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Joana Brouwer · Die Teufelsfrucht

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Joana Brouwer · Die Teufelsfrucht

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ISBN 3-89969-046-X

Copyright © 2006 by PRINCIPAL Verlag, Münster/Westf.Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im In-ternet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

2. Auflage 2008

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Joana Brouwer

Die Teufelsfrucht

PRINCIPAL VERLAG

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Die Autorin:

JOANA BROUWER, Jahrgang 1951, wurde in der Graf-schaft Bentheim geboren. Sie war einige Jahre imSchuldienst tätig und arbeitete danach in demArchitekturbüro ihres Mannes.Sie ist die Mutter dreier erwachsener Kinder, hat dreiEnkelkinder und lebt mit ihrem Mann in Nordhorn.

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Jeder Mannist der Sohn einer Frau

Für Katharina, Mirjam und Dominik

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Fragen, die sich während der Recherche zu diesemRoman aus dem Fachbereich der Medizin stellten,wurden von Dr. med. Ingo Barth beantwortet. Ichdanke dir, Ingo.

Mein Dank gilt ebenso dem Polizeibeamten EugenSwoboda, der mir einen Einblick in den Kriminal-und Ermittlungsdienst gewährte.

Last, but not least ein herzliches Dankeschön anmeine einfühlsame Lektorin Eddy Langer.

Handlung und Personen dieses Romans sind frei erfunden.Ähnlichkeiten mit lebenden oder schon verstorbenen Perso-nen wären rein zufällig.

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PROLOG

Montag, den 21. März 2005ENSCHEDE IN DEN NIEDERLANDEN

Nur aus Gutmütigkeit fuhr Mariekje Smitderks an je-dem Wochentag um sechs Uhr in der Frühe den Um-weg durch die menschenleeren Straßen des neuenWohngebietes, das auf einem Teil der abgetragenenTrümmerlandschaft im Enscheder Stadtteil Roombeekbereits fertiggestellt worden war.

Jedes Mal, wenn sie vor dem modernen Wohnhausanhielt, um ihre Arbeitskollegin Carla abzuholen, hattesie das Inferno vor Augen, das sich an einem schönenMainachmittag im Jahr 2000 ereignete. Hundert TonnenSprengstoff waren in einer Feuerwerksfabrik explo-diert. Etliche Tote waren zu beklagen und viele Men-schen standen plötzlich ohne ihr Heim da.

Von hier bis zu ihrer Arbeitsstelle, in einem großenGartencenter an der deutsch-holländischen Grenze beiNordhorn, benötigte Mariekje in der Regel eine halbeStunde. Der gleichförmige dauerhafte Graupelschnee,der seit einigen Stunden vom Himmel niedersank, pro-phezeite, dass sie heute mit der üblichen Fahrzeit nichtauskommen würde. Carla war nie pünktlich. Deswe-gen wollte sie sie endlich einmal vor vollendete Tatsa-chen stellen. Nach genau fünf Minuten Wartezeit legtesie achselzuckend den ersten Gang ein, ließ den Wa-gen anrollen, trat aber nach wenigen zurückgelegtenMetern energisch auf die Bremse. Carla war noch sehrjung, man musste Geduld mit ihr haben.

Mariekje zog sich fluchend ihre Kapuze über den

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Kopf, schaltete die Scheinwerfer aus, stieg aus und stapf-te in der Dunkelheit über einen schmalen, gepflastertenWeg durch den Schneematsch, vorbei an blätterlosemGestrüpp, bis zu dem Haus, in dem ihre Arbeitskolleginein kleines Appartement bewohnte.

Auch mehrmaliges Klingeln an der Haustür konntesie nicht aufwecken. Möglicherweise war die Türglockedefekt und da Mariekje sich jetzt ohnehin nasse Füßegeholt hatte, stieg sie kurz entschlossen die Treppe hoch,um laut an Carlas Wohnungstür zu klopfen.

Als sie mit der Faust an die weiße Kunststofftürpolterte, sprang diese auf und mit Verwunderung be-merkte Mariekje, dass Carla ihre Wohnungstür nichtgeschlossen hatte. Dieser Umstand verblüffte sie zwar,jedoch machte sie sich deswegen keine Sorgen. Carlawar mit allem etwas oberflächlich, häufig sogar schlam-pig.

Mariekje trat, ohne eine Sekunde zu zögern, laut»Carla« brüllend in die hell beleuchtete, enge Diele,öffnete, noch immer laut rufend, eine Tür, blickte inein unaufgeräumtes Bad, schrie noch einmal »Carla«und stieß die nächste Tür auf.

Sie begriff zuerst nicht, was sich ihr in dem gut aus-geleuchteten Zimmer darbot und blieb, wie zur Salz-säule erstarrt, im Türrahmen stehen, schaute genau undprägte sich das, was sie erblickte, so präzise mit allenDetails ein, dass sie es nie wieder vergessen sollte.

Carla hing nackend, in halb sitzender Position, denUnterkörper seitlich verdreht, die rechte Pobacke gutsichtbar, mit gespreizten Beinen vor ihrem großen,weiß lackierten Kleiderschrank. Ihr rechtes Handgelenkwar mit einem Gurt an dem metallenen Türgriff desSchrankes festgezurrt, der den Körper in die fast sitzen-

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de, unnatürliche, befremdend wirkende Pose zog.Ich kenne solche Riemen, an denen Carlas Handge-

lenk gefesselt ist, schoss es Mariekje durch den Kopf.Ihr Vater war Jäger und nutzte die kurzen, relativ

breiten Lederbänder mit dem praktischen Schnappver-schluss, um das Wild an den Hinterläufen aufzuhängen,bevor er ihnen das Fell abzog und sie ausweidete.

Mariekje ließ ihren Blick langsam weiter über Carlasschräg gestreckten, rechten Arm und über die nackteSchulter bis zu dem linksseitig geneigten Kopf schwei-fen und hielt inne, als sie das schmale, weiße Tuch be-merkte, das die Augen verdeckte. Eine Strähne ihresglatten, schulterlangen, blonden Haares hing überihrem Mund und zwischen den weit aufgerissenenLippen steckte ein Knäuel weinroter Spitze.

Carlas linker Unterarm berührte den blauen Tep-pichboden, die Innenfläche ihrer Hand zeigte nach obenund neben der Hand lag, wie ein absichtlich dekoriertesAccessoire, ein weinroter BH mit schwarzer Spitze.

Mariekje starrte noch eine längere Zeit mit weit auf-gerissenen Augen auf die Würgemale an Carlas Hals,auf die Bisswunden an ihren Brüsten und auf die Strie-men an den Oberschenkeln und der Pobacke, ehe siebegriff und aus Leibeskräften zu schreien begann.

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1.

Donnerstag, den 21. Juli 2005BERLIN, CHARLOTTENBURG

Die Atmosphäre war gediegen, der Service ausgezeich-net und Verena Tampens Kunde bisher ungewöhnlichspendabel. Er hatte das nobelste Restaurant der Stadtgewählt und vor dem Essen an der Bar eine FlascheChampagner bestellt. Verena entschloss sich, sein Ange-bot anzunehmen. Der Mann wirkte auffallend gepflegt,war konservativ und teuer gekleidet, hatte korrektgeschnittenes, an den Schläfen ergrautes Haar undschlanke Hände. Er war schon älter und sicher nichtverwöhnt, deswegen konnte sie davon ausgehen, dasssie ein anspruchsloser, genügsamer Akt erwartete undsomit fix verdientes Geld.

Seitdem ihre Freundin Hella und sie nicht längerfür den Begleitservice arbeiteten, sondern nur in ihreigenes Portemonnaie wirtschafteten, konnten sie dieAnzahl ihrer Freier deutlich reduzieren und sich einenfesten Kundenstamm zulegen. Hella musste diesen Mannaus irgendwelchen Gründen, die Verena vergessen hat-te, abgelehnt haben, doch sie würde sich heute Abendein einträgliches Geschäft nicht entgehen lassen.

»Sie studieren also Medizin, Verena. Gefällt Ihnendas Studium? Sind Sie erfolgreich?«, erkundigte er sichmit gespieltem Interesse, nachdem er den letzten Bissenseines Steaks verspeist und mit einem Schluck Rotweinnachgespült hatte.

Er legte sein Besteck sorgfältig nebeneinander aufden Teller, sah Verena lächelnd an und tupfte sich mit

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seiner Serviette den Mund ab, bevor er sie korrekt ge-faltet neben den Teller legte.

»Das Studium gefällt mir und bisher bin ich sehrgut klargekommen.«

»Sie erinnern mich an meine Gattin. Sie sind wesent-lich jünger, aber Ihr herrliches langes, blondes Haarund auch die Figur... Wie alt sind Sie, Verena, wennich das fragen darf?«

Es war immer das Gleiche, wenn ›sie‹ nicht überihren Beruf referierten, palaverten ›sie‹ von einer Ehe-frau, die nicht mehr so wollte, wie sie es wünschten,oder von ihren Kindern, die nicht so parierten, wie siees sich vorstellten. Ihn konnte sie also in der Kategorie:›Ich schwätze über meine Gemahlin‹ ablegen. Sie würdeihn etwas heiß machen, dann klappte es gleich besserund dauerte insgesamt nicht länger als eine halbe Stun-de. Es war fast Mitternacht und die Vorlesung morgenum zehn Uhr durfte sie auf gar keinen Fall versäumen.

»Ich bin zweiundzwanzig«, bekannte Verena offen.Sie lächelte ihn an, knöpfte ihr Strickbolero auf, zog

es aus und deponierte es auf ihrem Schoß.»Ah, ja, das ist noch jung«, stellte er fest, den Blick

auf den Ausschnitt ihres Tops geheftet. »Sehr jung. FallsSie kein Dessert möchten, Verena, werde ich jetzt be-zahlen.«

»Ich möchte keinen Nachtisch.«Die Art und Weise, in der er den Ober an den Tisch

winkte und herrisch nach der Rechnung verlangte, be-hagte ihr genauso wenig wie sein wässriger Blick, dener in ihr Dekolleté warf. Doch das bildete sie sichsicherlich nur ein. Wahrscheinlich lag es an ihrer Unge-duld und daran, dass sie die Angelegenheit sehr gernerasch zu einem Abschluss gebracht hätte.

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Sie verbrachten nun fast drei Stunden miteinander.Er war zuerst amüsant gewesen und hatte es verstan-den, angenehm zu plaudern, aber seit einiger Zeit zogsich das Gespräch in die Länge und langweilte sie. Sollteer nicht bald zur Sache kommen, musste sie sein Ange-bot ablehnen und sich vor dem Restaurant von ihmverabschieden. Für die Begleitung hatte er im Vorausbezahlt und sie wollte sich mit der Summe zufrieden-geben.

»Sie haben über meinen Vorschlag nachgedacht,Verena?«, fragte er kühl, während er den Beleg begut-achtete, dabei die Brieftasche aus der Innentasche seinesJacketts zog und einige Hunderteuroscheine auf diesilberne Geldschale unter die Rechnung schob.

»Ja, ich bin einverstanden. Wo haben Sie sich ein-quartiert?«

»Ich habe für uns ein Extrazimmer im ›Garden‹ ge-bucht. Sie müssen dafür Verständnis haben. MeineGattin und ich sind in dem Hotel, in dem ich heuteeincheckte, gut bekannt und ich möchte nicht...«

Diese Scheißer sind alle gleich, dachte Verena. Siekannte das ›Garden‹ nicht, aber es war genauso gutoder schlecht wie jedes andere Fünfsternehotel. Fürdas, was er wollte und wofür er zahlte, würde es allemalreichen. Dafür benötigte man ein Bett und nicht mehr.

»Keine Extras, nur wie besprochen.«»Natürlich nicht«, beruhigte er sie mit einem über-

heblichen Lächeln. »Wir rechnen sofort ab.«»Das ist nicht notwendig. Wir regeln die finanzielle

Angelegenheit, sobald wir im ›Garden‹ sind.«»Nein, jetzt!« Er nahm ihre Hand und deutete einen

Handkuss an. »Ich möchte nicht, dass Sie Ihre Meinungändern. Ich bin nicht kleinlich, Sie werden sehen.«

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Ein betagter, doch sehr großzügiger Kunde, freutesich Verena, als er ihr gönnerhaft das Geld in die Handdrückte.

Freitag, den 22. Juli 2005BERLIN, KREUZBERG

Erst als Verena am frühen Morgen des nächsten Tagesihre Wohnungstür aufschloss und in den Korridor tau-melte, erinnerte sie sich, dass ihre Freundin Hella nachBaccum gefahren war, um den achtzigsten Geburtstagihrer Großmutter zu feiern.

Verena stützte sich mit beiden Händen an der Wohn-zimmerwand ab und bewegte sich vorsichtig und steif-beinig ins Bad. Als sie mit stumpfen Augen in den Spie-gel blickte, erschrak sie, streifte flüchtig mit der Handüber die Würgemale an ihrem Hals, berührte sachteihr geschwollenes, verweintes Gesicht und legte behut-sam beide Hände auf ihren Kopf. Sie fuhr zögernd mitden Fingern durch das stoppelige, ungleichmäßig langgeschnittene, blonde Haar, um das Hässliche, Unwürdi-ge, Ungewohnte, das sie vor sich sah, ebenso zu fühlen.

Mit jeder einzelnen Haarsträhne, die vor ihren Au-gen auf den Boden gefallen war, hatte sie ihr Flehengesteigert, war mit jedem ausgesprochenen »Bitte« klei-ner und armseliger geworden, bis schließlich ein flen-nendes, winziges, klägliches Wesen mit gebundenenHänden nackend vor ihm auf dem Boden kniete. Eingreinender, winselnder Wurm, der ihn Herr und Meis-ter nannte, sooft er es forderte.

Zum Beginn ihrer Qualen hatte sie die Hoffnung ge-habt, die für jeden Mitmenschen sichtbare Blamage einer

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völlig ruinierten Frisur zu verhindern und den Glau-ben und die Erwartung gehegt, ihre Unterwürfigkeitund ihr Entgegenkommen müssten ihn milde und gnä-dig stimmen und deswegen würde er keine sichtbarenMale der Misshandlungen hinterlassen. Doch er hattenur hämisch lachend die Schere bewegt, immer wie-der aufs Neue geschnitten, schleppend langsam undgenussvoll. Für jeden Schnitt nur eine einzige schmaleSträhne ihres langen, gepflegten Haares gegriffen, aufdas sie von jeher stolz gewesen war, und damit ihreZuversicht genährt, er möge so rechtzeitig sein Han-deln beenden, dass sie das gewaltsame Entfernen ihresKopfhaares und die damit verbundene Entehrung durchden Besuch bei einem guten Frisör vor ihren Mitmen-schen verbergen könne.

»Schnipp, schnapp, schnipp, schnapp – du Hure!Schnipp, schnapp, einmal kurz, einmal lang, schnipp,schnapp.«

»Bitte! Nicht mein Haar! Bitte!«.Nach jeder Bitte hatte er die Schere erneut eingesetzt

und passend zu dem Rhythmus seiner Hand den Vor-gang im Stakkato mitgesprochen: »Schnipp - schnapp,ein - mal - kurz, ein - mal - lang, schnipp - schnapp.«

Angewidert von der Demut und Unterwürfigkeit,die sie ihm zu Anfang gezollt hatte aus Sorge um soetwas Banales wie eine Frisur oder anderen Äußerlich-keiten, ohne nur zu ahnen, welche Qualen an Körperund Seele noch folgen sollten, nahm sie die Hände vonihrem Kopf. Sie kleidete sich langsam aus und schafftees im letzten Augenblick, ihre zerrissene, befleckte Klei-dung in den Wäschekorb zu stopfen, bevor sie sich vordie Toilette kniete und erbrach.

Er verstand es, seine Quälereien gezielt einzusetzen

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und zog damit nicht nur ihre körperlichen Schmerzenin unfassbare Längen, sondern nahm ihr gleichzeitigihre Würde und Selbstachtung. Durch ihr Leiden, ihreUnterwürfigkeit, ihr verzweifeltes Schreien hatte sieseine Lust und seine Befriedigung auf ein Höchstmaßgesteigert. Für sein Wohlbefinden und seine Wollustbenötigte er ihre Pein, ihr Winseln, ihr Flehen...

Sie wollte sich niemals wieder ansehen und keinanderer Mensch sollte ihr noch einmal in die Augenschauen. Sagt man nicht: Die Augen sind die Seele einesMenschen? Jeder, der nicht blind war, musste die Wun-den erkennen, denn sie würden nicht nur als Narbenan ihrem Körper bleiben, sondern hatten sich als ewigesSchandmal in ihrer Seele eingebrannt und mit diesenVerstümmelungen wollte sie nicht zwanzig, vierzigoder gar weitere sechzig Jahre leben.

Sie hockte sich in die Duschwanne, ließ Wasser überihren Körper laufen, überschüttete sich mit Shampoo,stand auf und verteilte den Schaum mit beiden Hän-den auf ihrer Haut, ohne die blutigen Bisswunden anden Brüsten und die Striemen auf Oberschenkeln, Pound Rücken zu beachten. Als das Wasser kalt wurde,trocknete sie sich notdürftig ab und kniete sich auf dieBadezimmermatte. Sie starrte abwechselnd auf ihreHandgelenke, an denen die Spuren der Fesselung sichwie schmale, eng anliegende rote Armbänder eingegra-ben hatten, legte dann die Handflächen neben ihre Wa-den und drückte das Gesicht auf ihre Oberschenkel.

Der Regisseur dieser grauenhaften Nacht überließnichts dem Zufall, überlegte sie. Er plante akribisch jedesDetail seiner Tat, organisierte eine gut vorbereiteteBühne, hielt sein Werkzeug griffbereit und wählte diegünstigste Zeit.

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Ein wohlüberlegter Ort, die passende Stunde undmich als Opfer. Es gibt keinen Zufall und ich bin keinMärtyrer. Alles, was geschieht, ist Schicksal. Ich ver-diene es nicht besser, denn ich wusste immer, dass ichsündige.

»Jetzt beginnt das Spiel und die Regeln bestimmeich, Verena, ich allein, dein Herr!«, hatte er seinenTrumpf ausgespielt, nachdem die Tür des Zimmersverriegelt war.

Er hatte ihre Ahnungslosigkeit, ihre Naivität, ihreGutgläubigkeit, ihren Leichtsinn genutzt, sie brutalgestoßen, bis sie sich auf dem Boden krümmte, einigeMale mit seinen Füßen nach ihr getreten, an den Haa-ren auf das Bett gezerrt und ihre Kleidung zerrissen,als sie sich nicht schnell genug für ihn auszog.

Als er sie irgendwann, nachdem er ihr das Haargenommen hatte, anwies, mit geknebelten Händen aufdem Boden zu kriechen, hatte sie längst jeden Wider-stand aufgegeben, und als er wenig später anordnete,sie solle, während sie sich auf allen vieren vor ihm be-wege, wie ein Hund bellen, war sie auch diesem Be-fehl nachgekommen. Bei jedem Laut, der aus ihremMund gequollen war, hatte er mit den Füßen nach ihrgetreten, sie nicht immer getroffen, aber doch häufig.Nachdem er des Tretens müde geworden war, griff erdie Peitsche und strafte ihren Rücken oder ihren Podamit, wenn ihr heiser ausgestoßenes Gebell nicht seineZustimmung fand.

Als er später ihre Fesseln löste und ihr befahl aufzu-stehen, war sie erleichtert gewesen, hatte kaum gewagtzu atmen und ihn nicht angesehen, aber er entschied,sie weiterhin zu quälen und warf rote Unterwäschevor ihre Füße, die sie hastig überstreifte. In diesen

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wenigen Stunden hatte sie gelernt, seine Strafen zufürchten. Er war um so vieles stärker als sie und hieltnicht nur die Peitsche in der Hand, sondern verwahrteFesseln, Knebel, Gummibänder, sogar rote Dessous inseiner Hosentasche und in seinem Koffer. Sie fürchtetesich jetzt am meisten vor dem, was sie noch nicht ken-nengelernt hatte und fragte sich, sobald er ihr einenMoment der Ruhe gab, welches Folterwerkzeug erzusätzlich bereithielt.

Breitbeinig stand er vor ihr, die Peitsche in derHand, als sie seinem Befehl folgte und den Verschlussdes roten BHs wieder öffnete. Er umklammerte danachihren Arm, schleifte sie zu dem schmalen eingebautenKleiderschrank und band ihr rechtes Handgelenk andem Griff fest, um damit weiterzumachen, womit eranfangs begonnen hatte. Sie schrie vor Angst, ehe sichseine Zähne in ihr Fleisch gruben, und fühlte sofortdarauf seine Hände eng an ihrem Hals. Als sie meinteohnmächtig zu werden oder sterben zu müssen, lockerteer unerwartet und laut stöhnend seinen Griff. Sie saheinen Moment später, mit weit geöffnetem Mundschwer atmend, in seine aufgerissenen Augen, wussteden Grund für sein Handeln, begriff den Zweck, kanntesein Ziel und ahnte, dass diese Marter, welche er ›Spiel‹genannt hatte, nun beendet war. Seine Grausamkeitenwaren mit dem Erreichen seines Höhepunktes zu einemAbschluss gekommen.

»Hat es dir Spaß gemacht, Verena?«, verhöhnt ersie kurz darauf und band sie los. Er zog grinsend seineBrieftasche heraus und warf mehrere Geldscheine vorihre Füße.

»Du hast gut verdient in der letzten Nacht und ichbin mir sicher, mehr bist du nicht wert. Bei meiner Klei-

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nen hole ich mir Appetit, bevor ich aus dem Haus geheund wenn ich dich ansehe, habe ich sie vor Augen.Wenn ich dich mit der Gerte liebkose, streichle ich sie.Wenn ich dir zwischen die Beine fasse, greife ich nachihr. Wenn ich dich binde, halte ich sie fest. Was soll ichmachen? Ich nehme Rücksicht, denn ich bin vernarrt insie. Ich darf ihr nicht wehtun. Nein, ihr darf ich keineSchmerzen zufügen! Sie ist rein, sie ist sauber, sie istunbefleckt, aber du brauchst es! Du verdienst es, duHure! Und nun Schluss mit der Flennerei! Bist du aufdeine Kosten gekommen? Nein? Umso besser - du soll-test auch keine Freude dabei haben!«

Danach ist er gegangen, ohne das zu tun, wofür ermich in dem Restaurant bezahlt hat und wofür der Frei-er in der Regel eine Hure entlohnt, dachte Verena.

Sie griff an das Waschbecken, zog sich schwerfälligdaran hoch, bis sie stand, stützte sich mit einer Handan der Kante ab und kämmte sich mit heruntergeschla-genen Augenlidern vor dem Spiegel das, was er ihrvon ihrer Haarpracht gelassen hatte.

In ihrem Zimmer öffnete sie den Kleiderschrank undtastete tränenblind nach einer Jogginghose und einemSweatshirt. Es war gleichgültig, was sie anzog. Die Kla-motten waren nicht interessant, Designerkleidung warviel zu lange bedeutungsvoll in ihrem kurzen Lebengewesen.

Zwei Briefe waren wichtig, bevor sie einen Schluss-strich zog. Einen Abschiedsbrief wollte sie ihren Elternschreiben und einen zweiten ihrer Schwester Angela.

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Samstag, den 23. Juli 2005BACCUM BEI LINGEN IM EMSLAND

An Tagen wie heute erlaubte es sich Angela Meiers,geborene Tampen, nach dem Sinn ihres Lebens zu fra-gen. Sie war um fünf Uhr in der Frühe aufgestanden,hatte ihren siebenstündigen Arbeitstag hinter der The-ke einer Lingener Konditorei überstanden und fühltejetzt den seit Jahren vertrauten Schmerz in ihren Beinen,der auch mit den unterschiedlichsten Gesundheits-schuhen und diversen Salben aus Reformhäusern undApotheken nicht in den Griff zu bekommen war.

Es war früher Nachmittag und die zahlreichen blü-henden Pflanzen in den Gärten an der Antoniusstraße,hinter der katholischen Kirche des Dorfes, wiesen siedarauf hin, was in dem Vorgarten und auf der Einfahrtihres schmucken Einfamilienhauses auf sie wartete.Keiner ihrer Nachbarn würde Verständnis haben undan ihre müden Füße denken, sollte sich am Sonntag-morgen vor dem Kirchgang auf ihrer Einfahrt und inihrem Vorgarten Unkraut zeigen.

Ihren Mann Jan sah sie nur im monatlichen Rhyth-mus und die wenigen Minuten des Zweifels und dieFrage, ob die ewige Schufterei, die Abende, Nächteund langen Wochenenden, die sie ohne ihn verbrachte,kein zu hoher Preis waren für das Haus, die Einbaukü-che und die neu angeschafften Wohnzimmermöbel,duldete Angela nur eine kurze Weile.

Sie war zweiunddreißig Jahre alt, bis zu ihrem fünf-unddreißigsten Lebensjahr wollten Jan und sie ein Kindhaben, dann würde sie sich nur noch um den Nach-wuchs und den Haushalt kümmern und Jan würde nichtlänger auf einem Bohrturm in der Fremde arbeiten.

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Angela war die älteste von vier Geschwistern. ZweiBrüder führten ein ähnliches Leben wie sie, beide mitHaus und Garten in ihrem Heimatdorf und einer Ehe-frau, die durch ihr zusätzliches Einkommen half, dieHypotheken abzuzahlen. Ihre Eltern hatten sich mitschwerwiegenderen Problemen herumschlagen müs-sen, aber sie waren genügsam und zufrieden auf ihrebescheidene Art und froh, dass aus den Kindern etwas›Ordentliches‹ geworden war.

Auf Verena, die Jüngste, waren die Eltern besondersstolz. Bei ihr war alles ganz anders gewesen. Sie warintelligenter, hübscher, flinker und selbstbewusster alsihre Geschwister und jeder in der Familie hatte dasnicht nur schnell erkannt, sondern immer akzeptiert,dass es ihre Wünsche waren, die zuerst aus der schma-len Haushaltkasse finanziert wurden.

Sie war schon in der Grundschule die Klassenbestegewesen, ohne sich sonderlich bemühen zu müssen. AlsEinzige der Geschwister hatte sie das Gymnasium inLingen besucht und dort, typisch Verena, mit dem bes-ten Notendurchschnitt ihres Jahrgangs das Abitur be-standen.

Vorausschauend parkte Angela ihren roten Polo nichtin der Auffahrt, sondern auf der Straße vor dem Haus.Als sie den Motor ausgestellt hatte, sah sie in denInnenspiegel, blickte kurz in ihr weiches, kindlich run-des Gesicht mit den hellen wasserblauen Augen undfuhr sich mit der Hand über ihr kupferrotes, leicht ge-welltes, gepflegtes Haar. Angela besaß die feinporigereine Haut einer Rothaarigen und das tröstete sie, wennsie an ihr beklagenswertes Sehvermögen dachte.

Als sie mit gesenktem Kopf zur Haustür ging, nahm

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sie sich vor, die Kontaktlinsen aus den Augen zu neh-men und ihre Brille aufzusetzen, bevor sie die Blumenin die Schale neben der Haustür einpflanzte, Unkrautzupfte und das Pflaster fegte.

Im Korridor lagen die Tageszeitung und eine bunte,sonnige Postkarte aus dem Oman, die Jan ihr geschickthatte und in dem Posteinwurf der Tür steckten zweiUmschläge. Auf dem obersten erkannte sie den Ab-sender der Telefongesellschaft und auf dem unterenVerenas Handschrift. Angela telefonierte regelmäßigmit ihr und zweimal hatte sie ihre Schwester in Berlinbesucht, aber einen Brief von Verena zu erhalten, warso außergewöhnlich, dass Angela sofort erschrak, alssie die Schrift erkannte.

Sie schloss mit klopfendem Herzen die Haustür,warf Jans Postkarte, die Tageszeitung und die Rech-nung der Telefongesellschaft auf die Treppe und has-tete, mit Verenas Brief in den Händen, in die Küche.Noch im Gehen riss sie den Umschlag auf, nahm mehre-re Bögen rosa Schreibpapier aus dem Kuvert und setztesich an den Küchentisch.

Sie las das Geschriebene oft, verstand zuerst nichtdie ganze Tragweite, las den Text leise, danach laut,sprach die Sätze langsam und korrekt aus, erkanntezwar jedes Wort, aber konnte und wollte eine langeZeit den Inhalt nicht begreifen, bis irgendwann dieGewissheit kam: Verena hatte sich umgebracht...

Es war ihre Pflicht zu handeln, sie musste irgend-etwas unternehmen. Nur, was sollte sie tun? Nach Berlinfahren? Sie anrufen? Verena würde den Hörer nichtabnehmen können, weil sie seit gestern tot war. Sielebte nicht mehr, wenn sie in ihrem Brief die Wahrheitgeschrieben hatte. Sie war sich ganz sicher, dass Vere-

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nas Selbstmord Wirklichkeit war, dass ihre Schwesterniemals diese Botschaft geschrieben hätte aus... Auswas? Aus Spaß?

Ihr Bruder Frank, der stillere und ältere ihrer Brü-der, schlug kurzerhand vor, seine Frau Helga und diebeiden Kinder mitzubringen, als sie ihn am Telefon bat,sofort zu ihr zu kommen. Als sie sein Ansinnen ablehn-te, reagierte er beleidigt, klingelte aber trotzdem zehnMinuten später an ihrer Haustür.

»Seit wann hast du etwas gegen Helga und unsereKinder? Ich muss schon sagen, das finde ich...«, platzteer zornig heraus, noch bevor er in die Diele trat, schwiegallerdings augenblicklich, als er in Angelas Gesichtblickte.

»Was ist geschehen, Angie?«»Verena ist tot«, sagte Angela monoton.Sie ging ihrem Bruder voraus in die Küche und setzte

sich auf denselben Stuhl, auf dem sie wie in Tranceeine Stunde lang gehockt und auf das Telefon gestarrthatte, nachdem sie zuvor immer wieder versucht hatte,Verena zu erreichen.

»Unsere kleine Schwester hat sich selbst umgebracht.Würde sie noch leben, müsste sie das erste Mal in ihremLeben eine Tracht Prügel bekommen.«

»Angela..., ich...«»Es tut mir leid, Frank. Ich bin so wütend auf Vere-

na! Ich fasse das alles nicht! Vielleicht will ich es auchnicht kapieren.«

Irgendwann würde sie nicht mehr zornig sein, son-dern traurig und ihre Schwester vermissen, aber jetzt...,jetzt war sie nur hilflos und böse.

»Verena hat zwei Briefe geschrieben, Frank!«, schrieAngela plötzlich laut und verzweifelt. »Einen für die

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Eltern und den anderen für mich und diesen Brief sollich niemandem zeigen, aber das bringe ich nicht übersHerz, Frank. Ich werde nicht widerstandslos undschweigend hinnehmen, was sie mir in ihrer Botschaftmitteilt.« Angela warf die Briefbögen auf den Tisch.»Hier lies und ich rufe währenddessen bei FamilieSchulz an. Ich weiß, dass Hella aus Berlin gekommenist, um den achtzigsten Geburtstag ihrer Großmutterzu feiern.«

Freitag, den 22. Juli 2005

Liebe Mama, lieber Papa,

es tut mir leid, dass ich euch solch großen Kum-mer bereite. Ihr müsst mir verzeihen. Ich magnicht mehr leben. Es ist nicht eure Schuld. Ichhätte keine besseren Eltern haben können alseuch. Danke für all die Liebe, die ihr mir gegebenhabt.

Sucht nicht nach meinem Körper, ihr werdet ihnnicht finden.

Eure Verena

Freitag, den 22. Juli 2005

Liebe Schwester, liebe Angela,

es ist jetzt vier Uhr am Morgen. Bevor es drau-ßen hell wird, werde ich mir einen Platz zum Ster-ben gesucht haben und wenn du diesen Briefliest, habe ich alles hinter mir.Nach der letzten Nacht kann ich nicht weiterle-

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ben. Ich könnte dich anlügen, irgendeinen faden-scheinigen Grund nennen für mein Tun, doch ichwill ehrlich sein und die Wahrheit ist auf erschre-ckende Weise simpel.Ich bin eine Hure und wusste es bis vor fünf Stun-den selbst nicht oder ich wollte es nicht wahrha-ben. Ich habe für etwas Luxus meinen Körperverkauft.Mein letzter Freier hat mir gezeigt, was ich bin.Er hat mich gedemütigt, geschlagen, gebissen,geknebelt und mich auf dem Boden kriechen las-sen.Ich mag mein Gesicht nicht mehr, ich mag mei-nen Körper nicht mehr, ich mag mich nicht mehrund ich werde dafür sorgen, dass mich niemandjemals wieder ansieht. Ich schreibe ›niemand‹ undmeine es genauso, wie ich es schreibe. Das er-spart euch die Schande, eine Selbstmörderin aufunserem Dorffriedhof zu beerdigen.Meinen Platz zum Sterben werde ich mit Sorg-falt wählen. Es wird ein schönes Plätzchen sein,vielleicht weit draußen vor dem Stadtrand vonBerlin. Auch die Art und Weise, wie ich zu Todekomme, wird eine gute sein.Ich habe eine Flasche Cognac, Tabletten und Ra-sierklingen in meinen Rucksack gelegt, also denkenicht, dass ich gelitten habe, wenn du diesen Briefliest.Sage Hella, sie soll Schluss machen mit unsererArt des Geldverdienens. Es lohnt nicht, ich habees jetzt erkannt und sage ihr, dass es Mr. Doolittlegewesen ist, mit dem ich mich verabredet hatteund dass er es gewesen ist, der mich misshandelt

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hat. Sie kennt ihn. Es ist der Mann mit den langenBeinen.Verzeiht mir, Angela. Ich weiß, welchen Schmerzich euch zufüge.

Deine Schwester VerenaP.S. Dieser Brief ist nur für dich bestimmt.

Frank faltete mit kreidebleichem Gesicht nacheinanderdie Bögen des rosa Schreibpapiers in der Mitte undschob sie über den Tisch.

»Wir fahren nach Berlin, Angela! Unter Umständenhat nicht alles so geklappt, wie Verena es sich vorstell-te. Möglicherweise wurde sie rechtzeitig aufgefunden.Wir werden in jedem Berliner Krankenhaus telefonischnachfragen. Bernd wird uns helfen. Hast du ihn ver-ständigt?«

»Nein.«Angela stand auf, erkannte, dass sie nicht länger

wütend auf Verena war, dass die Handlung in und umsie jetzt ablief wie in einem entsetzlichen Film. Sie fühltenichts mehr, sondern spielte irgendeine Rolle, und indem Drehbuch stand geschrieben, dass sie ihren jüngs-ten Bruder Bernd informieren sollte und danach denPfarrer, dass sie anschließend mit den Brüdern zu denEltern fahren musste, um ihnen zu sagen, dass Verenatot war. Dass der Traum der Eltern, Verena als Ärztinin einem weißen Kittel zu sehen, ausgeträumt war.