu ihnen erfchlichen.

aus früheren Metaphgfiken entlehnt und darum philofophifch

unglaubhaft, Und doch beruht natürlich auch fein Gedanken-

gebäude auf einer beftimmten Metaphgfik. da Metaphgfik

„etwas Unvermeidliches ift": „fie ift kein Luxus. den man auch

nicht treiben könnte" 1, Daß fein p hilo fo ph if ch es Er-

kenntnisbedürfnis in erkenntnistheore-

tifchen Abftraktionen zur Ruhe kommen.

1 Max webers wegwerfender Ausruf: „wer .Ichau* wünfckft.

gehe ins Lichtfpiel" - braucht nicht zu fchrecken.

1 vgl. meine Itudien zur Itaatslehre des monarchifchen Prinzips

I. 6.

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in ihnen B e f r i e d i g u n g finden kann. beruht auf einem

beftimmten Lebensgefühl. beftimmten leßte n

geiftigen Einftellungen. Und diefe charakterifie-

ren fich als eine Flucht aus der bedrückenden und erdrückenden

unendlichen Mannigfaltigkeit der wirklichkeit. der gegenüber

als leßte Zufluchtsftätte bloß noch abftrakte. bloß noch for-

male und eindimenfionale Begriffsbildungen. die alles Itoff-

liche und Anfchauliche ausgefchieden haben. Ruhe gewähren

können. Ermattet und geängftigt von der Fülle der „Im-

preffionen". findet er für fein inneres Befreiungsbedürfnis

nur noch die geometrifche Formenfprache:

aber nicht fo fehr als Ausdrucksform für ein pofitives Lebens-

gefühl. fondern als bloße Re g a ti o n d e r L e b ens-

fülle. Bei den Marburgern ift noch ein größeres Erbteil

aus der vorkantifchen rationaliftifchen Metaphgfik. mehr pofi-

tiver Glaube an die Rationalität und Rationalifierbarkeit der

-welt. und darum auch mehr Gefühl für die pofitiven

werte der eindimenfionalen Formenfprache lebendig. Aber

bei beiden Richtungen beweift bereits die w ahl d i e f er

Formenfpra che. als eines Ausdrucks für ihr

Lebensgefühl und Befreiungsbedürfnis.. eine

charakteriftifche Blindheit für die konkreten geiftigen werte.

die die wirklichkeit erfüllen 1. Und diefe Blindheit konnte fich

ebenfo mit einer R e f p e k t 1 o figk e it vor diefen werten

verbinden wie mit einem müden. kraft- und fubftanzlofen

1 Bei dem philofophifch vielfach nach der Richtung des füdweft-

deutfchen Denkens orientienten Max web er ift die - durchaus be-

wußte -- wahl der rationalen Formenfprache der Ausdruck eines

höchft pofitiven und ftarken Lebensgefühls: verzicht auf jede theo-

retifch e weltanfchauung. harte Ielbfizuchtund „innerweltliclje Askefe".

ftählerne „verantwortlichkeitsethikt* und bei alledem doch eine legte

unbefriedigte Iehnfucht nach dem Ueber-Rationalen. das aber jenfeits

alles theoretifchen verhaltens zu laffen pflichtgebot ift. wer Gefühl

für die Formenfprache hat. dem können die hier nur angedeuteten

entfcheidenden Unterfchiede nicht entgehen.

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Relativismus. zwei geiftigen Einftellungen. die die Zeit als

Maffenerfcheinungen hervortrieb. Beiden leiftet der Reu-

kantianismus vorfchub. Denn die abftrakteften. jedes konkreten

Inhaltes entleerten Allgemeinbegriffe find bei ihm die Iurro-

gate von weltanfchauungsmäßigen werten geworden. der ab-

ftrakte kategoriale Zormgehalt der wirklichkeit vikariiert für

ethifche Rormen. die abfoluten werte find zu formalen inhalt-

lofen Gültigkeiten degradiert. die Realitäten des geiftigen Lebens

find ausgehöhlt. und ihr wertgehalt ift ftatt in konkrete lebendige

Geiftigkeit in leere*Formen und begriffliche Abftraktionen ver-

legt. wo von Iinn und Gültigkeiten gefprochen wird. find es

unter den analgtifcljen Gefichtspunkten der Erkenntniskritik ge-

wonnene lo gifch e Abftraktionen. keine fchaubaren und

e r l e b b a r e n werte. Abftrakte. unfinnliche. inhaltsleere.

rationale „Reinheit" ift zu metaphgfifcher und überfinnlicher

Reinheit umgedeutet. Aushöhlung und Entleerung alles

Lebendigen ift das leßte wort. Erkenntnistheorie ohne

wahrheitsbegriff. pfgchologie *ohne Ieele. Rechtswiffenfchaft

ohne Rechtsidee. formale Gefinnungsethik ohne Iittlichkeits-

begriff. Geifteswiffenfchaften ohne Gefühl für konkrete Geiftig-

keiten find die Rinder der Zeit. nirgends ein fefter Halt

in den uferlofen Meeren der leeren Formen und der vom

Denken nun einmal nicht auflösbaren empirifchen Tatfäch-

lichkeiten. Io wurde der Reukantianismus. ohne es felbft

zu ahnen. das Gegenteil deffen. was er wollte: der unmit-

telbare wegebereiter jener an fich felbft verzweifelnden

Ipengler-Itimmung. der jüngften Erkrankung unferer. einer

Metaphgfik des Geiftes beraubten volksfeele.

Aber etwas. wie das Ding an fich. ein abfolutes Irratio-

nales. von dem analgtifchen Denken nie zu Durchdringendes.

von ihm nie Aufzulöfendes fehen wir immer ftärker gegen den

neukantifchen Rationalismus und feine erkenntnistheoretifchen

und rechtsphilofophifchen Aeußerungen reagieren. In der

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philofophie lehnt fich immer vernehmbarer etwas Richtratio-

nalifierbares. das zurückgedrängte. aber nicht zurückdräng-

bare „Leben" - oft in chaotifchen Formen: ein Bios ohne

Logos - gegen die rationaliftifche Hgbris der Erkenntnis-

theorie auf. In der Rechtsphilofophie erhebt das „foziale

Leben" wieder immer lauter feine Itimme gegen den er-

drückenden Formalismus der Rechtswiffenfchaft und der Rechts-

philofophie und fordert - auch oft in den wilden und unge-

zügelten Formen eines freirechtlichen Rihilismuz - feine

Rechte. Ein ungebändigter vitalismus und eine völlige Auf-

löfung des Rechtes in Ioziologie find die großen Gefahren.

die dem deutfchen Geifte aus diefen Reaktionen erwachfen.

Denn wir b e d ürfen . um leben zu können. der Formen;

und wir müffen die von uns gefchaffenen Formen immer wieder

zerftören. wenn wir lebendig bleiben wollen. Das ift unfer

Ichickfal. Aber nur die lebendige Form ermöglicht das Leben;

und nur fie teilt das Ichickfal des Lebens. fterben zu können,

Die abftrakte. nur durch rationales Denken gewonnene Form

aber ift hart und ftarr: in ihr ift ein Leben nicht möglich; und

fie kann nicht fterben. weil fie tot ift.

Der deutfche Geift befindet fich in einer Rrife. wie er

fie vielleicht noch nie in feiner tragifchen Gefchichte durchlebt

hat. wird er die Rraft haben. den Rationalismus aus feinem

Dafein auszuftoßen? wird ihm die innere Zucht befchieden fein.

einen ungebändigten Lebensdurft zu zügeln? wird er es

- verftehen. feine Ieele wieder*einen Ankergrund finden zu laffen

im Ewigen? *

Auf dem heute lebenden Gefchlecht. vor allem auf der

heranwachfenden Generation. ruht eine verantwortung. wie

fie vielleicht noch auf keinem Gefchlecht gelaftet hat: fie wird

unferen Glauben an die unerfchöpfliche metaphgfifclje und

mgftifche Tiefe des deutfchen Geiftes nicht zufchanden werden

laffen.

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Page 109: Kaufmann Kritik Der Neukantischen Rechtsphilosophie

-102- -

Uamensverzeichnis.

v. Below 95.

Binder 3. 11. 48. 55. 59. 68. 69. 70. 76. 82. 83.

Cohen 53. .

Comte 93.

v. Gierke 52. 84, 88.

Haenel 52.

Hatfchek 54.

Hegel 1. 2. 36. 50. 61.

Heller 67.

Henfel 35. 891.

Hobbes 89. 93.

v. Ihering 50.

Iellinek. G. 48. 50. 51. 55.

Iellinek. w. 52.

Rant 2. 5. 6. 7. 8, 11. 14. 18. 19. 20. 24. 26. 36. 37. 42 1. 50. 53/4.

54. 56-61. 62. 82. 87. 9()-92. 93. 94. 95. 97.

Relfen 20-35, 35. 49. 51. 52. 53. 63. 64. 711. 79/80. 80. 81. 82. 83,

84. 85. 86.

Laband 50. 52:53. 76/7. 78.

Lask 3. 19. 35. 491. 51, 55.

Marx 2, 3. 76, 96. 97.

Radbruch 3. 48. 65. 711.

Rickert 9. 10. 16. 35, 36. 38. 39. 45/6. 49. 63. 80. 83, 85,

Rümelin 8,

Iander 21. 25. 26. 29. 33. 34. 80. 83. 84,

Ichmitt-Dorotii 48/9.

Itahl 1. 2. 50. 951.

Itammler 3. 8. 11-20. 21. 35. 44. 47. 49. 55. 56. 91.

waldecker 85.

weber. Max 981. 991.

windelband 35. 39. 40-43. 47. 55. 83. 96,

wolzendorf 84. 88.

Zitelmann 50.

Genera

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01

3-1

1-0

9 0

1:1

3 G

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