jetzt. die kunst des perfekten timings
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Jetzt!
Stuart Albert ist einer der weltweit führenden Timingexperten. Sein pra-
xisorientiertes Konzept basiert auf über 20 Jahren Forschung, in denen
er seine Methode im ständigen Austausch mit Führungskräften und
Unternehmen verfeinert und eine Datenbank mit vielen Tausenden Fall-
beispielen aufgebaut hat.
Stuart Albert lehrt an der Carlson School of Management der Univer-
sity of Minnesota und war Gastprofessor an der Harvard University und
am Massachusetts Institute of Technology. Er ist Mitglied der Internatio-
nal Society for the Study of Time, der weltweit führenden Organisation
für interdisziplinäre Zeitstudien. Seine Forschungen hat er auf interna-
tionalen Konferenzen und in Fachzeitschriften vorgestellt.
Stuart Albert
Jetzt!Die Kunst des perfekten Timings
Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Bischoff
Campus VerlagFrankfurt/New York
Die englischsprachige Originalausgabe erschien unter dem TitelWhen: The Art of Perfect Timing
Copyright © 2013 by John Wiley & Sons.All Rights Reserved. This translation published under license with the
original publisher John Wiley & Sons, Inc.
ISBN 978-3-593-39691-0
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt
insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Copyright © 2013. Alle deutschsprachigen Rechte bei Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Umschlaggestaltung: total italic, Amsterdam und BerlinSatz: Fotosatz L. Huhn, Linsengericht
Gesetzt aus: Scala und Scala SansDruck und Bindung: Beltz Bad Langensalza
Printed in Germany
Dieses Buch ist auch als E-Book erschienen.www.campus.de
Dieses Buch ist für Rosita
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
1. Sequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
2. Zeitliche Interpunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
3. Intervall und Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
4. Tempo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
5. Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
6. Polyphonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
7. Anwendung der Timinglinsen. Zum Timing von Widerspruch . . . . . . . 211
8. Eine Timinganalyse in sieben Schritten . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
9. Coda: Ein verändertes Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
Anhang: Zeitarchitektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
Vorwort 9
Vorwort
Nach gängiger Meinung ist jeder Versuch, Timing zu verstehen, abso-
lut zwecklos. Niemand, so heißt es, könne den richtigen Zeitpunkt am
Markt bestimmen oder glaubwürdig die Zukunft vorhersagen. Die Welt
sei einfach zu komplex. Es gebe zu viele Unbekannte. Jede Situa tion
unterscheide sich in irgendeiner wesentlichen Hinsicht von ande-
ren – was frühere Erfahrungen zu einer unvollkommenen Richtschnur
mache. Das richtige Timing – zur rechten Zeit mit dem richtigen Pro-
dukt oder der richtigen Dienstleistung am richtigen Ort zu sein –, sei
manchmal einfach reine Glückssache. In all diesen Feststellungen steckt
etwas Wahres. Aber die Ansicht, wir könnten in Fragen des Timings kein
Können erwerben, ist allzu pessimistisch gedacht und schlichtweg nicht
wahr. Mit den richtigen Werkzeugen können wir Fragen des Timings
weitaus besser managen und entscheiden, als die gängige Meinung ver-
muten lässt. Das vorliegende Buch beschreibt diese Werkzeuge und ihre
Anwendung.
Mir kam die Schlüsseleinsicht in Timingfragen im Jahr 2004.
Ich arbeitete in einem provisorischen Büro in der Wohnung meiner
Schwiegermutter in São Paulo, Brasilien. Dort wohnten meine Frau
und ich, während Dona Ella ihren letzten Kampf mit dem Krebs aus-
trug. Ein Leben ging zu Ende, und ich dachte über die Zeit nach.
Jeden Morgen schien die kalte Wintersonne auf die dunkle Palisander-
wand in unserem Schlafzimmer, und ich lauschte auf das Krähen des
Hahns, das ich bei früheren Besuchen immer gehört hatte. Aber in
diesem Jahr blieb der Hahn still. Die letzten Geräusche aus der länd-
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lichen Vergangenheit der Stadt waren verschwunden. In dieser Woh-
nung, in der wir seit über 30 Jahren Sommer- und Weihnachtsferien
verbracht hatten, entdeckte ich das Konzept der Zeitarchitektur, das
den Kern dieses Buches bildet. Auch wenn es mir damals noch nicht
ganz klar war, eröffnete dieses Konzept einen neuen Zugang zum Pro-
blem des Timings.
Als ich im Frühjahr 1991 anfing, mich mit Timing zu befassen,
beschloss ich ausdrücklich, mich nicht an die Normen meines Beru-
fes zu halten. Ich bin Professor an einer Business School, ausgebildet
in Natur- und Sozialwissenschaften. Im Gegensatz zu meinen Kollegen
besaß ich keine »Hypothese« oder Erklärung von »Fakten«, die ich prü-
fen musste, und ich hatte auch keine kontrollierten Experimente oder
umfangreichen Erhebungen durchzuführen. Ich brauchte keinen Com-
puter, um »Daten zu analysieren« oder mathematische Modelle zu erstel-
len. Ich brauchte keine Statistik, weil es nichts zu zählen oder zu messen
gab. Kurz, ich brauchte keines der ausgeklügelten Instrumente moder-
ner Sozialwissenschaften. Stattdessen ging ich zurück in die Zeit, bevor
sie erfunden wurden. Ich wurde zum Sammler und Jäger.
Ich las die New York Times, das Wall Street Journal und den Economist
von vorne bis hinten und schnitt jeden Artikel aus, ganz gleich, zu wel-
chem Thema, wenn er nur etwas mit Timing zu tun hatte. Besondere
Aufmerksamkeit richtete ich auf Timingfehler: eine Handlung, die zu
früh oder zu spät begann, ein Projekt, das sich unterwartet verzögerte,
und ein gesundes Unternehmen, das zu aller Überraschung über Nacht
zusammenbrach. In jedem Einzelfall versuchte ich herauszufinden, wie
ein optimiertes Timing das Ergebnis hätte verbessern können.
Nach und nach entwickelte ich ein Klassifikationssystem, um den
Überblick über die mittlerweile über 2000 Zeitungsausschnitte zu behal-
ten, die ich gesammelt hatte. Das war keineswegs nur eine rein akade-
mische Übung. Oft gelingt es uns nicht, Timingprobleme im Voraus
zu erkennen. Das liegt unter anderem daran, dass es keine praktische
Methode gibt, nach ihnen zu suchen. Die beste Möglichkeit, etwas zu
finden, besteht darin, ihm einen Namen und einen spezifischen Ort in
einer bekannten Struktur zu geben. Eben das möchte dieses Buch leis-
ten: Es möchte eine Methode entwerfen, die es uns ermöglicht, Timing-
Vorwort 11
probleme überall in der Arbeit und im Leben zu erkennen, zu benennen
und anzugehen.
Noch während ich dieses Material sichtete und sortierte, begann ich
für eine Reihe von Unternehmen zu arbeiten. Dabei ging es um diverse
Probleme: Ein unternehmerisches Vorhaben, das auf einer neuen Tech-
nologie basierte, schlug fehl, und eindeutig war das Timing einer der
Gründe. Eine Firma landete wegen Vertragsbruchs vor Gericht, und nach
meiner Einschätzung hätte ein besseres Verständnis des Timings zu
einem anderen Ergebnis geführt. Der Eigentümer eines Unternehmens,
mit dem ich zusammenarbeitete, versuchte zu entscheiden, ob er sich an
die Preisstruktur einer Konkurrenzfirma anpassen sollte. Eine Timing-
analyse ergab, dass keine Maßnahmen notwendig waren: Die raschen
Veränderungen der Branche würden das Problem von selbst lösen.
Als ich nun feststellte, wie viele geschäftliche und wirtschaftliche
Fragen eng mit dem Timing verflochten waren, musste ich innehalten.
Offenbar war Timing ein grenzenloses Thema. Es besaß kein Zentrum,
keinen offensichtlichen Anfang und kein Ende. Zudem war es komplex,
weil manchmal das Timing keine Rolle spielt. Manches gelingt oder schei-
tert, ganz unabhängig vom Zeitpunkt, zu dem wir handeln. In den ers-
ten zehn Jahren schrieb ich also überwiegend nur für mich. Ich sam-
melte nahezu 800 Seiten Notizen und Analysen auf meinem Computer
in einem Ordner mit dem Namen Ein Buch für den Eigengebrauch. Beim
Schreiben dieser Notizen fand ich heraus, dass Timingfehler kein Zufall
waren und zumindest einige von ihnen sich ebendeshalb vermeiden lie-
ßen. Je tiefer ich in das Thema eindrang, umso mehr entdeckte ich Pro-
zesse und Phänomene, die mir zuvor nicht aufgefallen waren. Und in
meiner Arbeit mit Unternehmen stellte ich fest, dass der Ansatz, den ich
entwickelte, sich unmittelbar praktisch anwenden ließ.
Als ich mich später hinsetzte, um aufzuschreiben, was ich entdeckt
hatte, sah ich mich mit der großen Ironie unserer Zeit konfrontiert: keine
Zeit. Viel beschäftigte Menschen haben selten Zeit, ein längeres oder
komplexeres Buch zu lesen. Also komprimierte ich, kürzte und strich.
Wer dieses Buch auf einem Transatlantikflug zu lesen beginnt, wird bei
der Landung eine gute Vorstellung davon haben, worin eine Timing-
analyse besteht. Und wenn der Flug (wie so oft) Verspätung hat, bleibt
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genügend Zeit, es zu Ende zu lesen. Gibt es eine bessere Art, die Zeit
totzuschlagen, als ein Buch über Timing zu lesen?1
Einleitung 13
Einleitung
Timing ist wichtig. Es spielt an nahezu jeder Stelle des Geschäfts eine
Rolle: von der Markteinführung eines neuen Produkts bis hin zu Ent-
scheidungen, wann man die strategische Ausrichtung ändern, einen
Unternehmensbereich abstoßen, ein Gegenangebot annehmen oder in
neue Anlagen investieren sollte. Die Geschichte ist voller innovativer Pro-
dukte und Dienstleistungen, die scheiterten, weil sie zu früh kamen. Der
Markt war noch nicht reif dafür. Die Technologie hatte zu viele Mängel.
Es gab keine unterstützende Infrastruktur. In einer Welt, die von Auf-
putschmitteln und Anabolika gesteuert zu sein scheint, kommt der fatale
Fehler, zu spät zu kommen, häufiger vor. Wir hätten schneller vorgehen
sollen. Unsere Strategie hätte funktioniert, wenn wir nur früher aktiv
geworden wären. Leider ist es der Gipfel an Dummheit, zu spät klug zu
werden, wie Homer sagte.
Ich habe dieses Buch für Führungskräfte aller Bereiche und für Men-
schen auf allen Organisationsebenen geschrieben, in denen das richtige
Timing wichtig ist. Schon jetzt ziehen die meisten Menschen und Orga-
nisationen das Timing auf die eine oder andere Weise in Betracht. Der
Einzelne verlässt sich vielleicht auf sein Bauchgefühl oder darauf, wie er
etwas in der Vergangenheit gehandhabt hat; eine Organisation verfügt
möglicherweise über einen formalen Planungsprozess oder über ausge-
klügelte Modelle und Algorithmen. Dennoch sind Timingfehler weit ver-
breitet.
Manche Timingprobleme sind leicht zu erkennen. Wir wissen im
Voraus darüber Bescheid: Wann ist beispielsweise der richtige Zeitpunkt,
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ein neues Produkt auf den Markt zu bringen oder ein neues Unternehmen
zu gründen? Ist es zu früh oder zu spät? Wann wird sich ein Zeitfenster für
eine Chance öffnen und wann schließen? Welche zeitbezogenen Risiken
gehe ich ein? Wird meine Branche sich über Nacht verändern? Wie sollte
ich vorgehen: vorsichtig stufenweise oder so schnell wie möglich? Manche
Timingprobleme sind nicht so leicht zu erkennen, aber sie zu übersehen
kann tragische Konsequenzen haben. Angenommen, Sie hätten die Orga-
nisation der Olympischen Winterspiele 2010 in Vancouver, Kanada, zu lei-
ten. Bezogen auf das Timing bestünde die wichtigste Aufgabe eindeutig
darin, dafür zu sorgen, dass die Austragungsstätten fertig und alle Bau-
arbeiten rechtzeitig zu den Spielen abgeschlossen wären. Dazu würden Sie
die ausgeklügelten Instrumente des Projektmanagements einsetzen. Der
Schwerpunkt läge auf Logistik und Terminplanung. Und bei Verzögerun-
gen würden Sie nach Möglichkeiten suchen, den Fortgang zu beschleuni-
gen. Das Letzte, worauf Sie vorbereitet wären, wäre ein tragischer Unfall
kurz vor der Eröffnungsfeier. Aber genau das passierte. Der 21-jährige
Rennrodler Nodar Kumaritashvili aus Georgien verunglückte beim letz-
ten Trainingslauf mit hoher Geschwindigkeit und starb. Hätten Sie diese
Katastrophe vorhersehen können oder sollen? Ein Unfall ist immer furcht-
bar, aber das Timing eines tödlichen Unfalls kurz vor Beginn der Olympi-
schen Spiele hätte gar nicht schlimmer sein können.
Sehen wir uns rückblickend an, wie das Timing zu diesem Unfall bei-
trug, so ergibt sich folgendes Bild:
• Vor Beginn der Olympischen Spiele würden Trainingsläufe stattfin-
den; kurz, es gab eine bekannte Abfolge (Sequenz): zuerst Training,
dann das eigentliche Rennen.
• Die Höchstgeschwindigkeiten auf der Bahn würden gegen Ende des
Trainings, also unmittelbar vor der offiziellen Eröffnung der Spiele
erreicht; kurz: Es war vorhersehbar, wie Teilnehmer, die für Rennen
trainierten, ihr Tempo erhöhen würden. Am Anfang, während sie die
Bahn noch kennenlernten, würden sie nicht mit voller Geschwindig-
keit fahren.
• Es gab eine klare Abgrenzung zwischen dem Ende der Trainings-
läufe und der offiziellen Eröffnung der Spiele, also ein eindeutiges
Einleitung 15
Interpunktionszeichen und dazwischen wenig Zeit (ein kurzes Inter-
vall).
• Anfänge und Enden sind mit besonderen Emotionen verbunden. Ein
Unfall am Anfang überschattet alles, was folgt; ein Unfall am Ende
bleibt in Erinnerung und trübt das Vorhergegangene, so positiv es
auch gewesen sein mag. Wir wissen also, wann das Timing eines töd-
lichen Unfalls die größte Erschütterung auslösen würde.
• Wieso war die Bahn so gefährlich? Der Ort, an dem sie gebaut wurde –
ausgewählt, um nach den Olympischen Spielen ein kommerzieller
Erfolg zu werden –, besaß zufällig eine Topografie, die für eine beson-
ders steile, kurvenreiche Bahn sorgte. Die Gefährlichkeit der Bahn
war also zum Teil das Ergebnis einer Planung, die ihrer zukünftigen
Nutzung Rechnung trug. Es gab zwei Chancenfenster, eines während
der Olympischen Spiele und ein zweites danach. Das zweite erhöhte
die mit dem ersten verbundenen Risiken.
• Aus allen diesen Faktoren zusammen erwuchs schließlich ein Syn-
chronrisiko, also die Gefahr, dass zwei Vorgänge oder Ereignisse (die
Höchstgeschwindigkeit auf der Bahn und der Beginn der Spiele) in
enger zeitlicher Nähe erfolgten, was potenziell schwerwiegende Kon-
sequenzen hätte.
Wären Sie in der Lage, die Ereignisse, die ein solches Timingrisiko dar-
stellten, aufzuzeigen und die Schöpfer solcher Anlagen aufzufordern,
die Sicherheitsvorkehrungen zu verdoppeln? Oder würden die verschie-
denen Anhaltspunkte und Hinweise, die Sie für diese Entscheidung
brauchten, im Hintergrund bleiben, ohne dass Sie danach suchten oder
darauf achteten? Dieses Buch möchte dazu beitragen, solche Timingrisi-
ken im Voraus aufzudecken, solange noch Zeit ist, etwas dagegen zu tun.
Warum entgeht uns das Timing?
Dass wir Timingprobleme übersehen oder falsche Timingentscheidungen
treffen, liegt nicht nur an der Komplexität und Unsicherheit der Welt. Es liegt
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auch an unserer Beschreibung der Welt und der zu erfüllenden Aufgaben,
da sie Fakten auslässt, die wir brauchen. Ich nenne diese fragmentarischen
Beschreibungen zeitverarmt, weil sie nicht alle Abfolgen, Geschwindigkei-
ten, Formen, Interpunktionszeichen, Intervalle, Vorsprünge, Rückstände,
Überschneidungen und anderen zeitbezogenen Merkmale einbeziehen,
die bei allem, was geschieht, zur Zeitstruktur gehören – bei jeder Aktion,
die ausgeführt, und bei jedem Plan, der umgesetzt wird.
Diese zeitlichen Merkmale vergessen wir nicht nur bei der Planung
von Ereignissen. Wir übersehen sie regelmäßig in unserem Alltagsden-
ken. Man schaue sich nur einmal das bekannte Konzept der wirtschaft-
lichen Anreize an. In der Regel fragen wir, ob für alle Beteiligten die glei-
chen Anreize gelten, ob es die richtigen sind und ob sie stark genug sind,
das gewünschte Ergebnis zu produzieren. Aus der Timingperspektive
genügt das jedoch nicht. Darüber hinaus müssen wir wissen, ob alle rele-
vanten Anreize gleichzeitig vorhanden sein werden. Welcher wird domi-
nieren, wenn unterschiedliche Anreize da sind? Wird einer verblassen,
sobald ein anderer auftaucht? Es genügt nicht, ein schlechtes Ergebnis
auf die falschen Anreize zu schieben. Wir müssen wissen, warum diese
Anreize zu diesem bestimmten Zeitpunkt wichtig wurden.
Wenn ich am College den Begriff der zeitverarmten Beschreibung
erkläre, verwende ich als Beispiel einen Kuss. Ich sage den Studenten,
dass ein Kuss, der den Bruchteil einer Sekunde dauert, ein Küsschen
ist; ein Kuss, der eine Minute dauert, ist ein eindeutiger Antrag; und ein
Kuss, der länger als fünf Minuten dauert, ist ein Wiederbelebungsver-
such. Kurz, wir müssen wissen, wie lange ein Kuss dauert, um zu wis-
sen, was er bedeutet. Ebenso ist eine Umarmung, die weniger intensiv
ist, aber länger dauert, keine Umarmung mehr, sondern ein Festhalten,
das vielleicht den Zweck hat, Zwang auszuüben. Zeit ist also kein Behält-
nis unserer Handlungen, sondern einer ihrer Bestandteile. Alles, was in
der Welt geschieht, passiert in einer bestimmten Reihenfolge, erfordert
eine gewisse Zeit, beginnt und endet in einem spezifischen Moment und
so weiter. Wenn diese Merkmale unbenannt bleiben, können wir leicht
übersehen oder missverstehen, was vorgeht.
Mir geht es um Folgendes: Eine Gleichung lässt sich nicht nach »t«
auflösen, wenn sie nicht »T« enthält. Man kann Ereignisse nicht zeitlich
Einleitung 17
abstimmen und entscheiden, wann es zu handeln gilt oder was das Tun
eines anderen bedeutet, wenn die Totalität (T) zeitrelevanter Merkmale
(Abfolge, Tempo, Dauer, Anfang, Ende usw.), von denen das Timing
abhängt, in der eigenen Weltsicht gar nicht vorkommt. Solange Sie nicht
auf diese zeitlichen Merkmale achten und sie bemerken, verfügen Sie
nicht über die erforderlichen Informationen, die Sie für gute Timingent-
scheidungen brauchen.
Es gibt viele Gründe, warum unsere Beschreibungen und Erklärun-
gen der Welt tendenziell zeitverarmt sind. Erstens zählt, wie Immobilien-
makler uns gern erklären, vor allem der Standort. Unser eigener Stand-
ort in der Zeit lässt sich mit einem Wort beschreiben: jetzt. Wir leben
jetzt, in unserer unmittelbaren, konkreten Realität. Wir können weder in
der Vergangenheit leben, es sei denn metaphorisch, noch in der Zukunft,
es sei denn in unserer Fantasie. Man sagt uns zwar immer, wir sollten
die Lehren der Geschichte nicht vergessen und langfristig denken, aber
wir werden immer im gegenwärtigen Moment verhaftet sein. Jetzt ist der
einzige Ort in der Zeit, an dem wir wahrhaft lebendig sind.
Eine weitere Quelle unserer Kurzsichtigkeit ist ironischerweise unser
Sehvermögen. Wir konzentrieren uns auf das, was wir sehen können.
Folglich vergessen wir, die Zeit, die unsichtbar ist, in Betracht zu ziehen.
Ein Beispiel ist die Anatomie der menschlichen Hand. Unsere Daumen
sind opponierbar – sie können also den vier übrigen Fingern gegenüber
stehen. Das ermöglicht es uns, Gegenstände zu greifen und festzuhal-
ten, was die Hand überaus nützlich macht. Aber in jeder Schilderung des
opponierbaren Daumens, die ich gelesen habe, fehlt die Notwendigkeit
der Synchronisation. Der Daumen und die Finger müssen gleichzeitig am
selben Punkt eintreffen. Müsste der Daumen minutenlang auf das Ein-
treffen der anderen Finger warten oder umgekehrt, würde uns vieles aus
den Fingern gleiten. Die menschliche Hand könnte nicht als das hervor-
ragende Werkzeug funktionieren, das sie ist. Eine räumliche Anordnung
wird gewürdigt, aber die Arbeit erledigt das Timing!
Wir fokussieren uns tendenziell gerne auf das, was wir sehen; darüber
hinaus ist aber auch das Leistungsvermögen unseres Gehirns mit dafür
verantwortlich, dass uns die nötigen Informationen für Timingentschei-
dungen entgehen.
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Ein schlichtes Denkexperiment veranschaulicht, was ich meine. Stel-
len Sie sich vor, einen Schlüssel ins Schloss Ihrer Haustür zu stecken.
Haben Sie das Bild deutlich vor Augen? Gut. Nun machen Sie sich klar,
was Sie ausgelassen haben. Sie haben sämtliche Schritte auf dem Weg von
dem Ort, an dem Sie dieses Buch lesen, bis zu Ihrer Haustür übersprun-
gen. Dabei hat Ihr Gehirn Sie nicht daran erinnert, dass diese Schritte
ausgelassen wurden – dass Sie beispielsweise ein Gebäude verlassen und
mit dem Auto durch dichten Verkehr fahren müssten, um dort hinzukom-
men. Es haben keine Alarmsirenen geschrillt. Vor Ihrem geistigen Auge
ist auch kein detaillierter Film im Zeitraffer abgelaufen, der alle diese
Schritte enthalten hätte. Sie haben sich einfach vorgestellt, den Schlüs-
sel ins Schloss zu stecken. Die Neurowissenschaften bezeichnen dieses
Phänomen als Zeitreise. Ich nenne es die Quantum- oder Q-Kapazität des
Gehirns. Wir können nicht nur ganz einfach über die ferne Vergangen-
heit oder Zukunft nachdenken – wir können es auch tun, ohne uns den
notwendigen zeitlichen Ablauf vorzustellen, um dort hinzugelangen.
Die Tatsache, dass unser Denken große Zeitspannen überspringt, indem
es sämtliche Zwischenschritte auslässt, ist ein enormer Vorteil. Ohne diese
Q-Kapazität könnten wir gar nicht überleben. Wir wären gelähmt – verlang-
samt durch ein Gehirn, das eine Stunde brauchen würde, um über eine
Tätigkeit nachzudenken, deren Ausführung eine Stunde erfordert. Daraus
resultiert jedoch ein Kompetenzparadox. Das, was unser Gehirn gut leistet,
ist zugleich mitverantwortlich dafür, dass wir bei Timingentscheidungen
schlecht abschneiden. Unsere Fähigkeit, von einem Zeitpunkt zum ande-
ren zu springen, macht es einfach, Abfolgen, Intervalle, Pausen und andere
Zeitelemente zu übersehen, die wirklich wichtig sind.2
Unser Gehirn hat noch eine weitere Eigenschaft, die es erschwert, die
nötigen Informationen für gute Timingentscheidungen zu bekommen.
Dieses Mal spreche ich nicht von etwas, was es mühelos leistet, sondern
von etwas, was es nicht kann, nämlich die Muster zu erfassen und zu
erforschen, die entstehen, wenn viele Aktionen und Ereignisse gleich-
zeitig stattfinden. Dieses Phänomen nenne ich die Copland-Beschrän-
kung nach dem Komponisten Aaron Copland, der feststellte, dass es uns
schwerfällt, in der Musik mehr als drei Melodien gleichzeitig wahrzuneh-
men. Wenn in einer Komposition vier oder fünf Stimmen zur gleichen
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Zeit zu hören sind, verschmelzen sie zu einem Geräuschteppich. Das
innere Organisationsmuster geht schlicht verloren. Das Gleiche passiert
bei Ereignissen. In jedem Augenblick vollziehen sich Hunderttausende
Ereignisse und Prozesse gleichzeitig. Die Muster, die sie bilden, kön-
nen uns leicht entgehen. Um beispielsweise die Gefahr eines »perfekten
Sturms«* vorherzusagen, müssten wir unzählige synchrone Prozesse,
Abfolgen, Aktionen und Ereignisse überwachen und sinnvoll einordnen.
Das ist nichts, was wir im Kopf leisten können. In gewisser Weise sind wir
schlecht an unsere Umwelt angepasst. Wir sind serielle Lebewesen: Wenn
wir sprechen, sagen wir ein Wort nach dem anderen; wenn wir gehen,
setzen wir einen Fuß vor den anderen; wenn wir planen oder überlegen,
denken wir darüber nach, was auf was folgt. Aber wir leben in einer Welt
massenhafter Parallelereignisse. Folglich entgehen uns viele zukünftige
Auswirkungen all jener Ereignisse, die gerade passieren, weil uns das
periphere Sehen fehlt, sie zu erfassen und zu verstehen.
Diese beiden Merkmale, die Quantumkapazität des Gehirns und seine
Copland-Beschränkung, bedeuten, dass wir leicht die Informationen
übersehen, die für Timingentscheidungen notwendig sind. Es kann
daher kaum überraschen, dass mathematische Modelle, die zeitverarmte
Beschreibungen der Welt zugrunde legen, uns nicht sagen – und gar
nicht sagen können –, wann Blasen entstehen, wann eine Liquiditätskrise
oder die verheerenden Auswirkungen eines schweren Sturms drohen.
Die Information (T), die wir brauchen, um solche Bedingungen vorher-
zusagen, ist in diesen Modellen schlichtweg nicht enthalten.
Das Gleiche gilt für Nachrichten, die wir hören oder lesen. Jede Mel-
dung, die wir online lesen oder im Radio hören, ist unvollständig. Sie
lässt Informationen über die Zeitmerkmale aus, die notwendig sind, um
zu verstehen, warum Ereignisse eingetreten sind, als es der Fall war,
und was wir für die Zukunft erwarten können. Diese Meldungen las-
sen Informationen, die wir brauchen, nicht etwa aus Platzmangel oder
redaktionellen Fehlurteilen aus – und welches enorme Ausmaß diese
Auslassungen haben, wird am Ende dieses Buches deutlich. Das Problem
* »Perfekter Sturm« bezeichnet im Folgenden eine seltene Verkettung besonders verhängnis-
voller Umstände (A. d. Ü.).
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ist vielmehr, dass alle zeitlichen Merkmale, die Einfluss auf das Timing
von Ereignissen haben, weder dem Reporter, der die Meldung verfasst,
noch dem Redakteur, der sie bearbeitet, oder dem Leser, der sie liest, in
den Sinn kommen. Wir sprechen häufig von systemischen Risiken und
davon, Einzelpunkte zu verbinden. Aber bevor wir die Punkte verbinden
können, müssen wir sie erst einmal finden. Wie wir im Fall des tödli-
chen Unfalls bei den Olympischen Winterspielen 2010 gesehen haben,
ist das nicht einfach. Die Lösung besteht daher nicht im Data-Mining,
also darin, Millionen verstreuter Informationshäppchen zu sammeln
und dann die Punkte zu verbinden. Ganz gleich, wie groß die Datenbasis
oder wie ausgeklügelt die Suchalgorithmen auch sein mögen: Es lässt
sich daraus nichts gewinnen, was gar nicht darin angelegt ist.
Wenn wir alle Intervalle, Rhythmen, Sequenzen und so weiter mit ein-
beziehen, die mit Ereignissen in der realen Welt verbunden sind, können
wir nicht nur besser vorhersagen, was passieren könnte, sondern auch
wann. Der Arabische Frühling liefert ein Beispiel, wie eine »zeitreiche«
Beschreibung aussehen könnte. Dieser Frühling, der nun schon so lange
zurückzuliegen scheint, begann, wie viele sich wohl noch erinnern, als
ein Straßenhändler in Tunesien von der Polizei gedemütigt wurde und
sich selbst verbrannte. Sein Tod löste Proteste aus, die Tunesiens Prä-
sidenten zum Rücktritt zwangen. An diesem Punkt drängte sich allen
die Frage auf: Was würde als Nächstes passieren? Würden die Proteste
auf Ägypten übergreifen? Niemand wusste es. Um zu sehen, welchen
Einfluss das Timing hatte, nehmen wir die Chronologie unter die Lupe:
• Herbst 2010: In Ägypten finden Parlamentswahlen statt. Weithin
herrscht die Überzeugung, dass es dabei zu Wahlbetrug kommt.
• 17. Dezember: Ein tunesischer Straßenhändler, Mohamed Bouazizi, zün-
det sich an; am 18. Dezember gibt es in seiner Heimatstadt Proteste.
• 4. Januar 2011: Bouazizi stirbt im Krankenhaus kurz nach einem Besuch
des tunesischen Präsidenten, der als zu wenig und zu spät eingestuft
wird. Aus Empörung über Bouazizis Tod und die hohe und weiter stei-
gende Arbeitslosigkeit brechen gewaltsame Proteste aus.
• 14. Januar: Proteste zwingen den tunesischen Präsidenten Ben Ali zum
Rücktritt.
Einleitung 21
• 25. Januar: In Ägypten beginnen seit Monaten geplante Demons-
trationen gegen die Brutalität der Polizei und eskalieren rasant.
• 11. Februar: Der ägyptische Präsident Mubarak ist gezwungen zurück-
zutreten.
Um herauszuarbeiten, inwieweit das Timing der Ereignisse zu Muba-
raks Rücktritt beitrug, stellen wir uns einmal einen anderen zeitlichen
Verlauf vor. Angenommen, die Ereignisse in Tunesien wären fünf Monate
später eingetreten, als es der Fall war. Das hätte zwei Folgen gehabt. Ers-
tens hätte es sie zeitlich von den ägyptischen Wahlen im Herbst abge-
rückt. Wut kann sich leichter aufbauen, wenn die auslösenden Ereignisse
dicht beieinander liegen. Zweitens hätten sie erst nach dem 25. Januar
stattgefunden, dem Datum, an dem Demonstrationen gegen Polizeibru-
talität geplant waren. Damit hätten die Demonstranten am 25. Januar
sich Tunesien nicht zum Vorbild nehmen können, weil die Ereignisse in
Tunesien noch gar nicht stattgefunden hätten.
Gehen wir als Nächstes von einer unveränderten Chronologie aus,
nehmen aber an, dass es keinen festen Termin für Proteste gegen Poli-
zeibrutalität gegeben hätte. Nach den Ereignissen in Tunesien hätten
sich die Spannungen in Ägypten vielleicht verschärft, aber es hätte kei-
nen geplanten Auslösezeitpunkt gegeben. Proteste brechen leichter aus,
wenn es einen einzelnen definierten Zeitpunkt gibt, an dem sie sich kon-
zentrieren können. (Druck = Kraft/Fläche, für alle, die sich noch an ihre
Schulphysik erinnern).
Nehmen wir als Letztes an, dass die Proteste in Tunesien einen ande-
ren Verlauf genommen hätten. Statt rasant zu eskalieren und sofort zum
Sturz Präsident Ben Alis zu führen, hätten sie sich langsam gesteigert, und
es hätte Monate statt Wochen gedauert, ihn zum Rücktritt zu zwingen.
Physikalische Ursachen werden in der Regel als stärker wahrgenommen,
wenn sie unmittelbare Auswirkungen haben. Das Gleiche gilt für mensch-
liches Handeln. Menschen erleben ein Gefühl der Effektivität, wenn sie
ein schwieriges Ziel schnell erreichen. Was die Ereignisse in Tunesien
zu einem eindrucksvollen, nachahmungswürdigen Vorbild machte, war
nicht nur das Ergebnis, das die tunesischen Demonstranten erreicht hat-
ten, sondern auch die Geschwindigkeit, mit der sie es erreicht hatten.
22 Jetzt!
Bei einem anderen Timing der Ereignisse könnte Mubarak also noch
an der Macht sein. Wissen können wir es natürlich nicht. Es hätte den-
noch sein können, dass Demonstrationen ihn aus dem Amt gezwungen
hätten. Aber wenn wir diese zeitlichen Elemente, die zeitliche Gestal-
tung der Proteste, einbeziehen – wie schnell sie ausbrachen und eska-
lierten, den Zeitpunkt der geplanten Proteste gegen die Polizei, ihre
Position im Verhältnis zu anderen Ereignissen und so weiter –, verste-
hen wir erheblich besser, was wann passierte. Wenn wir sie in unser
Denken einbeziehen und in Echtzeit beobachten, werden wir besser
darauf vorbereitet sein, was die Zukunft bereithält. Unsere Risikoab-
wägung wird genauer.
Über die üblichen Verdächtigen hinausdenken
Mir ist aufgefallen, dass Menschen bestimmte Vermutungen anstellen,
wenn ich erwähne, dass ich ein Buch über Timing schreibe. Daher ist
es wichtig, zu erklären, worum es in diesem Buch nicht geht. Am Ende
des Films Casablanca sagt der Polizeichef zu einem Untergebenen den
berühmten Satz: »Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen.« Hier sind
nun die üblichen Verdächtigen, von denen dieses Buch ausnahmslos
nicht handelt.
Es geht nicht um Geschwindigkeit im engeren Sinne oder darum,
schnell und flexibel zu sein – also um die persönliche und organisato-
rische Fähigkeit, blitzschnell zu reagieren. Es geht nicht um Effizienz,
also wie man in kürzerer Zeit mehr schafft. Es ist kein Buch darüber,
wie man am Aktienmarkt den richtigen Zeitpunkt erkennt; ich sage
niemandem, wann er kaufen oder verkaufen soll. Es ist kein Buch darü-
ber, nicht genügend Zeit für die Aufgaben zu haben, die wir erledigen
müssen. Es geht nicht darum, Prioritäten zu setzen. Es geht nicht um
Zeitmanagement, Projektmanagement oder bessere Organisation. Das
Buch soll nicht dabei helfen, Betriebsabläufe zu optimieren und bei-
spielsweise zu gewährleisten, dass das richtige Bauteil oder eine Res-
source genau zu dem Zeitpunkt verfügbar ist, an dem man sie braucht.
Einleitung 23
Ebenso wenig behandle ich die Planung von Szenarien, Trendanalysen
oder Zukunftsvorhersagen. Kurz, es geht nicht um die üblichen Ver-
dächtigen.
Vielmehr möchte ich die Fähigkeit fördern, mit vier entscheidenden
Timingproblemen umzugehen. Mit ihnen sehen sich alle Gruppen und
Organisationen konfrontiert, und jeder begegnet ihnen regelmäßig im
Privatleben und im Beruf:
1. Wissen, wann es zu handeln gilt
2. Timingrisiken managen
3. Die Bedeutung des Timings erkennen
4. Die richtige Zeitgestaltung wählen
Wissen, wann es zu handeln gilt
Das erste Problem lässt sich mit einem Fragewort zusammenfassen:
wann? Wann ist der richtige Zeitpunkt, ein neues Produkt auf den Markt
zu bringen, in einen Markt ein- oder daraus auszusteigen, eine andere
Firma zu kaufen, eine Organisation umzustrukturieren, in neue Tech-
nologie zu investieren, einen Strategieplan umzusetzen oder von ihm
abzugehen? Wann ist der richtige Zeitpunkt zu handeln?3
Der Dirigent Leonard Bernstein beschreibt das Gespür für den rich-
tigen Moment:
Nur einen einzigen flüchtigen Augenblick hat der Dirigent das Gefühl, daß
genau jetzt der Einsatz kommen muß. Wenn nämlich die Musiker sich bereit
gemacht und gesammelt haben und die Erwartung von ihnen Besitz ergreift;
wenn der Dirigent seinen Willen und alle seine Kräfte auf die Musik, die er
dirigieren soll, konzentriert hat; wenn das Publikum still geworden ist. Kein
Programmheft raschelt mehr, die Musiker haben die Instrumente angesetzt –
und jetzt kommt der Einsatz. Eine Sekunde später wäre es bereits zu spät.4
Bernstein versteht sich auf das richtige Timing, weil er sich eines zeit-
lichen Musters akut bewusst ist – in diesem Fall der wachsenden Span-
nung, die mit einem Konzertbeginn einhergeht, dem Anstieg einer
24 Jetzt!
Spannung, die danach verlangt, genau im richtigen Moment aufgelöst
zu werden.
Für viele Führungskräfte lautet die herkömmliche Antwort auf
Timingfragen: Geschwindigkeit, schnelles Handeln, um der Konkur-
renz zuvorzukommen. Der Erste zu sein gilt gewöhnlich als Vorteil. Das
stimmt aber nur, wenn Folgendes gilt:
• Das Image, ein Pionier zu sein, ist wichtig.
• Lernen und Erfahrung sind wichtig und schwer nachzuahmen.
• Kundenbindung zählt. Sobald Kunden eine Wahl getroffen haben, achten
sie vielleicht nicht mehr auf Alternativen oder haben kein In teresse
mehr daran.
• Man kann sich Vorkaufsrechte auf knappe Ressourcen sichern oder eine
Marktnische vollständig besetzen.
• Durch einen frühzeitigen Start kann man bei Lieferanten und Händlern eine Erfolgsbilanz aufbauen, die Kostenvorteile und Vorzugsbehandlung
sichert.
• Frühes, umfangreiches und unumkehrbares Engagement schreckt andere ab,
sich auf demselben Markt zu betätigen.
• Für Käufer sind die Wechselkosten hoch. Sobald eine Firma in die Umstel-
lung auf das Produkt eines Anbieters investiert hat, ist sie daran
gebunden.
• Der Erste zu sein beendet das Spiel: Unter Wettbewerbern herrscht also
Einigkeit, dass der Erste, der das Rennen macht, die Konkurrenz darum
beendet, weil es für alle schädlich wäre, den Kampf fortzusetzen.5
Unter bestimmten Umständen kann es jedoch besser sein, abzuwarten,
dass ein anderer der Erste ist:
• Man kann aufholen. Eine Firma besitzt vielleicht besondere Stärken in
Herstellung, Vermarktung oder Vertrieb, die es ihr ermöglichen, ver-
lorenen Boden schnell gutzumachen. Sie kann es sich leisten, ande-
ren Firmen die Aufklärung der Kunden und die Anfangsfehler zu
überlassen, und dann zügig nachmachen, was funktioniert.
• Es herrscht ein hohes Maß an Marktunsicherheit. Manchmal ist es klug,
abzuwarten, bis Standards gesetzt und Risiken geklärt sind. Wer früh
Einleitung 25
handelt, bildet vielleicht die falschen Fähigkeiten aus, investiert in die
falsche Technologie und sieht sich mit hohen Umstellungskosten kon-
frontiert, wenn die Bedingungen sich ändern.
Der Erste zu sein ist auch dann ein Nachteil, wenn andere nicht bereit
sind, sich anzuschließen. Das dramatischste Beispiel, das ich kenne,
ereignete sich in der Sowjetunion zur Zeit der stalinistischen Säuberun-
gen. Am Ende einer Konferenz der Kommunistischen Partei wurde zu
einem Tribut an Stalin aufgefordert. Alle erhoben sich und applaudierten
prompt. Der Beifall hielt einige Minuten an. Die Sekunden vergingen,
die Stimmung wurde leicht zögerlich und schließlich angespannt. Wer
würde als Erster aufhören zu klatschen? Nicht der Parteisekretär auf
dem Podium – seinen Vorgänger hatte man erst kürzlich verhaftet, und
bei dieser Versammlung war Geheimpolizei anwesend. Nach elf Minu-
ten hörte schließlich der Direktor einer Papierfabrik, der mit auf der
Bühne saß, als Erster zu klatschen auf und setzte sich. Erleichtert folgte
die Menge seinem Beispiel. Am selben Abend wurde der Mann verhaftet.
Beim Verhör erklärte man ihm, man dürfe »nie als Erster aufhören zu
applaudieren«; anschließend wanderte er für zehn Jahre ins Gefängnis.6
Diese Anekdote ist auf finstere Art amüsant – teils, weil sie vor langer
Zeit geschah und nicht uns passierte. Aber sie unterstreicht den wesent-
lichen Punkt: Der Erste zu sein ist nicht immer am besten, und »wann«
ist eine Frage, die sich nicht leicht beantworten lässt.
Timingrisiken managen
Das zweite Timingproblem sind die Risiken. Wir stoßen unweigerlich auf
unvorhergesehene Timingrisiken – und wünschten, wir hätten sie vor-
hergesehen, wie es bei den Olympischen Spielen 2010 der Fall war. Der
Finanzautor Mark Ingebretsen beschreibt in seinem Buch Why Compa-
nies Fail ein typisches Beispiel. Ein großer amerikanischer Nahrungs-
mittelhersteller baute eine Fabrik zur Ananasverarbeitung flussaufwärts
vom Anbaugebiet. Zur Erntezeit sollte eine Barke die Ananas zu der Kon-
servenfabrik bringen. Leider war zu dieser Jahreszeit die Strömung so
26 Jetzt!
stark, dass das Boot nicht dagegen ankam. Ich war nicht dabei, als die
Unternehmensgewinne mit dem reißenden Fluss davonschwammen.
Aber es fällt nicht schwer, sich die Szene auszumalen: wütende Stim-
men, Fingerzeige, jemand, dessen Stelle in Gefahr war. Verständlich und
vielleicht angebracht. Die Verantwortlichen hätten es wissen müssen. Ihr
Fehler war, das Timing nicht in Betracht zu ziehen.7
Bei Risiken denken wir gewöhnlich in erster Linie an die Art einer
Gefahr: Welche Art von Risiko gehe ich ein? Werden neue Konkurren-
ten in die Marktnische eindringen, die ich derzeit dominiere? Werden
neue Gesetze meine Innovationsmöglichkeiten einschränken? Werden
wissenschaftliche und technologische Fortschritte meine Produkte oder
Dienstleistungen überflüssig machen? Als Nächstes denken wir an die
Größe eines Risikos: Wie schwerwiegend ist dieses Risiko? Was würde
passieren, wenn es eintritt? Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt, den
wir bedenken sollten, nämlich das Timing: Wann könnte ein Risiko wie
das eines schweren Sturms eintreten, und wie lange wird meine Vor-
warnzeit sein?
Die Bedeutung des Timings erkennen
Steven Ballmer, CEO von Microsoft, antwortete 2009 auf die Frage, wel-
cher Teil seiner Arbeit für ihn am schwierigsten sei, er finde es frustrie-
rend, »wenn Fortschritt auf Probleme stößt, die man hätte vorhersehen
müssen oder die man schlicht nicht hätte vorhersehen können«.8
Nicht alle Timingprobleme sind offensichtlich. Vielleicht wussten
Sie ja, dass Sie Personalentscheidungen treffen müssten, aber Ihnen
war nicht klar, dass sich das Zeitfenster dafür so schnell schließen
würde. Vielleicht machen Sie sich Gedanken, wie Konkurrenten auf
Ihre neue Produktlinie reagieren werden, aber Sie haben nicht durch-
dacht, wie das Timing ihrer Reaktion sich auf Ihren Marketingplan
auswirken würde. Von Ihrem Bauchgefühl her ist Ihnen vielleicht klar,
dass das Projekt, das Sie leiten, länger brauchen wird als geplant, aber
Sie haben nicht realisiert, was Sie sofort tun müssten, um Ihre Leute
und Ressourcen vor den Folgen einer Verzögerung zu schützen. In
Einleitung 27
jedem komplexen Unternehmen gibt es eine Fülle von Timingproble-
men, die Ihnen bewusst sein sollten. Dieses Buch möchte Ihnen helfen,
sie aufzuspüren, damit solche Probleme Sie nicht unvorbereitet treffen,
wenn sie auftauchen.
Die richtige Zeitgestaltung wählen
Manchmal lässt sich eine bestimmte Maßnahme nur zu einem einzigen
Zeitpunkt durchführen. Ein Kollege an einer technischen Position, die
spezifische Fähigkeiten und Qualifikationen erfordert, kündigt plötz-
lich. Sie brauchen sofort Ersatz, der die Lücke schließt. Darum stellen
Sie unverzüglich die einzige Person aus Ihrem zuverlässigen Netzwerk
ein, die die entsprechende Erfahrung besitzt.
Häufiger erstreckt sich unser Vorgehen über einen längeren Zeit-
raum. Um eine angemessene Erfolgsplanung zu gewährleisten, denken
der Aufsichtsrat und der Vorstandschef vielleicht jahrelang über geeig-
nete Nachfolger für die Unternehmensführung nach. Sie führen mit
einigen Kandidaten Gespräche, holen sie in Schlüsselpositionen und
erstellen einen Aktionsplan, wie und wann der aktuelle Firmenchef zu
einem festgelegten zukünftigen Zeitpunkt zurücktritt. Das Timing wird
sorgfältig inszeniert.
Die richtige Zeitgestaltung erfordert einiges Nachdenken. Was ist
zuerst zu tun? Soll ich schrittweise vorgehen, einen Prototyp entwickeln
und dann die Lage ausloten? Soll ich abwarten oder besser so schnell wie
möglich handeln? Jede Herangehensweise hat ihren Platz – es kommt
jeweils auf den größeren Zusammenhang an.
Dieses Buch möchte Ihnen helfen, die beste Zeitgestaltung zu wäh-
len, also beispielsweise Sequenz, Tempo und Rhythmus genau auf Ihre
Anforderungen und Aufgaben abzustimmen. George Mitchell – der
für seine Friedensbemühungen in Nordirland den Friedensnobelpreis
erhielt – liefert ein gutes Beispiel für effektive Zeitgestaltung, wenn
er die Vorbereitung eines Treffens zwischen dem britischen Premier-
minister Tony Blair und dem irischen Premierminister Bertie Ahern
beschreibt:
28 Jetzt!
Wenn wir am Donnerstagmorgen anfangen, muss jedem klar sein, dass wir
weitermachen, bis wir fertig sind, so oder so. Es kann keine Rede von einer
Pause oder Unterbrechung sein. Ich habe die Absicht, den Parteien zu erklä-
ren, dass ich über eine solche Bitte nicht einmal nachdenken werde. Wenn
jemand zu mir sagt: »Wir haben es beinahe geschafft, aber wir sind alle müde,
unterbrechen wir bis nächste Woche«, werde ich antworten: »Das kommt
überhaupt nicht infrage. Es gibt keine Unterbrechung, nicht für eine Woche,
nicht für einen Tag, nicht für eine Stunde. Wir bleiben hier, bis wir fertig sind.
Entweder wir kommen zu einer Vereinbarung oder wir kommen nicht zu einer
Vereinbarung. Dann gehen wir alle gemeinsam hinaus und erklären der Presse
und der wartenden Welt, was wir geschafft haben oder warum wir gescheitert
sind.9
Diese Schilderung enthält zwei wesentliche Entscheidungen. Die erste
betrifft die zeitliche Interpunktion (siehe Kapitel 3). Mitchell verlangte
einen durchgängigen, ununterbrochenen Prozess. Es durfte keine Unter-
brechungen, Auszeiten oder Pausen geben, nur eine anhaltende Bemü-
hung, zu einer Vereinbarung zu gelangen. Die zweite Entscheidung
betraf die Frage, wann diese besondere Zeitgestaltung notwendig war.
Nachdem Mitchell den Respekt beider Seiten gewonnen hatte, verfügte
er über die Macht, eine Wahl zu treffen. Ebenso wichtig ist jedoch, dass
ihm eines klar war: Er hatte eine Wahl und wusste, dass eine Vorgehens-
weise in diesem bestimmten Moment wahrscheinlich effektiver war als
eine andere.
Eine Timinganalyse
Eine Timinganalyse ist eine strukturierte Methode, um die Fakten
herauszufinden, die in einer bestimmten Situation für bessere Timing-
ent scheidungen notwendig sind. In ihrer Grundform besteht sie aus drei
Schritten: 1) Muster in der eigenen Arbeit und Umgebung erkennen; 2)
sie analysieren und 3) die Informationen, die sie enthalten, für Entschei-
dungen nutzen.
Einleitung 29
Den Kern einer Timinganalyse bildet die Suche nach Mustern. Dabei
geht es jedoch nicht um beliebige Muster. Die für Timingfragen wich-
tigen Muster zeichnen sich durch zwei Merkmale aus: Erstens bestehen
sie aus sechs Elementen, die ich weiter unten ausführe. Zweitens besit-
Abb. 0.1: Ausschnitt aus der Partitur zu Beethovens Fünfter Symphonie
30 Jetzt!
zen sie eine bestimmte Struktur, die sich anhand eines vertrauten Bildes
veranschaulichen lässt: einer Partitur. Für alle, die nicht zufällig Musi-
ker sind, ist hier ein Ausschnitt aus der Partitur zu Beethovens Fünfter
Symphonie abgebildet.
Von der Komplexität dieser Partitur sollte sich niemand abschrecken
lassen. Man braucht keine musikalischen Kenntnisse! Wichtig ist die
Gesamtstruktur einer Partitur.
Sie besitzt, wie man sieht, eine vertikale und eine horizontale Dimen-
sion. Unterschiedliche Instrumente (vertikal angeordnet) spielen unter-
schiedliche Stimmen. Die Noten der einzelnen Stimmen, die auf oder
zwischen den Liniensystemen stehen, werden nacheinander von links
nach rechts gespielt. Gleichzeitig gespielte Noten ergeben Akkorde oder
Harmonien und in manchen Musikstücken Dissonanzen. Noten, die
nacheinander gespielt werden, ergeben Melodien. Die Beziehungen zwi-
schen den Noten der horizontalen und der vertikalen Dimension definie-
ren und bilden die Komposition.
Wenn Sie kurz über Ihre eigene Arbeit nachdenken, wird Ihnen die
Analogie zu einer Partitur klar. Jede Situation, in der Timing wichtig
ist, hat zahlreiche bewegliche Elemente. Viele Dinge passieren gleich-
zeitig (die vertikale Dimension). Eine Firma erledigt eine Aufgabe, eine
andere Firma eine andere. Jede Person oder Gruppe spielt ihre eigene
Stimme (die horizontale Dimension) – oder versucht es zumindest. Jede
Stimme (ein Satz von Handlungen) hat ihre eigene Sequenz, ihr Tempo
und ihren Rhythmus. Das Zusammenspiel dieser verschiedenen, sich
überschneidenden Stimmen – ob es harmonisch, dissonant oder nur lär-
mend und chaotisch ist – bestimmt, wann die richtigen Bedingungen
für bestimmte Aktionen gegeben sind.
Schaut man sich die Vorgänge in der Wirtschaft genauer an, so zeigt
sich, dass sie aus sechs Elementen bestehen. Die ersten fünf – Sequenz,
Interpunktion, Intervall, Tempo und Form – definieren und beschrei-
ben die horizontale Dimension der Partitur. Das sechste Element fügt
die Vielschichtigkeit und damit die vertikale Dimension hinzu. Hierfür
übernehme ich aus der Musik den Begriff der Polyphonie (Vielstimmig-
keit). Nun kurz zu den einzelnen Elementen:
Einleitung 31
• Sequenz: Dieses Element bezieht sich auf die Abfolge von Ereignissen
wie Noten einer Melodie. In jeder Situation, in der Timing eine Rolle
spielt, ist es hilfreich und oft wesentlich, zu wissen, was auf was folgt.
Zuerst stellt man etwas her und dann verkauft man es; vielleicht läuft
es aber auch umgekehrt: Zuerst verkauft man etwas und baut oder
produziert es anschließend.
• Zeitliche Interpunktion: Dieses Element bezieht sich auf Anfang, Pausen
und Ende von Ereignissen oder Prozessen. Die zeitliche Interpunktion
funktioniert wie die Satzzeichen in der Sprache, sie setzt Kommas,
Punkte und so weiter in einem ansonsten ununterbrochenen Strom
von Handlungen oder Ereignissen. Jedes Unternehmen hat seine Lie-
fertermine; jeder Plan oder Prozess hat einen Anfang.
• Intervall und Dauer: Dieses Element zeigt an, wie viel Zeit zwischen
Ereignissen liegt (Länge des Intervalls) und wie lange jedes Ereignis
dauert oder braucht (Dauer). Egal ob im Geschäft oder im sonstigen
Leben: Alles braucht seine Zeit.
• Tempo: Dieses Element bezieht sich auf die Geschwindigkeit, mit der
sich Ereignisse vollziehen. Manches entwickelt sich schnell, anderes
langsamer. Wer hat nicht schon einmal erlebt, dass ein Projekt den
Zeit- oder Budgetrahmen überschritten hatte, oder musste überrascht
feststellen, wie schnell sich Wirtschaftsbedingungen ändern können?
• Form: Dieses Element beschreibt Rhythmen und andere Bewegungs-
muster wie zum Beispiel Zyklen, Rückkopplungsschleifen, Spitzen
oder Täler. Hat ein Konjunkturtief beispielsweise die Form eines V,
eines W oder einen anderen Verlauf?
• Polyphonie: In jedem Muster können viele Dinge gleichzeitig passieren
und ihren jeweils eigenen Verlauf nehmen. Polyphonie fragt nach
ihrer Wechselbeziehung. Ein Abschwung in China kann zusammen
mit einer Krise in der EU Auswirkungen auf die Wirtschaftsbedin-
gungen in den USA haben.
Für das Funktionieren einer Firma ist entscheidend, wie ihre Einzelteile
organisiert sind. Das Gleiche gilt für diese sechs Elemente. Ihr Zusam-
menspiel in vertikal und horizontal angeordneten Mustern vermittelt uns
einen Einblick in das Timing. So mag sich ein Chancenfenster öffnen,
32 Jetzt!
wenn ein bestimmter Akkord ertönt – also wenn gewisse Bedingungen
gleichzeitig gegeben sind (es gibt einen Markt, Ihr Produkt ist fertig und
Ihr Konkurrent hinkt um Jahre hinterher). Wenn andere Bedingungen
herrschen, kann daraus ein schwerer Sturm oder ein tragischer Unfall
erwachsen. Mir geht es um Folgendes: Für das richtige Timing müssen
Sie die Partitur kennen!10
Die Muster, die es zu erkennen gilt, bezeichne ich aufgrund ihres Auf-
baus, ihrer Struktur und ihrer Verwendung als Zeitarchitektur, weil sie
ebenso wie die räumliche Architektur eine ästhetische oder emotionale
Qualität besitzen. Sie fühlen sich richtig oder falsch, gut oder schlecht
für die anstehende Aufgabe an. (Die Zeitarchitektur wird im Anhang
ausführlicher behandelt.) Wenn Sie die Muster der Zeitarchitektur
erkennen und untersuchen, werden Sie feststellen, dass Sie erheblich
mehr über Timing und die wahrscheinliche Entwicklung einer Situation
wissen, als Sie dachten. Was völlig unbekannt oder ungewiss schien, ist
nun weniger unklar.
Eine Timinganalyse versucht nicht, die Zukunft vorherzusagen. Viel-
mehr stellt sie eine Möglichkeit dar, mit bereits vorhandenen, aber nicht
erkannten oder untersuchten Mustern zu arbeiten. Sie ist auch nicht
die praktische Anwendung eines abstrakten Modells, eines Rahmen-
werks oder bestimmter Forschungsergebnisse. Was im Labor, bei einem
Unternehmen, in einer Branche oder irgendwann in der Geschichte
funktioniert, gilt möglicherweise nicht für die Probleme, vor die Sie sich
gestellt sehen. Vielmehr versteht man eine Timinganalyse am besten
als Satz diagnostischer und analytischer Instrumente, um mit den spezi-
fischen komplexen, chaotischen Situationen der realen Welt zu arbeiten,
mit denen Sie tatsächlich konfrontiert sind – also mit den sogenannten
Feldbedingungen.
Eine Timinganalyse lässt sich vielfältig nutzen. Sie ergänzt und erwei-
tert den derzeitigen Umgang einer Organisation mit Timingfragen und
kritisiert und korrigiert ihn, wenn das nötig ist. Zudem liefert sie eine
gemeinsame Sprache, das Timing zu diskutieren. Eine solche gemein-
same Sprache erleichtert es unterschiedlichen Abteilungen einer Organi-
sation, die jeweils ihren eigenen Fachjargon haben (den der Finanz-, Wirt-
schafts-, Software-, Marketingfachleute usw.), miteinander zu reden und
Einleitung 33
zu arbeiten. Timinglösungen, die in einer Abteilung oder einem Bereich
entwickelt wurden, lassen sich anderen mitteilen und gemeinsam wei-
terentwickeln. Das Ergebnis ist eine besser koordinierte Timingstrategie
für die gesamte Firma.
Zum Aufbau dieses Buches
Um Muster zu erkennen, müssen wir zunächst ihre Bestandteile fin-
den. Damit befassen sich die ersten sechs Kapitel dieses Buches. Jedes
beschreibt ein Element und dient als eine Art Linse (als Satz von Beispie-
len, Illustrationen und Hinweisen, wo man was suchen sollte), die Ihnen
helfen soll, nach diesem Element zu suchen und es eingehend unter die
Lupe zu nehmen.
Wir alle kennen das Sprichwort: Gib einem Mann einen Fisch, und
du ernährst ihn für einen Tag; lehre ihn fischen, und du ernährst ihn ein
Leben lang. An vielen Stellen dieses Buches finden Sie spezifische Bei-
spiele, Instrumente oder Methoden, die sich unmittelbar in Ihrem Unter-
nehmen anwenden lassen. Sie lösen ein bestimmtes Problem, helfen, eine
schwierige Entscheidung zu treffen, und anderes mehr. Das ist der erste
Teil des Sprichworts. Aber den Vergleich mit einer Linse benutze ich, weil
diese Kapitel eine umfassendere Funktion erfüllen sollen. Sie sollen die
Fähigkeit vermitteln, Timingprobleme in jeder Situation zu sehen und zu
analysieren, ebenso, wie man mit einem starken Fernglas jedes Objekt
betrachten und Einzelheiten entdecken kann, die zuvor nicht zu erken-
nen waren. Das ist der zweite Teil des Sprichworts und meiner Ansicht
nach der tiefgreifendere, wichtigere Beitrag dieser Kapitel.
Jedes der ersten sechs Kapitel beginnt mit einem oder zwei Beispie-
len, die als Orientierung dienen und das jeweilige Element im Kontext
zu erkennen helfen. Anschließend beschreibe ich ausführlich die Merk-
male dieses Elements. In der Regel hat es nicht mehr als ein halbes Dut-
zend charakteristische Merkmale. Sie sind wichtig, weil sie eine Quelle
für Timingrisiken sind. Informationen über Risiken lassen sich auf zwei
Arten nutzen: um sich auf mögliche zukünftige Probleme vorzuberei-
34 Jetzt!
ten oder um rückblickend besser zu verstehen, wie Timingfehler dazu
beigetragen haben, dass ein Plan oder Projekt hinter den Erwartungen
zurückgeblieben ist. Dem Abschnitt über Risiken in jedem Kapitel folgt
meist ein Abschnitt über Chancen und Möglichkeiten. Sie zeigen auf,
wie sich dieses Element nutzen lässt, um die Arbeit effektiver und pro-
fitabler zu gestalten. In jedem dieser sechs Kapitel bildet ein Abschnitt
mit der Überschrift »Zeitfantasie« den Abschluss. Er beschreibt einen
Aspekt, den ich besonders faszinierend finde. Für mich ist er so etwas
wie das Dessert nach dem Hauptgang. Es soll leicht und schaumig sein –
allerdings muss ich zugeben, dass manche auch als vollwertige Mahlzeit
durchgehen könnten.
Eine knappe Zusammenfassung am Ende dieser »Linsenkapitel«
zeigt noch einmal die wesentlichen Ideen auf.
Das siebte Kapitel – zum Timing von Widerspruch – führt alle Ele-
mente zusammen, um zu demonstrieren, wie die sechs Timinglinsen
in einer gängigen Arbeitssituation anzuwenden sind: in einem Meeting,
in dem ein Firmenchef und seine Kollegen diskutieren, ob sie ein neues
Produkt auf den Markt bringen sollen oder nicht. Dieses Kapitel ver-
anschaulicht, wie sich die Elemente nutzen lassen, um seine Einwände
rechtzeitig und wirksam vorzubringen.
Das letzte Kapitel des Buches beschreibt die einzelnen Schritte und
allgemeinen Leitlinien für eine Timinganalyse und baut auf den vorher-
gehenden Kapiteln auf.
Wer sein Auge darin schult, die Elemente der Zeitarchitektur und die
Muster zu erkennen, die sie bilden, entdeckt eine reichere, komplexere
Welt. Das ist immer der Fall, wenn man unter die Oberfläche schaut,
ob man nun die Infrastruktur eines Gebäudes untersucht oder eine
Magnetresonanztomographie des Gehirns macht. Ziel einer Timingana-
lyse ist es jedoch nicht, die Komplexität zu erhöhen, sondern sie wieder-
herzustellen, also das zurückzubringen, was unser Auge nicht sieht und
unser Denken nicht berücksichtigt. Die gute Nachricht lautet, dass eine
Timinganalyse eine Möglichkeit bietet, diese Komplexität zu organisie-
ren. Das macht sie so wirkungsvoll.
Eine weitere Quelle für die Stärke einer Timinganalyse ist, dass man
sie auf nahezu jede Situation anwenden kann, mit der eine Führungs-
Einleitung 35
kraft konfrontiert wird. Einer der Gründe dafür ist die Tatsache, dass die
Barrieren, die uns am richtigen Timing hindern, nicht auf eine spezifi-
sche Situation, Organisation oder Rolle beschränkt sind: Vielmehr brin-
gen wir sie unter anderem in Form der Copland-Beschränkung und der
Q-Kapazität des Gehirns mit. Der zweite Grund ist, dass die Instrumente
und Methoden einer Timinganalyse in hohem Maße allgemein sind. Es
wäre ineffizient und kontraproduktiv, die Welt als Ansammlung von Silos
zu sehen, in denen wir jeweils anders denken müssten. Wir brauchen
Instrumente, die unter vielfältigen Rahmenbedingungen funktionieren.
In einer komplexen Welt gibt es immer eine Kombination verschie-
dener Faktoren – unter anderem finanzielle, rechtliche, wirtschaftliche,
organisatorische, wettbewerbsbezogene, strategische, politische und
psychologische Aspekte –, die Führungskräfte und leitende Angestellte
berücksichtigen müssen. Aus diesem Grund enthält dieses Buch eine
Fülle von Beispielen. Führungskräfte müssen breit angelegt denken und
alle Facetten eines Problems untersuchen, bevor sie eine Timingent-
scheidung treffen, zumal, wenn viel auf dem Spiel steht. Geschick in
Timingfragen erfordert zudem, dass wir unter die Oberfläche schauen
und die Zeitstruktur oder -architektur eines Problems erkennen lernen.
Der beste Weg dazu ist, sich das Wirken desselben Timingprinzips in
verschiedenen Zusammenhängen anzusehen.
Die in den Kapiteln geschilderten Beispiele fallen in zwei Grundkate-
gorien. Einige beschreiben Bedingungen in der Welt, Vorgänge in einem
bestimmten Rahmen oder Umfeld. Andere schildern Maßnahmen, die
Sie oder andere ergreifen könnten. Diese Kategorien spiegeln den doppel-
ten Nutzen einer Timinganalyse wider: seine Umgebung zu verstehen,
um zu wissen, wann man handeln sollte, und eine zeitlich fundierte Vor-
gehensweise zu entwickeln, die in diesem Kontext effektiv ist.
Die Kunst des richtigen Timings
Auch wenn ich praktische Werkzeuge für die Lösung von Timingpro-
blemen vorschlage, muss man fairerweise anerkennen, dass geschicktes
36 Jetzt!
Timing eine Kunst ist. Es ist nichts, was wir automatisieren oder »nach
Anleitung« tun könnten. Ich kann mir keine bessere Illustration der
Kunst des Timings vorstellen als die Beschreibung einer Theaterprobe des
legendären Theaterregisseurs Peter Brook (Hervorhebungen von mir):
Manchmal muß die ganze Aufmerksamkeit auf einen Schauspieler gerich-
tet sein; zu anderen Zeiten gebietet der Kollektivprozeß der Arbeit des Indi-
viduums Einhalt. Nicht jede Einzelheit kann erprobt werden. Wollte man
jede Möglichkeit mit einem jeden durchdiskutieren, dann könnte das zu viel
Zeit in Anspruch nehmen und dem Ganzen schaden. Hier muß der Regis-
seur seinen Zeitsinn bewähren; er muß den Rhythmus des Ablaufs fühlen und
seine Einteilung beachten. Für alles muß der rechte Augenblick gegeben sein:
die großen Linien eines Stückes zu besprechen oder sie zu vergessen und
zu entdecken, was nur durch Freude, Überschwang und Unverantwortlichkeit
gefunden werden kann. Es gibt auch den Augenblick, wo sich niemand über
das Ergebnis seiner Mühen Sorgen machen soll … Dann gibt es einen weite-
ren Punkt, den der Regisseur aufspüren muß. Er muß den Augenblick spüren,
da eine Gruppe von Schauspielern, von ihrem eigenen Talent und der auf-
regenden Arbeit berauscht, das Stück aus den Augen verliert. Plötzlich eines
Morgens muß die Arbeit umschlagen: das Ergebnis tritt an die erste Stelle.
Dann werden Scherze und Ausschmückungen unbarmherzig entfernt, und
die gesamte Aufmerksamkeit wird auf die Funktion des Abends gelenkt, auf
das Erzählen, das Darstellen, die Technik, die Hörbarkeit, den Kontakt mit
dem Publikum. Es ist daher töricht, wenn sich der Regisseur einer doktrinä-
ren Ansicht verschreibt; entweder daß er sich der technischen Sprache über
Tempo, Tonstärke usw. bedient, oder daß er dies vermeidet, weil es unkünst-
lerisch ist. Es ist erschreckend leicht für einen Regisseur, in einer Methode
steckenzubleiben.11
Diese Beschreibung zeigt, dass Brook ein Meister ist. Er liest seine Umge-
bung perfekt. Er weiß, auf welche Probleme er wann stoßen wird und
wie sein Handeln in ebendiesen Momenten über Erfolg oder Scheitern
der Probe bestimmen wird. Er konzentriert sich nicht nur auf das Stück
oder die Fähigkeiten der Schauspieler, sondern auch auf die Zeitstruktur
der Probe. Er horcht auf den Rhythmus der Vorgänge, auf Momente der
Spannung oder Entspannung, auf Momente, in denen er innehalten und
Einleitung 37
die Richtung wechseln muss. Dieses Zitat fängt in gewissem Sinne ein,
was Timingexpertise in jedem Bereich ausmacht.
Das Können, das Brook an den Tag legt, lässt sich nicht über Nacht
erwerben. Aber die Zeit, die Sie in die Verbesserung Ihres Timingge-
schicks investieren, ist gut angelegt, wenn Sie und Ihre Organisation
Chancen als Erste erkennen, gut nutzen und kostspielige Fehler vermei-
den wollen. Nachdem Sie dieses Buch gelesen haben, werden Sie eine
wirkungsvolle neue Sicht auf Ihr tägliches Tun gewonnen haben. Sie
werden das Timing Ihrer Handlungen und Tätigkeiten verbessern und
damit wahrscheinlich Ihren Erfolg erhöhen.
Sequenz 39
1
Sequenz
Zeit ist das Mittel, mit dem die Natur verhindert,
dass alles gleichzeitig passiert.
John Wheeler1
Stellen Sie sich vor, Sie gießen Wasser durch einen Trichter. Würde das
gesamte Wasser gleichzeitig versuchen, durch den engen Hals zu flie-
ßen, gäbe es Chaos wie bei dem Menschengedränge am Ausgang eines
Kinos, nachdem jemand »Feuer!« gebrüllt hat. Ein Trichter funktioniert,
weil Schwerkraft und andere Kräfte sanft bewirken, dass die Wasser-
moleküle eine Reihe bilden, aus der eine schnell drehende Spirale wird.
Wenn wir einen Trichter betrachten, sehen wir seine Form und verste-
hen seine Funktion. Woran wir aber nicht denken, ist der zugrunde lie-
gende, häufig unsichtbare Zeitmechanismus, durch den er funktioniert:
die Sequenz oder Abfolge.
In der Wirtschaft wie auch im Leben allgemein beherrschen und
manipulieren wir vor allem das, was wir sehen und anfassen können:
Wir ersetzen eine Technologie durch eine andere oder verändern die
Verpackung unserer Produkte. Sequenzen sind dagegen abstrakt, nicht
greifbar und daher leicht zu übersehen. Es ist jedoch wichtig, sie zu
erkennen. Verändert man eine Abfolge – produziert etwa ein Produkt,
bevor statt nachdem die Nachfrage da ist –, dann ergibt sich ein völlig
anderes Risiko-Chancen-Profil. Eine Sequenz zu ändern oder anders zu
beschreiben kann die Wahrnehmung eines Produkts verändern, was
sich auf den Verkauf auswirkt. Hatte der Jaguar aus zweiter Hand, den
Sie gerade kaufen möchten, einen Vorbesitzer – hat er also jemandem
gehört, bevor Sie ihn kaufen – oder ist er gebraucht – kaufen Sie ihn also,
nachdem ein anderer ihn gefahren hat?
Wenn wir eine Sequenz entdecken oder bemerken, kann das der Schlüs-
40 Jetzt!
sel zu der Entscheidung sein, wann wir handeln müssen. Zu wissen, welche
Schritte ein Land absolvieren muss, um eine Atomwaffe zu produzieren, ist
ausschlaggebend für die Entscheidung, wann man, wenn überhaupt, Maß-
nahmen ergreifen sollte, um es zu verhindern. Deshalb müssen wir unse-
ren Blick schulen, in unserer Umgebung nach Sequenzen Ausschau zu
halten: Sie enthalten wichtige Hinweise zum Timing. Sie können uns auch
helfen, zu verstehen, warum sich etwas verzögert. Wenn es beispielsweise
keine klar festgelegte Abfolge von Schritten gibt, die einem Land den Aus-
tritt aus der EU erlaubt, ohne sich (und die übrigen Länder) zu gefährden,
kann man damit rechnen, dass eine Entscheidung, diesen Weg einzuschla-
gen, hinausgezögert wird – vielleicht sogar auf immer.
Merkmale von Sequenzen
Sobald Sie eine Reihe von Ereignissen finden, die eine Sequenz bilden wie
die Wassermoleküle im Trichter, sollten Sie sich diese genauer anschauen.
Bei Sequenzen geht es nicht nur darum, was auf was folgt. Sie besitzen
vielmehr wichtige Eigenschaften, die ich in diesem Kapitel beschreibe.
1. Reihenfolge. Was folgt auf was und warum? Gibt es einen Grund, warum
B auf A und C auf B folgt? Ist diese Reihenfolge notwendig? Wäre es
besser, etwas in einer anderen Reihenfolge zu tun?
2. Interpunktion. Gibt es erkennbare Stufen oder Stadien? Kann man eine
auslassen, später zurückkommen und die Aufgabe erledigen (Schleife)?
3. Intervall und Dauer. Wie lange dauert jeder Schritt, jedes Stadium, und
welche Zeitspanne liegt zwischen ihnen?
4. Form. Gibt es Flaschenhälse oder andere Engpässe (siehe unten), die
den Fortschritt verzögern oder erschweren?
5. Position. Eine Sequenz definiert eine Reihe von Positionen. Tritt ein
Ereignis am Anfang, in der Mitte oder am Ende einer Sequenz auf,
und spielt die Position eine Rolle?
6. Sequenzausdehnung. Wie lang ist eine Sequenz? Wann fängt sie an, wann
endet sie?
Sequenz 41
Abbildung 1.1 zeigt diese Merkmale der Sequenz wie in einer Großauf-
nahme.
Abb. 1.1: Großaufnahme einer Sequenz
Betrachten wir nun jedes Merkmal eingehender.
Reihenfolge
Die Reihenfolge, in der Ereignisse oder Handlungen eintreten, ist die
Haupteigenschaft jeder Sequenz. Auf A folgt B, auf B folgt C und so weiter.
Wenn Sie Kaffee in einer neuen Geschmacksrichtung herausbringen
möchten, unternehmen Sie bestimmte Schritte, bevor Sie das Produkt
ankündigen: Sie legen die Rezeptur fest, geben der Geschmacksrichtung
einen Namen, testen sie am Markt, ändern die Bestandteile, um den
Geschmack anzupassen, führen erneut einen Markttest durch und so
weiter. Sobald Sie wie in diesem Kaffeebeispiel eine bestimmte Reihen-
folge Ihrer Aktivitäten feststellen oder erkennen, stellt sich als Nächstes
die Frage, ob sie sich verändern lässt. Könnte ein Schritt vor einem ande-
ren getan werden oder ließe sich die Abfolge zweier Schritte umkehren?
Würde Ihr Unternehmen von einer solchen Änderung der Reihenfolge
profitieren? Angenommen, Sie warten mit der Namensgebung der Kaf-
feesorte bis nach dem Markttest – würde das die Reaktion der Kunden
verändern? Oder könnte man einen Schritt auslassen? Was wäre, wenn
Sie auf den zweiten Markttest verzichteten – welche Auswirkungen hätte
das auf Ihr Budget? Alles, was wir tun, hat eine bestimmte Reihenfolge.
Manchmal ist es nützlich, Alternativen in Betracht zu ziehen, besonders,
wenn Sie etwas seit Jahren in derselben Abfolge machen.
Sequenz-umfang
Position
Interpunktion
Intervall Zirku-larität Flaschenhals
Dauer
Reihenfolge Form
A B C D FE
Y Z
42 Jetzt!
Wenn die Reihenfolge eines Ablaufs sich nicht ändern lässt (ein Schritt
auf den anderen folgen muss und keiner ausgelassen werden darf), kann
das Probleme verursachen. Nehmen wir die Markteinführung von Dean
Kamens Elektroroller Segway als Beispiel für das, was ich strikte serielle
Zwänge nenne.
Als der originale Segway PT (Personal Transporter) 2001 auf den
Markt kam, wirkte er vermutlich so, als würde er mitsamt Fahrer umkip-
pen. Das passiert aber nicht, weil der Segway selbstbalancierend ist –
und ebendeshalb ist er bahnbrechend. Trotzdem wäre wohl jeder skep-
tisch, was Sicherheit und Bequemlichkeit angeht, bevor er den Roller
nicht selbst gefahren hätte. Mit diesem Wissen im Hinterkopf fragt sich:
Wann würden Sie ein Exemplar kaufen? Vermutlich nicht, bevor Sie eine
Probefahrt gemacht hätten. Und wann ist das? Erst wenn Einzelhänd-
ler ihn führen. Aber die Einzelhändler nahmen den Roller lange nicht
ins Programm, weil in den meisten Staaten der Einsatz von Segways auf
Bürgersteigen gesetzlich verboten war. Sie hätten einen Segway also erst
nach einer Änderung der Gesetzeslage kaufen können. Die Firma verlor
über fünf Jahre an Umsatz, weil sie das Produkt einführte, bevor es sich
weithin nutzen ließ.
Segway steckte in einem Teufelskreis: Einzelhändler nahmen das Pro-
dukt nicht ab, bevor sie nicht wussten, ob es einen Markt gab, das konn-
ten sie aber gar nicht wissen, bevor Kunden das Produkt ausprobierten;
aber die Kunden konnten es nicht ausprobieren, weil die Einzelhändler
es nicht führten. Wegen seiner revolutionären Konstruktion war die Ent-
wicklung des Segway geheim. Daher konnte das Unternehmen die nach-
gelagerten Aufgaben wie die kommunale Lobbyarbeit, das Gerät für Bür-
gersteige zuzulassen, nicht angehen, bevor das Produkt vorgestellt war.
Sahen die Entwickler des Segway Möglichkeiten, die staatliche Zulas-
sung zu beschleunigen oder eine spätere Markteinführung zu beschlie-
ßen? Sahen sie den Teufelskreis voraus, in dem sie in Hinblick auf die
Einzelhändler steckten? Die Antworten auf diese Fragen kenne ich nicht,
und in gewissem Sinne sind sie für unsere Zwecke auch irrelevant. Es
kommt darauf an, dass Sie lernen, in Ihrem Unternehmen Fragen zur
Sequenz zu stellen, damit Sie die möglicherweise auftretenden Schwie-
rigkeiten besser voraussehen können.
Sequenz 43
Im Fall des Segway hätte man sämtliche Timingrisiken, die mit der
Reihenfolge zusammenhingen, von Anfang an erkennen können, wenn
nur jemand darauf geachtet hätte. Aber das Unternehmen verfolgte offen-
bar eine typische Timingstrategie: Der Schwerpunkt lag auf der Schnel-
ligkeit, auf der schnellstmöglichen Markteinführung des Produkts. Die-
ses Buch möchte Ihnen zeigen, dass Sie erheblich mehr sehen, wenn Sie
wissen, wie und wohin Sie schauen müssen.
Wie Dean Kamen musste auch Saul Griffith die Schritte erkennen, die
für den Erfolg seiner Erfindung notwendig gewesen wären. Als Student
am MIT (Massachusetts Institute of Technology) erfand Griffith 2004
einen Weg, preiswerte Brillen für Menschen in den Entwicklungslän-
dern maßzufertigen.2 Nach seiner damaligen Einschätzung bestand das
Problem darin, Linsen herzustellen, ohne eine kostspielige Fabrik bauen
zu müssen, die arme Länder sich nicht leisten konnten. Als Lösung ent-
wickelte Griffith ein Verfahren, jede Linsenstärke aus einer schnell här-
tenden Flüssigkeit zu gießen.
Technisch war seine Erfindung ein großer Erfolg. Er bekam vom
MIT 30 000 Dollar Preisgeld und von der MacArthur Foundation einen
»Genius Grant« über 500 000 Dollar. Leider hatte Griffith in seinem
Werkzeugkasten keine Timinglinse, die ihm geholfen hätte, die Sequenz
zu erkennen, von der ein Erfolg seiner Erfindung abhing.
Griffith erklärte: »Das eigentliche Problem bei Brillen in den Ent-
wicklungsländern ist nicht die Herstellung der Linsen … es ist die Mes-
sung der Sehstärke und das Brillenrezept für Menschen, die kaum oder
gar keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben – eine Frage
der Politik und der Wirtschaft, nicht der Technologie.«3 Er übersah die
Schritte, die Menschen tun mussten, bevor sie seine Technologie nutzen
konnten. Folglich fand seine Erfindung nie einen Markt. Aber Griffith
saß auch einer Fehldiagnose auf. Er sah es als politisches und wirtschaft-
liches Problem, was es sicher auch war. Aber zugleich war es auch ein
Timingproblem, das mit der Reihenfolge zusammenhing.
Sequenzen haben natürlich neben der Reihenfolge noch weitere Merk-
male, die für die Wirtschaft relevant sind. An dieser Stelle will ich sie nur
kurz anreißen, weil spätere Kapitel sie ausführlich behandeln.
44 Jetzt!
Interpunktion
Sequenzen nutzen Schritte und Stadien, um einen kontinuierlichen Pro-
zess aufzuteilen – so wie Kommas und Semikolons einen Satz gliedern
und Leerräume Absätze trennen. Gewöhnlich versuchen wir, einen Pro-
zess zu verdichten und Schritte zu beseitigen, damit Kunden bei der Nut-
zung des Produkts Zeit sparen. Aber Schritte zu beseitigen und schneller
einen Punkt zu setzen ist nicht immer die Lösung. So hätte man einer
Pfannkuchenmischung ohne weiteres gefriergetrocknetes Ei beimengen
können. Der Konsument brauchte dann nur noch Wasser zuzugeben, zu
rühren und zu backen. Die Hersteller waren damals jedoch überzeugt,
dass Frauen bei einer so simplen Zubereitung ohne frische Zutaten ein
schlechtes Gewissen hätten – also fügten sie den zusätzlichen Schritt
ein, dass die Frauen selbst ein Ei zugeben mussten.
Nicht immer ist es möglich, zum Ende zu springen, ohne eine Pause
oder ein anderes Interpunktionszeichen einzufügen. So rückten die alli-
ierten Truppen im Irakkrieg zügig nach Bagdad vor, indem sie unter-
wegs einige kleinere Städte umgingen. Auf diese Weise erreichten sie die
Hauptstadt schneller, mussten aber später zurückgehen und sich um die
Sicherheitsprobleme kümmern, die sich in der Zwischenzeit verschärft
hatten. Wenn Schnelligkeit im Vordergrund steht, sollte man sich auf die
Timingprobleme einstellen, die übersprungene Schritte mit sich brin-
gen. Fragen Sie sich, wann es möglich ist, auf diese Schritte zurückzu-
kommen, und was Sie dann vorfinden werden.
Schritte zu überspringen und vorzupreschen kann sogar illegal sein,
wie beim »Front-Running« in der Finanzwelt. Wenn ein Händler von
einem Investor den Auftrag erhält, bestimmte Aktien zu kaufen, und
vor der Ausführung diese Aktien auf eigene Rechnung in dem Wissen
erwirbt, dass er damit ihren Börsenkurs steigert, so bezeichnet man die-
sen Vorgang als Front-Running. Anschließend verkauft er dem Investor
die Aktien zu dem höheren Kurs und macht damit Gewinn.
Wer nicht sämtliche Schritte einer Sequenz in Betracht zieht, kann
Fehler machen. Nehmen wir als Beispiel einen Aspekt, der für jedes
Unternehmen grundlegend ist: den Preis eines Rohstoffs, auf den es
angewiesen ist. Steigt die Nachfrage nach diesem Rohstoff, müsste auch
Sequenz 45
der Preis steigen. Sinkt die Nachfrage, müsste auch der Preis fallen. In
der realen Welt liegen die Dinge jedoch nicht ganz so einfach. So steigt
und fällt der Erdgaspreis nicht je nach Fördermenge und Gesamtnach-
frage, weil der Rohstoff nicht unmittelbar von der Quelle an den Verbrau-
cher geht. Es gibt einen Zwischenschritt. Erdgas kann man lagern. Wenn
die Lagerkapazitäten steigen, lässt sich ein Überangebot vom Markt fern-
halten, bis die Preise sich erholen. Vergisst man diesen Schritt in der
Sequenz wie ein Komma oder einen Punkt, ohne die ein Satz schwer zu
lesen ist, so versteht man nicht, warum ein Überangebot an Erdgas (das
aus der Quelle strömt) nicht immer zu niedrigeren Verbraucherpreisen
führt.
Intervall und Dauer
Wenn wir uns eine Sequenz ansehen, müssen wir darauf achten, welche
Zeitspanne zwischen den Schritten liegt (Intervall) und wie lange jeder
Schritt dauert (Dauer).
Nachdem ein junges Unternehmen Finanzmittel bekommen hat,
möchten Investoren, dass es eher früher als später rentabel arbeitet – sie
wünschen sich die kürzestmögliche Spanne zwischen diesen beiden Sta-
dien. Es gibt viele Fälle, in denen ein kurzes Intervall zwischen Schritten
oder Stadien wünschenswert ist. So kamen die Vertreter europäischer
Aufsichtsbehörden im Herbst 2010 zusammen, um über eine Redu-
zierung der Spanne zu diskutieren, die zwischen dem Abschluss einer
Transaktion und der Abrechnung von Wertpapiergeschäften liegt. Ein
kürzeres Intervall würde das Risiko vermindern, dass in der Zwischen-
zeit ein unerwartetes Ereignis wie die Zahlungsunfähigkeit einträte.
Gewöhnlich unterteilen wir eine Woche in zwei große Gruppen von
Tagen, die fünftägige Arbeitswoche und das zweitägige Wochenende.
Ich frage mich, ob die Finanzkrise bei Lehman Brothers 2008 einen
anderen Ausgang genommen hätte, wäre das Wochenende fünf Tage
und die Arbeitswoche zwei Tage lang gewesen. Damit hätte die amerika-
nische Regierung mehr Zeit gehabt, alles zu überdenken und vielleicht
eine Lösung zu finden, die Lehman gerettet hätte.
46 Jetzt!
Form
Bei einer Sequenz stellen wir uns in der Regel vor, dass eins logisch auf das
andere folgt. Die einfachste Darstellung einer Sequenz besteht in Punkten
auf einer Linie, in der B auf A folgt, C auf B und so fort. Um ein neues
Produkt auf den Markt zu bringen, müssen wir die Schritte A (Entwick-
lung des Produkts), B (Herstellung) und C (Vermarktung) durchlaufen.
In dieser und jeder anderen Sequenz gibt es jedoch zwei Verlaufsformen,
die sich der Abfolge der Ereignisse in den Weg stellen können: Zirkularität
und Flaschenhälse. In der grafischen Darstellung sieht keine dieser bei-
den Formen wie eine gerade Linie aus (siehe Abbildung 1.1).
Zirkularität ist eine klassische Zwickmühle. So war der Segway so
neuartig, dass Kunden ihn nicht kaufen wollten, ohne ihn vorher aus-
probieren zu können, aber Einzelhändler führten das Produkt nicht,
bevor sie wussten, dass ein Markt dafür bestand, der aber nicht entstehen
würde, bevor Kunden das Gerät probieren konnten.
Flaschenhälse verlangsamen Prozesse. So schlugen die amerikanischen
Zentren für Krankheitskontrolle und Prävention 2006 neue Richtlinien
vor, die Hausärzte verpflichteten, alle Patienten, ungeachtet ihrer Risiko-
faktoren, auf HIV zu testen. AIDS-Aktivisten waren alarmiert, weil bei
einer Ausweitung der Tests (ohne dass gleichzeitig der Zugang zu medi-
zinischer Versorgung ausgebaut würde) viele Patienten ohne angemes-
sene Behandlung bleiben würden. Upstream-Lösungen bergen das Risiko,
Downstream-Flaschenhälse zu schaffen. Um die Geschwindigkeit effektiv
zu erhöhen, muss sich die gesamte Sequenz verändern, damit man Eng-
pässe vermeidet. Im HIV-Beispiel sollte man Patienten, die Symptome oder
ein hohes Infektionsrisiko aufweisen, bei Tests und Behandlung vorziehen.
Das fünfte Kapitel (»Form«) behandelt verschiedene solcher Formen
eingehend.
Position
Meist gehen wir davon aus, dass manche Schritte oder Stadien einer
Sequenz kürzer oder länger sind als andere. Im Wirtschaftsleben ist
Sequenz 47
es wichtig, sich über diese Erwartungen im Klaren zu sein. Wenn eine
Sequenz einen klar umrissenen Anfang, Mittelteil und Schluss hat,
erwarten wir in der Regel, dass Anfang und Ende relativ kurz sind. Flie-
gen kann langweilig sein. Auf lange Schlangen bei den Sicherheitskon-
trollen vor dem Boarding stellen wir uns von vornherein ein. Aber sobald
wir sitzen und auf den Start warten, kann jede Verzögerung aufreibend
sein. Eine viertelstündige Verspätung während des Fluges macht sich
kaum bemerkbar, aber wenn diese viertelstündige Verzögerung ein-
tritt, nachdem das Flugzeug am Gate geparkt hat, die Passagiere jedoch
nicht aussteigen können, reagieren sie wahrscheinlich extrem frustriert.
Wenn wir darauf eingestellt sind, das Flugzeug zu verlassen, möchten
wir nicht, dass sich uns etwas in den Weg stellt. Wann eine Verzögerung
eintritt, kann also ebenso wichtig sein wie ihre Länge.
Sequenzausdehnung
Mit Ausdehnung meine ich die Gesamtlänge einer Sequenz vom Anfang
bis zum Ende. Nur selten ziehen wir die gesamte Dauer von Sequen-
zen in Betracht, und dieses Übersehen kann zu Problemen führen. Wir
denken, eine Sequenz sei vorbei, obwohl es nicht der Fall ist. Oder wir
vergessen, wie früh die Sequenz beginnt, wie es Saul Griffith passierte.
Folglich können uns Ereignisse überraschen, die durchaus vorhersehbar
waren.
Im Jahr 2007 kam es zum Rückruf zahlreicher Spielzeuge, die in China
hergestellt worden waren. In der New York Times lautete die Schlagzeile:
»The Recalls’ Aftershocks« (Nachbeben der Rückrufe). Sie unterstellte
damit, dass die Rückrufaktion kein Einzelereignis, sondern eine Reihe
von Schocks war, in denen Downstream-Ereignisse eine wesentliche Rolle
spielten.4 »Der erste Schritt ist der Rückruf des Produkts«, erklärte Rachel
Weintraub, Leiterin der Abteilung für Produktsicherheit bei der Verbrau-
cherschutzorganisation Consumer Federation of America laut Zitat der
Zeitung. »Der zweite Schritt ist, dass der Hersteller einen Teil der Produkte
zurückbekommt. Und der dritte Schritt ist: Was passiert als Nächstes?«
Niemand kannte den nächsten Schritt der Sequenz. Der Artikel führte
48 Jetzt!
weiter aus, dass bis zu 80 Prozent der vom Rückruf betroffenen Produkte
nicht an den Hersteller zurückgehen. Selbst wenn Unternehmen wissen,
wo diese Produkte sind, besteht für sie keine gesetzliche Verpflichtung,
aktiv zu werden. Zudem dürfen Hersteller die zurückgerufenen Produkte
im Ausland verkaufen, wenn die Rückrufaktion freiwillig erfolgt.
Die langwierige Sequenz der Ereignisse bei einer Rückrufaktion hatte
niemand erwartet. Folglich fanden mangelhafte Produkte wieder ihren
Weg zurück in Kinderhände.
Wenn Sie in Ihrem eigenen Geschäftsbereich Sequenzen erkennen,
achten Sie immer auf die längste relevante Sequenz – die sich manchmal
über Jahrzehnte erstreckt. Sorgen Sie dafür, dass die Sequenzen, die Sie
in Betracht ziehen, weit genug in die Vergangenheit und in die Zukunft
reichen, um alles Wichtige zu erfassen.
Wenn wir eine Sequenz nicht in ihrem vollen Umfang einbeziehen
oder uns ein anderes Timingmerkmal entgeht, das in einem bestimm-
ten Fall relevant ist, übersehen wir möglicherweise wichtige Risiken und
Chancen, die mit dieser Sequenz einhergehen.
Sequenzielle Risiken
Viele Risiken, die mit Sequenzen einhergehen, lassen sich vermeiden,
wenn man sie im Voraus erkennt. Aber selbst wenn sie unausweichlich
sind, ist man dann besser auf den Umgang mit ihnen vorbereitet. Hier
nun einige der häufigsten sequenziellen Risiken:
Eine Sequenz übersehen
Das häufigste Risiko besteht darin, nicht zu erkennen, dass überhaupt eine
Sequenz vorhanden ist, dass also beispielsweise A vor B erfolgen muss, wie
es bei Saul Griffiths Erfindung der Fall war. Ein weiteres Beispiel ist die
Finanzkrise von 2008/2009 mit einer ganzen Reihe verknüpfter Ereignisse
im Bankensektor. Die Staatsverschuldung explodierte. Die Immobilien-
Sequenz 49
blase platzte. Subprime-Hypothekenkredite – Kredite, die an Schuldner
mit mangelhafter Bonität vergeben wurden – gerieten in die Krise. Viele
Finanzfachleute erkannten vereinzelte und beunruhigende Probleme,
sahen aber nicht, dass und wie schnell eins zum anderen führen würde.
Sie stellten keine Verbindung zwischen den Einzelpunkten her. Aber die
Schwierigkeit bestand nicht nur darin, Verbindungen zwischen erkenn-
baren, leicht zu verbindenden Punkten herzustellen. Vielmehr erwuchsen
diese Punkte selbst aus Handlungsketten: Wenn A x tat, würde B y tun,
und sobald das geschah, würde A mit z reagieren – und zwar umgehend.
Dann würde C sich ins Getümmel stürzen und so weiter. Menschen und
Institutionen waren in Handlungsketten gefesselt, die sie nicht vorherge-
sehen hatten und aus denen sie sich nicht befreien konnten. Wie wir gese-
hen haben, ist es schwierig, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden.
Wenn Sequenzen so wichtig sind, warum übersehen wir sie dann
(abgesehen davon, dass sie so abstrakt sind)? Ein Grund ist die »kat-
zenhafte Punktfixierung«, wie ich dieses Phänomen nenne. Bei dieser
Denkweise entscheiden wir uns zunächst für eine bestimmte Kategorie
des Handelns: Ich werde eine Weinstube und Konditorei in Cannes eröffnen.
Dann beschließen wir separat: an meinem fünfzigsten Geburtstag. Bei der
katzenhaften Punktfixierung konzentrieren wir uns jeweils auf einen
einzigen Zeitpunkt. Je mehr wir über diesen Einzelpunkt nachdenken,
umso wahrscheinlicher übersehen wir die Sequenzen, die bestimmen,
was wahrscheinlich vor und nach diesem Moment passieren wird.
Um Risiken zu vermeiden, die aus dem Übersehen einer wichtigen
Sequenz erwachsen, sollten Sie sich fragen: Habe ich die Reihenfolge der
Ereignisse erkannt, die mit einem bestimmten Prozess oder einer Situation
verknüpft sind? Denken Sie daran, dass mehrere Sequenzen sich über-
schneiden können.
Eine Sequenz versehentlich umkehren
Zur Umkehrung einer Sequenz kommt es, wenn die Reihenfolge zweier
Schritte verändert wird und nicht zuerst A, dann B erfolgt, sondern zuerst
B und anschließend A stattfindet. Ein Cartoon der Reihe »Pepper…and
50 Jetzt!
Salt« aus dem Wall Street Journal illustriert eine amüsante Sequenzum-
kehrung. Jemand führt ein Bewerbungsgespräch mit einem Kandidaten.
Die Bildunterschrift lautet: »Sie sind zum Bewerbungsgespräch gekom-
men, bevor Sie einen Termin vereinbart haben – Ihre Initiative gefällt
mir.«5 In diesem Fall funktionierte es offenbar, den normalen Ablauf
umzukehren. Fehler passieren aber dann, wenn man das Pferd von hin-
ten aufzäumt und beispielsweise Mittel für ein Projekt bereitstellt, bevor
das Budget bewilligt ist.
In vielen Fällen kann es kompliziert sein, die richtige Reihenfolge
festzustellen. Was ist als Erstes zu tun, wenn eine Volkswirtschaft mit
einem hohen Defizit ins Wanken gerät? Sollte man die Ausgaben kürzen
und abwarten, ob zusätzliche Stimuli notwendig sind, oder sollte man
zuerst die Wirtschaft ankurbeln und später sparen? Welche Abfolge ist
richtig? Ein Fehler kann in eine Depression oder zu jahrelangen Wirt-
schaftsproblemen führen. Selbstverständlich sind nicht alle Sequenz-
umkehrungen tragisch (soweit es überhaupt eine »richtige« Reihenfolge
gibt). So sagten Kristen Gesswein und Stephen Fealty laut einem Bericht
der New York Times ihre für den 15. Januar 2000 geplante Hochzeit einen
Tag vorher ab. Sie beschlossen jedoch, den Empfang trotzdem abzuhal-
ten. Am nächsten Tag flog das Paar in die Flitterwochen nach Mexiko
und heiratete einige Tage später am Strand.6
Sie sollten sich also fragen: Ist die Reihenfolge richtig? Besteht die Mög-
lichkeit, dass einer oder mehrere Schritte oder Ereignisse an der falschen
Position einer Sequenz stehen? Führt es zu besseren Ergebnissen, wenn ich die
Reihenfolge der Ereignisse in einer Sequenz ändere?
Der fehlende Blick »downstream«
Die letzten Schritte einer Sequenz sind häufig am schwierigsten einzu-
schätzen: Weil sie so weit »downstream«, also im Prozess so weit nach-
gelagert sind, sehen wir sie nicht. Es ist jedoch wichtig, vorherzusehen,
wie eine Abfolge von Ereignissen enden wird. So ist es recht einfach, ein
Facebook-Profil einzurichten, aber schwierig, es schnell und vollständig
zu löschen.
Sequenz 51
»Schnell sein, früh dabei sein« gilt als ausreichende Regel für Erfolg
im Wettbewerb. Leider genügt sie nicht (wie das Beispiel Segway gezeigt
hat). Unser blindes Vertrauen auf Geschwindigkeit bewirkt, dass wir den
Blick nicht auf nachgelagerte Teile des Prozesses richten und zukünf-
tige Schritte oder Stadien nicht in Betracht ziehen. Damit schränken wir
unser Verständnis der Vorgänge ein und können uns Risiken aussetzen,
die wir hätten kommen sehen müssen. Jedes Element einer Sequenz
geht mit eigenen Risiken und Chancen einher. Selbst die Entscheidung,
als Erster zu handeln, sollte berücksichtigen, was langfristig passieren
und wie die Endphase aussehen könnte.
Wichtige Fragen lauten: Habe ich weit genug in die Zukunft gedacht, um
Downstream-Ereignisse vorherzusehen? Bin ich mir darüber im Klaren, wie
eine bestimmte Sequenz enden könnte? Was sagt mir jeder potenzielle Aus-
gang darüber, wie ich die Abfolge meiner Handlungen heute gestalten sollte?
Sequenzielle Optionen und Chancen
Sequenzen und ihre Merkmale bergen nicht nur Risiken, sondern auch
Chancen. Manchmal können Sie sich einen Vorteil verschaffen, indem
Sie die übliche Reihenfolge eines Vorgangs ändern oder eine Abfolge
schaffen, wo es bis dahin keine gab. Jedes Sequenzmerkmal bietet eine
Möglichkeit, ein neues Produkt, einen neuen Prozess oder eine neue
Dienstleistung zu erfinden oder bereits bestehende zu verbessern. Hier
nun einige Beispiele:
Bewusste Sequenzumkehrung
Ein Geschäftsmann in Brasilien erzählte mir, dass er eine Technologie
anbietet, die es Einzelhändlern in bestimmten Ländern ermöglicht, Geld
elektronisch auf dem Bankkonto gutzuschreiben, sobald der Kunde an
der Kasse bezahlt hat. Einige Tage später holt ein Geldtransporter das
Bargeld ab und bringt es zur Bank. Nach der üblichen Abfolge muss
52 Jetzt!
der Händler das Bargeld einzahlen, bevor er Zinsen bekommen kann,
aber mit der Technologie dieser Firma kann er schon Tage früher Zin-
sen erhalten – ein Vorteil, der aus der Umkehrung der üblichen Sequenz
erwächst: erst Bargeld einzahlen, dann Zinsen bekommen. Nach seinen
Angaben nutzte der Geschäftsmann die Technologie seiner Firma des-
wegen nicht früher kommerziell, weil Einzelhändler glaubten, Kredit-
karten würden Bargeld vollständig ersetzen und somit bestünde kaum
Bedarf für ein besseres Management von Bargeldzahlungen. So kam es
aber nicht, wie wir heute wissen.
Wenn wir Geschäftsprozesse als Sequenzen sehen, kann das zu
neuen Erkenntnissen, Chancen und Geschäftsmodellen führen. Den-
ken Sie nur an Handys mit Prepaidkarte. Statt eine Rechnung für einen
genutzten Service zu bekommen, bezahlen Sie im Voraus.
In der Medizin hat es schon Leben gerettet, die Reihenfolge von
Behandlungen zu ändern. Eine Studie fand 2006 heraus, dass es die
Überlebenschancen zahlreicher Patienten mit Magenkrebs verbessert,
wenn sie vor und nach der Operation eine Chemotherapie erhalten. Die
traditionelle Praxis, Chemotherapie nur nach der Operation anzuwen-
den, zeigte nur wenig oder gar keine Wirkung.7 In einer schnelllebigen
Zeit hat eine frühzeitige, einschneidende und präzise Maßnahme (Ope-
ration) den Vorzug vor einem späten, langsamen und diffusen Schritt
(Chemotherapie). Das ist die normale Abfolge. Aber ein Vorgehen gegen
jede Intuition – eine Sequenzumkehr – rettet in diesem Fall Leben.
Die richtige Dauer wählen
Für den Erfolg genügt es nicht, Dinge in der richtigen Reihenfolge zu
tun. Sie müssen auch darauf achten, wie lange jeder Schritt oder jedes
Stadium im Verhältnis zu anderen dauert. Die kanadische Professorin
für Kinesiologie Joan Vickers gibt zum Einlochen beim Golf folgenden
Rat (Hervorhebungen von mir):
… wenn Sie bereit sind einzulochen, schauen Sie ruhig und fest auf das Loch
(oder den Zielpunkt) und zählen bis drei; richten Sie den Blick wieder auf den
Sequenz 53
Ball und zählen bis eins, fixieren Sie den Blick auf die Rückseite (oder Ober-
seite) des Balls und zählen bis zwei. Dann führen Sie den Schlag aus und
schauen weiter auf den Boden, wo der Ball lag, während Sie mindestens bis
eins zählen.8
In vielen Zusammenhängen ist die Entscheidung wichtig, wie lange
ein Schritt oder Stadium dauern darf. Verbreitete Beispiele: Wie lange
testet man den Prototyp eines Produkts? Oder wie lange lässt man das
Scheitern eines Projekts zu, bevor es eingestellt wird? Wenn ein Kon-
sumartikelhersteller Zeit und Energie investiert, zuerst eine Marke zu
entwickeln, wird sein nächstes Produkt bei der Markteinführung bes-
sere Erfolgschancen haben.
Eine Sequenz schaffen
Angenommen, Sie planen eine 24-stündige Spendenaktion für einen
öffentlichen Fernsehsender. Sie schauen auf den Kalender und diskutie-
ren das Für und Wider verschiedener Termine. Schließlich entscheiden
Sie sich für einen Tag Mitte Mai. Leider lässt ausgerechnet an diesem Tag
ein außergewöhnlicher Eissturm die Stromleitungen zusammenbrechen
und taucht die Stadt 24 Stunden lang in Dunkelheit. Darauf ist niemand
vorbereitet, und die Reparaturarbeiten dauern nahezu eine Woche. Die
Spendenaktion wird abgesagt. Ihr Fernsehsender muss über den Sturm
und seine Folgen berichten. Die Entscheidung, für die Spendenaktion –
wie bei der katzenhaften Punktfixierung – nur einen einzigen Termin
vorzusehen, hat Sie auf Gedeih und Verderb dem Risiko unvorhergese-
hener Ereignisse ausgeliefert.
Wenn Sie die Spendenaktion unter dem Sequenzaspekt betrachten,
zeigt sich, dass Sie durch die Fokussierung auf einen bestimmten Tag
für das Event auf eine Sequenzstrategie verzichtet haben. Sie hätten die
Aktion auf zwei Tage mit einem gewissen zeitlichen Abstand aufteilen
können. Der Fernsehsender hätte den Zuschauern eine Wahl einräu-
men können: Wenn die Aktion ihr Spendenziel bereits im ersten Teil
erreicht, fällt der zweite Teil aus. Eine Sequenzlösung, die viele Spenden-
54 Jetzt!
aktionen wählen, hat zwei Vorzüge. Erstens: Das Ereignis über einen län-
geren Zeitraum auszudehnen verringert das Risiko, den falschen Tag zu
erwischen. Zweitens: Niemand mag Spendenaktionen. Eine Sequenzlö-
sung gibt Zuschauern die Möglichkeit, mitzuentscheiden, wie lange die
Aktion dauert. Noch immer sind Timingentscheidungen zu treffen: die
Wahl des Anfangstermins, Länge und Abstand der einzelnen Phasen.
Aber der Fernsehsender ist flexibler und kann das Risiko minimieren,
das mit einem Einzeltermin einhergeht.
Positionsverschiebung
Eine Entscheidung oder Handlung auf ein späteres Prozessstadium zu
verschieben kann von Vorteil sein. So stellten die USA 2011 ihr Patent-
recht auf den internationalen Standard um, wonach nicht der Zeitpunkt
der Erfindung (»first to invent«), sondern der Eingang des Patentantrags
(»first to file«) entscheidend ist. Das verlagerte den Prozess downstream.
Für das Patentamt spielt es keine Rolle mehr, wann jemand eine Erfin-
dung gemacht hat, sondern nur noch, wann der Patentantrag gestellt
wurde. Das war aus zwei Gründen wünschenswert: Zum einen sorgte
es für »mehr globale Zusammenarbeit und Effizienz bei Patentprüfun-
gen«9, zum anderen schuf es die – für große Unternehmen wichtige –
Gewissheit, dass nicht später jemand auftauchen und behaupten konnte,
die patentierte Erfindung des Unternehmens im Kern bereits vorher
gemacht zu haben.
Einen Schritt auslassen
Wenn wir uns entscheiden, Schritte auszulassen, eröffnet das neue
geschäftliche Möglichkeiten. Wenn man vor 15 Jahren ein Foto machte,
brachte man den Film anschließend zum Entwickeln zum Fotografen
oder in eine Drogerie. Die gängige Abfolge war: auf den Auslöser drü-
cken und nach einer Woche oder länger das Bild sehen. Die Digitalfoto-
grafie ermöglicht es uns, auf den Auslöser zu drücken und sofort das
Sequenz 55
Bild zu sehen, also zwei Schritte auszulassen: Sie macht den Film und
den Abzug überflüssig. Die Möglichkeit, diese beiden Schritte auszu-
lassen, schuf eine neue Industrie, trieb aber zugleich das Unternehmen
Kodak, dessen Gewinne auf dem Verkauf von Filmen basierten, effektiv
in den Ruin.
Einen Schritt auszulassen kann manchmal zum Abschluss eines
Geschäfts führen, wie es bei der Verkaufstechnik des presumptive close
der Fall ist, die das Zustandekommen eines Geschäfts bereits unter-
stellt.10 Der Verkäufer fragt nicht etwa, ob Sie Aktien eines bestimm-
ten Unternehmens kaufen wollen, sondern ob Sie 100 oder 300 Anteile
möchten, und unterstellt damit, dass Sie sich bereits entschieden haben.
Das ist natürlich ein Verkaufstrick, vermittelt aber eine Vorstellung, wie
Sie an einen etablierten Prozess anders herangehen können, indem Sie
einen Schritt überspringen.
Wahlmöglichkeiten lassen
Verlangt Ihr Produkt oder Ihre Dienstleistung eine bestimmte Abfolge
von Schritten, die sich nicht ändern lässt? (Noch einmal: Das nenne
ich strikte serielle Zwänge.) In manchen Fällen ist eine bestimmte Rei-
henfolge notwendig. Wenn das nicht der Fall ist, kann es nützlich sein,
Konsumenten Wahlmöglichkeiten anzubieten. Das tat der Schriftsteller
Julio Cortázar in seinem Roman Rayuela: Himmel und Hölle. Wie schon
der Titel andeutet, der auf das Hüpfspiel Himmel und Hölle verweist,
ermuntert das Buch seine Leser, es nicht geradlinig zu lesen, sondern
hin und her zu springen. In einer Anmerkung schlägt der Autor dem
Leser zwei Vorgehensweisen vor: entweder nacheinander die Kapitel 1 bis
56 zu lesen, oder nach einer Anweisungstafel durch 155 Kapitel zu sprin-
gen. Zudem lässt Cortázar Lesern auch noch eine dritte Möglichkeit: sich
selbst einen Weg durch das Buch zu suchen.
Mit Cortázars Strategie im Hinterkopf werden Sie sich immer eine
wichtige Frage stellen: Hat es Vorteile, die Reihenfolge einer Sequenz zu
ändern und Kunden oder anderen Beteiligten Wahlmöglichkeiten einzuräu-
men?
56 Jetzt!
Als Ausgangspunkt, um sequenzbezogene Chancen zu entdecken,
sollten Sie sämtliche Abfolgen auflisten, von denen Ihre Arbeit oder Ihr
persönlicher Erfolg abhängt. Dann fragen Sie sich: Was wäre, wenn …?
Was wäre, wenn Sie oder jemand anderes eine dieser Sequenzen änderte?
Wie würde sich das auf Leistung, Profit, Ansehen und Zukunftspläne
auswirken? Das lässt sich zwar nicht über Nacht umsetzen, sollte aber
zum festen Bestandteil jeder Strategieplanung werden.
Der 4S-Rahmen: Wann ist die Sequenz die Lösung?Jenseits der Risiken und Chancen, die mit jeder Sequenz einhergehen, stellt sich
noch eine übergeordnete Frage: Wann ist die sequenzielle Reihenfolge (eins nach
dem anderen zu tun) das richtige Verfahren? Der »4S-Rahmen« soll Ihnen helfen,
zwischen mehreren Möglichkeiten zu entscheiden.
Singularität. Sie können versuchen, alles in einem einzigen Schritt zu
einem einzelnen Zeitpunkt zu machen: Das entspricht der katzen-
haften Punktfixierung. Sie entscheiden, was zu tun ist, und wählen
dann einen bestimmten Zeitpunkt aus, es umzusetzen. Angenom-
men, ein investigativer Journalist recherchiert zu einem Thema,
und wenn er fertig ist, schreibt er einen langen Artikel darüber.
Es besteht jedoch das Risiko, dass sein Artikel zur falschen Zeit
erscheint: Eine unerwartete Krise fesselt die Aufmerksamkeit der
Leser und stellt seinen Beitrag in den Schatten. Alternativ könnte
der Artikel auch zu früh (es herrscht kein Interesse an dem Thema)
oder zu spät (ein anderer Reporter ist ihm zuvorgekommen)
erscheinen. Darwin musste sich bei der Drucklegung seines Meis-
terwerks über die Entstehung der Arten beeilen, weil er fürchtete,
der britische Naturkundler Alfred Russel Wallace könnte ihm zuvor-
kommen. Wenn die Zeit knapp ist und Sie keine zweite Chance
bekommen, nutzen Sie den Augenblick. Aber allgemein gilt, dass es
nicht nur unmöglich, sondern auch nicht erstrebenswert ist, alles
auf einmal zu erreichen. Das Risiko, den falschen Augenblick zu
erwischen, ist zu groß.
Sequenz 57
Sequenz. Das ist das Thema dieses Kapitels: Sie können Schritt für
Schritt vorgehen oder die übliche Abfolge umkehren. Das erfordert
eine Entscheidung, welche Sequenzmerkmale (Reihenfolge, Anzahl
der Schritte, Abstände usw.) in einer bestimmten Situation wichtig
sind. Mit jedem Schritt-für-Schritt-Vorgehen sind zahlreiche Vorteile
und Risiken verbunden. Der auffallendste Nachteil gegenüber dem
unten ausgeführten Verfahren ist die Langsamkeit.
Simultanität. Der Vorteil eines gleichzeitigen Vorgehens liegt in der
Geschwindigkeit.
Eines der dramatischsten Beispiele für die Wahl zwischen einem
sequenziellen und einem simultanen Vorgehen war die Entscheidung
der deutschen Militärführung zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Es
war geplant, an zwei Fronten zu kämpfen und Frankreich und Russ-
land gleichzeitig anzugreifen. Aus Sorge, durch diese Entscheidung
den Krieg zu verlieren, schlug Kaiser Wilhelm II. vor, die Planung zu
ändern, sequenziell vorzugehen und sämtliche Kräfte zu bündeln,
um einen Gegner nach dem anderen zu schlagen. Sein Generalstabs-
chef, General Helmuth von Moltke, sprach sich dagegen aus, da
man den Plan, wenn er erst einmal festgelegt sei, nicht mehr ändern
könne.11 Professor Allen Bluedorn von der Universität Missouri stellte
fest: »Der kalte Krieg hatte seine Wurzeln im Zweiten Weltkrieg, der
wiederum dem Ausgang des Ersten Weltkriegs entsprang, der eng
mit der Entscheidung des Kaisers zusammenhing … in einem ganz
realen Sinne beruhte die gesamte Ausrichtung der Geschichte des
20. Jahrhunderts auf dieser strategischen Entscheidung …«12 Simul-
tanität trug den Sieg davon, der Rest ist Geschichte.
Stillhalten. Die letzte Alternative ist Stillhalten. Sie unternehmen nichts,
zumindest vorerst nicht. Eine Zeitung entscheidet sich möglicherweise,
eine Story aus Gründen der nationalen Sicherheit oder anderen Erwä-
gungen nicht zu veröffentlichen oder ihre Publikation zu verschieben.
Schon Mark Twain sagte: »Das rechte Wort mag wirkungsvoll sein, aber
kein Wort war je so wirkungsvoll wie eine Pause zur rechten Zeit.«13
58 Jetzt!
Allerdings sollten Sie nicht vergessen, dass jedes Timingelement, auch
die Sequenz, nur ein Teil des Puzzles ist. Jedes Ereignis ist vieldimensio-
nal. Das Gleiche gilt für Timingfragen. Es ist zwar wichtig, dass Sie jedes
Element erkennen und nutzen, aber wenn Sie reale Timingprobleme
angehen wollen, müssen Sie alle sieben Elemente und die Muster, die sie
bilden, beachten. Wir stehen erst am Anfang. Wenn wir fertig sind, wer-
den Sie eine nützliche neue Sicht auf Ihr tägliches Tun gewonnen haben.
Sie werden Ihr Verhalten und Tun besser timen und daher höchstwahr-
scheinlich eher nach Plan vorgehen.
Zeitfantasie
Schauen Sie sich die Fotos dieser beiden Produkte an: einer auf den Kopf
gestellten Ketchupflasche der Marke Hunt’s und einer Packung Rogaine.
Nun fragen Sie sich: Worin besteht ihre Ähnlichkeit? Auf den ers-
ten Blick haben die beiden Produkte wenig gemeinsam. Rogaine kam
ursprünglich als Heilmittel gegen Glatzenbildung auf den Markt. Später
beschloss das Unternehmen, es auch als vorbeugendes Präparat zu ver-
markten, das man vor Beginn des Haarausfalls benutzen sollte. Sehen
Sie noch immer keine Ähnlichkeit? Denken Sie an die Ketchupflaschen
alten Stils. Man musste sie umdrehen und auf den Boden klopfen, damit
Ketchup herauskam. Die auf den Kopf gestellte Flasche war ebenso ein
Schritt downstream in der Nutzungsabfolge wie die Änderung des Patent-
rechts von der Ersterfindung zur Erstanmeldung. Rogaine machte es
genau umgekehrt: Das Produkt rückte in der Nutzungsabfolge upstream.
Die Werbung sprach nun nicht mehr nur von Heilung, sondern von Vor-
beugung und vollzog damit die gleiche Upstream-Bewegung wie in dem
medizinischen Beispiel von der Chemotherapie, die nicht nur nach, son-
dern auch vor der Operation eingesetzt wird. Wir sind es gewohnt, uns
auf »Dinge«, Gegenstände oder Produkte zu konzentrieren, die wir vor
uns sehen können, nicht aber auf Zeitabfolgen, die ihren Einsatz defi-
nieren. Das erfordert Zeitfantasie, aus der die Entdeckung neuer Verbes-
serungsmöglichkeiten eines Produkts oder Prozesses erwachsen kann.
Sequenz 59
Sequenz: im Überblick
Merkmale von Sequenzen
• Reihenfolge: Welches Ereignis folgt im Ablauf auf ein anderes?
• Interpunktion: Wo fängt die Sequenz an, wo sind Pausen, wo hört sie
auf? Wie gliedert sie sich in Schritte und Stadien?
• Intervall und Dauer: Wie lang sind die Schritte oder Stadien, und wie viel
Zeit liegt zwischen den einzelnen Schritten?
• Form: Verläuft die Sequenz linear, in Schleifen oder zyklisch?
• Position: An welchem Punkt einer Sequenz findet ein Ereignis statt?
• Sequenzausdehnung: Wie lange dauert die gesamte Sequenz von Anfang
bis Ende?
Ketchupflasche und Rogaine
60 Jetzt!
Risiken, die mit einer Sequenz einhergehen
• Eine Sequenz übersehen: die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis ein
anderes nach sich zieht, erst erkennen, wenn es zu spät ist (Beispiel:
die Entwicklung und Popularität der forderungsbesicherten Wert-
papiere – Collateralized Debt Obligations, CDO – und der Immobi-
lienboom in den USA).
• Versehentliche Sequenzumkehr: B vor A tun, obwohl A vor B erfolgen muss,
um erfolgreich zu sein (Beispiel: die Budgetbewilligung nicht einho-
len, bevor man Gelder zuteilt).
• Den Blick nicht downstream richten: nicht in Betracht ziehen, wie eine
Sequenz enden wird (Beispiel: ein persönliches Video ins Netz stellen,
ohne sich klarzumachen, dass es sich nicht wieder entfernen lässt).
Chancen, die mit Sequenzen einhergehen
• Bewusste Sequenzumkehr: Vorteile auftun, indem man die übliche Rei-
henfolge umkehrt (Beispiel: zuerst verkaufen, dann produzieren).
• Die richtige Dauer wählen: begreifen, wie sich die Dauer eines Ereignisses
auf die Gesamtplanung auswirken kann (Beispiel: wissen, wie lange ein
Kuss dauern sollte, um Zuneigung – oder Verlangen – auszudrücken).
• Eine Sequenz schaffen: eine Sequenz oder Abfolge von Handlungen so
planen, dass Risiken minimiert werden und Flexibilität maximiert
wird (Beispiel: eine Spendenaktion als Abfolge mehrerer Veranstal-
tungen statt als Einzelereignis planen).
• Positionsverschiebung: etwas als Letztes tun, was gewöhnlich als Erstes
getan wird, oder umgekehrt (Beispiel: die Maut für die Person bezah-
len, die hinter einem in der Schlange steht).
• Bewusst einen Schritt auslassen: den üblichen Geschäftsablauf um einige
Schritte zusammenstutzen (Beispiel: Kreditnehmern erlauben, ihre
Bonität zu belegen, bevor sie einen Kreditantrag stellen).
• Wahlmöglichkeiten lassen: Sequenzen so gestalten, dass die Kundener-
fahrung optimiert wird (Beispiel: Kunden können sich entweder auf
Ihrer Website registrieren oder direkt zur Kasse klicken).
Zeitliche Interpunktion 61
2
Zeitliche Interpunktion
»Der Grund, dass man ihn überwältigen konnte, war, dass er pausieren musste, um
nachzuladen«, erklärte Dennis Henigan, Vizepräsident des Brady Center to Prevent
Gun Violence, zur Festnahme von Jared L. Loughner, nachdem dieser auf die US-Ab-
geordnete Gabrielle Giffords geschossen hatte. »Das Problem ist, dass er erst zum
Nachladen pausieren musste, nachdem er bereits 30 Schuss abgefeuert hatte.«
Jo Becker und Michael Luo1
Zeitliche Interpunktion bezieht sich darauf, wie wir den kontinuierli-
chen Zeitstrom in separate Einheiten gliedern: durch Schritte, Stadien,
Anfang, Ende, Mitte und Fristen. Ähnlich wie Kommas und Punkte in
einem Satz zeigen uns diese zeitlichen Interpunktionszeichen, wo wir
uns befinden und wann wir anfangen, aufhören oder pausieren müssen.
So nutzt ein Unternehmen das Ende des Kalender- oder Steuerjahres,
um Anfang und Ende seiner Strategieplanung festzusetzen. Jede Bran-
che hat ihre jährliche Handelsmesse oder eine wichtige Konferenz oder
Vertretertagung, die bestimmt, wann neue Produkte vorgestellt werden.
Finanzmanager, die auf Bargeld sitzen, sind vielleicht von ihren Fonds
gehalten, alle Mittel vollständig zu investieren, und stürzen sich daher
zum Quartalsende wieder in den Markt.
Beispiele für zeitliche Interpunktion gibt es überall im Alltag. Denken
Sie nur an das, was wir das »Jetzt« nennen, das fortwährend Vergangen-
heit und Zukunft trennt. Die Ziffern unserer Armbanduhr und die Daten
unseres Kalenders sind Interpunktionszeichen. Das Gleiche gilt für Son-
nenaufgang und -untergang, die den Anfang von Tag und Nacht markie-
ren, und für den Anflug von Müdigkeit im Gesicht unseres Gastgebers,
der uns zeigt, dass es an der Zeit ist, uns zu verabschieden. Einzelne zeitli-
che Interpunktionszeichen sind wichtig, weil sie uns viel über das Timing
sagen können. Das Problem ist nur, dass wir sie häufig nicht bemerken.
Ein Beispiel: Ein junger Mann, der in einem Lebensmittelgeschäft
arbeitete, wollte beruflich weiterkommen. Er verschaffte sich eine neue
62 Jetzt!
Stelle bei einem »Hightech«-Unternehmen, indem er versprach, seine
Gehaltsschecks so lange nicht einzulösen, bis er sich als der branchen-
beste Reparateur von Lochkartenstanzen bewiesen habe. Aber wann
würde er beweisen können, dass er der Beste war? Auf diese Frage hin
würden wohl die meisten von uns abwehrend erklären, das könne man
unmöglich wissen. Jedenfalls bekam der junge Mann den Job, arbeitete
hart und löste, wie versprochen, seine Gehaltsschecks nicht ein. Aber als
die Buchhaltung ihren Vierteljahresabschluss machen wollte, war ihr
das wegen der nicht eingelösten Schecks unmöglich. An diesem Punkt
entband der Abteilungsleiter, der die getroffene Vereinbarung inzwi-
schen vergessen hatte, den jungen Mann von seinem Versprechen.
So bekam James Cannavino, der Chefstratege bei IBM, der 1995 nach
32-jähriger Tätigkeit für das Unternehmen in den Ruhestand ging, seine
erste Stelle bei Big Blue.2 Weder der Abteilungsleiter, der ihn einstellte,
noch Cannavino selbst dachten an das Interpunktionszeichen (Quartals-
ende), an dem die Buchhaltung ihren Quartalsabschluss machen musste.
Interpunktionszeichen liefern aus zwei Gründen wertvolle Hinweise
in Timingfragen. Erstens sind viele Handlungen an spezifische Kalender-
daten gebunden. So wissen wir, dass es am Silvesterabend eine Party gibt.
Andere Ereignisse finden erst nach einem bekannten Interpunktionszei-
chen statt. Wann würde Präsident Obama über die Flexibilität verfügen,
mit Russland über eine Reduzierung von Atomraketen zu verhandeln? Wir
kennen die Antwort, weil ein nicht abgeschaltetes Mikrofon am 26. März
2012 einen Teil seines Gesprächs mit dem russischen Präsidenten Med-
wedew einfing. Damals erklärte er Medwedew, nach seiner Wiederwahl
sei er flexibler. Vorher würde man Konzessionen vermutlich gegen ihn
verwenden: Seine Gegner würden ihn als schwach darstellen. Der zweite
Grund ist, dass Menschen rational erscheinen möchten. Sie möchten
objektive Gründe angeben können, warum sie etwas zu einem bestimm-
ten Zeitpunkt taten. Statt zuzugeben, dass sie aus einer Laune oder einem
Gefühl heraus handelten, verweisen sie auf ein Interpunktionszeichen.
Sie sagen etwa: Ich entschied mich für diesen Zeitpunkt, weil er
• vor etwas lag, was gerade anfing oder endete;
• nach etwas lag, was gerade anfing oder endete;
Zeitliche Interpunktion 63
• zwischen zwei bestimmten Zeitpunkten lag;
• in einer Pause lag.
Wir alle müssen (unserem Chef, Aufsichtsrat, externen Partnern und uns
selbst) erklären, warum wir einen Zeitpunkt einem anderen vorgezogen
haben. Und das ist nicht immer einfach. Das gilt vor allem, wenn eine Ent-
scheidung auf einer Größenregel basiert. Nach dieser von mir so benannten
Regel wird eine Timingaktion ausgelöst, sobald ein Zustand oder Prozess
eine gewisse Größenordnung oder Schwelle erreicht. »Ich tue es, sobald
die Kosten zu hoch sind, der Markt zu klein oder meine Geduld am Ende
ist.« Eine solche Timingregel lässt sich nur schwer umsetzen, ohne will-
kürlich vorzugehen. Wie hoch ist zu hoch, wie klein ist zu klein, und wie
lang ist zu lang? Das ist oft unmöglich zu sagen. Deshalb verwenden Men-
schen zeitliche Interpunktionszeichen für die Entscheidung, wann es zu
handeln gilt. Wir schauen uns die Kosten am Quartalsende an, sagen sie.
Nachdem wir die Umsatzzahlen eines ganzen Jahres haben, beurteilen wir,
ob ein Markt zu klein ist. Da wir wissen, dass andere das Timing ihres
Handelns anhand von Interpunktionszeichen planen und rechtfertigen,
können wir dieses Wissen nutzen, um vorherzusagen, wann sie handeln
werden, und unser eigenes Vorgehen zeitlich besser darauf abstimmen.
Interpunktionszeichen können auch erklären, warum eine Handlung
nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgte, denn sie halten das, was zwi-
schen ihnen liegt, zusammen. Ein Meeting beginnt und endet. Diese bei-
den Interpunktionszeichen trennen die Vorgänge des Meetings von allem,
was vorher und nachher passiert. Sie bündeln und verbinden aber auch die
Ereignisse, die das Meeting ausmachen. Mitten in einem Meeting zu gehen
wird als Störung empfunden. Wenn es keine Pause, keinen Anfang und
kein Ende gibt, besteht kein einfacher Ein- und Ausstieg. Umgekehrt gilt
aber auch: Interpunktionszeichen machen Ein- und Ausstiege möglich.
Fernsehprogramme beginnen und enden tendenziell eher zur vollen, viertel
oder halben Stunde, nicht einige Minuten vorher oder nachher.
John Goode, Portfoliomanager bei Smith Barney, führte Anfang 2000
gemeinsam mit dem Analysten Sanford C. Bernstein eine Studie durch.
Im Rahmen ihrer Recherchen untersuchten sie ein bestimmtes zeitli-
ches Interpunktionszeichen. Anhand öffentlich verfügbarer Daten für
64 Jetzt!
das Jahr untersuchten sie die Geldmenge, die Börsengänge eingebracht
hatten, und berechneten, wie viele Aktien in Insiderbesitz auf den Markt
kommen würden, sobald die »Sperrfristen« (die Zeitspanne, über die
Angestellte ihre Aktien halten mussten) ausliefen. Sie kamen zu dem
Schluss, dass vom 30. März bis zum 30. Juni 2000 Insideraktien im Wert
von 150 Milliarden US-Dollar frei werden könnten.
Diesen Bericht erhielt Goode am 16. März, eine Woche, bevor der
NASDAQ-Aktienindex sein Allzeithoch erreichte. Mehr als diese Ergeb-
nisse – dass ein nach seiner Einschätzung wahrer Tsunami an Aktien
den Markt überschwemmen würde – brauchte Goode nicht, um seinen
Fonds auf eine »technologiefreie Diät« zu setzen, wie er es formulierte.
Die meisten von uns, die Anfang Januar 2000 am Aktienmarkt engagiert
waren, dachten nicht daran, wie Anfänge und Enden sich auf Aktien-
kurse auswirkten. Indem Goode ein Interpunktionszeichen (auslaufende
Sperrfristen) untersuchte, entging er dem Crash, der bald folgte.
»Das gehörte zum Grundkurs Wirtschaftswissenschaften«, sagte er.3
Tatsächlich gehört es jedoch nicht zum Einmaleins der Wirtschafts-
wissenschaften. In den meisten Einführungstexten zur Ökonomie fin-
den sich keine ausführlichen Erörterungen der zeitlichen Interpunktion
und auch nicht sonderlich viele Hinweise auf den Begriff Sperrfrist. Zeit-
liche Interpunktionszeichen können wie ihre linguistischen Pendants
leicht inmitten anderer Belange untergehen. Sie zu nutzen kann jedoch
einen großen Unterschied bewirken. Wenn wir die Position von Inter-
punktionszeichen kennen, können sie uns helfen, Vorhersagen und Ent-
scheidungen zu treffen.
Merkmale zeitlicher Interpunktion
Wer zeitliche Interpunktion für Timingentscheidungen nutzen möchte,
sollte wie bei allen Timingelementen zunächst einmal wissen, worauf er
achten sollte. Hier folgen acht wichtige Merkmale:
1. Art: Es gibt viele Arten von Interpunktionszeichen.
2. Stärke: Manche sind stark, andere sind schwach.
Zeitliche Interpunktion 65
3. Objektiv oder subjektiv: Wann etwas tatsächlich vorbei ist und wann es als
beendet wahrgenommen wird, muss nicht unbedingt übereinstimmen.
4. Bedeutung: Was bedeutet ein bestimmtes Interpunktionszeichen? Wie
interpretieren verschiedene Beteiligte es?
5. Position: Wo ein Interpunktionszeichen in einem Prozess steht, ist
wichtig.
6. Menge: Oft gibt es mehr als ein Interpunktionszeichen.
7. Abstand: Welche Zeitspanne trennt sie?
8. Zusammentreffen: Welche Interpunktionszeichen kommen gleichzeitig
vor?
Art
Bestimmte Zeitpunkte und Daten können als Interpunktionszeichen
dienen. Sie sind auf verschiedenen Kalendern zu finden. Die meisten
Geschäftsleute beobachten den Wirtschaftskalender und achten beispiels-
weise darauf, wann die Federal Reserve (Fed), die US-Notenbank, zusam-
menkommt, um Zinssätze festzulegen. Wir müssen aber auch andere
Zeitschienen beachten wie den politischen Kalender und den Zeitpunkt
einer Wahl, die die Machtverhältnisse in einem Bundesstaat oder auf
Bundesebene verändern könnte. Wenn wir die Markteinführung eines
Produkts planen, müssen wir religiöse und weltliche Feiertage wie Weih-
nachten, Neujahr oder den 4. Juli (den amerikanischen Unabhängigkeits-
tag) in Betracht ziehen. Auch an den legislativen Kalender sollten wir den-
ken, also wann Gesetze in Kraft treten, die unsere Arbeit betreffen.
Zudem müssen wir auf interne und auf externe Interpunktion achten.
Die projektbezogenen Termine und Zeitpläne innerhalb unserer Orga-
nisation haben wir vor Augen. Aber wir müssen uns auch darüber im
Klaren sein, dass externe Beteiligte eigene Fristen und Einschätzungen
haben, wann eine Tätigkeit beginnen oder verschoben werden sollte.
Außerdem sollten wir wissen, wann Ereignisse in unserem weiteren
Umfeld anfangen oder enden. Stehen wir am Beginn einer Rezession?
Wenn ja, dann ist vermutlich nicht der richtige Zeitpunkt, mehr Perso-
nal einzustellen.
66 Jetzt!
Wir können nicht ständig Zeitschienen und zeitliche Interpunktion
überwachen (Football-Trainer stellen manchmal jemanden eigens dazu
ab, die Uhr im Auge zu behalten, um Entscheidungen über Auszeiten zu
treffen), aber wir sollten daran denken, dass es viele Arten von Zeitschie-
nen gibt, die jeweils ihre eigene Interpunktion haben.
Stärke
Interpunktionszeichen unterscheiden sich in ihrer Funktion und Stärke.
Der Punkt
Von allen Interpunktionszeichen sind Punkte die stärksten. In den
meisten hierarchischen Organisationen können wir über eine Vorge-
hensweise diskutieren, Alternativen überlegen und sogar Einwände
erheben. Aber sobald unser Chef eine Entscheidung gefällt hat, ist die
Zeit der Diskussionen und Überlegungen vorbei. Über diesen Punkt
hinaus zu streiten ist riskant. Es kann (für den Verbleib in der Organi-
sation) ebenso lebensgefährlich sein, wie ein Stoppschild zu überfah-
ren.
Eine wichtige Entscheidung kann die Wirkung eines Punktes haben.
Eine Entscheidung hat die logische Funktion, zwischen Alternativen zu
wählen, und die zeitliche Funktion, die Gegenwart von der Vergangenheit
zu trennen. Es gibt eine Zeit vor der Entscheidung und eine danach. Das
ist einer der Gründe, warum wir Entschiedenheit zu schätzen wissen.
Entscheidungen befreien die Zukunft aus dem Klammergriff der Ver-
gangenheit wie ein Punkt am Satzende die Fortsetzung dieses Satzes ver-
hindert. Indem er die Vergangenheit beendet, schafft ein Punkt zudem
Raum, etwas Neues anzufangen.
Das Komma
Im April 1999 wurde die NATO 50 Jahre alt. Die Sowjetunion, einer der
Hauptgründe für die Existenz der NATO, war mittlerweile zusammenge-
Zeitliche Interpunktion 67
brochen. Aber wie Ereignisse auf der ganzen Welt zeigen, wird das Mili-
tärbündnis vorerst noch nicht arbeitslos. Der ehemalige NATO-Oberbe-
fehlshaber in Europa, Alexander M. Haig jr., behandelte das 50-jährige
Bestehen des Bündnisses eher als Komma denn als Punkt. In einer Rede
bezeichnete er den Zeitpunkt als Gelegenheit, über die Vergangenheit
nachzudenken und Visionen für die Zukunft zu entwickeln. Mit der
Wahl seiner Äußerungen machte er deutlich, dass die NATO nicht an
einem Endpunkt, sondern an einem Wendepunkt stand.
Wir alle, Manager eingeschlossen, müssen Entscheidungen über die
Interpunktion treffen. Immer, wenn ein Interpunktionszeichen verlangt
wird, können wir entscheiden: ob die richtige Zeit gekommen ist, einen
Schlusspunkt zu setzen und einen Vorgang dauerhaft zu beenden –
oder ob es sinnvoll ist, nur ein Komma zu setzen, eine kurze Pause, um
die unmittelbare Vergangenheit einzuschätzen und Zukunftspläne zu
schmieden.
Manche Interpunktionszeichen werden als einschneidender wahr-
genommen als andere. Das gilt etwa für den 50. Geburtstag bei Baby-
boomern. Das Ende des Bilanzjahrs ist meist wichtiger als das Ende des
zweiten Quartals usw. Wenn eine Frist gesetzt wird, müssen wir wissen,
ob es sich um eine harte oder weiche Deadline handelt. Muss sie einge-
halten werden, oder können wir sie als einen Schritt auf dem Weg behan-
deln, mehr als Komma denn als Punkt?
Objektiv oder subjektiv
Es ist wichtig, auf subjektive und objektive Interpunktion zu achten. Objek-
tive Interpunktion betrifft Ereignisse in der realen Welt wie das Ende
einer Vertragslaufzeit oder den Start einer Internetseite. Über objektive
Interpunktion lässt sich nicht diskutieren. Dagegen ist subjektive Inter-
punktion eben subjektiv. Unabhängig von objektiven Fakten haben wir
das Gefühl, dass etwas vorbei ist oder anfängt. Manchmal weiß jeder,
dass ein Projekt oder eine Geschäftsbeziehung vorbei ist, bevor sie offi-
ziell für tot erklärt wird. Ebenso kann etwas als »Neuanfang« erschei-
nen, ohne dass jemand eine entsprechende Erklärung abgibt.
68 Jetzt!
Bedeutung
Die Frage, ob ein Interpunktionszeichen objektiv oder subjektiv ist,
hängt eng mit der Bedeutung zusammen. Interpretieren verschiedene
Beteiligte dasselbe Zeichen auf die gleiche Weise? Was für den einen ein
Komma oder eine Pause ist, mag für einen anderen ein Punkt sein, und
umgekehrt. Wenn jemand eine Zeit lang nicht auf Ihre E-Mail antwortet,
heißt das, dass er oder sie die Beziehung beenden möchte?
Position
An welcher Stelle eines laufenden Prozesses oder einer Sequenz ein
Interpunktionszeichen gesetzt wird, ist von entscheidender Bedeutung.
Es kann zu früh kommen. Was sollten wir tun, wenn jemand sich
gerade mit einem Hammer auf den Daumen geschlagen hat? Wir ken-
nen die Antwort: kühlen. Frühere Generationen hätten Schwellungen
und blaue Flecken allerdings nicht gekühlt. Vielmehr hätten sie gesagt,
die Heilung brauche Wärme. Damit begingen sie jedoch einen Timing-
fehler. Die Tatsache, dass der Hammer nicht mehr in Kontakt mit dem
Daumen ist, bedeutet keineswegs, dass die Verletzung vorbei ist. Sie geht
vielmehr weiter, und diesen Prozess verlangsamt das Kühlen. Danach
kann man Wärme anwenden.
Ein Grund, weshalb wir etwas (wie eine Rezession) für beendet erklären,
ist, dass wir uns von dem Leid, das es verursacht, distanzieren möchten.
Es gibt jedoch noch einen weiteren Grund. Die Vergangenheit muss vorbei
sein, um die Möglichkeit einer neuen, besseren Zukunft zu schaffen.
Ein Interpunktionszeichen kann auch zu spät gesetzt werden. In
den USA gab es eine polizeiliche Vernehmungstaktik, die der Oberste
Gerichtshof später für verfassungswidrig erklärte: Die Polizei verhörte
einen Verdächtigen zunächst, ohne ihn über sein Recht, zu schweigen
und einen Anwalt hinzuziehen, aufzuklären. Dabei waren die Beam-
ten sich darüber im Klaren, dass sie die Aussage des Verdächtigen vor
Gericht nicht verwenden konnten. Nach einer Pause kamen die Polizis-
ten zurück und verlasen dem Verdächtigen seine Rechte. Meist wieder-
Zeitliche Interpunktion 69
holten die Verdächtigen bei der anschließenden zweiten Vernehmung
das, was sie bereits vorher gesagt hatten.4 Das Interpunktionszeichen
(die Aufklärung über die Rechte) wurde in diesem Fall bewusst spät
gesetzt, um dem Verdächtigen das Gefühl zu vermitteln, es sei zu spät,
etwas von dem bereits Gesagten zurückzunehmen. Die allgemeine Ver-
wendung dieser Taktik erklärte der Oberste Gerichtshof für unrechtmä-
ßig.
Menge
Achten Sie auf die Anzahl der Interpunktionszeichen in einem Prozess,
der sich über einen längeren Zeitraum ausdehnt. Eine übertriebene
Anzahl kann den Ablauf verlangsamen. Wir alle haben schon Kurzflüge
erlebt, bei denen die Heimfahrt – Verlassen des Parkhauses, Anhalten an
Stoppschildern und Ampeln, Zufahrt zur Autobahn – länger dauerte als
der eigentliche Flug. Wir unterschätzen, wie lange die Erledigung einer
Aufgabe dauert, weil wir nicht alle Interpunktionszeichen – die diver-
sen Grenzen und Schranken, die wir unterwegs passieren müssen – in
Betracht ziehen, obwohl wir die meisten im Voraus kennen. Deshalb ist
es so wichtig, sie in unsere Planung einzubeziehen.
Es gibt eine Reihe von Gründen, weshalb wir es nicht tun. Erstens
lassen sich manche Interpunktionszeichen wie eine unerwartete Ver-
zögerung nicht vorhersehen. Zweitens sind manche unangenehm. Wir
möchten, dass die Rückfahrt vom Flughafen kurz und reibungslos ver-
läuft. Interpunktionszeichen verlangsamen uns. Drittens fällt es nicht
leicht, alle Interpunktionszeichen im Kopf zu behalten, wenn es viele
davon gibt. Überlegen Sie beispielsweise, wie oft Sie auf der Heimfahrt
vom Flughafen anhalten und wieder anfahren müssen. Genau das ist
der Punkt: Sie müssen innehalten und nachdenken. Wir sind es nicht
gewohnt, Interpunktion in Betracht zu ziehen.
Bei IBM dachten weder Cannavino noch sein Chef an Interpunktion:
daran nämlich, dass die nicht eingelösten Gehaltsschecks ein Problem
für die Buchhaltung darstellten. Wenn man schon ein einziges Inter-
punktionszeichen leicht übersieht, was sollen wir erst machen, wenn es
70 Jetzt!
Dutzende Anfänge, Enden, Pausen, Stopps und Starts gibt, wie es bei den
meisten Projekten der Fall ist? Eine der Schwierigkeiten im Umgang mit
der Vielzahl von Interpunktionszeichen ist, dass wir keinen Ort haben,
an dem wir sie vermerken. Daher wissen wir nicht, wo wir nachschauen
sollen, wenn wir sie finden müssen. Eine Lösung ist, sich die Zukunft
als Satz paralleler Linien oder Spuren vorzustellen, in dem jede Linie für
ein Ereignis, einen Prozess oder eine Vorgehensweise steht. Dann könn-
ten wir beispielsweise sämtliche Fristen und Termine des legislativen
Kalenders, die unsere Arbeit betreffen, auf einer Linie vermerken, alle
Daten wichtiger Branchenereignisse auf einer anderen, Fristen und Ter-
mine der Strategieplanung unserer Firma auf einer dritten und so fort.
So könnten wir alle wichtigen Interpunktionszeichen im Blick behalten.
Abstand
Der Abstand, also die Zeitspanne zwischen Interpunktionszeichen,
ermöglicht es uns, Ereignisse vorherzusagen, die ansonsten unvorher-
sehbar wären. Nehmen wir als Beispiel die Entscheidung der Staatsan-
wältin Janet Reno, am 19. April 1993 das Gelände der Branch Davidians zu
stürmen. Die Anlage in Waco, Texas, wurde seit über einem Monat bela-
gert. Die Auseinandersetzung begann am 28. Februar, als das Bureau of
Alcohol, Tobacco and Firearms, eine Behörde, die zum amerikanischen
Justizministerium gehört, den religiösen Anführer der Branch Davidi-
ans, David Koresh, mit Haftbefehl festzunehmen versuchte. Die schwer
bewaffneten Davidianer schossen auf die Bundesbeamten, töteten vier
und verletzten 16 von ihnen. Der Staat nahm Verhandlungen mit Koresh
auf, um ihn zur Aufgabe zu bewegen. Zweimal kündigte Koresh an, er
werde das Gelände verlassen, hielt aber beide Male nicht Wort. Nach
Wochen erklärte Koresh, er werde nach Ostern/Pessach aus der Anlage
kommen. Als dieser Termin verstrich und Koresh immer noch nicht auf-
gab, entschloss sich der Staat zur Stürmung. Dabei folgten sie derselben
Timingregel wie im Golfkrieg: Gewalt einzusetzen, wenn Verhandlun-
gen scheitern.
Bei dieser staatlichen Entscheidung spielte die Interpunktion in zwei-
Zeitliche Interpunktion 71
facher Hinsicht eine Rolle: Erstens war Koresh ein religiöser Führer,
daher besaß die Wahl eines religiösen Datums für eine Lösung der Krise
eine gewisse Rationalität (ein Vorgang war auf ein Interpunktionszei-
chen derselben »Art« abgestimmt). Als Koresh aber an Ostern/Pessach
nicht, wie zugesagt, aus der Anlage kam, gaben die staatlichen Stellen die
Hoffnung auf. Sie war eben daraus erwachsen, dass der Zeitpunkt der
Aufgabe in einer Lage, die von Unwägbarkeiten und Gewalt geprägt war,
durchaus verständlich schien. Als ein Zeitpunkt, der rational erschien,
nicht das gewünschte Ergebnis brachte, gaben die staatlichen Stellen die
Hoffnung auf einen vernünftigen Ausgang auf und gingen gewaltsam
vor.
Noch in anderer Hinsicht kam Timing ins Spiel. Der nächste hohe
religiöse Feiertag, der vielleicht eine Lösung der Krise gebracht hätte, war
Weihnachten, aber das Fest war noch acht Monate entfernt. Würde Weih-
nachten nicht im Dezember, sondern im Mai gefeiert, hätten die Behör-
den vielleicht abgewartet. Die Verhandlungsführer hätten versuchen
können, eine Geschichte über Weihnachten als »logischen« Zeitpunkt
aufzubauen, an dem die Krise sich lösen ließe. Nur ein Zufall des Kalen-
ders (die lange Zeitspanne zwischen Ostern/Pessach und Weihnachten)
verhinderte es. Das ist einer der Gründe, weshalb wir manchmal sagen,
Timing sei Glückssache, aber ebendiese Schlussfolgerung ist falsch. Die
Tatsache, dass Weihnachten im Dezember und nicht im Mai gefeiert
wird, ist genau die Information, die wir kennen mussten, um vorher-
zusagen, wann die Behörden handeln würden. Der Abstand zwischen
diesen beiden Interpunktionszeichen entschied über die Timingfrage.5
Das Waco-Beispiel verdeutlicht ein wichtiges Prinzip: Je unmöglicher
es scheint, den Zeitpunkt eines Ereignisses oder einer Entscheidung vorher-
zusagen, umso stärker bestimmt die Position zeitlicher Interpunktion das
Timing. Für welchen Zeitpunkt kündigte Koresh an, die Anlage zu ver-
lassen? Antwort: nach Ostern. Koresh war ein religiöser Führer, daher
besaß die Wahl eines religiösen Datums eine gewisse Logik. Wann würde
das Oberste Gericht von Minnesota über den strittigen Wahlausgang bei
den Senatswahlen 2009 zwischen dem Republikaner Norm Coleman
und dem Demokraten Al Franken entscheiden? Antwort: unmittelbar vor
dem 4.-Juli-Wochenende, damit das Wahlergebnis nicht in der Schwebe
72 Jetzt!
blieb und zur Belastung für die Parade zum Unabhängigkeitstag werden
konnte. Wann würde Cannavino beweisen, dass er der beste Reparateur
von Lochkartenstanzen war? Antwort: am Quartalsende. Wann fangen
die meisten Menschen an, Sport zu treiben? Antwort: unmittelbar nach
Neujahr. Wenn wir also herausfinden können, welche Interpunktionszei-
chen für Entscheidungsträger herausragend sind, haben wir einen wich-
tigen Hinweis über das Timing ihrer Handlungen entdeckt, zumal, wenn
sie offenbar keine anderen Grundlagen für eine Entscheidung haben.
Zusammentreffen
Wenn eine Reihe ähnlicher Interpunktionszeichen gleichzeitig vorkom-
men, verstärkt es unseren Eindruck, dass wir es mit einer Grenze oder
Schranke zu tun haben. So ist die Kraft zur Veränderung einer Organi-
sation am stärksten, wenn ein neuer Chef kommt, und das, weil zwei
Interpunktionszeichen zusammentreffen: eine neue Führungskraft und
eine neue Ausrichtung der Firmenpolitik. Beides passiert zur gleichen
Zeit.
Ein Sonderfall des Zusammentreffens zeitlicher Interpunktion ist
so verbreitet, dass er einen eigenen Namen verdient. Ich nenne ihn die
»Anschlussregel« – an das Ende eines Schrittes oder Stadiums schließt
sich lückenlos und ohne Überschneidung der Anfang des nächsten an:
Beispiele sind das Auslaufen eines Produkts und die Markteinführung
des Nachfolgeprodukts oder der Rücktritt einer wichtigen Führungskraft
und die Ernennung ihres Nachfolgers. Die Regel – die mit einer zeit-
lichen Platzangst vergleichbar ist – verlangt, dass zwischen dem Ende
eines Ereignisses und dem Beginn des anderen kein »toter« oder leerer
Raum liegt. Außerdem erfordert sie, dass zwei Prozesse oder Ereignisse
sich nicht überschneiden. Ist das nicht der Fall, könnte das zu Konkur-
renz oder Beeinträchtigungen zwischen beiden führen, etwa wenn ein
Produkt das andere ausschlachtet. Die Ausnahme zum Überschnei-
dungsverbot gilt, wenn Kontinuität wichtig ist. Das ist beispielsweise der
Fall, wenn ein Unternehmen eine Mitarbeiterin bittet, ihre Nachfolgerin
einzuarbeiten, bevor sie in den Ruhestand geht.
Zeitliche Interpunktion 73
Im Allgemeinen halten wir ein stimmiges zeitliches Zusammentref-
fen für gut und Abweichungen für schlecht. Das ist aber nicht immer
so. So alt auszusehen, wie wir sind oder uns fühlen, ist vielleicht gut,
vielleicht aber auch nicht. Die Möglichkeit, sein tatsächliches Alter mit
seinem psychologischen Alter und dem Alter, das man der Welt präsen-
tiert, bewusst in Einklang zu bringen (oder gerade nicht), ist das, was
die Gesundheits- und Schönheitsindustrie am Leben hält und ihr Profite
einbringt. Das Bestreben, dass der erfolgreiche Abschluss eines Projekts
mit dem Zeitpunkt zusammenfällt, an dem es evaluiert wird, erweist
sich als starke Motivation.
Gewöhnlich wirft es Fragen auf, wenn bestimmte Ereignisse nicht
zusammenfallen. Regelmäßige Meetings dienen als eine Art Inter-
punktion. Fällt eine Entscheidung zu einem anderen Zeitpunkt, dann
fragen wir uns, warum. So senkte die Federal Reserve im Oktober 1998
zwei Leitzinssätze. Die Kurse stiegen, aber weil der Beschluss zwischen
den regulären Fed-Sitzungen fiel, trug er dazu bei, »die ohnehin schon
gebeutelten Wertpapierinvestoren nervöser denn je zu machen«.6 Beob-
achter fragten sich, ob der Zeitpunkt der Maßnahme bedeutete, dass die
drohende Rezession näher als erwartet war. Wie dieses Beispiel illus-
triert, kann es unbeabsichtigte Folgen haben, wenn etwas außer der
Reihe passiert.
Risiken zeitlicher Interpunktion
Wenn wir dieses Timingelement übersehen oder fehlinterpretieren, kön-
nen daraus eine Reihe von Risiken erwachsen.
Interpunktion übersehen
Das vielleicht größte Risiko: Wir bemerken nicht, dass es im Verlauf
einer Aktivität Interpunktionszeichen gibt. Ihr Vorhandensein und
ihre Position können erhebliche Auswirkungen auf eine Entscheidung
74 Jetzt!
haben. Beispielsweise beobachteten Forscher acht israelische Richter
zehn Monate lang und machten sich in dieser Zeit Notizen darüber, wie
die Richter über 1000 Bewährungsanträge urteilten. Sie stellten fest,
dass Gefangene erheblich bessere Aussicht auf Bewährung hatten, wenn
ihre Anträge am Tagesanfang über den Richtertisch gingen. Je mehr
Arbeitsstunden vergingen, umso weniger Anträgen wurde stattgegeben.
Die Zahl der Bewilligungen stieg signifikant nach den beiden täglichen
Essenspausen der Richter. Im Laufe des Tages sank die Zahl der Bewilli-
gungen jedoch wieder.7
Wenn Sie aus dem Gefängnis entlassen werden möchten, sorgen Sie
also dafür, dass Ihr Antrag am frühen Morgen behandelt wird. Ein Inter-
punktionszeichen zu kennen und seine Wirkung zu verstehen kann
wichtige Informationen zum Timing liefern.
Eine ähnliche Lehre lässt sich aus dem sogenannten Flash Crash
im Mai 2010 ziehen, als der Dow-Jones-Index vorübergehend um 1000
Punkte abstürzte, sich dann aber wieder erholte. Eine Hauptursache für
den Kurssturz war eine Panne im Computerhandel, die zum Verkauf von
Aktien im Wert von 4,1 Milliarden US-Dollar führte. Der verantwortliche
Algorithmus war so angelegt, dass er einen Handel ungeachtet des Prei-
ses oder Zeitpunkts ausführte, also selbst dann noch weiter verkaufte,
als die Preise abstürzten.8 Automatisierter Hochfrequenzhandel zum
falschen Zeitpunkt kann als unbeabsichtigte Folge einen Abschwung
oder eine Talfahrt am Markt auslösen. Zur Lösung dieses Problems bau-
ten die Regulierungsbehörden nach dem Flash Crash unter anderem die
Handelsunterbrechungen (oder Sicherungen) aus. Im Grunde ergänzten
sie eine fehlende Interpunktion, sodass der Börsenhandel nun für fünf
Minuten ausgesetzt wird, sobald der Kurs innerhalb von fünf Minuten
um 10 Prozent oder mehr fällt.
Die Linse der zeitlichen Interpunktion gehört glücklicherweise zu
den Instrumenten, die am einfachsten zu nutzen sind, weil wir nach
bekannten Kategorien Ausschau halten müssen: Anfänge, Pausen, Mit-
ten, Enden, bekannte Kalenderdaten und so weiter. Wie bereits gesagt,
brauchen wir nur einen Ort, an dem wir die Zeichen vermerken können,
damit wir sie im Kopf behalten und die enthaltenen Informationen für
fundiertere Entscheidungen nutzen.
Zeitliche Interpunktion 75
Fragen Sie sich: Habe ich alle Schritte, Stadien, Stopps, Starts und Pau-
sen erfasst, die ein Ereignis oder eine Situation gliedern? Wie werden sie sich
im Einzelnen auf meine Fortschritte und Ergebnisse auswirken?
Interessenkonflikte
Wenn wir uns verpflichtet fühlen, uns auf eine Art von Interpunktions-
zeichen zu konzentrieren (und in der Folge andere vergessen oder
herunterspielen), kann das zu Fehlern und Versehen führen. So leben
alle Führungskräfte mit dem Konflikt zwischen den Zwängen des
Finanzkalenders – dem vorrangigen Blick der Börse auf Ergebnisse
und Bewertungen – und der Notwendigkeit, Projekte in ihrem eigenen
Tempo zu entwickeln, wenn sie zum Erfolg führen sollen. In der Folge
werden Projekte übereilt durchgeführt oder abgekürzt, um unmittelba-
ren Anforderungen wie der Vierteljahresbilanz Rechnung zu tragen.
Fragen Sie sich: Wenn es in einer Situation mehrere Interpunktionszei-
chen gibt, welches hat Vorrang und warum?
Zeitliche Interpunktion fehldeuten
Wenn wir ein Komma mit einem Punkt verwechseln, gibt es Probleme:
Wir dachten, etwas sei vorbei, obwohl es nicht der Fall war, und umge-
kehrt. Es passiert ständig, dass zeitliche Interpunktionszeichen falsch
gedeutet werden. So schrieb Tom Lauricella im November 2007 im Wall
Street Journal: »Nachdem einige große Investmentfonds dem Sturm
am Anleihenmarkt erfolgreich ausgewichen waren, dachten sie, das
Schlimmste sei vorüber. Das war eine Fehleinschätzung, und jetzt bekom-
men sie es schmerzhaft zu spüren.«9
Fragen Sie sich: Habe ich zeitliche Interpunktionszeichen richtig inter-
pretiert? Kann es sein, dass etwas, was ich für einen Punkt halte, in Wirklich-
keit nur eine kurze Pause ist?
76 Jetzt!
Zeitliche Interpunktion (und ihre Veränderungsmöglichkeiten) missachten
Die Gegenwart, die Vergangenheit und Zukunft trennt, ist ein Inter-
punktionszeichen. Wir hoffen, die Zukunft ändern zu können, während
wir wissen, dass wir die Vergangenheit nicht mehr ändern können. Die
Praxis der »Rückdatierung« missachtet jedoch diese grundlegende Vorstel-
lung. Bei der Rückdatierung tut ein Unternehmen so, als ob die Optionen,
die es Angestellten übertragen hat, zu einem früheren Zeitpunkt ausge-
stellt worden seien, als der Aktienkurs niedriger lag. Damit gewährleistet
es, dass der Empfänger der Option einen Gewinn macht. Wenn wir nicht
beachten, wo und wann etwas anfängt oder aufhört und ob sich daran
etwas ändern oder anders auslegen lässt, sehen wir uns möglicherweise
mit unvorhergesehenen Risiken konfrontiert. Die Rückdatierung an sich
ist zwar nicht illegal, aber manche Fälle, in denen gegen Steuervorschrif-
ten verstoßen wurde, wertete die US-Börsenaufsicht als Betrug.
Stellen Sie sich die Frage: Übersehe oder missachte ich aus Bequemlich-
keit zeitliche Interpunktion? Wenn ja, welche Auswirkungen könnte es haben?
Gleichzeitige Interpunktion
Wenn wir nicht berücksichtigen, was passiert, wenn Interpunktionszeichen
zeitlich zusammenfallen, kann das zu Fehlern führen. So müssen Phar-
maunternehmen für Situationen planen, in denen die Patente auf mehrere
Medikamente gleichzeitig auslaufen. Wenn sie es übersehen, zahlen sie
einen hohen Preis. Sie müssen neue Medikamente so weit entwickelt haben,
dass sie die Einnahmeausfälle ausgleichen, oder eine Markenstrategie ver-
folgen, mit der sie aus der Flut der Konkurrenten herausstechen. Wenn alle
Wertpapiere in einem Portfolio zur selben Zeit fällig werden, müssen wir
hoffen, dass die Zinssätze und unser Geldbedarf genau unseren Erwartun-
gen zum Zeitpunkt ihres Kaufs entsprechen. Um dieses Risiko zu vermei-
den, empfehlen Finanzberater oft eine Wertpapierstaffelung, bei der ver-
schiedene Wertpapiere zu unterschiedlichen Zeiten fällig werden. So lässt
sich das Risiko einer Fehleinschätzung verringern. Die klassische Lösung
Zeitliche Interpunktion 77
für Synchronrisiken – dass also mehrere Ereignisse gleichzeitig eintreten –
ist eine asynchrone Strategie, also ein Plan, sie getrennt zu halten.
Fragen Sie sich: Treten mehrere Interpunktionszeichen gleichzeitig auf,
laufen etwa mehrere Fristen zur gleichen Zeit ab? Wenn ja, habe ich einen
Plan, damit umzugehen?
Ein verfrühter Punkt
Ein verbreiteter Timingfehler besteht darin, zu früh einen Punkt zu
machen. Wir nehmen irrtümlich an, etwas sei vorüber, obwohl es nicht
der Fall ist. Präsident George W. Bushs Auftritt, als er während des Irak-
kriegs das Banner mit der Aufschrift »Mission Accomplished« (Mission
erfüllt) hisste, ist ein einschlägiges Beispiel dafür. Die Tendenz, ein Ereig-
nis als abgeschlossen zu behandeln, obwohl es noch nicht vorbei ist, ist
weit verbreitet. Im Januar 2007 sah es so aus, als ob der amerikanische
Immobilienmarkt sich von seinem Einbruch erholen würde. In diesem
Zusammenhang wies der Finanzautor Daniel Gross jedoch warnend auf
einen Aspekt hin, der die Berechnung von Immobilienangebot und -nach-
frage durch das Statistische Bundesamt der USA betraf: Ein gewisser Pro-
zentsatz der im Dezember abgeschlossenen Immobilienverkäufe wird
Anfang Januar wieder storniert. Aber die Statistik wird nicht korrigiert;
stattdessen werden die Dezemberzahlen unbereinigt veröffentlicht.10
Ein Verkauf ist kein Verkauf, wenn er storniert wird, aber das Statisti-
sche Bundesamt zählt ihn trotzdem. Der Fehler besteht darin, einen Ver-
kauf als Einzelereignis zu sehen, obwohl er in Wirklichkeit eine Sequenz
ist, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt.
Fragen Sie sich: Handelt es sich wirklich um ein Ende, oder geht das Ereig-
nis weiter?
Abstandsrisiken
Abstandsrisiken treten auf, wenn wir die Zeitspanne zwischen Inter-
punktionszeichen nicht messen oder nicht berücksichtigen. Wenn eine
78 Jetzt!
Familie innerhalb von zwölf Jahren ein Dutzend Kinder bekommt, dürfen
wir relativ sicher annehmen, dass die Eltern körperlich erschöpft sind,
ganz zu schweigen von den finanziellen Belastungen. Auf Starts und
Stopps zu achten ermöglicht es, seine Ressourcen besser einzusetzen.
Fragen Sie sich: Habe ich ausreichend Zeit zwischen Ereignissen vorgese-
hen, um mich auf das einzustellen, was als Nächstes kommt?
Strukturrisiken
Strukturrisiken treten auf, wenn wir die Formen und Muster nicht vor-
hersehen, die absehbar mit Interpunktionszeichen einhergehen: die ste-
tig wachsenden Anstrengungen unmittelbar vor einem Liefertermin,
wenn alle rund um die Uhr arbeiten, um ihn einzuhalten; das Zurück-
schrauben der Erwartungen kurz vor Veröffentlichung der Quartals-
zahlen, damit das Unternehmen die Erwartungen übertreffen kann. Im
Umfeld von Interpunktionszeichen gibt es häufig bestimmte Strukturen
und Muster, die wir einplanen müssen.
Fragen Sie sich: Welche vorhersehbaren Verhaltensmuster gehen mit
verschiedenen Interpunktionszeichen einher, und habe ich diese Muster in
Betracht gezogen?
Missverständnisse über zeitliche Interpunktion
Es besteht immer die Gefahr, dass jemand ein Interpunktionszeichen
missversteht. So kann es vorkommen, dass eine Seite bei Geschäftsver-
handlungen eine sehr lange Pause entstehen lässt. Deutet die Länge der
Pause auf mangelndes Interesse hin, oder zeigt sie lediglich an, dass die
andere Seite Zeit braucht, um interne Differenzen zu klären?
Michael Gordon fragte sich 2008 in einem Artikel in der New York
Times, wie der Abzug der USA aus dem Irak wohl ausgelegt würde.
»Wenn die Iraker wissen, dass amerikanische Truppen abziehen, ganz
gleich, was sie auch tun, würden sie als Reaktion darauf eher ihre Diffe-
renzen überwinden oder sich auf das sektiererische Blutbad vorbereiten,
Zeitliche Interpunktion 79
das folgen könnte?«11 Verschiedene Parteien können Interpunktionszei-
chen unterschiedlich interpretieren.
Ebenso reagieren Autofahrer unterschiedlich, wenn eine Verkehrsam-
pel (das Interpunktionszeichen) auf Gelb springt. Eine Studie zu 1500
Autofahrern in Ohio fand heraus: »Lkw-Fahrer tendieren dazu, durchzu-
fahren, ebenso wie Pkw, die sich auf der rechten Fahrspur befinden.«12
In diesem Fall können unterschiedliche Interpretationen eines Inter-
punktionszeichens tatsächlich Unfälle verursachen.
Fragen Sie sich: Lässt ein zeitliches Interpunktionszeichen mehr als eine
Interpretation zu? Gibt es eine richtige Auslegung oder begründete Meinungs-
verschiedenheiten?
Optionen und Chancen zeitlicher Interpunktion
Es gibt viele Möglichkeiten, zeitliche Interpunktion privat und beruflich
einzusetzen. Eine Pause oder einen Schlusspunkt können wir nutzen:
um neue Beziehungen anzufangen, eine andere Idee einzubringen,
ein bereits allzu lange laufendes Projekt abzuschließen, ein Gefühl der
Dringlichkeit zu schaffen oder zu verringern und eine Vielzahl anderer
Dinge zu tun, für die zeitliche Interpunktion das richtige Instrument
ist. Häufig bestimmt nicht nur das, was wir tun, sondern wie wir es
tun, über Erfolg oder Scheitern. Die beste Gelegenheit, Interpunktion
im Geschäftsleben zu nutzen, bietet sich beim Führungswechsel, vor
allem durch das Timing von Eintritt und Austritt (Setzen eines Schluss-
punkts).
Ausstiegsstrategien entwickeln
Eine Ausstiegsstrategie zu entwickeln ist im Grunde dasselbe, wie
einen Schlusspunkt zu setzen. Angenommen, wir befinden uns mit-
ten in einem bestimmten Vorgang: finanzieren ein Forschungsprojekt,
bauen ein Unternehmen auf oder pflegen eine langfristige Beziehung.
80 Jetzt!
Es könnte sich um alles handeln. Angenommen, es läuft nicht, und wir
wissen, dass es an der Zeit ist, unser gegenwärtiges Engagement zu
beenden. Jede Situation ist natürlich einzigartig, und es ist immer eine
Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen. Für unsere Zwecke ist jedoch
nur wichtig, wie Zeit- und Timingfragen in die Planung einer Ausstiegs-
strategie einfließen.
Wenn es sich nicht gerade um ein groß angelegtes Unternehmen han-
delt – und selbst dann oft nicht –, werden Ausstiegsstrategien leider nur
selten vor Beginn eines Projekts oder einer Aktivität diskutiert. Es könnte
unter Umständen als mangelndes Vertrauen in das neue Vorhaben aus-
gelegt werden. Es ist schwer, über einen Ausstieg nachzudenken, wenn
man sich auf den Start eines Projekts vorbereitet. Eine Lösungsmög-
lichkeit: Man könnte die Erörterung von Ausstiegsstrategien und ihres
Timings zu einem Ritual machen. Rituale haben die richtigen zeitlichen
Eigenschaften: Sie sind zeitlich begrenzt, sie stören den Projektbeginn
nicht und sie sind ungefährlich, eben weil sie Rituale und nicht Realität
sind. Zudem kann man sie üben und daher selbst unter Stress reibungs-
los durchführen. Aufgrund dieser Merkmale lassen sich Rituale zu fast
jedem Zeitpunkt in jede Tätigkeit einbauen, um etwas zu erreichen, was
ansonsten zeitraubend und schwierig wäre.
Bei Ausstiegsüberlegungen sind einige Faktoren zu berücksichtigen:
1. Permanenz und Umkehrbarkeit: Ist die Situation, die die Ausstiegsfrage
aufwirft, von Dauer oder nur vorübergehend, und würden zusätzliche
Ressourcen innerhalb einer vertretbaren Zeit eine Wende bewirken?
2. Timing von Alternativen: Wann stehen Alternativen zur Verfügung? Es ist
nicht ungewöhnlich, einen Ausstieg hinauszuzögern, bis eine trag-
fähige Alternative vorhanden ist – selbst wenn die Fortsetzung des
gegenwärtigen Kurses ganz klar sinnlos ist. Bewertet man ein Projekt
ausschließlich nach internen Vergleichsgrößen, ist ein rechtzeitiger
Ausstieg unwahrscheinlich. Jemand muss beauftragt werden, Alter-
nativen zu erkennen und im Auge zu behalten, wann sich für sie ein
Zeitfenster öffnet und schließt.
3. Timing von Kosten und Nutzen: Wenn wir von Kosten und Nutzen eines
Ausstiegs sprechen, denken wir gewöhnlich an Art und Umfang. Wel-
Zeitliche Interpunktion 81
che Kosten und welchen Nutzen erwarten wir? Werden sie groß oder
klein ausfallen? Eine Timinganalyse fügt eine dritte Erwägung hinzu:
Wann werden sie auftreten? Wenn die meisten Kosten eines Projekts
am Anfang anfallen, der größte Nutzen aber erst am Ende zu erwar-
ten ist, dürfte ein rechtzeitiger Ausstieg schwierig sein. Manager sind
dann versucht, auf den Nutzen zu warten, und sei es auch nur, um die
bereits angefallenen Kosten zu rechtfertigen. Als Lösung bietet sich
an, das Projekt möglichst so zu strukturieren, dass der Nutzen den
Kosten unmittelbar folgt.
Die meisten Diskussionen über einen Ausstieg beziehen auch
Abschlusskosten ein (als ob schon dieser Begriff das Timing in
Betracht zöge). Wir dürfen nicht vergessen zu fragen, wie hoch die
Abschlusskosten an jedem zukünftigen Punkt sein werden und wie sie
dann zu bewerten sind. Kosten, die in guten Zeiten annehmbar sind,
können in schlechten Zeiten zu hoch sein.13
4. Zeitmuster von Erfolg und Scheitern. Könnte ein Projekt anfängliche Zei-
chen von Erfolg zeigen, aber dann zum Stillstand kommen? Wenn
ja, kann man leicht in eine Falle tappen. Der britische Philosoph
und Sozialkritiker Bertrand Russell erklärte einmal, frühe religiöse
Erfahrung sei nicht deshalb wichtig, weil sie religiös sei, sondern
weil sie früh sei. Das Gleiche gilt für frühen Erfolg. Er hat die Macht,
uns in seinen Bann zu ziehen und so lange bei der Stange zu hal-
ten, bis wir wie ein Spieler an Glücksspielautomaten alles verloren
haben. Manager sollten die Form möglicher Zeitmuster von Erfolg und Scheitern vorhersehen, die mit ihren Projekten einhergehen,
und besprechen, wie jedes einzelne zu einem Timingfehler führen
könnte. Diese Diskussionen sollten frühzeitig stattfinden, bevor Pro-
bleme auftreten.
5. Motivationswandel im Laufe der Zeit. Im Laufe der Zeit kann es zu einem
Motivationswandel kommen: Aus Gewinnstreben wird Verlustver-
meidung, wie das Beispiel »Die Dollarauktion« illustriert.
82 Jetzt!
Die Dollarauktion14
Halten Sie einen Dollarschein hoch und verkünden Sie, dass Sie
ihn an den Meistbietenden versteigern. Als Einziges fügen Sie
noch hinzu, dass auch der Verlierer zahlen muss. Das Anfangs-
gebot sind 10 Cent. Okay, sagen Sie in bester Auktionatormanier,
wer gibt 10 Cent für einen Dollar. Zehn Cent für einen Dollar?
Wenn jemand dumm genug ist, anzufangen, und ein ande-
rer noch dümmer ist, mitzuhalten, werden die Gebote sich
hochschaukeln. Je näher die Gebote sich einem Dollar nähern,
umso mehr wird dem Verlierer klar werden, dass er mehr als
gedacht verliert, aber nichts gewinnt, wenn er sein Gebot nicht
erhöht. An diesem Punkt tritt anstelle des Motivs, den Gewinn
zu maximieren, das Motiv, Verluste zu vermeiden. Um also Ver-
luste zu vermeiden, erhöht er sein Gebot. Im Ergebnis gehen die
Gebote häufig über einen Dollar hinaus, manchmal sogar um ein
Beträchtliches.
Bei genauerem Hinsehen herrscht diese Dynamik in vielen
Geschäftssituationen auf schnelllebigen Märkten und in Branchen
mit starker Konkurrenz, wo Dinge sich rasant ändern. Wir investie-
ren in eine Immobilie in der Hoffnung, Gewinn zu machen, aber
dann platzt die Blase, und wir sind nur noch bedacht, einen Total-
verlust zu vermeiden.
6. Schuldzuweisung und Verantwortung: Was ist mit der Schuldzuweisung,
wenn zu gegebener Zeit die Ausstiegsentscheidung fällt? Selbstver-
ständlich drängt sich die Frage auf: Wer wird zur Verantwortung
gezogen? Aber es geht nicht nur darum, wer die Verantwortung trägt,
sondern auch um die Gesamtsituation, in der sich die Verantwortli-
chen gerade befinden, wenn ein Ausstieg unumgänglich ist. Wenn
alles andere gut läuft, wird es ihnen leichter fallen, Verantwortung
für das zu übernehmen, was nicht funktioniert. In schlechten Zei-
ten jedoch werden sie vermutlich eine Ausstiegsentscheidung in der
Hoffnung auf eine Besserung der Lage hinauszögern. Deshalb müs-
Zeitliche Interpunktion 83
sen wir im Voraus den Kontext bedenken, in dem eine Ausstiegsent-
scheidung notwendig wird. Sonst werden wir davon überrumpelt,
dass sie zu früh, wahrscheinlicher aber zu spät fällt.
7. Identität, Status und Ansehen: Je enger Identität, Ansehen oder Status
einer Person oder Firma mit einem Projekt oder einer Aktivität ver-
knüpft sind, umso länger wird die Ausstiegsentscheidung hinaus-
gezögert. Das gilt besonders, wenn dieselbe Gruppe, die das Projekt
angefangen hat, auch dafür zuständig ist, es zu beenden.15
8. Sprache und Kultur: Die Kultur einer Organisation beeinflusst das
Timing eines Ausstiegs.16 Manche Organisationen legen Wert auf
Beständigkeit und Kurshalten, andere auf Schnelligkeit. Die Ers-
teren werden spät reagieren, die Letzteren überstürzt handeln. Ein
Hinweis auf die Organisationskultur ist ihre Einstellung zu Kosten
und Nutzen. Sieht die Organisation Kosten nicht als Ausgabe, son-
dern als Investition, reagiert sie auf zweifelhafte Renditen weniger
beunruhigt. Die Firma wird eher spät aus einem unprofitablen Pro-
jekt aussteigen. Einstellungen und Erwartungen gegenüber Mess-
werten sind ein weiterer Hinweis. Wenn eine Organisation großen
Wert auf Quantifizierung legt, ist ihr alles suspekt, was sich nicht
in Zahlen fassen lässt. Die Firma wird ihre Ausstiegsentscheidung
hinauszögern und auf präzisere Daten und Belege warten, die viel-
leicht gar nicht zu bekommen sind. Viele Wirtschaftsindikatoren
werden Monate oder Jahre später revidiert. Wenn wir auf perfekte
Daten warten sollten, bevor wir eine Entscheidung treffen, müssten
wir vielleicht lange warten.
9. Übergeordnete Verpflichtungen: Je größer die übergeordneten Verpflich-
tungen bei einem Projekt sind, umso schwieriger wird der Ausstieg.
Wir müssen also wissen, welche Beziehungen oder Interessen gefähr-
det sind, wenn wir das Projekt beenden. Je zahlreicher und wichtiger
sie sind, umso länger wird sich ein Ausstieg verzögern.
10. Mehrdimensionales Ende: In komplexen Situationen ist ein Beenden
schwierig, weil der Ausstiegszeitpunkt in einer Dimension richtig,
in einer anderen aber unpassend sein kann. Man nehme nur den
Afghanistankrieg oder eine andere kriegerische Auseinanderset-
zung. Wann sind die verschiedenen Missionen erfüllt (Nationen-
84 Jetzt!
bildung, Sieg über die Taliban, Sicherung von Landesteilen usw.)?
Wann kann man die Truppen sicher abziehen? Wann sind unsere
Verpflichtungen anderen gegenüber erfüllt? Wann werden wir wis-
sen, dass Erreichtes erhalten bleibt? Und inwieweit hängen die Ant-
worten auf diese Fragen von der nachlassenden Unterstützung des
Krieges in der Bevölkerung ab?
Der Bioethiker Daniel Callahan veranschaulichte die vielen
Dimensionen eines Endes in seiner Definition des natürlichen
Todes: Er tritt ein
… an einem Punkt der Lebensspanne, an dem (a) die Lebensarbeit
geleistet ist; (b) die moralischen Verpflichtungen gegenüber denen
erfüllt sind, für die man verantwortlich war; (c) andere den Tod nicht
als Kränkung für Gefühl und Verstand empfinden oder zu Verzweif-
lung und Wut über die menschliche Existenz getrieben werden; und
schließlich (d) das Sterben nicht von unerträglichem und erniedri-
gendem Leiden geprägt ist.17
Weil Ausstiege viele Dimensionen haben, ist es wichtig, die zwi-
schen ihnen auftretenden Konflikte zu untersuchen. Was in einer
Dimension zu früh wäre, könnte in einer anderen zu spät sein. Da
diese Konflikte schwer zu lösen sind, erkennen wir sie idealerweise
im Voraus, damit genügend Zeit bleibt, darüber nachzudenken.
Erfolgreiche Ausstiegsstrategien sind komplexe Leistungen. Die oben
angeführte Zehn-Punkte-Liste ist lediglich ein Ausgangspunkt, der
Ihnen helfen soll, über einige der damit verbundenen Timingfragen
nachzudenken. Wenn wir zu dem Schluss kommen, dass ein Ausstieg
notwendig ist, stellt sich als Nächstes die Frage, wie wir ihn gestalten.
Zeitliche Interpunktion 85
Den Abschluss gestalten: Das Delete-Design-Modell18
Ein Ende ist nicht bloß eine objektive Tatsache, sondern auch ein
psychischer Prozess. Und dieser Prozess muss gut bewältigt werden.
Enden können schmerzlich sein. Jeder Anwalt wird bestätigen, dass
Kränkungen ebenso häufig Anlass zu Gerichtsverfahren sind wie
objektive Fakten. Mit diesem Wissen im Hinterkopf möchte ich die
fünf Schritte eines Delete-Design-Modells beschreiben (der Begriff
stammt von mir). Sie lassen sich auf zwei Arten nutzen: zum einen,
um das Gefühl zu schaffen, dass etwas wirklich abgeschlossen ist;
zum anderen bieten sie eine Möglichkeit, einen psychischen Schluss-
punkt zu setzen. Ein Abschluss ist im Umgang mit Veränderungen
wichtig, weil Gruppen neue Chancen nicht in vollem Umfang nut-
zen, wenn sie in der Vergangenheit verhaftet bleiben und nicht bereit
sind, sie hinter sich zu lassen. Das Besondere an diesem Modell ist,
dass seine einzelnen Schritte das Timing berücksichtigen – für mich
ein Grund, es hier vorzustellen.
1. Die Vergangenheit zusammenfassen: Eine Zusammenfassung ist ein
kurzer Abriss der Vergangenheit. Um ein Gefühl von Abschluss zu
schaffen, muss eine Zusammenfassung die umfassende Bedeu-
tung des Geschehenen erfassen. Sie darf nicht nur die objekti-
ven Tatsachen enthalten, sondern sollte auch die Hoffnungen
und Träume der Beteiligten aufgreifen, ihr Gefühl, etwas geleis-
tet zu haben, ihre Gründe, zu feiern. Sie sollte zudem eine Sicht
der Geschichte präsentieren, die zu dem Schluss führt, dass der
gegenwärtige Moment der richtige Zeitpunkt ist zu handeln.
Dazu muss man häufig weit zurückgehen – zu den Bedingungen,
die überhaupt erst zu dem Projekt oder Unternehmen geführt
haben – und den Wandel darstellen, den diese Bedingungen
erfahren haben.
2. Den Wandel begründen: Geben Sie Gründe an, warum eine Verän-
derung notwendig und/oder wünschenswert ist: das erfolgreiche
Erreichen eines Ziels, ein irreparabler Fehlschlag, ein Verlust, von
86 Jetzt!
dem man sich nur erholen kann, indem man nach vorn sieht, und
so weiter. Sie müssen nicht nur begründen, warum der Wandel
notwendig und erstrebenswert ist, sondern auch, warum er jetzt
notwendig und erstrebenswert ist.
3. Positives hervorheben: Loben und würdigen Sie die Vergangenheit.
Man kann nicht von einem hoch geschätzten Kurs abgehen, ohne
den Wert dessen, was man zurücklässt, zum Ausdruck zu brin-
gen, anzuerkennen und zu würdigen. Wir können die Vergangen-
heit nicht ohne Ritual begraben.
4. Für Kontinuität zwischen Vergangenheit und Zukunft sorgen: Es ist wich-
tig, den emotionalen oder anderweitigen Verlust dessen, was
nicht weitergeht, anzuerkennen. Bei Veränderungen genügt es
nie, lediglich ihre Notwendigkeit festzustellen oder zu behaup-
ten, das Abgeschaffte habe nichts von Wert enthalten. Wandel,
vor allem wenn er radikal ist, wird immer auf Widerstand stoßen.
Aber etwas so Einfaches wie das Versprechen, dass einige hoch
geschätzte Elemente der Vergangenheit erhalten bleiben und
in dem neuen Arrangement sogar gestärkt werden, erleichtert
den Übergang. Eben das tat Alexander Haig in seiner erwähnten
NATO-Rede.
5. Gute Wünsche äußern: Bringen Sie Hoffnung auf die Zukunft zum
Ausdruck. Wir schaffen einen Abschluss, indem wir eine neue Auf-
gabe oder Zielsetzung finden, die zur Hoffnungsquelle wird. Um
rechtzeitig auszusteigen, brauchen wir etwas, wohin wir ausstei-
gen können, etwas, das uns in die Zukunft zieht.
Sie werden feststellen, dass dieser Rahmen, die Abfolge dieser fünf
Schritte, in einer Vielzahl von Situationen wirkt: beim Gute-Nacht-Ri-
tual für Kinder, bei einer Rede zum Schulabschluss, beim beruflichen
Abschiedsempfang, bei der Beendigung einer Geschäftspartner-
schaft oder bei jeder Gelegenheit, bei der es auf einen rechtzeitigen
Abschluss ankommt.
Zeitliche Interpunktion 87
Wandel beschleunigen: einen Punkt beseitigen
Bislang haben wir uns nur damit befasst, ein Interpunktionszeichen, in
diesem Fall einen Punkt, einzufügen. Aber, wenn, man, nach, jedem,
Wort, dieses, Satzes, ein, Komma, setzt, liest, er, sich, als müsse, man,
gegen, eine, kabbelige, See, anschwimmen. Ermüdend. Manchmal
kommt es also nicht darauf an, einen Punkt zu setzen, sondern einen zu
beseitigen – oder zumindest den Fluss zu verbessern, indem man einen
Punkt durch ein Komma ersetzt.
So lässt sich das Ende einer Fernsehsendung als Punkt oder als Komma
gestalten. Fernsehsender ziehen natürlich das Komma vor. Sie möch-
ten, dass die Zuschauer nicht umschalten, sondern weiter ihren Sender
schauen. Im Herbst 1994 versuchten alle amerikanischen Fernsehsender
bis auf Fox, die Interpunktion zwischen Sendungen völlig abzuschaf-
fen.19 Sie verschoben Werbeblöcke ins Programm, statt sie zwischen den
Sendungen zu schalten. Sie beseitigten einen Punkt zwischen dem Ende
einer Sendung und dem Beginn der nächsten, um das Interesse hoch zu
halten. Ganz ähnliche Überlegungen stellte man bei Segelregatten an.
Larry Ellison, Teamchef von BMW Oracle Racing, und Alinghi-Teamchef
Ernesto Bertarelli sorgten dafür, dass auch in den Jahren zwischen den
offiziellen Pokalregatten in jedem Sommer Rennen stattfanden.20
Eine Möglichkeit der Produktivitätssteigerung besteht darin, Unterbre-
chungen – also unnötige Interpunktionszeichen – zu beseitigen. Sue Shel-
lenbarger, Kolumnistin des Wall Street Journal, stellte 2007 fest, dass es bei
der Firma Dow Corning einmal im Vierteljahr eine »meetingfreie Woche«
gab, in der keine unnötigen internen Konferenzen stattfanden. So muss-
ten Angestellte weniger reisen und konnten ohne Unterbrechung arbeiten.
Ganz ähnlich führte IBM im gesamten Unternehmen mit »Think Fridays«
einen meeting- und störungsfreien Zeitblock am Freitagnachmittag ein.21
Die richtige Position wählen
Wo wir einen Punkt oder ein Komma setzen, kann einen erheblichen
Unterschied bewirken. Nehmen wir ein Team, das jahrelang an einem
88 Jetzt!
neuen Produkt gearbeitet hat. Es gerät unter wachsenden Druck, das
Produkt auf den Markt zu bringen. Folglich könnte die Gruppe versucht
sein, die Markteinführung zu überstürzen, bevor das Produkt oder der
Markt dazu bereit ist. Um diesen Fehler zu vermeiden, muss die Gruppe
eine Möglichkeit finden, dem Druck, dem sie sich ausgesetzt sieht, ent-
gegenzuwirken. An der richtigen Stelle ein Interpunktionszeichen zu
setzen kann dabei helfen.
Die meisten von uns stellen sich die Welt in drei separate Zeiten auf-
geteilt vor, die in einer Sequenz angeordnet sind: Vergangenheit, Gegen-
wart und Zukunft.
Diese Sequenz lässt sich auf zwei Arten durch Interpunktion glie-
dern. Wir können nach der Gegenwart einen imaginären Punkt setzen,
der sie mit der Vergangenheit zu einer Gruppe (verdeutlicht durch die
eckigen Klammern) zusammenfasst:
[Vergangenheit Gegenwart]. Zukunft
Oder wir können vor der Gegenwart einen Punkt setzen, der sie zum
ersten Schritt einer neuen Zukunft macht:
Vergangenheit. [Gegenwart Zukunft]
Bilden Gegenwart und Vergangenheit eine Gruppe, so wird die Vergan-
genheit zum Bezugspunkt. Jemand sagt: »Das Produkt befindet sich seit
über zehn Jahren in der Entwicklung. Wann bringen wir es endlich auf
den Markt?« Bilden dagegen Gegenwart und Zukunft eine Gruppe, wird
die Zukunft zum Bezugspunkt. Dann wird die Notwendigkeit, schnell
vorzugehen, durch eine andere Notwendigkeit gedämpft: Wir müssen
sicherstellen, dass wir den richtigen ersten Eindruck vermitteln. Jemand
wird uns daran erinnern, dass es lange dauern kann, sich von einer ver-
pfuschten Markteinführung zu erholen.
Wenn wir die Position eines Punktes ändern, kann es sich auf das
Timing einer Entscheidung auswirken, indem es sie dringend oder aber
ihre Verschiebung möglich und ratsam erscheinen lässt.
Zeitliche Interpunktion 89
Interpunktion verschieben – Spannung kontrollieren
Die zeitliche Interpunktion lässt sich nutzen, um Ereignisse und Situ-
ationen auf interessante Weise zu kontrollieren. Der Marketingexperte
und Werbetexter Arthur Schiff entwickelte einige geniale Werbeslogans,
die auf diesem Prinzip basierten: »Ein Messer, das ewig hält … Ein Pro-
dukt, das in keiner Küche fehlen sollte … Das unglaublichste Messer-
angebot aller Zeiten«. Dann folgte, wie aufs Stichwort, der einprägsame
Refrain: But wait, there’s more« (»Moment, es kommt noch mehr«). Der
Journalist Rob Walker erklärte in der New York Times:
Schiff macht das Angebot nicht nur begehrenswerter, sondern baut Spannung
auf, indem er das Ende der Verkaufspräsentation ständig hinauszögert, eine
Spannung, von der er hoffte, dass die Kunden sie auflösten, indem sie zum
Telefon griffen und die Messer bestellten. Viele taten es. »Moment, es kommt
noch mehr« verkaufte viele Messer.22
Dasselbe Prinzip des Spannungsabbaus kam bereits zur Sprache, als es
um den verfrühten Schlusspunkt ging. Wir möchten, dass unsere Dau-
menverletzung vorbei ist. Präsident Bush wollte, dass der Irakkrieg vor-
bei war. Interpunktion beeinflusst das Entspannungsbedürfnis und wird
von ihm beeinflusst. Wir können hohe Spannung reduzieren, indem wir
einen Punkt setzen, ganz gleich, ob die Zeit für einen Schlusspunkt reif
ist. Wenn ich davon spreche, unseren Blick für das zu schärfen, was unter
der Oberfläche liegt, meine ich genau diese Fähigkeit, den Zusammen-
hang zwischen dem »Mission Accomplished«-Banner und einer Messer-
werbung zu erkennen.
Die Verwendung der Interpunktion überdenken
Wenn wir einmal überdenken, wie wir Anfänge und Enden betrachten –
und wie wir zeitliche Interpunktion im Beruf verwenden –, können wir
auf diese Weise lernen, unsere Alltagsprozesse neu zu gestalten. Zumin-
dest hilft es uns, Dinge anders zu sehen. Hier nun einige spezifische
Ideen:
90 Jetzt!
Art
Es gibt viele Arten von Interpunktionszeichen, die wir wählen oder auf
die wir Bezug nehmen können. Ein Beispiel: Statt bei der Festsetzung
eines Termins auf eine Uhr oder den Kalender zu achten, können Sie
ein Team bitten, Ihnen Bescheid zu sagen, sobald es die Hälfte geschafft
zu haben glaubt. Auf diese Weise überlassen Sie den genauen Zeitpunkt
Ihren Mitarbeitern. Das lenkt deren Aufmerksamkeit auf Zeit und Effi-
zienz – wie es die gängige Verpflichtung, nach einem festgesetzten
Intervall über Fortschritte zu berichten, vermutlich niemals schaffen
würde. Einen anderen externen Bezugspunkt für das Timing unserer
Aktivitäten zu wählen – einen bestimmten religiösen Feiertag wie Weih-
nachten statt das Ende des Bilanzjahrs – kann für eine frische Perspek-
tive sorgen.
Stärke
Wählen Sie zwischen Interpunktionszeichen unterschiedlicher Stärke.
Ersetzen Sie einen Punkt durch ein Komma oder umgekehrt. Wenn Sie
sich für ein Interpunktionszeichen aufgrund seiner Stärke entscheiden,
ist das eine Möglichkeit, über die Bedeutung einer Handlung zu bestim-
men. Ein Projekt auf Eis zu legen vermittelt beispielsweise eine völlig
andere Botschaft, als es gänzlich zu streichen.
Menge
Erhöhen oder reduzieren Sie bewusst die Menge der Interpunktionszei-
chen. Machen Sie in Meetings öfter Pausen, um anderen Gelegenheit zu
geben, auf das zu reagieren, was Sie sagen. Ersetzen Sie eine auf Größe
basierende Timingregel durch eine, die auf Interpunktion beruht. Sagen
Sie beispielsweise: Wir beenden das Projekt zum Jahresende, wenn es
bis dahin nicht erfolgreich ist, statt zu erklären: Wir beenden es, wenn
die Kosten zu hoch werden. Streichen Sie Interpunktionszeichen: Las-
sen Sie zwei Aktivitäten ohne Unterbrechung fortlaufen, oder fangen Sie
eine Aktivität an, ohne formal kenntlich zu machen, dass etwas Neues
Zeitliche Interpunktion 91
beginnt. Jede dieser Möglichkeiten, die Menge der Interpunktionszeichen
zu erhöhen oder zu verringern, wirkt sich anders auf die Ergebnisse aus.
Position
Stimmen Sie mehrere Interpunktionszeichen aufeinander ab. Sorgen
Sie etwa dafür, dass alle relevanten Ereignisse und Aktivitäten gleich-
zeitig anfangen und aufhören oder gerade nicht gleichzeitig aufhören
und anfangen. Verschieben Sie ein Interpunktionszeichen an eine andere
Stelle. Legen Sie beispielsweise einen früheren Termin fest oder verlän-
gern Sie eine bestehende Frist. Setzten Sie einen Punkt vor den gegen-
wärtigen Moment, um die Gegenwart als ersten Schritt einer neuen
Zukunft zu definieren statt als letzten Schritt einer langen Vergangen-
heit. Ändern Sie die Abstände zwischen Interpunktionszeichen. Verrin-
gern Sie beispielsweise die Zeitspanne zwischen Leistungsbeurteilun-
gen, um ein detaillierteres Feedback zu bekommen.
Abschließend möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass die
Abschnitte über Risiken und Chancen am Ende eines jeden Kapitels sich
auf zweifache Weise nutzen lassen. Bevor Sie handeln, können sie Ihnen
im Rahmen einer sorgfältigen Prüfung helfen, Fallstricke und Alterna-
tiven im Voraus zu erkennen. Sie können sie aber auch nutzen, um im
Nachhinein zu erfahren, was richtig oder falsch gelaufen ist und warum.
Zeitfantasie
Wenn ein Schlusspunkt notwendig ist, kommt es vor allem auf das
Timing an.
Eine Vorstellung endet, und die Künstlerin verlässt die Bühne. Das
Publikum applaudiert. Die Künstlerin kommt zurück, verbeugt sich, ver-
lässt die Bühne und kommt nach einer Pause wieder. Jedes Mal, wenn sie
zurückkommt, profitiert sie von der stetig wachsenden Spannung: Wird
sie wiederkommen und eine Zugabe geben? Wenn wir laut genug applau-
dieren, tut sie es vielleicht, überlegt das Publikum. Es ist sich durchaus im
92 Jetzt!
Klaren, dass die Vorstellung zu Ende geht. Alle stehen auf, manche rufen
laut. Wird die Künstlerin wiederkommen, aber die Aufforderung zu einer
Zugabe ablehnen? Ungewissheit befeuert den Beifall, der an Intensität
zunimmt. Aber etwas so Intensives kann nicht anhalten. Ab einem gewis-
sen Punkt schlägt Lust in Schmerz um. Daher kann Beifall nur zu einer
begrenzten Zahl von Bühnenabgängen und Auftritten anfeuern. Und
diese Begrenzung löst ein Timingproblem. Wenn die Künstlerin auf der
Bühne bliebe, bis der Applaus verebbt, welchen Moment sollte sie dann für
ihren Abgang wählen? Wenn sie zu früh ginge, würde das Publikum sich
betrogen fühlen. Aber wenn sie zu lange wartete, würde sie den Jubel über-
strapazieren. Sie würde mehr verlangen, als das Publikum zu geben bereit
wäre. Die Erfindung des Vorhangs mit seinem Rhythmus von Abgang und
Auftritt war ein genialer Akt. Sie löste ein kniffliges Problem: Wann ist
genug genug? Wann ist der richtige Augenblick für einen Abgang?
Auf einer zeitlichen Makroebene merken wir lediglich, dass eine Vor-
stellung endet. Aber auf einer zeitlichen Mikroebene sehen wir die Sequen-
zen, Tempi, Intervalle und so weiter, die diesen Moment gestaltet haben.
Ein Schlusspunkt scheint einfach zu sein, ist in Wirklichkeit aber eine
komplexe Leistung. Deshalb ist es so wichtig, alles, was einen Punkt oder
ein anderes Interpunktionszeichen verlangt, auf verschiedenen Zeitebenen
zu betrachten, um die erforderlichen zeitbezogenen Prozesse zu erkennen.
Interpunktion: im Überblick
Merkmale zeitlicher Interpunktion
• Art: Vielerlei Daten und Ereignisse können zur Gliederung eines
ansonsten kontinuierlichen Prozesses dienen.
• Stärke: Zeitliche Interpunktionszeichen unterscheiden sich in ihrer
Gewichtung.
• Objektiv oder subjektiv: Ein Punkt kann als Komma, ein Komma als
Punkt wahrgenommen werden.
Zeitliche Interpunktion 93
• Bedeutung: Unterschiedliche Beteiligte können ein Interpunktionszei-
chen unterschiedlich interpretieren.
• Position: Die Stelle, an der ein Interpunktionszeichen in einem fortlau-
fenden Prozess steht, ist wichtig.
• Menge: Meist gibt es in einer Sequenz oder einem Prozess mehr als ein
Interpunktionszeichen.
• Abstand: Die vorhandene oder fehlende Zeitspanne zwischen Inter-
punktionszeichen kann eine wesentliche Rolle spielen.
• Zusammentreffen: Welche Interpunktionszeichen kommen gleichzeitig
vor, welche nicht?
Risiken der Interpunktion
• Interpunktion übersehen: Uns entgeht, dass eine fortlaufende Tätigkeit
Interpunktionszeichen hat. (Beispiel: Wir leiten eine Telefonkonfe-
renz, ohne Pausen für Kommentare und Fragen zu lassen.)
• Interessenkonflikte: Wir konzentrieren uns auf eine Art von Inter-
punktionszeichen, ignorieren aber andere. (Beispiel: Ein Produkt
erreicht seine Zielvorgaben nicht, aber wir geben es erst nach der Ver-
öffentlichung der Quartalsbilanz bekannt.)
• Zeitliche Interpunktion fehldeuten: Wir halten ein Komma irrtümlich für
einen Punkt oder umgekehrt. (Beispiel: Wir dachten, der Markt habe
seinen Höchststand erreicht, obwohl er noch wuchs.)
• Gleichzeitige Interpunktion: Wir versäumen es, für Situationen zu planen,
in denen zwei oder mehr Interpunktionszeichen gleichzeitig auftre-
ten. (Beispiel: Ein Pharmaunternehmen muss wissen, wann mehr als
eines seiner Patente zur selben Zeit ausläuft.)
• Verfrühter Punkt: Wir halten etwas für beendet, obwohl es nicht der Fall
ist. (Beispiel: Einnahmen als endgültig verbuchen, obwohl der Ver-
kauf noch scheitern kann.)
• Abstandsrisiken: Wir ziehen die Zeitspanne – oder mangelnde Zeit –
zwischen Interpunktionszeichen nicht in Betracht. (Beispiel: Zwei
94 Jetzt!
Liefertermine liegen unmittelbar hintereinander, und unser Personal
wird knapp.)
• Strukturrisiken: Wir sehen die Verlaufsformen und Muster nicht
voraus, die absehbar mit einem Interpunktionszeichen einhergehen.
(Beispiel: Unmittelbar vor einem Liefertermin kommt es zu einem
sprunghaften Anstieg der Arbeitsbelastung.)
• Missverständnisse über zeitliche Interpunktion: Wir berücksichtigen nicht,
wie andere Interpunktionszeichen interpretieren könnten. (Beispiel:
Eine Seite könnte eine Verhandlungspause als mangelndes In teresse
der anderen Seite auslegen.)
Optionen und Chancen der Interpunktion
• Einen Schlusspunkt setzen: Wir beenden etwas genau zur richtigen Zeit.
(Beispiel: Wir haben eine Ausstiegsstrategie.)
• Einen Punkt beseitigen: Wir beschleunigen das Tempo einer Verände-
rung, um die Lage besser im Griff zu haben. (Beispiel: Wir verzichten
auf Werbeblöcke zwischen zwei Sendungen, damit Zuschauer nicht
umschalten.)
• Interpunktionszeichen verschieben: Wir managen Stopps und Starts. (Bei-
spiel: Wir halten eine positive Nachricht bis Montagmorgen zurück,
damit sie die Mitarbeiter durch die ganze Woche trägt,)
• Die Interpunktion überdenken: Wir stellen uns andere Nutzungen der
Interpunktion vor. (Beispiel: Starts/Stopps/Pausen gegen die Intuition
zu setzen kann zu kreativen Lösungen und innovativen Ideen führen.)
Intervall und Dauer 95
3
Intervall und Dauer
Zu den vielen Fähigkeiten von Chuang-Tzu gehörte seine Gewandtheit im Zeichnen.
Der Kaiser bat ihn, einen Krebs zu zeichnen. Chuang-Tzu sagte, er brauche dafür fünf
Jahre Zeit und eine Villa mit zwölf Bediensteten. Nach fünf Jahren war die Zeichnung
noch nicht begonnen. »Ich brauche noch weitere fünf Jahre«, sagte Chuang-Tzu. Der
Kaiser gewährte sie ihm. Nach Ablauf der zehn Jahre nahm Chuang-Tzu die Feder,
und in einem Augenblick, mit einer einzigen Handbewegung, zeichnete er einen
Krebs, den perfektesten Krebs, den man je gesehen hatte.
Italo Calvino1
Trotz der Demonstration von Stärke räumten Offiziere ein, dass sie Dili (eine Stadt
in Osttimor) nicht vollständig unter Kontrolle hatten und es noch erheblich länger
dauern würde, im restlichen Gebiet für Sicherheit zu sorgen. »Wie lang ist ein Stück
Schnur?«, antwortete ein Oberst, als man ihn um eine zeitliche Einschätzung bat.
Seth Mydans2
Der König und der Oberst in diesen beiden Zitaten stehen vor einem
verbreiteten Managementproblem: Wie lange dauert es, ein angestreb-
tes Ergebnis zu erzielen? Dieselbe Frage stellt sich häufig auch in der
Wirtschaft. Wie lange dauert es, bis eine neue Dienstleistung Marktan-
teile erringt, eine revidierte Politik erfolgreich umgesetzt ist oder eine
Wende auf dem Immobilienmarkt eintritt? Die übliche Antwort ist: Das
ist schwer zu sagen, oder wie der Oberst es ausdrückte: Wie lang ist ein
Stück Schnur? Hätten wir die Instagram-Gründer Kevin Systrom und
Mike Krieger 2011 gefragt, wie lange es dauern würde, bis ihnen jemand
eine Milliarde Dollar für ihre Foto-Sharing-App bieten würde, hätten sie
sicher geantwortet: Wir haben keine Ahnung. (Es dauerte eineinhalb
Jahre.)
Wann hätte der König also Chuang-Tzu feuern und einen anderen
engagieren sollen, der die Aufgabe schneller erledigen konnte? Das
hängt von der Einschätzung des Königs ab, wie lange ihre Erledigung
96 Jetzt!
dauern sollte. Und was ist mit dem Oberst? Ist er inkompetent? Das hängt
davon ab, wie lange es dauern sollte, für Sicherheit zu sorgen. Anders
ausgedrückt: Die Entscheidung, wann man handeln soll, hängt von der
Länge eines Intervalls ab. Wenn nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung
steht und eine langwierige Aufgabe sich nicht abkürzen lässt (oder die
verbleibenden Teilaufgaben sich nicht verschieben lassen, sobald man
begonnen hat), ist es dumm, überhaupt anzufangen. Das wäre, als wollte
man einen SUV in eine Parklücke zwingen, die kaum groß genug für
ein Fahrrad ist. Für eine effektive Planung müssen wir abschätzen kön-
nen, wie lange etwas dauern wird und wie lange äußere Ereignisse oder
Bedingungen anhalten werden – was sich lange halten und was schnell
vorbei sein wird.
Die Fähigkeit, die Länge von Intervallen abzuschätzen, betrifft den
Kern der Timingfrage. Aber bevor wir eine Zeitspanne abschätzen kön-
nen, müssen wir erst einmal erkennen, dass ein Intervall vorhanden ist.
Wir können keine Vorhersage über etwas treffen, von dessen Existenz
wir nichts wissen. Diese Aufgabe wird durch unsere Sicht auf die Welt
noch weiter erschwert, die wichtige Intervalle häufig auslässt.
Die folgenden Intervalle werden häufig bei Diskussionen über Weg-
marken, Leistungskriterien oder Dienstleistungsvereinbarungen über-
sehen. Jedes einzelne kann entscheidend sein.
• Wie sollten wichtige Wegmarken definiert werden: nach der verblei-benden Zeit, bis ein bestimmtes Ereignis oder eine Bedingung eintritt,
oder nach der verbleibenden Zeit bis zu einem bestimmten Termin
(8000 Kilometer oder drei Monate, je nachdem, was zuerst erreicht
wird)?
• Nach welcher Zeit soll eine Wegmarke überdacht oder revidiert wer-
den?
• Spielt es eine Rolle, wenn ein Vertragspartner eine Wegmarke um
kurze Zeit überschreitet? Was ist eine kurze Zeit? Zwei Wochen können
für eine Firma entscheidend sein, aber für eine andere keine Rolle
spielen.
• Wie lange vor Ablauf einer Frist erkennt eine Firma, dass sie den
Termin nicht einhalten kann? Wann erkennt ein Unternehmen,
Intervall und Dauer 97
dass es einen Termin nicht halten kann oder eine Wegmarke nicht
erreicht?
• Wie lange dauert es, aufzuholen oder den durch die Verspätung ange-
richteten Schaden zu beheben? Wann lässt sich dieses Intervall mit
einer gewissen Sicherheit abschätzen?
• Sobald die Antworten auf diese Fragen bekannt sind, fragt sich, wie lange man wartet, bis man alle beteiligten Parteien darüber infor-
miert. Teilt man es allen gleichzeitig mit? Wenn nicht, wie handhabt
man die Lücke zwischen dem zuerst und dem zuletzt informierten
Partner? Hängen die Antworten auf diese sechs Fragen davon ab, wie lange die Parteien sich kennen?
Diese Intervalle spielen eindeutig eine wesentliche Rolle. Sie wurden mei-
ner Ansicht nach nicht etwa ausgelassen, weil sie nicht wichtig wären,
sondern weil sie leicht zu übersehen sind. Hier sei nur an das Experi-
ment des »Schlüssels im Schloss« erinnert, das ich in der Einleitung
geschildert habe. Unser Denken kann Zeitsprünge vollziehen, ohne es zu
merken. Ein weiterer Grund, weshalb wir wichtige Intervalle in unserem
Denken überspringen, ist unsere Annahme, Schnelligkeit sei von Vorteil.
Bis vor kurzem glaubten Forscher, sie würden mehr Menschenleben
retten, wenn sie Computertomografien früher und häufiger einsetzen,
um Lungenkrebs im Frühstadium zu erkennen. Studien bestätigten
diese Vermutung jedoch nicht. Um zu verstehen, warum Computerto-
mografien die Überlebensraten nicht verbesserten, müssen wir uns das
Problem genauer ansehen. Laut New York Times entdeckte und behan-
delte man aufgrund der CT-Untersuchungen mehr Krebserkrankungen,
»aber die Sterberate blieb gleich […, weil] das Screening zur Entdeckung
und Behandlung von Krebserkrankungen führte, die nicht hätten behan-
delt werden müssen – sie wären innerhalb der Lebenszeit der Person
nicht genügend gewachsen, um Schaden anzurichten. Und viele der
tödlichen Krebserkrankungen, die behandelt wurden, führten letztlich
dennoch zum Tod der Patienten.«3 In diesem Fall fand die Forschung
heraus, dass Operationen nach zusätzlichen Screenings manchmal zu
Komplikationen wie Blutgerinnseln oder Lungenentzündungen führten,
die lebensbedrohlich oder tödlich waren.
98 Jetzt!
Diese Ergebnisse widersprachen dem früheren Rat, dass »mehr als
80 Prozent der Lungenkrebstoten durch CT-Untersuchungen verhindert
werden könnten«.4 Diese Analyse – die davon ausging, dass jeder an Lun-
genkrebs Erkrankte ohne Behandlung daran sterben würde – zog drei
Intervalle nicht in Betracht:
• Intervall 1: Wie lange würde ein Patient trotz Krebserkrankung noch
leben?
• Intervall 2: Wie lange würde es dauern, bis die unbehandelte Krebs-
erkrankung einen Patienten tötete? Vielleicht würde er vorher an
anderen Ursachen sterben (Intervall 1).
• Intervall 3: Wie lange würde ein krebskranker Patient noch leben, wenn
der Krebs behandelt würde? Manche Behandlungen sind tödlich.
Die ursprüngliche Forschung, die zusätzliche CT-Untersuchungen recht-
fertigte, verwendete die traditionelle Timingsicht: früher ist besser. Sie
ist eine Variation des Mottos: »Der Erste ist im Vorteil« (siehe Kapitel 1).
Diese Prämisse gilt jedoch nur mit beträchtlichen Einschränkungen.
Wenn die Vorzüge einer Technologie mit Timing zu tun haben – in die-
sem Fall besteht der vermutete Vorteil in der Früherkennung –, dann ist
es wichtig, zu wissen, welche Rolle das Timing bei dem Problem spielt,
das die Technologie zu lösen versucht. In unserem Beispiel heißt das,
dass wir die drei oben angeführten Intervalle in Betracht ziehen müssen.
Merkmale von Intervallen
Ich stelle die sechs Timinglinsen in einer bestimmten Reihenfolge
vor, weil die Anwendung einer Linse die der nächsten erleichtert. Die
Sequenzlinse lenkt die Aufmerksamkeit auf Schritte und Stadien; die
Interpunktionslinse widmet sich unter anderem Anfängen, Enden, Pau-
sen und bestimmten Kalenderdaten. Alle diese Zeitmarkierungen kön-
nen Ihnen helfen, Intervalle zu erkennen, die Sie sonst vielleicht über-
sehen würden. Selbstverständlich gibt es in jeder gegebenen Situation
unzählige Intervalle – und nur Sie können entscheiden, welche wichtig
Intervall und Dauer 99
sind. Im Folgenden möchte ich jedoch einige Vorschläge machen, worauf
Sie achten sollten, angefangen bei einer Liste der Intervallmerkmale:
1. Art: Welcher Art ist das Intervall? Es gibt vier verschiedene Arten. Ach-
ten Sie darauf, alle vier zu entdecken.
2. Größe – die Intervallhülle: Achten Sie auf sehr lange und sehr kurze
Intervalle. Erfassen Sie die Mindest- und Maximallänge eines jeden
Intervalls.
3. Objektiv oder subjektiv: Zwischen der objektiven Länge eines Intervalls
und der subjektiven Wahrnehmung kann ein Unterschied bestehen:
Eine Sekunde kann eine Ewigkeit sein.
4. Inhalt: Schauen Sie hinein: Ist ein Intervall transparent? Wissen Sie,
was in dieser Zeit vorgeht? Wenn nicht, wovon sollten Sie ausgehen?
5. Bedeutung: Ein Intervall kann für verschiedene Menschen unterschied-
liche Bedeutung haben. Welche Interpretationen sind möglich?
6. Menge: Achten Sie auf vielfältige Intervalle. Wie die oben angeführten
Beispiele (Auslöser für Trennungen und CT-Untersuchungen) veran-
schaulichen, gibt es mehr Intervalle, als man denkt.
Diese sechs Merkmale sind in einer bestimmten Reihenfolge angeordnet.
Zuerst müssen wir wissen, wonach wir suchen, also die Art der Intervalle
bestimmen. Dann betrachten wir die Größe: Wie groß oder klein ist ein
Intervall? Steht die Größe fest? Wenn nicht, wie groß oder klein kann
es werden? Fragen Sie sich, ob es darauf ankommt, wie lang ein Inter-
vall tatsächlich ist oder wie lang es erscheint – bedenken Sie also seine
objektive und seine subjektive Größe. Als Nächstes richten wir den Blick
ins Innere: Was geht während dieser Zeit vor (Inhalt)? Dabei sollten Sie
bedenken, dass verschiedene Beteiligte den Inhalt eines Intervalls unter-
schiedlich interpretieren könnten (Bedeutung). Und schließlich sollten
Sie immer nach mehr als nur einem Intervall Ausschau halten (Menge).
Art
Es gibt vier Arten von Intervallen. Bevor Sie Entscheidungen treffen,
sollten Sie für jede Art mindestens ein Beispiel gefunden haben. Wenn
100 Jetzt!
nicht, ist Ihnen vermutlich etwas Wichtiges entgangen – und das wird
sich auf das Timing Ihres Vorgehens auswirken.
1. Zwischenzeit: Wie viel Zeit liegt zwischen den Ereignissen A und B? Als
beispielsweise am 11. September 2001 die Anschläge auf das World
Trade Center verübt wurden, stand die Versicherung unter anderem
vor der Frage, ob der Vorfall versicherungstechnisch als ein Ereignis
oder als zwei zu behandeln war. Bei der Gestaltung von Versiche-
rungspolicen ist es also sehr wichtig, bezogen auf die Festlegung der
Rahmenbedingungen für den Versicherungsschutz die »Zwischen-
zeit« zwischen Intervallen im Kopf zu behalten.
2. Verstrichene Zeit: Wie viel Zeit ist seit Ereignis A vergangen? In der
internationalen Diplomatie und in der modernen Kriegsführung
tritt häufig die Frage auf, wie lange die eine Seite warten soll, bevor
sie auf einen Angriff oder eine Provokation reagiert. Wenn ein Dorf
beschossen wird und es Hunderte Tote gibt, kann man dann ein Jahr
warten, bevor man reagiert? Das gleiche Problem stellt sich ständig
im Geschäftsleben. Ein Konkurrent hat ein neues Produkt vorgestellt.
Wie viel Zeit können Sie verstreichen lassen, bevor Sie selbst mit
einem neuen Produkt kontern?
3. Verbleibende Zeit: Ein Termin rückt näher. Reicht die Zeit, um die Arbeit
fertigzustellen? Wie viel Zeit bleibt noch, bis ein neues Gesetz oder eine
neue Vorschrift in Kraft tritt? Was müssen Sie tun, bevor es so weit ist?
4. Dauer: Wie lange hält etwas an? Wann wird die Rezession vorbei sein?
Sollten Sie einen Mietvertrag für ein Büro unterschreiben, der Sie für
drei oder fünf Jahre bindet? Wie lange hält sich eine Flasche Milch,
bevor sie schlecht wird?
Verschiedene Parteien sehen dasselbe Intervall möglicherweise unter-
schiedlich. Deshalb ist es wichtig, sich dieser vier Arten bewusst zu sein.
Sind wir beispielsweise außer Gefahr, weil seit dem 11. September 2001
einige Jahre vergangen sind (verstrichene Zeit)? Wenn wir einen erneu-
ten Anschlag für unausweichlich halten, dann muss die »verbleibende
Zeit« bis zum nächsten Mal schrumpfen, wie der Bombenanschlag beim
Boston Marathon 2013 gezeigt hat. Wir sollten also entsprechend besser
darauf vorbereitet sein.
Intervall und Dauer 101
Größe – die Intervallhülle
Die Intervallhülle ergibt sich aus Minimal- und Maximallänge des längs-
ten und des kürzesten Intervalls, das für Ihre Arbeit relevant ist. Da die-
ser Satz ein ganz schöner Brocken ist, gehen wir Schritt für Schritt vor.
Suchen Sie zuerst nach Extremen: nach Intervallen, die so klein oder so
groß sind, dass Sie sie leicht übersehen könnten. Dann überlegen Sie,
wie groß oder klein diese Intervalle unter verschiedenen Bedingungen
werden könnten und ob diese Expansion oder Kontraktion Probleme
bereiten würde.
Extreme suchen
Halten Sie immer Ausschau nach den längsten und kürzesten Interval-
len in der Situation, die Sie bewältigen müssen. Kurze Intervalle sind
leicht zu übersehen. Laut Wall Street Journal kam es neun Monate, bevor
das verheerende Erdbeben und der Tsunami im März 2011 die Stromver-
sorgung im Atomkraftwerk Fukishima Daiichi zusammenbrechen ließ,
zu einem Zwischenfall: In einem der Reaktoren fiel der Strom aus, nach-
dem ein Subunternehmer »versehentlich mit dem Ellbogen gegen ein
Behelfsrelais stieß. Das führte zu einem ›vorübergehenden‹ Flackern,
das lang genug war, eine Sicherung auszulösen und den Reaktor von der
Hauptstromversorgung zu trennen, aber zu kurz, um die normale Not-
stromversorgung einzuschalten«.5 Es hätte ernsthafte Probleme geben
können, wenn das Personal im Kontrollraum nicht schnell reagiert und
einen Notstromgenerator eingeschaltet hätte. Für ein so kurzes Zeit-
intervall waren im System keine Notfallmaßnahmen vorgesehen.
Manche Intervalle müssen kurz bleiben. Deshalb müssen wir uns die
Maximallänge des kürzesten Intervalls klarmachen. Die Auswirkungen
hängen von der jeweiligen Situation ab. So dürfen Weihnachtsmänner
bei der Zeitarbeitsfirma Western Staff Services nur kurze Schichten von
vier bis fünf Stunden arbeiten, weil man länger »unmöglich fröhlich
sein« kann.6 Das hat offenkundig Auswirkungen für Saisonarbeiter in
Einzelhandel und Unterhaltungsbranche.
In manchen Situationen kann eine sehr kurze Zeitspanne dafür sor-
102 Jetzt!
gen, dass ein Anlass in Erinnerung bleibt. Der Biologe Edward O. Wilson
zitierte bei einer Abschlussfeier an der Pennsylvania State Universiy in
seiner Ansprache die wohl kürzeste verzeichnete Rede, gehalten von Sal-
vador Dalí: »Ich werde mich so kurz fassen, dass ich schon fertig bin.«7
Auf dem zweiten Platz folgt Don DeLillos Rede, als er 1985 den National
Book Award erhielt. Bei der Feier stand DeLillo auf und sagte: »Es tut mir
leid, dass ich heute Abend nicht hier sein konnte, aber ich danke Ihnen
allen, dass Sie gekommen sind«, und setzte sich abrupt wieder hin.8 Kurz
kann selbstverständlich auch zu kurz sein. (Was ist die Minimallänge des
kürzesten Intervalls?) Schon Leonardo da Vinci warnte: »Wer an einem
Tag reich werden will, wird in einem Jahr gehängt.«9
In manchen Fällen kann das kürzeste Intervall extrem kurz sein. Im
Sommer 2011 machte der US-Kongress offiziell keine Parlamentsferien.
An einem Tag trat der Senat tatsächlich für ganze 59 Sekunden zusam-
men. Warum? Wenn der Kongress eine Sitzungspause machte – was eine
Kammer ohne die Zustimmung der anderen für nicht länger als drei
Tage tun kann –, hätte Präsident Obama während dieser Sitzungspause
Staatsämter mit Kandidaten besetzen können, deren Ernennung die
Republikaner im Senat blockierten.10 Da der Kongress pro forma durch-
gängig tagte, konnte Obama nicht handeln.
Das Pendant zu dieser Frage lautet: Was ist die Maximallänge des
längsten Intervalls? In der New York Times las ich von einem Mann, der
glaubte, eine kluge Geschäftsentscheidung getroffen zu haben – um spä-
ter verwundert festzustellen, dass ein relevantes Intervall erheblich län-
ger dauerte, als er erwartet hatte.
André François Raffray dachte vor 30 Jahren, er habe ein gutes Geschäft
gemacht: Er würde einer 90-jährigen Frau bis zu ihrem Tod 2500 Francs (etwa
500 US-Dollar) im Monat zahlen und dann in ihre großartige Wohnung ziehen
…
Aber dieses Jahr Weihnachten starb Raffay im Alter von 77 Jahren, nachdem
er umgerechnet mehr als 184 000 Dollar für eine Wohnung bezahlt hatte, ohne
je darin zu wohnen.
Am selben Tag aß Jeanne Calment, die mittlerweile mit 120 Jahren als ältes-
ter Mensch der Welt im Guinness-Buch der Rekorde geführt wird, in ihrem Pfle-
Intervall und Dauer 103
geheim unweit der begehrten Wohnung in Arles Gänseleber, Entenschenkel,
Käse und Schokoladenkuchen …11
Wenn ich an die Minimallänge des längsten Intervalls denke, fallen mir
die miteinander verknüpften Wirtschaftskrisen ein, die im vergange-
nen Jahrzehnt auf der Welt ausgebrochen sind. Manche Krisen kom-
men und gehen relativ schnell, aber ist das wirklich gut? In manchen
Fällen ertappe ich mich bei der Hoffnung, eine Krise möge lang genug
dauern, um eine Lösung zu entwickeln. Auf diesen Punkt wies Jeffrey
Garten, der damalige Dekan der Yale School of Management, 1999 in
einem Kommentar in der New York Times hin. Wie er schrieb, hatten
Millionen Menschen in den aufstrebenden Märkten furchtbar unter der
globalen Wirtschaftskrise 1998 zu leiden, die von der Rettungsaktion für
den Hedge-Fonds Long-Term Capital Management und den russischen
Kreditausfällen geprägt war. Aber »die Krise war nicht lang oder tief-
greifend genug, um Korrekturmaßnahmen zu bewirken, die zu einer
weniger riskanten Weltwirtschaft führen würden. Tatsächlich hat sich
[ein Jahr später] kaum etwas Grundlegendes geändert.«12
Was 1999 galt, gilt auch heute noch. Wenn es einige Zeit erfordert,
eine langfristige Lösung zu entwickeln, auszuhandeln und umzusetzen,
können wir nur hoffen, dass die Krise lange genug dauert, damit es auch
geschieht. Die Ski- und Snowboardindustrie ist auf schneereiche Win-
ter angewiesen. Wann wird sie motiviert sein, Lobbyarbeit für Umwelt-
schutzmaßnahmen gegen die Erderwärmung zu leisten? Ich vermute,
das wird erst nach drei, vier oder mehr aufeinanderfolgenden warmen
Wintern der Fall sein. Ein Problem, das schnell kommt und geht, lässt
sich ignorieren, besonders wenn Lösungsbemühungen kostspielig sind.
Also hüten Sie sich davor, ausschließlich in Größenordnungen zu den-
ken: Dass ein Problem schwerwiegend ist, heißt noch lange nicht, dass
man es angehen wird. Das wird nicht der Fall sein, solange die Dauer des
Problems kürzer ist als die für seine Lösung erforderliche Zeit.
Diese Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, auf die Maximal- und Mini-
mallänge des längsten und kürzesten relevanten Intervalls zu achten.
Diese Kombinationen habe ich unten in Tabelle 3.1 zusammengestellt.
Schauen Sie sich beispielsweise Ihren Tag an und denken Sie an etwas,
104 Jetzt!
was anscheinend blitzschnell passiert ist. Fragen Sie sich, wie kurz oder
lang der Prozess unter anderen Bedingungen hätte sein können und ob
seine extremsten Ausprägungen ein Risiko oder eine Chance bedeuten
würden. Würden sie Ihr Timing über den Haufen werfen oder gar keinen
Unterschied bewirken?
Tabelle 3.1: Die Intervallhülle
Kürzestes Intervall Längstes Intervall
Minimallänge MinL-KI MinL-LI
Maximallänge MaxL-KI MaxL-LI
Feststehende oder variable Größe
Manche Intervalle haben eine feste Größe: Ein Jahr hat 365 Tage. Andere
lassen sich, abhängig von unzähligen Faktoren, verlängern oder verkür-
zen, ausdehnen oder komprimieren.
Nehmen wir als Beispiel die Sicherheit von Fluglinien. Es braucht nur
zwei oder drei größere Flugzeugabstürze innerhalb eines Jahres – das der-
zeitige Evaluationsintervall –, um einen Aufschrei über die Flugsicherheit
auszulösen. Das Krisengefühl ließe sich reduzieren, wenn man statt des
einjährigen Evaluationsintervalls ein zweijähriges verwenden würde. Aber
das ist unwahrscheinlich, da wir so vieles auf jährlicher Basis messen.
Feste Intervalle haben bekannte Risikomerkmale. Ein Fondsmana-
ger, dessen Investitionen im ersten Halbjahr hinter den Erwartungen
zurückgeblieben sind, kauft möglicherweise im zweiten Halbjahr riskan-
tere Aktien, weil er den Markt im Jahresdurchschnitt übertreffen muss.
Vögel stehen jeden Abend vor einem Problem mit einem festen Intervall:
Wie viel Energie sollen sie für die Nahrungssuche aufwenden? Wenn sie
am Tagesende nicht genug Nahrung bekommen haben, überleben sie
die Nacht nicht, verbrauchen sie aber zu viel Energie für die Nahrungs-
suche, sterben sie ebenfalls. Bei Anbruch der Nacht müssen Vögel eine
Entscheidung über Leben und Tod fällen. Manche Vögel gehen ein zu
hohes Risiko ein und verenden.
Intervall und Dauer 105
Was bestimmt die Intervallgröße?
Jede Berufsgruppe, Organisation und Institution hat etablierte Normen,
in denen festgelegt ist, wie lange verschiedene Tätigkeiten dauern sollen.
Es ist schwer, mit solchen über Jahre gewachsenen »Gewohnheiten« zu
brechen, ganz gleich, ob sie gut oder schlecht sind. Rechtssysteme und
Bürokratien sind für ihre Langsamkeit berüchtigt. Professor Julian Zeli-
zer von der Princeton University sagte: »Der US-Kongress ist eine Insti-
tution der kleinen Schritte. … Das ist sein Mangel und seine Tugend.«13
Wie lange etwas dauert, ist stark von Tradition und Kultur geprägt.
Ein weiterer Faktor, der unsere Erwartungen an die Intervallgröße
beeinflusst, ist die Psychologie. Wenn ein Zeitabschnitt schmerzlich ist,
möchten wir ihn verkürzen, ist er angenehm, möchten wir ihn ausdeh-
nen. Die meisten Menschen akzeptieren finanzielle Verluste nur wider-
strebend, also lassen sie sich damit Zeit. Der typische Investor zögert,
Aktien zu verkaufen, die nach und nach an Wert verloren haben, und
hofft auf ihre Erholung. Bricht aber der Kurs einer Aktie über Nacht ein
und verliert den größten Teil seines Wertes, möchten die meisten von
uns sofort verkaufen, um weitere Verluste zu vermeiden; damit entgeht
uns jedoch die Möglichkeit, von einer Kurserholung zu profitieren.
Auch unser emotionales Engagement für ein bestimmtes Ergebnis
kann unser Zeitgefühl beeinflussen. So berichtete die New York Times
über eine interessante Umfrage: 63 Prozent der befragten Ärzte über-
schätzten bei ihren Patienten, die sich im Endstadium einer tödlichen
Erkrankung befanden, die verbleibende Lebenszeit um einen Faktor von
5,3 Prozent. In einem Begleitartikel zu dieser Umfrage schrieb Dr. Julia
L. Smith, medizinische Leiterin eines Hospizes in Rochester: »Diejeni-
gen von uns, die Patienten länger kennen, entwickeln oft eine Verbun-
denheit zu ihnen … Auch wir hassen es, zuzugeben, dass der Tod nahe
ist.«14
Wenn Sie abschätzen müssen, ob ein Intervall sich verkürzen oder
verlängern wird, aber keine zusätzlichen Anhaltspunkte haben, schauen
Sie sich seinen Anfang und sein Ende an. Stellt sich gleich zu Beginn
eine wichtige Frage, möchten die meisten von uns so bald wie möglich
die Antwort erfahren. Sind wir mit einem ernsthaften Problem kon-
106 Jetzt!
frontiert, möchten wir es sofort lösen. Wenn ein Verbrechen begangen
wurde, wollen wir, dass der Täter umgehend gefasst und bestraft wird.
Die Kräfte, die uns veranlassen, aktiv an der Verkürzung eines Intervalls
zu arbeiten, zeigt Tabelle 3.2.
Tabelle 3.2: Anfangs- und Endpunkte von Intervallen, die sich anziehen
Beginnt und endet ein Intervall dagegen mit einem Problem, so wollen
viele von uns das zweite Problem hinauszögern, bis das erste gelöst ist.
Wie bei einem Magneten stoßen gleichartige Anfänge und Enden sich
ab, während unterschiedliche Anfänge und Enden sich anziehen. Das ist
eine brauchbare Faustregel, auch wenn es sicher Ausnahmen gibt. Ich
nenne sie die Magnetregel der Intervallgröße.
Objektiv oder subjektiv
Denken Sie daran, dass die Länge eines Intervalls eine subjektive und
eine objektive Dimension hat. Manchmal vergeht die Zeit wie im Flug,
manchmal kriecht sie dahin. Wichtig ist nicht, wie lang oder kurz ein
Intervall ist, sondern wie Menschen es unter verschiedenen Umständen
wahrnehmen. Ein Kunde, der in der Schlange wartet, um einen wichti-
gen Kauf zu tätigen, und ein anderer, der darauf wartet, sich zu beschwe-
ren, erleben dieselbe Zeitspanne ganz unterschiedlich.
ProblemFrage
BedarfZielsetzungVerbrechen
Verlust
<>
LösungAntwortBefriedigungZielStrafeFund
Zwischenzeit
Intervall und Dauer 107
Inhalt
Ein Intervall kann mit allem und nichts gefüllt sein. Nehmen wir
zunächst den Fall des leeren Intervalls, einen Zeitraum in Ihrem Unter-
nehmen, auf Ihrem Markt, in Ihrer Branche, in dem anscheinend nichts
Besonderes passiert.15 Es ist wichtig, ins Innere solcher »leeren Inter-
valle« zu schauen, weil oft mehr vorgeht, als Sie denken: Es ist ähnlich
wie bei einem Vakuum, von dem Physiker gelernt haben, dass es in Wirk-
lichkeit nicht leer ist. Aus vier Gründen kann ein Intervall leer erschei-
nen, obwohl es tatsächlich nicht so ist:
• Frühstadium: Die Vorgänge dieses Intervalls brauchen Zeit, um sich zu
entwickeln. Möglicherweise hat es noch nicht die hinreichende Größe
oder Stärke erreicht, um entdeckt oder erkannt zu werden, und wenn
es so weit ist, wird es vielleicht zu spät sein. Nokia war anfangs viel-
leicht nicht beunruhigt, als Steve Jobs von Computern zur Mobilfunk-
technologie überging, aber als das iPhone 2009 auf den Markt kam,
hinkte das finnische Mobilfunkunternehmen viel zu weit hinterher,
um ohne weiteres aufzuholen.
• Verdeckter Inhalt: Ein Prozess oder Vorgang verdeckt einen anderen
oder lenkt die Aufmerksamkeit von ihm ab. Firmen konzentrieren
sich häufig auf ihre aktuellen Kunden und ergänzen ihre vorhande-
nen Produkte um immer mehr ausgeklügelte Details. Solange die
Wirtschaft wächst, prosperieren sie. Allerdings merken sie nichts
vom Aufkommen kostengünstiger Innovationen in den aufstreben-
den Märkten, die ihr Geschäft bedrohen werden.
• Hemmnisse: Es können Kräfte vorhanden sein, die einen Vorgang hem-
men oder blockieren. Ein Produkt ist vielleicht überaus nützlich, fin-
det aber keinen Markt, weil die potenziellen Kunden gerade arbeitslos
sind und zu kämpfen haben, damit sie über die Runden kommen.
• Fehlende Komponenten: Ein Intervall kann leer erscheinen, weil seine
Inhalte einen Katalysator brauchen. Ohne diese Voraussetzungen pas-
siert gar nichts. Handyspiele brauchen schnelle Mobilfunknetze. Nie-
mand möchte eine Stunde warten, um eine kostenlose App herunter-
zuladen.
108 Jetzt!
In manchen Fällen ist ein Intervall tatsächlich so leer, wie es erscheint.
Vielleicht ist gerade August und alle sind in Urlaub. Manche Branchen
verändern sich einfach wesentlich langsamer als andere. So blieben Kof-
fer über Jahrzehnte hinweg nahezu gleich – ein Intervall, in dem nichts
geschah –, bis Bernard Sadow in den 1970er Jahren Koffer mit Rollen
erfand. Anfangs kam die Innovation nicht gut an, aber sobald sie sich
durchsetzte, blieb sie populär, bis sie Ende der 1980er Jahre durch das
schickere Design der Trolleys ersetzt wurde.
Welche Formen füllen ein Intervall?
Um zu sehen, was in einem Intervall vorgeht, müssen wir uns über die
Form der Prozesse im Klaren sein, die darin zu finden sind. Wir tendieren
dazu, in geraden Linien und linearen Prozessen zu denken. (Schon Euklid
lehrte uns, dass eine Gerade die kürzeste Verbindung zweier Punkte ist.)
Geraden sind schnell und vorhersehbar. Das Problem ist jedoch, dass es in
der Natur keine geraden Linien gibt, wie der spanische Architekt Antoni
Gaudí anmerkte. Für ihn war die Natur eine »Symphonie der Formen«.16
Nehmen wir als Beispiel das Warten. Jeder weiß, dass Warten frustrierend
ist. Würde man aber grafisch darstellen, wie schnell sich Frustration auf-
baut, wäre das Ergebnis keine gerade Linie. Die meisten von uns warten
eine Weile ganz ruhig, und irgendwann geht uns schlicht die Geduld aus.
Oder denken Sie an den Kauf eines neuen Wagens. Sobald Sie den Wagen
vom Hof des Händlers fahren, sinkt sein Wert drastisch. Wirtschaftsex-
perten erklären, je weiter eine Belohnung in die Zukunft verschoben wird,
umso schneller verliert sie an Wert. Selbst den Schweizern, die Timing-
meister sind, gelang es nicht, einen nicht linearen Prozess vorauszusehen.
Sie unterschätzten erheblich, wie schnell sich die Qualität elektronischer
Uhren verbessern und ihr Preis fallen würde.17
Die Zeit ist erfüllt von allen erdenklichen mathematischen Kurven
und Formen: Außer Geraden gibt es zum Beispiel noch Flaschenhälse,
Kreise und Prozesse, die sich exponentiell beschleunigen. Wir müssen
daran denken, auf unerwartete Formen zu achten. Auf dieses Merkmal
gehen wir in Kapitel fünf näher ein.
Intervall und Dauer 109
Bedeutung
Die Bezeichnung, die wir einem Intervall geben, kann seine Bedeutung
und damit seinen kommerziellen Wert verändern. Der Künstler Christo,
der unter anderem den Reichstag in Berlin vollständig in Stoff hüllte,
fand eine interessante Art, ein Mittel in einen Zweck zu verwandeln. Das
folgende Zitat veranschaulicht diese Herangehensweise: Christo kann
durch diesen Bedeutungswandel besser mit der langwierigen, schwie-
rigen Aufgabe umgehen, Zustimmung für seine Projekte zu gewinnen,
was manchmal Jahre braucht.
Wenn Christo eine seiner Umweltinstallationen macht, besteht seine »Kunst«
nicht nur in dem eigentlichen Werk, sondern in jeder Transaktion, die zu sei-
ner Realisierung notwendig ist … Christos Werke haben die Zustimmung jeder
erdenklichen beteiligten Gruppe oder Behörde. Er sichert sich diese Geneh-
migungen durch Publicity, endlose Sitzungen, Visualisierungen und seinen
beträchtlichen persönlichen Charme. Er treibt sogar Geld auf, um das Werk zu
realisieren und, was entscheidend ist, eine Haftpflichtversicherung abzuschlie-
ßen. Anschließend folgt die umfangreiche Koordination der Konstruktion: Es
gilt, Freiwillige zu rekrutieren, zu schulen, zu verpflegen und unterzubringen
und sämtliche Mitwirkenden miteinander im Gespräch zu halten. Zudem ist
da noch die Dokumentation, die Aufzeichnung des gesamten Events – Vorbe-
reitungen, Aufbau und Erlebnis des fertigen Werkes.18
Die langwierigen Schritte vor und nach Christos Projekt sind also kei-
neswegs verschwendet, sondern in sich wertvoll. Ein Intervall umzube-
nennen ist eine viel zu wenig genutzte Problemlösungsstrategie, die es
ermöglicht, Dinge anders zu sehen. Wenn beispielsweise ein Flugzeug
wegen schlechten Wetters nicht starten kann, warum bezeichnet man
die Verzögerung dann nicht als »Sicherheitshalt«? Es bleibt eine Verzö-
gerung, aber die Passagiere reagieren weniger frustriert auf das Warten.
Versuchen Sie sich in Ihrer Arbeit vorzustellen, wie die Mittel zu einem
Zweck selbst zum Zweck werden könnten. Ließe sich die Entwicklung
eines Produkts zu einem eigenständigen Produkt machen?
110 Jetzt!
Menge
In den meisten komplexen Situationen gibt es mehr als nur ein Inter-
vall. Ermittler fanden heraus, dass es über eine Stunde dauerte, bis die
Alarmsirenen auf der Costa Concordia schrillten, nachdem das Schiff im
Januar 2012 vor der Westküste Italiens auf Grund gelaufen war.19 Wieso
es zu dieser Verzögerung kam, ist nicht geklärt, aber dadurch blieb den
Menschen an Bord zwischen dem Alarmsignal und dem Befehl, das
Schiff zu verlassen, nicht genügend Zeit zu reagieren. Der Kapitän hätte
zwei Intervalle berücksichtigen müssen: Wie lange sollte er warten,
nachdem das Schiff auf Grund gelaufen war, bis er das Alarmsignal aus-
löste, und wie lange danach sollte er den Evakuierungsbefehl geben? In
diesem speziellen Fall hingen beide Intervalle zusammen: Je länger das
erste, umso kürzer das zweite Intervall. Offensichtlich dachte der Kapi-
tän darüber nicht nach, oder falls doch, handelte er nicht danach.
Mehrfache Intervalle zu finden ist unter anderem deshalb wichtig,
weil die Unterschiede zwischen ihnen eine Rolle spielen. Die Zeitschrift
The New Yorker bezeichnete einen ihrer Abonnenten, der damals in
einem Pflegeheim lebte, als »den verstorbenen« Leser. Da er noch lebte,
»schrieb diese Person an die Zeitschrift und verlangte eine Berichtigung.
Gleich in der nächsten Ausgabe kam The New Yorker dieser Aufforde-
rung nach, verschlimmerte damit aber unbeabsichtigt den Fehler, denn
an dem Wochenende, als das Magazin im Druck war, starb der Leser tat-
sächlich«.20 Hier kam es also zu einer Intervalldifferenz: Die verbliebene
Lebenszeit des Lesers war kürzer als die Zeit, die für die Fehlerkorrektur
erforderlich war. Schlechtes Timing.
Risiken von Intervall und Dauer
Bereits bei anderen Timingelementen haben wir gesehen, dass es zu
Fehlern kommen kann, wenn wir sie übersehen oder falsch deuten. Es
hat subtile Gründe, weshalb wir Intervalle nicht bemerken oder nicht
verstehen. Die folgende Liste der Risiken ist keineswegs vollständig,
Intervall und Dauer 111
zeigt aber einige immer wieder auftretende Hindernisse auf, Intervalle
zu erkennen und zu begreifen.
Sprache
Ein Grund, weshalb wir Intervalle übersehen, liegt in der Effizienz unse-
rer Sprache, die es erlaubt, eine ganze Reihe von Aktivitäten in einem
einzigen Wort oder Satz zu erfassen. Am 14. November 2007 fegte ein
Eissturm über den Nordosten der USA hinweg. Stundenlang saßen Pas-
sagiere in einem JetBlue-Flugzeug auf dem JFK-Flughafen in New York
fest. Die Maschine konnte weder starten noch ans Gate zurückkehren
(da es besetzt war). David G. Neeleman, der damalige CEO der Flugge-
sellschaft, war »gedemütigt und beschämt« über den Vorfall.21
Um ein solches Vorkommnis zu verhindern, dürfen wir nicht nur darü-
ber nachdenken, einen Flug (ein Substantiv) zu streichen oder nicht zu
streichen. Wir müssen auch die Sequenzen bedenken: Ein Flugzeug ver-
lässt das Gate, rollt zur Startbahn und startet – oder nicht. Dann müssen
wir uns die Intervalle innerhalb dieser Sequenz klarmachen und die Fakto-
ren verstehen, die sich auf die Dauer eines jeden Intervalls auswirken. Das
Substantiv Flug beinhaltet einen hohen Abstraktionsgrad. Es verrät aber
nichts über die detaillierte Sequenz von Intervallen, aus denen sich ein
Flug tatsächlich zusammensetzt und von denen jedes einzelne Probleme
bereiten kann. Wir sind auf die Effizienz von Worten angewiesen, die
komplexe Handlungsabläufe bezeichnen – ohne sie wäre Kommunikation
unmöglich –, aber häufig gehen dabei genau die Aspekte verloren, die wir
brauchen, um Timingrisiken zu erkennen und zu handhaben.
Fragen Sie sich: Habe ich wegen der verkürzenden Sprache, mit der wir Ereig-
nisse beschreiben, die Zeitspanne zwischen Schritten und Stadien übersehen?
Zahlendenken
Wenn wir jemanden nach der Fluktuationsrate eines Unternehmens fra-
gen, erhalten wir als Antwort eine Mengenangabe: die Anzahl der Mit-
112 Jetzt!
arbeiter, die innerhalb einer bestimmten Zeit ein Beschäftigungsverhält-
nis begonnen und beendet haben. Wir haben einen Begriff, Fluktuation,
und weisen ihm eine Zahl zu, eine messbare Größe, und glauben, damit
sei der Fall erledigt. Aber diese Zahl sagt uns nichts darüber, wie lange
die Stelle vakant bleibt, ob die Firma im Voraus wusste, dass Mitarbeiter
kündigen würden, und wie lange es dauern würde, sie zu ersetzen. Der
Begriff der Fluktuation hindert uns nicht, diese Fragen zu stellen. Das war
auch bei dem Beispiel des gestrichenen JetBlue-Fluges nicht der Fall. Aber
er lenkt unsere Aufmerksamkeit auch nicht darauf. Unsere Sprache macht
es einfach, einen komplexen Prozess mit einem einzigen Wort oder einer
messbaren Größe zu erfassen. Sobald jemand von einer Variablen spricht,
wissen Sie, dass sich dahinter Intervalle verbergen. Eine Variable wie die
Fluktuation oder die Zahl der Starts pro Stunde an einem Flughafen weist
Sie darauf hin, was Sie in Betracht ziehen oder messen müssen. Aber wenn
Sie die Risiken kennen wollen, die mit einer Variablen einhergehen, müs-
sen Sie die Intervalle herausfinden, aus denen sie sich zusammensetzt,
und feststellen, wann sie möglicherweise zu lang oder zu kurz werden.
Fragen Sie sich: Veranlasst mich Zahlendenken (das Erfassen einer
Situa tion in einer variablen Größe), relevante Intervalle zu übersehen?
Denken in Zeitschienen
Wenn wir uns mit einem Problem konfrontiert sehen, suchen wir als
selbstverständlichen nächsten Schritt eine Lösung und hoffen, sie so
schnell wie möglich zu finden. Das Intervall zwischen Problem und
Lösung lässt sich, wie oben gezeigt, folgendermaßen darstellen:
→ > | Problem − Lösung | < ←
Wenn es sich um ein schwerwiegendes Problem handelt, fürchten wir, es
könnte lange dauern, eine Lösung zu finden – was eine Menge Schwierig-
keiten bereiten kann. Die Zeit bis zur Lösung ist jedoch nicht das einzige
Intervall, über das wir uns Gedanken machen müssen. Zunächst sollten
wir Problemen und Lösungen eigene Zeitschienen zuordnen, in etwa so:
Intervall und Dauer 113
Problem
Lösung
Diese Art der visuellen Darstellung leistet zweierlei: Erstens wirkt sie
unserer unbewussten Tendenz entgegen, Lücken zu schließen (was
uns veranlasst, die zur Lösungsfindung benötigte Zeit zu unterschät-
zen). Zweitens, und das ist ebenso wichtig, erinnert sie uns daran, dass
eine Lösung möglicherweise noch lange weiterbesteht, nachdem das
ursprüngliche Problem beseitigt ist – in diesem Fall kann die Lösung
selbst zum Problem werden.
Genau das passierte 1959 an der Börse. Ein Spekulationsfieber ließ das
Handelsvolumen sprunghaft ansteigen. Der Markt konnte die Volumen-
steigerung nicht bewältigen und brauchte Wochen, um Handelsvorgänge
zu bearbeiten. Man stellte zusätzliche Kräfte ein, aber nach einigen Jahren
war das System wieder überlastet. Die New Yorker Börse reagierte, indem
sie Computer und andere Automatisierungstechnik anschaffte. Aber 1970
überstiegen die Kosten dieser Verbesserungen das Handelsvolumen, das
man zu ihrer Finanzierung benötigt hätte.22 Dieses Beispiel ist über 50
Jahre alt, aber das Prinzip (Lösungen können zum Problem werden) gilt
heute noch ebenso wie damals. Nehmen wir nur die Sicherheitskontrollen
an Flughäfen. Werden unsere Kinder immer noch die Schuhe ausziehen
müssen, bevor sie an Bord eines Flugzeugs gehen? Schwer zu sagen, aber
ich weiß mit Sicherheit, dass manche Zukunftsprobleme aus Lösungen
erwachsen werden, die sich zu sterben weigerten, als ihre Zeit vorüber war.
Es hat noch einen weiteren Vorteil, Probleme und Lösungen auf
separaten Zeitschienen darzustellen. Es ermöglicht uns, ihre Sequenz
zu bedenken. Lösungen sollten logischerweise auf die Probleme folgen,
die sie lösen sollen. Aber manchmal müssen wir eine Lösung in Angriff
nehmen, bevor das Problem sich stellt, sonst laufen wir Gefahr, zu spät
zu kommen. Die Erderwärmung ist ein solches Beispiel. Wenn wir einen
Weg fänden, den Lösungsweg rentabel zu gestalten, könnten wir viel-
leicht anfangen, bevor es zu spät ist.
Fragen Sie sich: Habe ich durch die Fokussierung auf die »Zeit bis zur
Lösung« andere wichtige Intervalle übersehen?
114 Jetzt!
Katzenhafte Punktfixierung
Wir sind ein Denken gewöhnt, das von der Ausführung einer Hand-
lungskategorie an einem einzigen Zeitpunkt ausgeht. Dabei können
wir leicht die damit verbundene Abfolge von Schritten – und Inter-
vallen zwischen ihnen – vergessen. Es gibt einen wunderbaren Dil-
bert-Comic, der diesen Punkt illustriert. Dilbert kauft einen Sessel.
Nachdem er sich ein Modell ausgesucht hat, gratuliert der Verkäufer
ihm zu seiner »exzellenten Wahl«, rät ihm aber, ganz ruhig zu bleiben
und keinesfalls »die eine Frage zu stellen, die diesen Kauf zunichte-
macht«. Selbstverständlich stellt Dilbert diese Frage. »Ist der Sessel
auf Lager?« Der Verkäufer antwortet: »Wir verkaufen keine Sessel. Wir
verkaufen die Hoffnung, dass eines Tages ein Sessel für Sie gemacht
wird.« Dilbert fragt natürlich: »Wie lange wird das dauern?« Der Ver-
käufer erwidert: »Wenn ich diese Frage beantworten könnte, wäre es
gerade so, als würde ich Ihnen einen tatsächlichen Sessel verkaufen.
Was wäre denn, wenn ich Ihnen sagen würde, er wird in zwei Monaten
versandt, dann rufen Sie mich bis in alle Ewigkeit alle drei Monate an
und brüllen mich an.« Dilbert geht zurück ins Büro und antwortet auf
die Frage, ob er nun einen Sessel gekauft habe: »Das kann man nicht
wissen.«23
Dieser Comic hat eine tiefgründige Aussage. Handlungen und Trans-
aktionen, die nach unserer Erwartung sofort oder nahezu augenblicklich
erfolgen, sind in Wirklichkeit ausgedehnte Sequenzen voller Intervalle
unterschiedlicher Länge. Hinter der Bezeichnung für jede Aktivität ver-
birgt sich ein ganzer Satz von Sequenzen und Intervallen, die Sie entde-
cken müssen wie jene Dimensionen der Welt, die wir nach Aussagen der
Quantenphysiker nicht sehen. Erst dann können Sie wissen, wie lange
etwas dauert.
Fragen Sie sich: Habe ich eine Reihe von Intervallen übersehen, weil ich
eine Situation oder Handlung als Einzelereignis behandelt habe?
Intervall und Dauer 115
ED2 + REs gibt eine Intervallreihe, die so verbreitet ist, dass ich ihr einen
Namen gegeben habe: ED2 + R. In einer ED2 + R-Sequenz existiert
ein Problem E. Nach einiger Zeit (Intervall 1) wird es entdeckt oder
erkannt (engl. discovered): D1. Wieder einige Zeit später (Intervall
2) wird es relevanten Beteiligten mitgeteilt und offenbart (engl.
dis closed): D2. Nach einer längeren oder kürzeren Zeit (Intervall 3)
bemüht man sich, den entstandenen Schaden zu beheben oder zu
reparieren: R. Diese drei Intervalle – die Zeitspanne vom Auftreten
eines Problems bis zu dem Zeitpunkt, an dem man es anderen mit-
teilt und es schließlich löst – können entscheidend sein. Häufig
führen sie zu Missverständnissen. So kann eine Partei der anderen
sagen: Sind wir uns einig, dass wir uns innerhalb von x Tagen gegen-
seitig informieren, wenn eine Seite auf ein Problem stößt, auch wenn
wir glauben, es schnell lösen zu können? Eine solche Vereinbarung
kann spätere Probleme verhindern. Indem die Parteien die Intervalle
der Sequenz ED2 + R explizit ansprechen, können sie klarmachen,
was sie voneinander brauchen und erwarten. Die Intervalle ED2 + R
sollten in allen Vertragsverhandlungen zur Sprache kommen.
Zu lange oder zu kurze Intervalle
Zu lange oder zu kurze Intervalle sind mit Risiken behaftet. Eine Mög-
lichkeit, solche Risiken aufzuspüren, besteht darin, die vier Zellen der
Intervallhülle auszufüllen: Versuchen Sie die maximale und minimale
Länge der längsten und kürzesten Intervalle in Ihrer jeweiligen Arbeit
abzuschätzen und die Risiken zu erkennen, falls diese Extreminter-
valle eintreten sollten. Bei der Fußballweltmeisterschaft 2002 schlug die
US-Mannschaft Portugal 3:2. Der portugiesische Nationaltrainer Anto-
nio Oliveira gab als Grund für die Niederlage an: »Da unsere Spieler in
europäischen Ligen spielen, hatten wir nur zwei Wochen Vorbereitungs-
zeit.«24
116 Jetzt!
Achten Sie auf Horizontfehler, die auftreten, wenn Sie nicht weit genug
in die Vergangenheit oder Zukunft blicken. Scott McCleskey (von April
2006 bis September 2008 Leiter der Compliance-Abteilung bei Moody’s)
erklärte: »Nachdem Moody’s diese Ratings [über Tausende Kommunal-
anleihen] herausgegeben hat, überprüft es sie nur selten – sie liegen
brach, manchmal für Jahrzehnte.«25 Eine alternde Finanzinfrastruktur
birgt das gleiche Risiko von Horizontfehlern wie eine alternde physische
Infrastruktur: Nach einer Weile ist sie vielleicht nicht mehr sicher.
Fragen Sie sich: Stellen die längsten oder kürzesten Intervalle in einem
Ablauf Risiken dar? Habe ich bedacht, was passiert, wenn das kürzeste Inter-
vall einer Sequenz kürzer oder das längste Intervall länger ist, als ich dachte?
Flexibilität
Steht die Größe eines Intervalls fest oder lässt es sich je nach Bedarf
verlängern oder verkürzen? So tragen festgesetzte Fristen, die die Länge
eines Intervalls standardisieren, zur Berechenbarkeit bei. Aber sie gehen
auch mit beträchtlichen Risiken einher, nämlich mit dem Verlust von
Expertise – und diese ist besonders wichtig, wenn über komplizierte
Angelegenheiten zu entscheiden ist und Fehler dauerhafte Auswirkun-
gen haben. Ist eine geschäftliche Deadline tatsächlich der letzte Liefer-
termin oder lässt sie sich variabel anpassen, um denjenigen, die mit
einer Aufgabe betraut sind, mehr oder weniger Zeit für die Erledigung
einzuräumen?
Fragen Sie sich: Habe ich bedacht, ob ein Intervall feststeht oder flexibel
ist, und spielt dieser Unterschied eine Rolle?
Normen
Häufig stellen wir Normen auf, wie lange ein Intervall dauern sollte.
Wenn diese Normen verletzt werden, fällt es auf. So überraschte E. Gor-
don Gee die amerikanische Hochschulwelt und den Campus der Brown
University, der er seit zwei Jahren als Präsident vorstand, im Februar
Intervall und Dauer 117
2000 mit seinem plötzlichen Rücktritt. Gee wollte Kanzler der Vanderbilt
University werden. »Zwei Jahre ist viel zu kurz, das gebe ich offen zu«,
erklärte Gee, »aber wir befinden uns in einer schnelllebigen Welt, in der
es viele Veränderungen gibt.«26
Wer gegen eine Intervallnorm verstößt, muss bereit sein, es zu erklä-
ren oder sein Handeln hinterfragen zu lassen. Ich vermute, wenn Gee
auch sein Amt an der Vanderbilt University nach einem oder zwei Jahren
aufgegeben hätte (was er nicht tat; er blieb dort bis 2007), wäre das sei-
nem Ruf mit Sicherheit abträglich gewesen, ganz gleich, welche Erklä-
rung er auch abgegeben hätte.
Fragen Sie sich: Was passiert, wenn ein Intervall länger oder kürzer ist
als erwartet?
Die Position eines Intervalls übersehen
Wann ein Intervall auftritt, kann ebenso wichtig sein wie seine Länge.
So erklärte Tony Gwynn von der Baseballmannschaft San Diego
Padres 1999: »Was wäre, wenn du im letzten Jahr deines Vertrages das
Gefühl hättest, nicht gut zu spielen? Bei dem Geld da draußen, könn-
ten Kreatin, Andro oder Steroide dein Spiel verändern? Und wenn du
diese Mittel nur ein Jahr nehmen würdest, um deine Karriere zu ver-
längern, wäre das wirklich gefährlich für deine Gesundheit?«27 Wenn
wir wissen, wann ein Risiko besteht, können wir es besser vermeiden
oder abschwächen. Würde der Baseballsport seine Dopingkontrollen
auf die Zeiten konzentrieren, in denen der Einsatz verbotener Substan-
zen bei Spielern am wahrscheinlichsten ist, wären diese Bemühungen
vielleicht effektiver. Wann Spieler erstmals oder erneut anfangen oder
dauerhaft aufhören, Dopingmittel zu nehmen, ist wahrscheinlich nicht
ganz beliebig.
Fragen Sie sich: Habe ich bedacht, wo ein Intervall innerhalb einer größe-
ren Sequenz auftritt?
118 Jetzt!
Inhaltsrisiken
Es kann zu Fehlern führen, wenn innerhalb eines Intervalls mehr (oder
weniger) vorgeht, als Ihnen klar war. Manche Intervalle sind tatsächlich
leer: Es passiert nichts, wie es in der Kofferbranche vor Sadow der Fall
war. Aber manchmal passiert sehr viel – zum Beispiel, wenn Banken sys-
tematisch unmittelbar vor den Quartalsbilanzen ihren Verschuldungs-
grad senken und diese Transaktionen zu Beginn des nächsten Quartals
rückgängig machen. Solche Vorgänge veranlassten die amerikanische
Börsenaufsicht SEC, über neue Vorschriften nachzudenken, um zu ver-
hindern, dass Banken »ihre Bilanzen schönen«.28 Es kommt auch vor,
dass der Inhalt eines Intervalls den anderer verdeckt. So wird während
einer heftig umkämpften Präsidentenwahl häufig über andere wichtige
Nachrichten außerhalb der Politik nicht berichtet.
Fragen Sie sich: Was passiert wirklich in einem bestimmten Intervall, falls
überhaupt etwas passiert? Geschieht genau das, was zu passieren scheint, oder
etwas völlig anderes?
Missverständnisse über Intervalle
Häufig kommt es zu Fehleinschätzungen darüber, wie andere ein Inter-
vall interpretieren. So sprach ein US-Bundesrichter 1993 einem ehemali-
gen Mitarbeiter von General Electric, der einen Betrug des Unternehmens
bei einem Rüstungsauftrag aufgedeckt hatte, 11,5 Millionen US-Dollar
(damals eine Rekordsumme) zu. General Electric vertrat die Meinung, der
Whistleblower, Chester Walsh, habe den Betrug verspätet gemeldet, um
diese hohe Summe kassieren zu können. Walsh hielt dem entgegen, er
habe »so viel Zeit (über vier Jahre) gebraucht, um Beweise gegen seinen
Arbeitgeber zu sammeln«.29 Wenn Sie ein Intervall entdecken, das für den
Erfolg Ihrer Arbeit entscheidend ist, fragen Sie sich, wie andere es inter-
pretieren könnten und ob die Gefahr besteht, dass sie es falsch verstehen.
Laut einer Studie des National Marriage Projects von 2001 sehen Frauen
ein Zusammenleben tendenziell als einen Schritt hin zur Ehe, während
Männer es angeblich als Erprobung einer Beziehung verstehen.30
Intervall und Dauer 119
Fragen Sie sich: Interpretiere ich Inhalt und Bedeutung eines Intervalls
richtig? Könnten andere dasselbe Zeitintervall anders verstehen?
Optionen und Chancen durch Intervall und Dauer
Wer auf Intervalle – ihre Größe, Sequenz und Position – achtet, erhöht
seine Chancen, das eigene Handeln effektiver zu gestalten. So nutzte der
Motorsportverband NASCAR eine Intervallsequenz, um ein schwieriges
Timingproblem zu lösen. NASCAR-Funktionäre vermuteten, dass ver-
schiedene Teams unerlaubte Modifikationen an ihren Rennwagen vor-
nahmen. Der Verband wollte gegen den Betrug vorgehen und stand vor
einer Timingfrage. Wann sollte er eine Warnung aussprechen? Käme die
Warnung zu früh, würde sie nicht ernst genommen. Wieso jetzt, würde
man fragen. Vielleicht würde die Gefahr, vor der gewarnt wurde, gar
nicht eintreten. Andererseits kommt eine Warnung, die zu spät ausge-
sprochen wird, eben zu spät. Nach herkömmlicher Auffassung handelt
es sich hier um ein Problem der katzenhaften Punktfixierung. Zu wel-
chem einzelnen Zeitpunkt sollte eine Warnung (eine Handlungskatego-
rie) erfolgen? Aber so ging NASCAR das Problem nicht an. Seine Lösung
bestand in einer Intervallsequenz:31
1. NASCAR gab während der laufenden Saison eine Warnung heraus,
dass »Strafen verschärft würden, wenn es weiter zu Verstößen käme«.
2. Drei Wochen, bevor die Teams zu den Speedweeks in Daytona eintra-
fen, wurden sie erneut gewarnt.
3. Am Sonntag vor dem Daytona-500-Rennen, das am 18. Februar 2007
stattfand, »suspendierte NASCAR fünf Renningenieure und einen
stellvertretenden Teamchef, verhängte Bußgelder und zog fünf Fah-
rern und Teams vor dem Saisonstart am Sonntag wertvolle Renn-
punkte ab«.
4. Die höheren Strafen waren zeitlich so abgestimmt, dass sie mit dem
Start der neuen Saison begannen und so den Kreis schlossen.
120 Jetzt!
Es gab zwei Warnungen, bevor Verstöße geahndet wurden, und die
dazwischen liegenden Intervalle wurden immer kürzer. Die Warnungen
ergingen etwa ein Jahr, einen Monat und eine Woche im Voraus. Die
Strafen waren zeitlich so abgestimmt, dass sie mit dem Start der neuen
Saison zusammenfielen, also ein Interpunktionszeichen nutzten. Die
NASCAR-Lösung setzte somit nicht auf eine einzige Warnung, weil es
unmöglich zu entscheiden war, wie früh der Verband die Fahrer hätte
warnen und zugleich gewährleisten sollen, dass die Warnung Wirkung
zeigte. Es wäre dem Versuch gleichgekommen, ein Timingproblem zu
lösen, indem man sich auf eine einzige Größe, in diesem Fall auf ein
Intervall einer bestimmten Größe bezog. Statt einer Punktlösung, die
einen einzelnen Zeitpunkt auswählt, entschied NASCAR sich für eine
Pfadlösung, die eine Intervallsequenz beinhaltete.
Intervalle ausfindig zu machen führt zu besseren Lösungen. For-
schungen haben gezeigt, dass Krebspatienten ungern im Krankenhaus
auf die Ergebnisse von Blutuntersuchungen warten, um zu erfahren, ob
sie kräftig genug sind, eine Chemotherapie zu erhalten. Die herkömm-
liche Lösung für ein solches Problem wäre, die Wartezeit zu reduzieren.
Sind die Ergebnisse der Blutuntersuchungen schneller zu bekommen?
Wenn nicht, lassen sich Patienten durch Fernsehen oder andere Aktivi-
täten ablenken?
Das Krebszentrum am Sloan-Kettering Hospital in New York bat die
Designfirma IDEO, das Verfahren zu untersuchen. In der Folge bot
es manchen Patienten an, die Blutuntersuchungen einen Tag vor der
geplanten Chemotherapie zu machen, und stellte fest, dass viele lieber
zwei Mal kamen, als die Tests in letzter Minute durchführen zu lassen.32
Entscheidend war, an welcher Position der Sequenz (Tests – Ergebnisse –
Chemo) das wichtige Warteintervall lag, nicht seine Länge. Der Umfang
legt eine Größenlösung nahe: Wenn ein Intervall zu lang ist, muss man es
verkürzen. Aber in diesem Fall war es die bessere Lösung, das kritische
Intervall (das Warten auf Testergebnisse) auf den Vortag zu verlegen. Fie-
len die Ergebnisse positiv aus, brauchten die Patienten am nächsten Tag
nicht zu warten, wenn sie zur Chemotherapie kamen. Diese Umstellung
kann aber nur funktionieren, weil sich im Laufe dieser Zeit etwas nicht
verändert. Würden sich die Testergebnisse der Patienten von Minute zu
Intervall und Dauer 121
Minute ändern, käme die Lösung, sie zwei Mal kommen zu lassen, nicht
infrage.
Trotz ihrer offensichtlichen Unterschiede haben das NASCAR-
und das Krebszentrum-Beispiel etwas gemeinsam: In beiden Fällen
erstreckte sich die Lösung über eine Intervallsequenz, die bei NASCAR
nicht Wochen, sondern Monate und bei dem Krebszentrum nicht Minu-
ten, sondern Tage umfasste. Aus diesem Grund ist es wichtig, nach
Intervallen zu suchen: Sie können neue, bessere Lösungen nahelegen,
wenn konventionelle Lösungswege sich als unzulänglich erweisen.
Zeitfantasie
Der Komiker Jonathan Winters erinnerte sich an ein Gespräch, das er
mit einer Touristin führte, als er den Athenetempel in Griechenland
besuchte:
»Eine Frau fragte, was ich davon hielte«, erzählte [Winters], und »ich sagte,
dass ich furchtbar enttäuscht sei.«
»Wieso?«
»Alles ist kaputt.«
»Aber es stammt aus dem 5. Jahrhundert vor Christus.«
»Na ja, dann müsste es inzwischen ja wohl repariert sein.«33
Winter erinnert uns an etwas Wichtiges: Wir sollten darüber nachden-
ken, was wir vom Lauf der Zeit erwarten dürfen. Wir rechnen damit, dass
Dinge verschleißen, Kaputtes repariert wird, Erinnerungen verblassen,
eine originelle Formulierung zum Klischee wird und Führungskräfte in
den Ruhestand treten oder abgelöst werden. Wenn ein Prozess, der lange
dauern sollte, es nicht tut, wissen wir, dass etwas nicht stimmt – wie bei
der Witwe, die einen Tag nach der Beerdigung ihres Mannes wieder hei-
ratet. Sie hat zwischen diesen beiden Ereignissen nicht ausreichend Zeit,
also keinen »anständigen« Abstand gelassen.
Manchmal sollte die Tatsache, dass sich im Laufe der Zeit nichts
ändert, also ein tatsächlich leeres Intervall vorkommt, ein alarmieren-
122 Jetzt!
des Zeichen sein. Wir wissen, dass es auf der »Titanic« nicht genügend
Rettungsboote gab, als sie sank. Aber das Schiff entsprach sämtlichen
Marinevorschriften. Das Problem war, dass das britische Handelsminis-
terium »seine Vorschriften seit annähernd 20 Jahren nicht aktualisiert
hatte« und »seit den letzten schweren Verlusten an Menschenleben auf
See 40 Jahre vergangen waren«.34 Die Vorschriften waren schlicht ver-
altet. Ich schlage vor, dass wir alle politischen Entscheidungen, Gesetze
und Vorschriften, die mit Sicherheit oder anderen wichtigen Dingen zu
tun haben, mit Entstehungs- und Verfallsdatum versehen, damit wir wis-
sen, wann wir sie überprüfen, überarbeiten oder aufheben müssen.
Intervall und Dauer: im Überblick
Merkmale von Intervallen
• Art: Es gibt vier Arten von Intervallen (Zwischenzeit, verstrichene Zeit,
verbleibende Zeit und Dauer). Vergewissern Sie sich, dass sie auf alle
vier achten.
• Größe – die Intervallhülle: Suchen Sie nach dem längsten und dem kür-
zesten Intervall und bei jedem nach der minimalen und maximalen
Länge. Machen Sie sich die Komplikationen klar, die auftreten können,
wenn ein langes oder kurzes Intervall noch länger oder kürzer wird.
• Objektiv oder subjektiv: Timing hängt von zwei Uhren ab: von der exter-
nen Uhr an der Wand oder an Ihrem Arm und von der inneren Uhr im
Kopf. Beide registrieren nicht unbedingt die gleiche verstrichene Zeit.
Jeder bemisst die Zeit nach mehr als einer Uhr.
• Inhalt: Schauen Sie ins Innere eines Intervalls, um zu sehen, was wäh-
rend einer bestimmten Zeitspanne vorgeht.
• Bedeutung: Ein Intervall kann für verschiedene Menschen unterschied-
liche Bedeutung haben.
• Menge: Achten Sie auf mehr als ein Intervall. Es gibt immer mehr, als
Sie denken.
Intervall und Dauer 123
Risiken durch Übersehen oder Fehlinterpretation von Intervallen
• Sprachrisiko: Wir übersehen Intervalle, weil unsere Sprache es ermög-
licht, eine Handlungsabfolge in einem einzigen Wort oder Ausdruck
zu erfassen. Diese effiziente Sprache zeigt aber nicht die Sequenzen
auf, die mit diesen Handlungen verbunden sind. (Beispiel: Das Wort
»Flug« steht für eine ganze Sequenz von Intervallen, die gemanagt
werden müssen.)
• Zahlendenken: Wenn wir eine Frage mit einer einzigen Zahl, Quote oder
Prozentangabe beantworten, verdeckt das häufig relevante Intervalle.
(Beispiel: Wie hoch ist die Fluktuationsrate der Beschäftigten? 12 Pro-
zent. Diese Zahl sagt uns wenig darüber, wie lange eine bestimmte
Stelle unbesetzt bleibt, ob das Unternehmen vorher wusste, dass die
Mitarbeiter gehen würden, und wie lange es dauert, sie zu ersetzen.
Einzelne Zahlen, Prozentsätze oder auch Variablen ignorieren die
Intervalle, die als Zeitelemente grundlegender Bestandteil des zu
messenden Merkmals sind. Wir müssen daran denken, auf sie zu ach-
ten.)
• Katzenhafte Punktfixierung: Wenn wir ein Ereignis oder eine Aktivität
mit einem einzigen Zeitpunkt in Verbindung bringen, vergessen wir
leicht die Abfolge der dazugehörigen Schritte – und die zwischen
ihnen liegenden Intervalle. (Beispiel: Ein Feiertag wie Heiligabend ist
jedes Jahr am selben Datum, aber vor und nach dem 24. Dezember
gibt es Dutzende Intervalle vom Einkaufen über das Dekorieren bis
zum Reisen.)
• Zu lange oder zu kurze Intervalle: Wenn wir die Länge eines Intervalls
falsch einschätzen, kann das Timingkonsequenzen haben. (Beispiel:
Die Dauer eines Konjunkturzyklus wird unterschätzt – und das wirkt
sich auf Budget und Prognosen aus.)
• Unflexibilität: Es ist wichtig, zu wissen, ob die Dauer eines Intervalls
feststeht oder variabel ist. (Beispiel: Ein Jahr hat immer 365 Tage. Eine
Rezession kann einige Quartale oder wesentlich länger dauern.)
• Normen: Wir stellen Normen auf, wie lange ein Intervall dauern sollte.
Wenn diese Normen verletzt werden, kann es nachteilige Auswirkun-
124 Jetzt!
gen haben. (Beispiel: Wenn wir eine Stelle annehmen, erwartet man
gewöhnlich von uns, dass wir sie über eine gewisse Zeit behalten,
sonst setzen wir unseren Ruf aufs Spiel.)
• Positionsrisiken: Wann ein Intervall auftritt, kann ebenso wichtig sein
wie seine Dauer. (Beispiel: Die Bereitschaft, Dopingmittel zu neh-
men, kann bei Sportlern im letzten Jahr ihrer Karriere stärker sein als
in einem früheren Stadium.)
• Inhaltsrisiken: Sie können Fehler machen, weil in einem Intervall mehr
(oder weniger) passiert, als Ihnen klar ist. (Beispiel: Eine Institution
kann ihren Schuldenstand vor dem Vierteljahresabschluss senken
und diesen Vorgang nach Beginn des nächsten Quartals wieder rück-
gängig machen.)
• Interessenkonflikte: Sie gehen mit einem Intervall vielleicht anders um
als ein anderer. (Beispiel: Ein Beteiligter möchte umgehend über jedes
potenzielle Problem informiert werden, der andere möchte warten,
bis abzusehen ist, ob es sich um ein gewichtiges Problem handelt.)
Optionen und Chancen von Intervallen
• Auf Größe, Sequenz und Position von Intervallen zu achten kann uns
die Chance zu effektiverem Handeln eröffnen: So nutzte NASCAR
Intervalle zur Lösung des Problems, dass Teams verbotene Modifi-
kationen an Rennwagen vornahmen.
• Ein etabliertes Intervall zu verlängern oder zu verkürzen kann ein
System oder Verfahren verbessern: Wenn wir zwei Intervalle kombi-
nieren, verändert das vielleicht die Sicht eines Kunden auf ein Ereig-
nis oder führt zu einer Innovation. Das Sloan-Kettering Hospital in
New York verlängerte ein Intervall nach vorn (Bluttest), um die Patien-
tenerfahrung zu verbessern.
Tempo 125
4
Tempo
Ich weiß, dass das meiste da draußen in der Welt für mich zu schnell
oder zu langsam passiert, um es zu sehen.
Roni Horn1
Schnell! Gestern Abend schaltete ich das Licht in meinem Schlafzimmer aus,
drückte auf den Schalter und war im Bett, bevor es im Zimmer dunkel wurde.
Muhammad Ali2
Gutes Timing hängt davon ab, wie wir die Veränderung der Umgebung
begreifen. Eine neue Technologie ist entstanden. Stellt sie eine Bedro-
hung für Ihr Kerngeschäft dar? Ein Unternehmen reagiert auf Verände-
rung vielleicht, indem es sich Zeit lässt und abwartet. Seine Umgebung
war immer stabil, und die Führungskräfte haben vielleicht Recht mit
ihrer Annahme, dass jeder Wandel langsam und schrittweise erfolgen
wird. In einem anderen Unternehmen kann über Jahre hinweg der Wind
der Veränderung in Hurrikanstärke wehen und die Führungskräfte
müssen geradezu Supermen oder Superwomen sein, um Schritt zu hal-
ten. Dieses Kapitel untersucht die unterschiedlichen Geschwindigkeiten
des Wandels und möchte Ihnen helfen, deren unterschiedliche Merk-
male (Ausrichtung, Transparenz usw.) für bessere Timingentscheidun-
gen zu nutzen.
Obwohl wir von Wandel umgeben sind, lässt sich das tatsächliche
Tempo der Veränderung leicht übersehen oder missachten. So machten
AIDS-Forscher 1995 die wichtige Entdeckung, dass sie die Interaktions-
geschwindigkeit des HI-Virus mit dem Immunsystem eines Erkrankten
falsch eingeschätzt hatten. Bis 1995 hatten sie die Ausbreitung der HIV-
Infektion im Körper für einen allmählichen Prozess gehalten. Forschun-
gen zeigten nun, dass der Virus und das Immunsystem von Beginn der
Infektion an einen heftigen Kampf austragen. Diese Erkenntnis hatte
erhebliche Auswirkungen auf den Zuschnitt der medikamentösen The-
126 Jetzt!
rapie und auf die Behandlung der Krankheit. Wieso übersahen Forscher
diese wichtige Tatsache so lange?
Dr. Simon Wain-Hobson, Leiter des Labors für molekulare Retroviro-
logie am Institut Pasteur in Paris, fragte sich als erste Reaktion: »Wieso
habe ich daran nicht gedacht – es ist so offensichtlich.« Seiner Ansicht
nach sah die AIDS-Forschung in Bezug auf das Tempo den Wald vor
lauter Bäumen nicht: »Wir haben Technologie, die so leistungsfähig ist,
so viele Daten, so viele Informationen ausspuckt, dass die Menschen sich
nicht die Zeit nehmen nachzudenken.«3
Dieses Problem haben wir alle: zu viele Informationen und zu wenig
Zeit nachzudenken. Die Schwierigkeit besteht aber nicht nur im Zeit-
mangel, sondern auch in den falschen Annahmen, von denen wir aus-
gehen. So nehmen wir an, dass ein langsames Veränderungstempo durch
ein anderes langsames Veränderungstempo verursacht wird. Gleiches
erzeugt Gleiches. Diese Gleichung kennen wir aus unserer Erfahrung mit
der physikalischen Welt. Schwingt man einen Schläger langsam, fliegt
der Ball nicht sonderlich weit. Schwingt man ihn schneller, prallt der Ball
mit höherer Geschwindigkeit vom Schläger ab und landet erheblich wei-
ter weg. Allerdings vergessen wir, dass eine bestimmte Geschwindigkeit
Ergebnis vielfältiger Prozesse sein kann, die sich teilweise aufheben –
wenn wir zum Beispiel gleichzeitig auf Bremse und Gaspedal treten. So,
wie es die AIDS-Forscher feststellten, dürfen auch wir nicht vergessen,
dass ein bestimmtes Tempo viele Ursachen haben kann. Wir haben es
gern einfach: ein Tempo, eine Ursache. Aber die Welt ist komplex.
Ein weiterer Grund, weshalb wir mehrere unterschiedliche Geschwin-
digkeiten nicht wahrnehmen, ist, dass wir uns auf ein einziges Tempo
fixieren. So entdeckte der Wirtschaftswissenschaftler Robert J. Gordon von
der Northwestern University Mitte der 1990er Jahre: »In den 99 Prozent der
Wirtschaft außerhalb des Sektors, der Computer-Hardware herstellt, gab
es keine Beschleunigung der Produktivitätssteigerung.«4 Der Hightech-Be-
reich entwickelte sich so schnell, dass Wirtschaftsexperten den mangeln-
den Fortschritt in anderen Bereichen übersahen. Wir alle waren abgelenkt.
Manchmal bemerken wir das Tempo einer Veränderung nicht, weil
wir schlicht annehmen, dass sie nicht existiert. Ein gutes Beispiel ist
unser Verständnis der Fettzellen. Bis 2008 glaubten Wissenschaftler,
Tempo 127
Menschen hätten bereits in jungen Jahren eine Prädisposition, eine
bestimmte Menge Fettzellen zu entwickeln, und lebten dann damit.
Dem lag die Hypothese zugrunde, dass Fettzellen zwar ihre Größe
ändern, aber ansonsten Teil unserer Grundausstattung seien. Im Mai
2008 berichtete die New York Times über die Entdeckungen schwedischer
Forscher: »Unabhängig davon, ob man dünn oder dick ist, abnimmt oder
zunimmt, sterben jedes Jahr 10 Prozent der Fettzellen. Und jedes Jahr
werden die abgestorbenen Fettzellen durch neue ersetzt.«5
Diese Erkenntnisse haben erhebliche Auswirkungen für das Abneh-
men. Wenn es gelingt, das Tempo zu reduzieren, in dem die Zellen
ersetzt werden, kann das ganz neue Wege eröffnen, Fettleibigkeit in den
Griff zu bekommen. Ein Grund, weshalb man den ständigen Erneue-
rungsprozess der Fettzellen nicht früher entdeckte, war, dass Wissen-
schaftler keine Möglichkeit hatten, Leben und Sterben von Fettzellen zu
messen. Das war jedoch nicht das einzige Hindernis: »Nur wenige dach-
ten auch nur daran, diese Frage zu stellen«, wie die Wissenschafts- und
Gesundheitsjournalistin Gina Kolata anmerkte.6
In Ihrer eigenen Arbeit sollten Sie sich fragen: Welche Änderungsraten
beachte ich nicht?
Tempomerkmale
Das offensichtlichste Merkmal einer Änderungsrate ist die Größe: Wie
schnell oder langsam passiert etwas? Aber das ist erst der Anfang. Es
gibt noch eine ganze Reihe anderer Merkmale, die Sie in Betracht ziehen
sollten.
1. Normaltempo: Welche Änderungsrate ist für einen Prozess normal oder
zu erwarten?
2. Größe – die Tempohülle: Welches ist die schnellste und die langsamste
Geschwindigkeit oder Änderungsrate, mit der Sie es zu tun bekom-
men könnten, und wie schnell oder langsam kann dieses Tempo wer-
den?
128 Jetzt!
3. Dauer: Wie lange hält ein bestimmtes Tempo oder eine Frequenz
unverändert an?
4. Richtung: Spielt die Richtung eine Rolle? Wenn ein Tempo sich verän-
dert, beschleunigt oder verlangsamt es sich?
5. Objektiv oder subjektiv: Besteht ein Unterschied zwischen der realen und
der wahrgenommenen Änderungsrate?
6. Bedeutung: Was bedeutet ein bestimmtes Tempo? Wie interpretieren
verschiedene Beteiligte es?
7. Menge: Wie viele verschiedene Geschwindigkeiten oder Änderungsra-
ten kommen auf Sie zu oder müssen Sie bewältigen?
Befassen wir uns nun eigehender mit diesen Merkmalen.
Normaltempo
Unterschiedliche Systeme arbeiten mit unterschiedlichen Geschwindig-
keiten. Sie können sich zwar im Laufe der Zeit ändern, aber es ist wich-
tig, das Normaltempo – N-Tempo – eines bestimmten Systems zu ken-
nen. Nach Ansicht des Futuristen und Erfinders Ray Kurzweil verläuft
Fortschritt in der Informationstechnologie mit exponentieller Geschwin-
digkeit, beschleunigt sich also ständig. Das Normaltempo der Verände-
rung ist sehr hoch, während die Normal- oder Grundgeschwindigkeit
anderer Systeme sehr langsam sein kann. Als Faustregel gilt, dass Tech-
nologie sich schneller verändert als politische, rechtliche oder kulturelle
Systeme, die andere Ziele und Anforderungen haben.
Das Normaltempo ist immer kontextabhängig. Als Robert Ludlum
1974 den Roman The Cry of the Halidon (dt.: Die Halidon-Verfolgung,
1985) schrieb, veröffentlichte er ihn unter dem Pseudonym Jonathan
Ryder. Die Neuauflage des Buches erschien 1996 unter seinem tatsächli-
chen Namen. Laut Ludlum galt ein Autor, der mehr als ein Buch pro Jahr
schrieb, 1974 als »kommerzieller Schriftsteller«.7
Aus mindestens zwei Gründen sollten Sie auf das Normaltempo ach-
ten: Erstens kann es zu Konflikten kommen, wenn zwei Systeme mit
unterschiedlichen Normalgeschwindigkeiten aufeinandertreffen wie bei
Tempo 129
zwei Getriebegängen, die mit verschiedenen Geschwindigkeiten laufen.
(Eine bekannte organisatorische Lösung sind geheime Entwicklungsab-
teilungen, um Innovationen vor der Bürokratie zu schützen, die schnelle
Fortschritte verlangsamen würde.) Zweitens kehren Systeme, die schnel-
ler oder langsamer als normal arbeiten, im Laufe der Zeit zu ihrem Nor-
maltempo zurück. So streben Märkte ein Gleichgewicht an oder erleben
eine Regression zur Mitte, wie Statistiker sagen. Wenn sich also etwas
langsamer oder schneller als der Durchschnitt vollzieht, rechnen Sie
nicht damit, dass es so bleibt. In diesem Fall stellt sich die Timingfrage:
Wann wird es zu seinem Normaltempo zurückkehren, und spielt das
Timing eine Rolle?
Größe – die Tempohülle
Achten Sie auf extreme Änderungsraten. Sie können je nach Ausprä-
gung des Extrems äußerst unterschiedliche Auswirkungen haben. So
sind sowohl Feuer als auch Rost Ergebnisse eines Oxidationsprozesses.
Der Unterschied liegt in der Geschwindigkeit, mit der die chemische
Reaktion abläuft. Feuer ist eine schnelle Oxidation von Materialien.
Rost entsteht, wenn die Oxidation langsam erfolgt. Auch Finanzmärkte
verdeutlichen, warum extreme Änderungsraten eine Rolle spielen: An
einem Tag kann ein hektisches Handelstempo herrschen, aber an ande-
ren können die Märkte für eine gewisse Zeit stocken und völlig zum
Erliegen kommen. Beide Extreme haben spürbare Auswirkungen auf
den Handel.
Um Tempoextreme zu finden, suchen Sie nach dem schnellsten
und dem langsamsten Prozess, der für Ihre Arbeit wichtig ist. Diese
Prozesse können innerhalb oder außerhalb Ihrer Organisation lie-
gen. Als Nächstes bestimmen Sie das Maximal- und das Minimal-
tempo für jeden dieser Prozesse. Das Ergebnis habe ich Tempohülle
genannt. Sie ist durch vier Kombinationen oder Zellen definiertt (siehe
Tabelle 4.1).
Sehen wir uns jede der vier Zellen eingehender an, um zu verstehen,
warum sie wichtig sind. Beginnen wir mit dem langsamsten Prozess.
130 Jetzt!
Tabelle 4.1: Tempohülle
Langsamster Prozess Schnellster Prozess
Minimaltempo MinT-LP MinT-SP
Maximaltempo MaxT-LP MaxT-SP
Minimaltempo des langsamsten Prozesses
Langsam kann zu langsam sein. Ein Projekt droht gestrichen zu wer-
den, wenn es im Laufe der Zeit nicht wenigstens minimale Fortschritte
macht. Das langsamste Tempo ist selbstverständlich null. Es ist wich-
tig, alles zu markieren, was eine Änderungsrate von null hat, denn: Was
nicht imstande ist, sich zu ändern, nachzugeben oder sich zu verbiegen,
kann einfach brechen. Und das kann schnell passieren. Wenn ein Unter-
nehmen beispielsweise hohe Fixkosten, aber niedrige Grenzkosten hat,
fließt jeder Verkaufserlös, nachdem die Fixkosten gedeckt sind, unmit-
telbar in den Profit. Aber bei nachlassendem Markt können Unterneh-
men mit hohen Fixkosten schnell in den Untergang stürzen, wie es beim
Internetboom und -niedergang 2000/2001 der Fall war.8
Maximaltempo des langsamsten Prozesses
Eine wichtige Frage lautet, inwieweit sich ein an sich langsamer Prozess
beschleunigen lässt. So gibt es bei Hollywoodfilmen nach den Dreh-
arbeiten eine lange Postproduktionsphase. Sie muss in möglichst kur-
zer Zeit abgeschlossen werden, weil viele Filme entweder im Sommer
oder zu Weihnachten anlaufen sollen. Der Filmschnitt hat jedoch wie
viele Prozesse ein Maximaltempo. Da bei der Filmproduktion verschie-
dene Teams spezifische Aufgaben erfüllen – visuelle Effekte hinzufügen,
Farbkorrekturen vornehmen, Soundtracks erstellen, Staub und Kratzer
entfernen –, müssen Änderungen eines Teams von den anderen über-
nommen werden.9 Diese Anpassung erfordert Zeit. Selbst die neueste
Technologie reicht nur bis zu dem Punkt, an dem menschlicher Ein-
satz und Fachkenntnisse erforderlich sind. Ein wiederkehrendes Thema
Tempo 131
dieses Kapitels ist, dass wir langsamer sind als die Technologie, die wir
erfinden – was ein Grund ist, sie zu erfinden.
Um Prozesse zu erkennen, in denen die Höchstgeschwindigkeit des
langsamsten Prozesses zu langsam ist, sollten Sie nach Situationen Aus-
schau halten, die schwer zu ändern oder umzukehren sind; oder Sie rich-
ten Ihren Blick auf Prozesse, die von Präzedenzfällen und Kontinuität
abhängig sind. Es dauerte lange, den Einsatz von Steroiden im Baseball
endgültig zu unterbinden – weil Arzt-Patienten-Beziehungen vertraulich
sind, »die Vereinskultur heilig und der Verband um den Schutz der Pri-
vatsphäre besorgt« ist.10 Wenn rechtliche Fragen im Spiel sind, geht es
meist langsam. Bereits vor 400 Jahren schrieb Shakespeare über »des
Rechtes Aufschub«. Manche Dinge haben sich seit Shakespeares Zeiten
nicht verändert.
Minimaltempo des schnellsten Prozesses
Manche Prozesse brauchen eine Mindestgeschwindigkeit, um erfolg-
reich zu sein. Discountläden wie T. J. Maxx sind darauf angewiesen, dass
Kunden häufig wiederkommen. Wenn es nicht ständig neue Artikel zum
Stöbern gibt, kommen die Kunden nicht wieder. Das entspricht für mich
der Überziehgeschwindigkeit eines Flugzeugs: Wenn es zu langsam
fliegt, stürzt es ab. Das Gleiche gilt in der Wirtschaft. Wenn eine Volks-
wirtschaft nicht wächst, kann sie in eine Rezession stürzen.
Maximaltempo des schnellsten Prozesses
Extrem hohe Geschwindigkeiten oder Änderungsraten sind in der Regel
in Prozessen zu erwarten, die überwiegend mit Symbolen wie Zeichen,
Gleichungen oder Worten arbeiten, welche für reale Gegenstände stehen.
So können wir einem Satz auf einer Seite um ein Vielfaches schneller das
Wort Baum hinzufügen, als ein realer Baum wächst. Und wenn Symbole
lediglich auf andere Symbole verweisen, können schwindelerregende
Geschwindigkeiten erreicht werden. Denken Sie nur an Computer, die
über Highspeed-Algorithmen Tausende Handelsvorgänge pro Sekunde
an der Wall Street ausführen. Die Höchstgeschwindigkeit des schnells-
132 Jetzt!
ten Prozesses (Symbole, die auf andere Symbole verweisen) ist extrem
schnell.
Geschwindigkeit und Komplexität von Symbolsystemen waren an der
Finanzkrise beteiligt, die 2008 über den Globus fegte. Die Vorgänge erin-
nern an das erste vollständig abstrakte Gemälde, das Wassily Kandinsky
vor hundert Jahren malte. In einem abstrakten Gemälde sind die Formen
auf der Leinwand kein Abbild der realen Welt. Das Kunstwerk schafft
vielmehr seine eigene Wirklichkeit: Es ist ein geschlossenes, selbstrefe-
renzielles System. Das Gleiche gilt für komplexe Finanzinstrumente. Wie
abstrakte Kunstwerke besitzen auch die Gebilde der Finanzingenieure
häufig keinen unmittelbaren Zusammenhang zu dem, was wir als »reale
Welt« oder »Realwirtschaft« bezeichnen. Der Schriftsteller Thomas
Wolfe nannte Aktien und Wertpapiere deshalb »verdunstetes Eigentum«.
»Menschen verlieren völlig den Kontakt zu den zugrunde liegenden Ver-
mögenswerten. Es ist alles Papier – diese esoterischen Erfindungen.«11
Abstrakte Künstler brauchten lediglich Leinwand, Pinsel und Farbe,
um Symbol und Realität zu trennen. Das moderne Finanzsystem
brauchte die Geburt von Computern und Internet. Nach meiner Ansicht
lässt sich das moderne Finanzsystem als Fortsetzung abstrakter Malerei
mit anderen Mitteln sehen, um einen Ausspruch von Carl von Clause-
witz abzuwandeln. Beide sprechen ein tiefes menschliches Bedürfnis an:
das Bedürfnis, Symbole zu verwenden, zu schaffen und mit ihnen zu
spielen. Leicht ironisch könnte man sagen, dass ein Gemälde von Jack-
son Pollock (wie Autumn Rhythm) das moderne Finanzsystem so gut dar-
stellt, wie man es sich nur vorstellen kann. Komplexe Derivate sind das
natürliche Resultat der kreativen Arbeit von »Finanzkünstlern«.
Der Schriftsteller Italo Calvino beschreibt, was in einer Welt passiert,
in der Symbole auf andere Symbole verweisen. Eine seiner Romanfigu-
ren sagt:
Sie wissen nicht, daß ich mein Finanzimperium nach genau dem Prinzip der
Kaleidoskope und katoptrischen Apparate12 aufgebaut habe, indem ich wie
auf einem Schachbrett kapitallose Gesellschaften multiplizierte, Kredite ins
Riesenhafte vergrößerte und katastrophale Passiva im toten Winkel täuschen-
der Perspektiven verschwinden ließ. Mein Geheimnis, das Geheimnis meiner
Tempo 133
ununterbrochenen finanziellen Erfolge in einer Zeit, die so viele Krisen, Bank-
rotts und Börsenkräche erlebte, ist immer dies gewesen: Ich dachte niemals
direkt an das Geld, an die Geschäfte und die Profite, sondern immer nur an
die Brechungswinkel zwischen unterschiedlich geneigten schimmernden Flä-
chen.13
Die unterschiedliche Geschwindigkeit, mit der wir Zeichen und Symbole
(oder aber die materielle Wirklichkeit, auf die sie verweisen) ändern kön-
nen, ist eine der wichtigsten Tempodifferenzen der modernen Welt. Im
Ergebnis haben wir Systeme, die mit Hypergeschwindigkeit laufen und
ein Maß an Komplexität schaffen, das wir – selbst diejenigen, die solche
Systeme zu regulieren versuchen – nicht ohne weiteres erfassen können.
Prüfen Sie anhand der Tempohülle, was Sie über eine bestimmte
Situation wissen und nicht wissen. Wenn Sie über eine bestimmte Zelle
kaum Informationen haben – vielleicht die Höchstgeschwindigkeit des
schnellsten Prozesses nicht kennen –, sind mit Ihren Plänen und Projek-
ten Risiken verbunden, die Sie nicht erkannt haben.
Dauer
Es ist wichtig, zu wissen, wie lange ein bestimmtes Tempo anhalten
kann. Das veranschaulicht eine amüsante Geschichte über einen alten
Wilderer und einen Wildhüter.
Der Wildhüter war hinter dem Wilderer her. Er hatte gehört, dass die-
ser sich vor Morgengrauen in die Wälder schlich, um Rotwild zu wildern.
Verärgert, dass er den Wilderer nicht auf frischer Tat ertappen konnte,
beschloss der Wildhüter, sich ab zwei Uhr morgens in den Büschen hin-
ter der Hütte des Burschen auf die Lauer zu legen. In Kälte und Dun-
kelheit wartete er auf ein Lebenszeichen, um dem Wilderer zu folgen
und ihn zu überführen. Gegen vier Uhr morgens ging tatsächlich in der
Hütte das Licht an, und der Wildhüter sah, dass sich dort etwas regte. Er
war zuversichtlich.
Dann trat der alte Wilderer aus der Hütte auf die hintere Terrasse
und rief in die Dunkelheit: »Wildhüter, es hat doch keinen Sinn, in den
134 Jetzt!
Büschen zu liegen und nass und kalt zu werden. Kommen Sie doch
herein und trinken Sie eine schöne Tasse Kaffee.«
Der Wildhüter merkte, dass seine Tarnung aufgeflogen war, stand auf
und ging in die Hütte, um sich aufzuwärmen. Einige Wochen später ver-
suchte er es erneut. Wieder schlich er sich um zwei Uhr nachts in eisiger
Kälte in die Büsche hinter der Hütte des Wilderers. Endlich ging dort ein
Licht an. Wieder gab es Anzeichen von Aktivität. Der Wilderer trat auf
seine Terrasse.
»He, Wildhüter«, brüllte er. »Holen Sie sich da draußen in den
Büschen bloß keine Erkältung. Kommen Sie herein, trinken Sie einen
Kaffee und wärmen Sie sich auf.« Äußerst verlegen ging der Wildhüter
hinein und trank mit dem alten Wilderer Kaffee.
So ging es eine geraume Weile, und dem Wildhüter gelang es nicht,
den Wilderer zu schnappen. Einige Zeit später hörte er, dass der Wilderer
nach einem schweren Herzinfarkt im Krankenhaus lag. Also besuchte
er ihn und bat ihn: »Eins müssen Sie mir sagen. Als ich in den Büschen
versteckt auf Sie wartete, woher wussten Sie, dass ich da war?« Der alte
Wilderer wandte ihm lächelnd den Kopf zu.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie da waren, mein Junge. Seit dreißig
Jahren bin ich jeden Morgen auf die Terrasse gegangen und habe immer
dasselbe gerufen.«14
Diese Geschichte lehrt uns, dass kontinuierliches Handeln eine Mög-
lichkeit ist, die mit der Dauer verbundenen Probleme zu lösen. So han-
delt man nie zu früh oder zu spät. Das kann allerdings kostspielig und
ermüdend sein. Wenn Sie über das Tempo Ihres eigenen Tuns entschei-
den, fragen Sie sich daher, was auf Dauer durchzuhalten ist. Der Wilde-
rer in der Geschichte fand ein Tempo, das er über lange Zeit beibehalten
konnte, und das sicherte ihm den Erfolg.
Richtung: Wohin die Reise geht
Geschwindigkeit zeigt an, wie schnell etwas passiert. Als physikalische
Größe beinhaltet sie zudem die Bewegungsrichtung. Häufig meinen
wir, effektives Handeln hänge von dem Wissen ab, wohin sich etwas ent-
Tempo 135
wickelt, also eigentlich davon, Bewegungsrichtung und Geschwindig-
keit zu kennen. In vielen Situationen ist die Richtung klar. Die meisten
Geheimnisse kommen letztlich ans Licht. Im Laufe der Zeit werden frag-
mentierte Industrien sich zusammenschließen, Blasen werden schließ-
lich platzen und so weiter. Aber manchmal spielt die Änderungsrichtung
keine Rolle: Es kommt nur auf die Geschwindigkeit an. Das gilt vor allem
für die Mode. Es ist unwichtig, ob Krawatten breiter oder schmaler oder
Röcke kürzer oder länger werden, so lange nur etwas Neues die Aufmerk-
samkeit der Kunden erregt. So überschwemmte Honda in den 1980er
Jahren den Markt innerhalb von 18 Monaten mit so vielen neuen Motor-
radmodellen, dass Motorraddesign zu einer Modefrage wurde. Der Kon-
kurrent Yamaha konnte da nicht mithalten.15 Das ist eine interessante
Strategie, die man sich merken sollte. Tatsächlich sind extrem hohe
Änderungsraten mit ein Grund, weshalb manche Branchen fortwährend
wachsen.
Objektiv oder subjektiv: den Unterschied kennen
Zwischen der tatsächlichen Geschwindigkeit, mit der etwas passiert, und
der wahrgenommenen Geschwindigkeit liegen Welten. So hat ein Jahr
immer 365 Tage, aber mit zunehmendem Alter scheint es immer schnel-
ler zu vergehen. Damit man nicht vergisst, diesen Unterschied zu berück-
sichtigen, verwende ich die Bezeichnungen O-Tempo (objektives Tempo)
und S-Tempo (subjektives Tempo). Kundenbeschwerden sind wahr-
scheinlich eher von dem subjektiven als dem objektiven Tempo getrie-
ben. Aber im Fall Apple führte der Unterschied zwischen objektivem und
subjektivem Tempo zu einer Innovation. Das Unternehmen fand etwas
Interessantes heraus: Wenn Kunden einen Fortschrittsbalken beobachten
konnten, hatten sie den Eindruck, der Computer arbeite schneller.16 Ganz
ähnlich zeigen Anzeigetafeln auf amerikanischen Highways während
der Stoßzeiten manchmal die Zeit an, die man bis zu einem bestimmten
Punkt braucht: 18 Minuten bis zur Route 280. Irgendwie ist das beruhi-
gend. Ohne solche Angaben würde das subjektive Empfinden, wir könn-
ten uns unendlich lange verspäten, zu Frustrationen führen.
136 Jetzt!
Bedeutung
Wie interpretieren verschiedene Beteiligte ein bestimmtes Tempo? Public-
Relations-Firmen raten Unternehmen, schlechte Nachrichten schnell zu
veröffentlichen. Andernfalls könnten Menschen vermuten, dass sie mit
noch Schlimmerem hinter dem Berg halten. Im Frühjahr 2008 musste
die amerikanische Investmentbank Bear Stearns bestimmte Positionen
abwickeln oder verkaufen. Zu schnelles Vorgehen hätte das Vertrauen
in die Bank erschüttert. Manche hätten befürchtet, dass es ihr an den
nötigen Reserven fehlte, und das hätte die Krise, die durch schnelles
Handeln verhindert werden sollte, nur beschleunigt. Diese Situation
kommt so häufig vor, dass ich ihr einen Namen gegeben habe: ein tempo-
reduzierendes Dilemma. Schnelles Handeln ist zwar notwendig, es erfolgt
aber nicht, weil Schnelligkeit negativ ausgelegt würde. Da in Krisenzei-
ten nahezu immer temporeduzierende Dilemmas auftreten, sollte jede
Risikobewertung sie in Betracht ziehen.
Menge
In jeder komplexen Situation sind gleichzeitig mehrere Geschwindig-
keiten im Spiel, und die Tempounterschiede können Probleme schaffen.
Daher ist es wichtig, auf vielfältige Geschwindigkeiten zu achten und zu
begreifen, welche Wechselwirkungen sie haben.
Denken wir an den Ersten Weltkrieg: Der Konflikt erwuchs teilweise
aus einem Versagen der Diplomatie. Damals konnten Diplomaten nicht
mit den Möglichkeiten elektronischer Kommunikation Schritt halten.
Die meisten Herren des diplomatischen Corps gehörten 1914 »der alten
Schule an … Sie verließen sich noch darauf, dass das ›Wort eines Ehren-
mannes‹ im persönlichen Gespräch die größte Wirkung erzielte«.17 Aber
das österreichische Ultimatum setzte eine Frist, die vor dem Zeitalter
von Telegrafie und Telefon völlig unvorstellbar war, und verlangte eine
so schnelle Antwort, dass sie in der eingeräumten Zeit ausgeschlossen
war.18 Hier trafen also unterschiedliche, unvereinbare Geschwindigkei-
ten aufeinander.
Tempo 137
Was vor hundert Jahren galt, trifft heute noch ebenso zu. Die
Geschwindigkeit moderner Kommunikation erfordert häufig, dass wir
schneller reagieren, als wir denken können. Der Niedergang reiner Inter-
netbanken in der Frühzeit des Dotcom-Booms ist ein einschlägiges Bei-
spiel. Die Zeitschrift Economist schrieb im Jahr 2000: »Kein Finanzbera-
ter, der auf sich hielt, reiste ohne Balkendiagramm, das belegte, dass die
Marginalkosten für Internetbanking-Transaktionen nur einen winzigen
Bruchteil der Kosten von Filialbanken ausmachten.«19 Das Argument
lautete, Direktbanken bräuchten weniger Beschäftigte und verursach-
ten nur einen Bruchteil der Kosten ihrer Konkurrenten mit Filialnetz.
Direktbanken müssten also ohne Zweifel gewinnen. Aber wir wissen,
was geschah. Sie scheiterten. Der Grund war die Differenz zwischen zwei
Geschwindigkeiten: Wie schnell wären Kunden bereit, dem Internet sen-
sible Finanzdaten anzuvertrauen, und wie schnell würden die Kosten der
Direktbanken steigen? Ersteres sollte lange dauern. Das Internet war und
ist ein gefährlicher Ort, anfällig für Viren, Systemausfälle und Hacker.
Aber während der Aufbau von Vertrauen ein langsamer Vorgang war,
galt das für andere Prozesse nicht. Um Marktanteile zu gewinnen, muss-
ten Direktbanken massiv Werbung betreiben und Kunden Zinssätze bie-
ten, die sich auf Dauer nicht halten ließen. Folglich stiegen die Kosten
schneller als die Umsätze.
Die Präsenz vielfacher Geschwindigkeiten ist ein Problem, das Balken-
diagramme häufig nicht erfassen, weil sie ebenso wie Tortendiagramme
statisch sind. Wie lange wir sie auch anstarren – ihre Bestandteile bewe-
gen sich doch nicht. Tortendiagramme sind wie Fast Food: Wir konsu-
mieren sie in einem visuellen Bissen. In einer Welt, in der Geschwindig-
keit und Zeit eine Rolle spielen, haben sie wohl wenig Nährwert.
Selbst jenseits von Kommunikation und Technologie sind Tempodif-
ferenzen verbreitet. Denken Sie zum Beispiel an Baseballschläger aus
Aluminium. Sie haben viele Vorteile: Sie sind billiger als Holzschläger,
brechen nicht und ermöglichen dem Schlagmann, den Ball weiter zu
schlagen. Und wenn ein Schlagmann den Sweetspot (den idealen Punkt
auf der Schlägerfläche) verpasst, versetzen sie seinen Händen keinen
so schmerzhaften Rückstoß wie die alten Holzschläger. Alles spricht
also anscheinend für Aluminiumschläger: interessantere Spiele, mehr
138 Jetzt!
Home Runs – was Fans gefällt – und geringere Kosten. Der Wechsel von
Holz zu Aluminium würde die Wettbewerbssituation der Spiele auch
nicht beeinträchtigen. Alle Teams würden gleichermaßen profitieren.
Wo liegt also das Problem? Vielleicht wissen Sie die Antwort ja schon.
Der Ball würde so schnell vom Schläger abprallen, dass der Werfer ihn
weder fangen noch ihm rechtzeitig ausweichen könnte (da die Ballge-
schwindigkeit seine Reaktionszeit überstiege). In der Folge käme es zu
Verletzungen, und das wäre ein besonders ärgerliches Problem für junge
Spieler, für die das Spiel immer noch ein Spiel sein soll.
Um Risiken dieser Art zu vermeiden, sollten Sie überlegen, welche
Tempodifferenzen auftreten, wenn Ihr Produkt tatsächlich in Gebrauch ist.
Temporisiken
Wenn Sie Änderungsraten nicht bemerken, kann das zu einer Vielzahl
von Timingfehlern führen. Weil Gedrucktes statisch ist, müssen wir uns
die Bewegung in Erinnerung rufen. Comiczeichner erreichen das mit
wenigen Strichen. Es gibt viele Gründe, warum wir Temporisiken über-
sehen, wie der folgende Abschnitt zeigt.
Normaltempo
Es ist ratsam, auf das Normaltempo (N-Tempo) von Systemen zu ach-
ten – egal, ob sie politischer, kultureller, wirtschaftlicher, finanzieller oder
rechtlicher Art sind. Andernfalls können zahlreiche Probleme auftauchen.
So erwarten Investoren zu jedem Quartalsende Performance-Berichte für
Anlagefonds. Diese Berichte können aber erst verschickt werden, nach-
dem die Compliance-Abteilung des Unternehmens sie gebilligt hat. Com-
pliance-Genehmigungen haben ein niedriges N-Tempo. Das müssen Fir-
men berücksichtigen, um branchenübliche Fristen einzuhalten.
In manchen Fällen gibt es in einer Branche oder einem Unternehmen
mehrere N-Tempi. So tendiert die Organisation der Erdöl exportierenden
Tempo 139
Länder (OPEC) dazu, die Erdölförderung zwar schnell zu reduzieren, um
die Preise zu stützen, sie aber nur langsam zu erhöhen, um Minderein-
nahmen zu vermeiden.20 Jeder, der sich für Ölpreise interessiert, sollte
über diese Asymmetrie Bescheid wissen.
Fragen Sie sich: Kenne ich das Normaltempo oder die verschiedenen Nor-
malgeschwindigkeiten eines bestimmten Systems?
Richtung
Achten Sie auf Situationen, in denen ein Tempo abnimmt, obwohl es
eigentlich zunehmen sollte, oder umgekehrt. Normalerweise denken
wir, eine steigende Nachfrage veranlasse Firmen, Mitarbeiter einzustel-
len, aber das ist nicht immer der Fall. Wenn die Produktivität schneller
steigt als das gesamtwirtschaftliche Wachstum (eine Tempodifferenz),
können Unternehmen eine steigende Nachfrage decken und gleichzeitig
Beschäftigte entlassen.21
Fragen Sie sich: Entwickelt sich das Tempo (die Änderungsrate oder der
Fortschritt) eines Systems in die Richtung, die ich erwarte?
Größe – die Tempohülle
Die Änderungsrate Ihrer Umgebung kann so schnell oder langsam sein,
dass Sie damit nicht zurechtkommen. So kann die Höchstgeschwindigkeit
des langsamsten Prozesses zu langsam sein. (Denken Sie an das Beispiel
des Ersten Weltkriegs: Die diplomatische Reaktion war zu langsam.) Umge-
kehrt kann der schnellste Prozess schneller sein, als wir dachten. Wenn
eine frühe Aktion Vorteile hat, ist mit einem Vorpreschen derjenigen zu
rechnen, die von Schnelligkeit profitieren können. Ein Beispiel: In Erwar-
tung eines Abkommens, das im März 2000 die Ölförderung erhöhen sollte,
»mogelten viele OPEC-Mitglieder und begannen schon früher, die Pro-
duktion zu steigern«, was die Ölpreise schneller als erwartet fallen ließ.22
Fragen Sie sich: Wenn ich mir die Zellen der Tempohülle genauer ansehe –
haben eine oder mehrere einen Wert, der für Systeme oder Prozesse, die für
140 Jetzt!
mich wichtig sind, problematisch ist? Fehlen mir über eine der Zellen Infor-
mationen?
Dauer
Wenn sich Fortschritte zu langsam einstellen, hat das Konsequenzen.
Dauert etwa die Wende in einem Unternehmen zu lange, müssen Mana-
ger um ihre Posten fürchten. Gerät eine Volkswirtschaft in eine Rezes-
sion, die nicht schnell genug endet, zahlen Politiker bei der nächsten
Wahl den Preis.
Fragen Sie sich: Wie lange hält ein bestimmtes Tempo (Änderungsrate,
Fortschritt usw.) an? Wann wird es sich ändern?
Objektives oder subjektives Tempo
Verschiedene Beteiligte können dasselbe Tempo unterschiedlich beurtei-
len. Aufgrund ihrer subjektiven Sicht können sie ein Tempo als schneller
oder langsamer wahrnehmen, als es ist. Folglich verhalten sie sich viel-
leicht auf eine Weise, die Sie nicht erwartet haben. Was eine Firma für
eine schnelle Reaktion auf eine Beschwerde hält, mag dem betroffenen
Kunden wie eine Ewigkeit erscheinen.
Fragen Sie sich: Wie nehmen verschiedene Beteiligte dieses Tempo wahr?
Wer wird zufrieden und wer enttäuscht sein und warum?
Bedeutung
Die Bedeutung eines Tempos lässt sich missverstehen. So könnten
Sie beispielsweise annehmen, man habe Ihr Angebot nicht ernsthaft
in Betracht gezogen, weil es umgehend abgelehnt wurde. Tatsächlich
handelte die andere Seite aber so schnell, weil sie bereits von einem
anderen Partner ein ähnliches Angebot erhalten und dieses abgelehnt
hatte.
Tempo 141
Fragen Sie sich: Was bedeutet das Tempo in einer bestimmten Situation
wirklich? Interpretiere ich es falsch?
Menge
Wie sich in diesem Kapitel durchgängig gezeigt hat, kann es eine Heraus-
forderung sein, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten (von Verände-
rung, Entwicklung, Fortschritt usw.) umzugehen. So stellten die USA im
Irakkrieg fest, dass sich Polizeikräfte nicht schnell genug ausbilden und
mobilisieren ließen, um das Machtvakuum zu füllen, das der schnelle
militärische Sieg über Saddam Hussein hinterlassen hatte.
Fragen Sie sich: Passieren gleichzeitig viele Dinge mit unterschiedlichem
Tempo? Welche Prozesse sind schneller oder langsamer als andere, und spielen
diese Tempounterschiede eine Rolle?
Tempooptionen und -chancen
Die Tempolinse lässt sich wie alle in diesem Buch beschriebenen
Timinglinsen tagtäglich nutzen, um Timingrisiken und -chancen in
Ihrer Umgebung zu erkennen.
Fragestellungen
Die Tempolinse kann Ihnen helfen, die richtigen Fragen zu stellen.
Wenn beispielsweise die Inflation zunimmt: wird es allmählich passie-
ren oder so schnell, als ob jemand bei den Preisen das Gaspedal bis zum
Boden durchträte? Die Tempolinse kann Ihnen auch bei der Planung
Ihrer Aktivitäten helfen. Wie schnell sollten Sie ein neues Produkt auf
den Markt bringen oder eine Technologie übernehmen? In Branchen, in
denen es vor allem auf Innovationen ankommt, ist eine schnelle Markt-
einführung selbstverständlich von größter Bedeutung. Es wird auch
142 Jetzt!
immer wichtiger, dass Unternehmen neue Ideen frühzeitig an Kunden
testen und solche Tests bald wiederholen, statt Pläne so lange geheim zu
halten, bis ein Produkt oder eine Dienstleistung vollständig entwickelt
ist. Langsames Vorgehen kann aber ebenfalls eine Chance darstellen.
In manchen Branchen wie Luxus- oder Wellnesshotels ist individuelle,
persönliche Betreuung wertvoller als schnelles Reagieren. Es lassen
sich auch Produkte entwickeln, die eine im Grunde langsame Aktivität
fördern. So erkannte der österreichische Glashersteller Claus J. Riedel
als einer der Ersten, dass Bouquet, Geschmack, Ausgewogenheit und
Abgang von Weinen von der Glasform beeinflusst werden, aus der man
sie trinkt.23 Indem Riedel die Glasform änderte, machte er die langsame
Abfolge von Handlungen und Sinneseindrücken beim Weintrinken zu
einem noch größeren Genuss.
Es gibt viele Möglichkeiten, Tempofragen für die eigene Arbeit zu nut-
zen. Einige Beispiele:
• Offenlegung: Soll ich andere wissen lassen, wie schnell ich vorgehe, oder
wäre es besser, es zu kaschieren oder geheim zu halten?
• Intervall: Wäre es besser, ein bestimmtes Tempo länger oder kürzer bei-
zubehalten?
• Bedeutung: Wie interpretieren andere die Geschwindigkeit meiner
Arbeit oder Tätigkeit? Kann ich beeinflussen, was sie denken?
• Grenzen – die Tempohülle: Welches sind die schnellsten und langsams-
ten Komponenten meiner Arbeit, und welche Tempogrenzen haben
sie jeweils? Soll ich den langsamsten Prozess durch einen anderen
ersetzen, der sich schneller erledigen lässt, oder soll ich ein anderes
Vorgehen wählen?
Problemlösung
Die Tempolinse kann die Aufmerksamkeit auf Geschwindigkeitsunter-
schiede lenken, durch die sich Probleme lösen lassen. An einem Früh-
lingsmorgen beobachtete ich einen Bulldozer, der eine große Betonplatte
anzuheben versuchte. Die Platte lag flach auf dem weichen Boden. Jedes
Tempo 143
Mal, wenn der Raupenführer die Schaufel vollständig unter die Platte
zu schieben versuchte, um sie anzuheben, rückte er sie nur ein Stück
weiter weg. Schließlich löste er das Problem: Er schob die Schaufel unter
die Vorderkante der Platte, fuhr stückchenweise vor, richtete die Platte
hochkant auf, sodass sie sich in die weiche Erde grub und nicht mehr
nach vorn rutschen konnte. Als sie nahezu senkrecht stand, senkte der
Raupenführer die Schaufel ab. Die Platte zögerte, schwankte und fiel
genau in die wartende Schaufel. Dieses Manöver funktionierte wegen
einer Tempodifferenz: Der Raupenführer konnte die Schaufel schneller
absenken, als die Betonplatte fallen konnte.
Dieses Beispiel führe ich nicht etwa an, weil die meisten von uns auf
Baustellen arbeiten, sondern weil Lösungen, die auf Tempodifferenzen
basieren, Teil unseres Alltags sind. Aber weil sie oft unbemerkt bleiben,
fließen sie nicht in unseren begrifflichen Werkzeugkasten ein. Um sie
nutzbar zu machen, müssen wir sie kennen und erkennen, damit wir sie
bei Bedarf zur Hand haben.
Zeitfantasie
Rodins Skulpturen haben unter anderem etwas Dynamisches, weil er
verschiedene Körperteile in Positionen brachte, die sie gar nicht gleich-
zeitig einnehmen können. So vermittelte er den Eindruck von Bewegung,
da wir uns bemühen, diese Widersprüche zu versöhnen. Er schuf einen
subjektiven Eindruck von Bewegung (S-Tempo) bei einem Gegenstand,
der sich gar nicht bewegt (O-Tempo).
Was die Bewegung vermittelt, sagt Rodin, ist ein Bild, wo die Arme, die Beine,
der Rumpf und der Kopf je zu einem anderen Zeitpunkt erfaßt sind, das also
den Körper in einer Haltung darstellt, die er zu keinem Zeitpunkt eingenom-
men hat, und seinen Teilen fiktive Verbindungen aufzwingt, als wenn allein
dieses Zusammentreffen von Unzusammengehörigem in der Bronze und auf
Leinwand den Übergang und die Dauer hervorbringen könnte.24
144 Jetzt!
Tempo: im Überblick
Tempomerkmale
• Normaltempo (N-Tempo): Sie sollten die üblichen oder erwarteten Ände-
rungsraten für Prozesse kennen, die für Sie wichtig sind.
• Größe – die Tempohülle: Stellen Sie die schnellste und die langsamste
Änderungsrate in Situationen fest, die Sie leiten oder managen, und
machen Sie sich die Auswirkungen ihrer Grenzen klar.
• Dauer: Bedenken Sie, wie lange ein bestimmtes Tempo anhält und ob
es sich auf Dauer durchhalten lässt.
• Objektiv oder subjektiv: Machen Sie sich den Unterschied zwischen der
realen Änderungsrate und ihrer Wahrnehmung bewusst.
• Bedeutung: Seien Sie sich darüber im Klaren, wie unterschiedliche
Beteiligte dasselbe Tempo interpretieren.
• Menge: Achten Sie auf verschiedene Geschwindigkeiten oder Ände-
rungsraten und ihre Wechselwirkungen.
Risiken durch das Übersehen oder Missverstehen des Tempos
• Normaltempo: Wir ziehen das Normaltempo eines Systems nicht in
Betracht. (Beispiel: Wir wissen, dass ein bestimmter Genehmigungs-
prozess langsam ist, planen aber nicht genügend Zeit dafür ein und
können deshalb einen Termin nicht einhalten.)
• Richtung: Wir gehen davon aus, dass verschiedene Geschwindigkeiten
dieselbe Richtung haben, während sie sich in Wirklichkeit in unter-
schiedliche Richtungen bewegen oder keinerlei Einfluss aufeinander
haben. (Beispiel: Wir erwarten, dass steigende Nachfrage die Arbeits-
losigkeit reduziert, aber wenn die Produktivität schneller steigt, als die
Gesamtwirtschaft wächst, können Unternehmen die Nachfrage ohne
Neueinstellungen decken.)
• Die Tempohülle: Die Änderungsrate in Ihrem Umfeld kann so extrem
Tempo 145
schnell oder langsam sein, dass Sie damit nicht zurechtkommen.
(Beispiel: In der rasend schnellen Technologie- und Telekommuni-
kationsbranche haben selbst Unternehmen, die ein hektisches Tempo
gewöhnt sind, Schwierigkeiten, Schritt zu halten.)
• Dauer: Wenn ein Tempo unerwartet anhält oder nachlässt, trifft es uns
unvorbereitet. (Beispiel: Ein Firmenchef sieht nicht voraus, dass es meh-
rere Quartale in Folge zu einem stagnierenden Wachstum kommt.)
• Objektives und subjektives Tempo: Wenn wir außer Acht lassen, wie unter-
schiedlich Beteiligte dasselbe Tempo wahrnehmen, kann das nega-
tive Folgen haben. (Beispiel: Was ein Unternehmen für eine schnelle
Antwort auf eine Beschwerde hält, kann dem betroffenen Kunden wie
eine Ewigkeit erscheinen.)
• Menge: Mit verschiedenen Geschwindigkeiten (bei Veränderung, Ent-
wicklung, Fortschritt usw.) umzugehen kann problematisch werden,
wenn es zu Überschneidungen kommt. (Beispiel: Im Irakkrieg konn-
ten nicht schnell genug Polizeikräfte ausgebildet und mobilisiert wer-
den, um das Machtvakuum zu füllen, das die schnelle militärische
Niederlage Saddam Husseins hinterlassen hatte.)
Tempo und Änderungsrate zu kennen eröffnet auch Optionen und Chancen
• Fragestellungen: Vergessen Sie nicht, Tempofragen zu stellen. (Beispiel:
Wenn die Inflation steigt, wird sie es allmählich tun oder nahezu über
Nacht in die Höhe schnellen? Welche Auswirkung hat das auf mein
Unternehmen?)
• Produkte und Dienstleistungen optimieren: Berücksichtigen Sie bei Design
und Prozessinnovationen das Tempo! (Beispiel: Riedel entwarf Gläser,
die den langsamen Sequenzen und Empfindungen beim Weintrinken
entsprechen.)
• Problemlösung: Tempomanagement kann auf vielfältige Weise Pro-
bleme lösen. (Denken Sie an das Bulldozerbeispiel: Der Raupenfahrer
konnte die Schaufel schneller absenken, als die Betonplatte fiel.)
146 Jetzt!
5
Form
Erfolg ist selten eine gerade Linie.
Tom Perkins1
Zu Beginn des Kapitels über das Thema Form möchte ich Sie zu einem
kleinen Strandspaziergang mit dem Bildhauer Henry Moore einladen.
Ich habe die Zeit gestoppt: Er dauert nicht einmal eine Minute.
Manchmal war ich [H. Moore] mehrere Jahre in Folge am selben Küstenab-
schnitt – aber jedes Jahr fiel mir eine neue Kieselform ins Auge, die ich im Jahr
zuvor nie gesehen hatte, obwohl sie zu Hunderten da war. (…) der sensible
Betrachter von Skulpturen muss (…) lernen, Form einfach als Form zu emp-
finden, nicht als Beschreibung oder Reminiszenz. Er muss beispielsweise ein
Ei als einfache einzelne feste Form wahrnehmen, ganz abgesehen von seiner
Bedeutung als Nahrungsmittel oder von der literarischen Vorstellung, dass
daraus ein Vogel wird. Das Gleiche gilt für Festkörper wie eine Muschel, eine
Nuss, eine Pflaume, einen Pfirsich, eine Kaulquappe, einen Pilz, einen Berg,
eine Niere, eine Möhre, einen Baumstamm, einen Vogel, eine Knospe, eine
Lerche, einen Marienkäfer, einen Rohrkolben, einen Knochen. Von da aus kann
er zur Wahrnehmung komplexerer Formen oder Kombinationen mehrerer For-
men übergehen.2
Moore ging es in diesen Äußerungen um physische, also sichtbare For-
men. Mir geht es in diesem Kapitel um zeitliche Formen – um die ver-
schiedenen Kurven, die den zeitlichen Verlauf eines Ereignisses oder
Prozesses beschreiben. Die meisten von uns denken überwiegend an
Inhalte: die Bedürfnisse der Kunden, die Auswirkungen einer neuen
Technologie, das Abschneiden unseres Produkts oder unserer Dienst-
leistung im Vergleich zu denen eines Konkurrenten und so weiter. In
Form 147
diesem Kapitel möchte ich, dass Sie den Blick eines Künstlers üben und
lernen, wie Sie die zeitliche Form einer Aktivität oder eines Prozesses,
abgesehen vom Inhalt, wahrnehmen – so, wie Moore die Form eines Eis
abgesehen von seinem Nutzen als Nahrungsmittel oder als Symbol stu-
dierte.
Die zeitliche Verlaufsform eines Prozesses zu erkennen ist bei
Timing ent scheidungen aus verschiedenen Gründen wichtig. Erstens
fließt die Form unmittelbar in viele Timingentscheidungen ein. Ohne
darüber nachzudenken, wird die Form ein Teil unserer Faustregeln:
»Buy low, sell high« (zu niedrigen Preisen kaufen, zu hohen Preisen
verkaufen) ist ein gängiges Beispiel für eine Regel, die die Form ein-
bezieht. Ebenso hängt die Entscheidung, wann Sie Geld für Werbung
ausgeben sollten, davon ab, ob der Umsatz zu bestimmten Jahreszei-
ten einen Höhepunkt erreicht oder von Monat zu Monat relativ gleich
bleibt. In beiden Fällen ist die Form Auslöser einer Entscheidung oder
Handlung. Zweitens liefert die Form wichtige Hinweise zum Timing.
Ein Beispiel ist der Kreis oder Zyklus. Nehmen wir an, Sie hätten 2010
voraussagen sollen, wann der US-Kampfeinsatz in Afghanistan been-
det wird. In Ihre Vorhersage hätten Sie das Datum der US-Kongress-
und Präsidentschaftswahl einbezogen, also den Zeitpunkt im Wahl-
zyklus, zu dem Politiker ihre Entscheidungen rechtfertigen müssen.
Sie hätten aber noch einen weiteren Zyklus zugrunde gelegt: nämlich
die Dauer des Auslandseinsatzes eines Soldaten und die Zahl der Aus-
landseinsätze, die die Streitkräfte von ihren Soldaten verlangen dür-
fen, ohne ihre allgemeine Leistungsfähigkeit zu schwächen. Drittens
erinnern uns Formen daran, dass das Timing wichtig ist. Wenn etwas
zu schnell steigt, wissen wir, dass es wieder fallen wird. Wenn sich
eine Blase bildet, rechnen wir mit ihrem Platzen. Wir wissen nur nicht,
wann es passieren wird. Die Blasenform erinnert uns daran, dass wir
die Entwicklung im Auge behalten und das Timing berücksichtigen
sollten.
Die zeitliche Welt ist wie die räumliche Welt voller Formen. Manche
warnen uns vor Risiken, andere weisen auf Chancen hin. Da die beste
Möglichkeit, zeitliche Formen zu erkennen, darin besteht, sie zu zeich-
nen, verwende ich die Begriffe Form und Kurve austauschbar.
148 Jetzt!
Eine kurze Übersicht über Formen
Um die Form für Timingentscheidungen zu nutzen, sollten wir wie bei
allen Timingelementen zunächst wissen, wonach wir suchen müssen.
Der Blick für Formen lässt sich am besten schulen, indem wir einige
Formen untersuchen, auf die wir häufig stoßen. Wir konzentrieren uns
auf fünf Hauptformen:
1. Punkt: das Fehlen einer Form (ein einzelner Zeitpunkt).
2. Linie: die direkte Verbindung zwischen zwei oder mehr Zeitpunkten.
Gerade, ununterbrochene Linie: Wenn Sie zeichnen, wie sich ein Pro-
zess im Laufe der Zeit verändert, und feststellen, dass es keine Ände-
rung gibt, ist das Ergebnis eine gerade Linie.
Durchbrochene Linie: Manchmal teilen wir eine ansonsten kontinuier-
liche (Zeit-)Linie in Intervalle, etwa Wochen in Tage.
3. Kurve: eine Linie, die im Laufe der Zeit ihre Steigung oder Richtung
ändert.
Beschleunigungs- und Verzögerungskurven: Kurven, die ihre Steigung
bei gleich bleibender Richtung ändern wie die Geschwindigkeit Ihres
Wagens, wenn Sie das Gaspedal durchdrücken oder auf die Bremse
treten.
Bogen: Eine Form wie ein Regenbogen oder die Kuppe eines sanft
geschwungenen Hügels.
S-Kurve: eine Kurve, die sanft ansteigt, einen Höhepunkt erreicht und
wieder abschwingt.
4. Zyklus: ein Zeitintervall, in dem sich Ereignisse periodisch wiederho-
len, dargestellt durch Kurven, die auf- und absteigen, auf- und abstei-
gen.
5. Helix: eine Korkenzieherform oder Spirale wie bei einer Sprungfeder
oder einer Wendeltreppe.
6. Tandemisierende Form: eine Form mit zwei Kurven, die zunächst in ent-
gegengesetzte Richtung laufen, bis eine ihre Richtung umkehrt und
parallel zur anderen verläuft.
Form 149
Punkt
Auch wenn der Punkt selbst keine Form hat, kann er Ausgangspunkt für
diverse Formen sein. Abbildung 5.1 veranschaulicht eine Form, die ich
als Punkt und Fächer bezeichne.
Abb. 5.1: Punkt und Fächer
Zum Zeitpunkt 1 ganz links im Diagramm stehen Sie vor mehreren
Alternativen. Sie entscheiden sich für eine, die wiederum zu weiteren
Möglichkeiten führt. Zum Zeitpunkt 2 wählen Sie erneut eine der vor-
handenen Alternativen. Das wiederholt sich in jedem folgenden Zeit-
raum. Mit der Zeit nimmt das Diagramm eine Fächerform an. Die
Gleichung, die diesen Prozess beschreibt, ist eine Exponentialfunktion,
die sich schnell beschleunigt. Da eine Wahl nur bei unterschiedlichen
Alternativen wichtig ist, lässt sich schwer abschätzen, wie die Welt und
die verfügbaren Alternativen nach drei oder vier Zeitperioden aussehen.
Das gilt besonders, weil andere ebenfalls ihre Entscheidungen treffen,
die sich auf Ihre verfügbaren Alternativen auswirken können. Das ist
Zeit
150 Jetzt!
einer der Gründe, weshalb wir über die ferne Zukunft nicht nachden-
ken. Das kann jedoch bewirken, dass wir vorhersehbare Risiken über-
sehen.
Nehmen wir beispielsweise an, dass die Babyboomer (in den Ver-
einigten Staaten die zwischen 1945 und 1965 Geborenen) in 15 Jahren
ihr Geld vollständig in Aktien angelegt haben, unter anderem, um
sich gegen die wachsende Inflation abzusichern. Nehmen wir weiter
an, dass die Aktienkurse einbrechen. Dann werden Babyboomer und
andere in Scharen aus dem Aktienmarkt aussteigen – und zwar, weil
sie müssen: Sie fürchten, nicht mehr lange genug zu leben, um an der
Erholung der Kurse teilzuhaben. Ihr Exodus wird die Kurse noch weiter
fallen lassen und so in einen Teufelskreis führen. Ein Grund, dass der
Markt dieses Risiko nicht einpreist, ist nach meiner Vermutung, dass
kein Zeitpunkt dafür geeignet erscheint. Dem Problem fehlt also eine
Timinglösung.
Dieses Beispiel hat wichtige praktische Folgen: Gehen Sie nicht davon
aus, dass die ferne Zukunft zwangsläufig weniger absehbar ist als die
unmittelbare Zukunft. Wir haben einen tief verwurzelten Glauben an
die Macht der Entscheidungen, unsere Zukunft zu formen, der zu der
Fächerform des Diagramms führt. Das erweckt den Eindruck, die ferne
Zukunft sei immer ungewisser als die unmittelbare Zukunft. Das muss
aber keineswegs so sein. Wir müssen nur genauer hinsehen und uns
dabei diese Ironie klarmachen: dass die Wahlfreiheit – das Instrument,
das wir einsetzen, um unsere Zukunft zu steuern – uns das Gefühl ver-
mittelt, wir könnten unmöglich wissen, wo wir enden werden.
Punkte setzen sich zu unendlich vielen Formen zusammen. Schauen
wir uns einige weitere an.
Linie
Ich möchte hier näher auf zwei Arten von Linien eingehen: auf gerade,
ununterbrochene Linien und auf durchbrochene Linien.
Form 151
Gerade
Geraden gefallen uns, weil sie eben geradlinig und somit vorhersehbar
sind. Wir bekommen genau das, was wir sehen: keine Überraschungen,
keine Abweichungen, keine scharfen Kehren. Aber ist eine völlig gerade
Linie wirklich immer etwas Gutes?
Manchmal erleben wir Bestrebungen, Variationen gänzlich aus-
zuschließen. Ein Beispiel sind Programme zur Qualitätskontrolle.
Variationen zu reduzieren kann Kosten senken und die Qualität verbes-
sern, birgt aber auch Gefahren. So wurde es in den 1980er Jahren tech-
nisch möglich, die Aufmerksamkeit und das Interesse von Menschen
anhand ihrer Pupillen zu messen. Geweitete Pupillen zeigen Interesse
an, verengte Pupillen Desinteresse. Marktforscher erfassten nun die
Pupillengröße von Fernsehzuschauern, während diese sich Pilotsendun-
gen ansahen, und rieten den Verantwortlichen beim Fernsehen, die Pas-
sagen der Sendungen herauszuschneiden, in denen das Interesse nach-
ließ. Aber wenn sie die emotionale Spannung durchgängig hoch hielten,
scheiterten die Pilotsendungen kläglich, wie Jagdish Sheth, ein Marke-
tingprofessor an der Emory University, erklärte.4
Das sollte uns nicht überraschen. Wenn ein Herzmonitor eine gerade
Linie zeigt, ist das Leben vorbei. Die meisten menschlichen Aktivitäten
verlangen ein gewisses Maß an Variabilität. Untersucht man das Spiel
guter Musiker quantitativ, kann man häufig feststellen, dass sie nicht
synchron zum Metronom spielen. Gewöhnlich holen sie die Verzöge-
rung innerhalb von einem oder zwei Takten auf. Würden sie aber stän-
dig genau das vorgegebene Tempo einhalten, klänge es langweilig und
uninteressant.
Wenn eine Performance Variationen braucht, um lebendig zu sein,
so wirkt deren Fehlen künstlich oder falsch. Der MIT-Professor Andre
Lo suchte 2005 nach Warnzeichen für die Krisenanfälligkeit von
Hedge-Fonds. Er stellte fest, dass viele »Hedge-Fonds Renditen ver-
buchten, die zu gleichmäßig waren, um realistisch zu sein«. Als er
nachhakte, fand er heraus, dass Fonds mit schwer einzuschätzenden
illiquiden Investments – wie Immobilien oder ausgefallenen Zins-
swaps – besonders gleichmäßige Renditen aufwiesen. In diesen Fäl-
152 Jetzt!
len – so seine Einschätzung – war es wohl so, dass die Manager keine
Möglichkeit hatten, Schwankungen zu messen, und daher einfach von
einem stetig steigenden Wert ausgingen. Leider können gerade solche
Investitionen in einer Krise hohe Verluste erleiden. Lo kam zu dem
Schluss: »Die Gleichmäßigkeit von Renditen zu messen bietet Ökono-
men eine gute Möglichkeit, den Anteil relativ illiquider Investitionen
in der Hedge-Fonds-Welt abzuschätzen […], ohne Einzelheiten über die
Investitionen zu kennen.«5
Lo fand also heraus, dass Geraden ebenso informativ sein können wie
Kurven, wenn man sich nur die Zeit nimmt, zu erkennen, was sie tat-
sächlich bedeuten. Dieses Prinzip gilt ebenso für andere Formen.
Durchbrochene Linien, dynamische Abschnitte
Gemeinhin gliedern wir die Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft. Wenn wir diese Gliederung auf einer Zeitschiene anordnen,
sieht diese Linie so aus:
Zumindest in den englisch- und deutschsprachigen Kulturen stehen die
vergangenen Ereignisse gemeinhin auf der linken und die zukünftigen
Ereignisse auf der rechten Seite. Diese Dreiteilung der Zeit ist wich-
tig, weil die wirksamsten Timingregeln, nach denen wir entscheiden,
wann zu handeln ist, Tripel sind (siehe Tabelle 5.1). Zellen mit einem Ja
bezeichnen Zeitfenster, in denen sich Chancen eröffnen und Handeln
Erfolg verspricht, ein Nein steht für Fenster, die keine Chancen bieten
und Handeln unmöglich oder nicht ratsam machen.
Vergangenheit Gegenwart Zukunft
Form 153
Tabelle 5.1: Timingtripel
Wann ist die richtige Zeit, zu handeln?
Vergangenheit Gegenwart Zukunft Timingregel/Folgerung
Nein Nein Nein Vergessen Sie’s! Kein Zeit-
punkt ist richtig.
Ja Ja Ja Der Zeitpunkt ist gleichgültig.
Jede Zeit ist geeignet.
Ja Nein Nein Schade. Es ist zu spät.
Nein Nein Ja Noch nicht, aber die richtige
Zeit wird kommen.
Nein Ja Nein Handeln Sie jetzt! Chancen
sind flüchtig!
Ja Nein Ja Sie bekommen eine zweite
Chance.
Ja Ja Nein Beeilen Sie sich! Handeln Sie
sofort, bevor es zu spät ist.
Nein Ja Ja Endlich ist es so weit, aber
keine Sorge, es besteht kein
Grund zur Eile.
Wie die Tabelle veranschaulicht, hängen Timingentscheidungen davon
ab, was in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft möglich ist oder für
möglich gehalten wird. Wenn Sie die mit Timingentscheidungen ver-
bundenen Gefühle begreifen wollen, müssen Sie alle drei Zeiträume
berücksichtigen. Vergleichen Sie beispielsweise die farbig unterlegten
Zeilen 5 (Nein – Ja – Nein) und 7 (Nein – Ja – Nein). Beide führen zu
der gleichen Entscheidung: sofort handeln. Es gibt jedoch einen Unter-
schied. In Zeile 5 ist es Ihre erste und einzige Chance. In der Vergan-
genheit war Ihr Vorhaben unmöglich durchzuführen, und es wird in
Zukunft nicht mehr möglich sein. Handeln Sie sofort. In Zeile 7 ist
es Ihre letzte Chance, eine Gelegenheit zu nutzen, die schon immer
bestand. Die Entscheidung ist dieselbe: Nutzen Sie den Augenblick.
154 Jetzt!
Aber je nach Zeittripel, das die Entscheidung bestimmt, fühlen wir
uns dabei anders.
Kurven
Im Folgenden möchte ich auf drei Kurvenarten näher eingehen: auf Kurven,
die sich beschleunigen oder verzögern, auf eine Sonderform, die ich den
dramatischen Spannungsbogen nenne, und auf die bekannten S-Kurven.
Beschleunigungs- und Verzögerungskurven
Wenn Sie die Verlaufsformen aller Ereignisse und Prozesse grafisch dar-
stellen, die für Ihre Organisation wichtig sind, werden Sie nur wenige
gerade Linien finden. Meist beschreibt ihr Verlauf eine Kurve. Eine der
wichtigsten Kurven, auf die es zu achten gilt, beginnt langsam und
beschleunigt oder verzögert sich dann rapide. Ein typisches Beispiel ist
die »Exponentialfunktion«. Sie »fängt nahezu unmerklich an und explo-
diert dann mit unerwarteter Heftigkeit«, wie der Erfinder und Futurist
Ray Kurzweil sagt.6
Es gibt viele Beispiele für Exponentialfunktionen. Das Moore’sche
Gesetz ist wohl das berühmteste: Die Zahl der Transistoren in einem
integrierten Schaltkreis verdoppelt sich alle zwei Jahre – ein Trend, der
anhält, seit Gordon Moore ihn 1965 erstmals feststellte. Es gibt jedoch
noch zahlreiche weitere Exponentialfunktionen. Ende der 1990er Jahre
wuchs das Risikokapital für Internet-Start-ups exponentiell an: Auf einen
langsamen Beginn folgte ein schwindelerregender Anstieg. Ein weiteres
dramatisches Beispiel ist George Soros’ Erklärung für die Hypotheken-
und Kreditkrise 2008 durch das exponentielle Wachstum des Marktes
für Kreditausfallversicherungen (Credit Default Swaps, CDS). Laut Soros
passierte Folgendes (den letzten Teil seines Zitats habe ich hervorgeho-
ben, weil er so außergewöhnlich ist):
In den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende setzte der Vormarsch der
Hedge-Fonds ein. Auf Kredite spezialisierte Hedge-Fonds agierten im Endef-
Form 155
fekt als Versicherer ohne Lizenz und kassierten Prämien auf die CDOs [Colla-
teralized Debt Obligations] und sonstigen Wertpapiere, die sie versicherten.
Der Wert der Versicherung war oft zweifelhaft, da Verträge abgetreten werden
konnten, ohne die Vertragspartner zu informieren. Der Markt wuchs exponen-
tiell, bis er nominal alle anderen Märkte überholt hatte. Der Nennwert der aus-
stehenden CDS wird derzeit auf 42,6 Billionen Dollar geschätzt. Zum Vergleich:
Dies entspricht fast dem gesamten Vermögen der US-Privathaushalte. Die Kapi-
talisierung des US-Aktienmarktes beträgt hingegen 18,5 Billionen Dollar, die des
Marktes für US-Schatzpapiere nur 4,5 Billionen Dollar.7
Das alles wirft eine Frage auf: Achtet in Ihrem Unternehmen jemand
auf Exponentialfunktionen und ihre Entstehungsmechanismen wie
Beschleunigungskurven und Teufelskreise? Wenn nicht, dann fallen sol-
che Formen sehr wahrscheinlich durch das Raster und Sie werden von
»unvermittelten« Risiken überrascht oder stehen kurzlebigen Chancen
unvorbereitet gegenüber.
Der dramatische Spannungsbogen
In den meisten Fällen tritt ein Höhepunkt nicht in der Mitte eines
Ereignisses ein, sondern gegen Ende.8 Niemand, der einen Roman
liest oder einen Film ansieht, möchte, dass der Höhepunkt in der Mitte
kommt und die restliche Geschichte sich endlos hinzieht. Andererseits
möchten wir auch nicht, dass es im letzten Moment zum Höhepunkt
kommt. Peng. Vorbei. Wir wollen den Höhepunkt gegen Ende haben,
aber nicht ganz am Ende. Es ist alles eine Frage des Timings. Diese
asymmetrische Positionierung des Höhepunkts nenne ich den drama-
tischen Spannungsbogen (siehe Abbildung 5.2). Diese Form ist häufig bei
zielorientierten Prozessen zu finden. Die Spannung steigt bis zu einer
Spitze, wenn man sich dem Ziel nähert, und fällt wieder ab, sobald das
Ziel erreicht ist.
156 Jetzt!
Abb. 5.2: Der dramatische Spannungsbogen
Der dramatische Spannungsbogen mag uns weit von einer wirtschaft-
lichen oder praktischen Anwendung entfernt erscheinen, aber das ist
er nicht. Er kommt bei allen Prozessen ins Spiel, bei denen Spannung
aufgebaut und aufgelöst wird, etwa wenn wir eine Neuerwerbung ver-
künden oder planen, das Unternehmen zu verlassen. Präsident Bushs
Surge-Strategie im Irakkrieg ist ein Beispiel für einen dramatischen
Spannungsbogen. Vom Timing her erfolgt dieser massierte Einsatz von
Bodentruppen nach der Mitte des Krieges. Ähnlich wie ein Sprint am
Ende eines Rennens signalisiert die Surge-Strategie nicht nur ein Ende,
sondern macht es geradezu unausweichlich. Der Ressourcenverbrauch
wäre in diesem Tempo nicht auf Dauer aufrechtzuerhalten. Sie ermög-
licht es denen, die ein Ende rechtfertigen müssen, zu erklären: »Wir
haben alles in unserer Macht Stehende getan.«
Wenn Sie ein Projekt, eine Investition oder eine sonstige Aktivität
beenden müssen, aber möchten, dass dieser Vorgang gut aufgenommen
wird, nutzen Sie den dramatischen Spannungsbogen. (Außer natürlich
in einer Notlage: Dann ziehen Sie einfach den Stecker.) Der dramatische
Spannungsbogen entspricht unserem Sinn für Ästhetik: Er fühlt sich
richtig an. Wenn Sie merken, dass sich ein solcher Spannungsbogen bil-
det, wissen Sie, dass sich ein Ende – oder zumindest der Versuch eines
Endes – anbahnt.
S-Kurven
Eine weitere sehr verbreitete Form ist die S-Kurve. Wenn Sie sich in Ihrer
Umgebung umsehen und in die Zukunft schauen, werden Sie sie sicher
entdecken.
Zeit
Form 157
Technologien erleben häufig eine Frühphase schnellen Wachstums,
eine leichte Abschwächung und einen stetigen Anstieg bis zum Sätti-
gungsgrad. Allerdings sollte ich hinzufügen, dass es lange dauern kann,
bis diese Sättigung erreicht ist. Im Fall des Fernsehens, das »von allen
Medien die kürzeste Spanne zwischen early adopters und allgemeiner
Marktdurchdringung« hatte,9 dauerte es nahezu 50 Jahre, bis jeder Haus-
halt ein Gerät besaß. S-Kurven sind vorhersehbar, wenn Sie die Mecha-
nismen kennen, die sie hervorbringen. Nehmen wir beispielsweise die
Geschwindigkeit, mit der Faxgeräte angenommen wurden. Als sie neu
auf den Markt kamen, schafften sich nur wenige eine frühe Version an.
Die meisten warteten ab. Ein Faxgerät war sinnlos, wenn andere nicht
ebenfalls eines hatten. Ab einem gewissen Punkt war es sinnvoll, ein
Faxgerät zu besitzen, weil es nun genügend andere gab, mit denen es
kommunizieren konnte.
S-Kurven besitzen charakteristische Merkmale. Anfangs scheint
nichts zu passieren. Sobald aber der Anstieg beginnt, stellt sich die Frage:
Wie schnell wird er sich beschleunigen? Forscher wie der verstorbene Sozio-
loge Everett Rogers, der den Begriff »early adopter« (frühe Nutzer) ein-
führte, machten einige Faktoren aus, die eine Beschleunigung der Kurve
erklären. Dazu gehören: die Vorzüge, die ein Produkt im Vergleich zu
anderen besitzt, seine Kompatibilität mit vorhandenen Produkten, die
Möglichkeit, dass Kunden es vor dem Kauf ausprobieren können, und
die Frage, ob seine Vorzüge auf Anhieb klar werden. Eine solche Liste
ist zwar nützlich, stellt aber nur einen Ausgangspunkt dar. Jeder Fak-
tor besitzt seinen eigenen Zeitverlauf. So fragt sich beim Vorzug eines
Produkts, wann Kunden ihn bemerken werden – sofort oder erst nach
einer gewissen Zeit? Wann wird das Produkt als kompatibel oder nicht
kompatibel mit anderen eingestuft – sofort, nach einer Probezeit oder
nach einer anderen Zeitspanne? Der Timingvorteil ist also erst bei ein-
gehender Betrachtung der Faktoren zu erkennen, die der S-Kurve ihre
Form verleihen. Das nächste Mal, wenn jemand in einer Präsentation
eine S-Kurve zeigt, sollten Sie den Betreffenden bitten, die Form der
zugrunde liegenden Kurven zu skizzieren, aus denen sie hervorgeht.
Anhand von S-Kurven lässt sich gut die Entwicklung von Inno-
vationen nachzeichnen, die ihren Weg gemacht haben. Ebenso nützlich
158 Jetzt!
sind sie aber auch, um Lebenszyklus und Langlebigkeit neuer Produkte
abzuschätzen.
Zyklen
Jedes Geschäftsfeld ist voller Zyklen. Es gibt finanzielle (Vierteljahresbe-
richte), politische (Wahlen), technologische (Annahme) und wirtschaftli-
che (Konjunktur) Zyklen. Jeder Zyklus hat diverse Merkmale, von denen
jedes einzelne für Timingentscheidungen wichtig sein kann.
Periode
Eine Periode kennzeichnet die Länge eines vollständigen Zyklus. Wie
lange wird es beispielsweise von einer Rezession bis zur nächsten dauern?
Manche Zyklen sind lang, so wie bestimmte Klimamuster – etwa
Anstieg und Rückgang der Meerestemperatur über Jahrzehnte hinweg.
Andere bemessen sich in Stunden und Minuten wie der 24-stündige
Nachrichtenzyklus.
Es ist hilfreich, die Zyklen aufzulisten, die Ihr Unternehmen bestim-
men. Stellen Sie ihre gegenwärtige Länge fest und fragen Sie sich, ob sie
in Zukunft länger oder kürzer werden könnten. Wie schnell könnte es
zu dieser Verlängerung oder Verkürzung kommen, und wie lang wäre
Ihre Vorwarnzeit?
Die Dichterin Mary Oliver schrieb über die Länge des menschlichen
Lebenszyklus: »Ein Leben ist nicht lang genug für die Schönheit dieser
Welt und die Verantwortung deines Lebens.«10
Abschnitte und Phasen
Manche Abschnitte eines Zyklus sind besonders interessant, so wie die
Weihnachtssaison für Einzelhändler. Zudem können manche Abschnitte
eines Zyklus im Laufe der Zeit länger oder kürzer werden als andere. Mir
ist aufgefallen, dass die Weihnachtsdekoration von Jahr zu Jahr früher
aufgehängt wird, besonders wenn die Konjunktur abflaut.
Form 159
Überlegen Sie, welche Abschnitte eines Zyklus besonders wichtig
sind. Sozialwissenschaftler fragten Patienten in einer Studie, als wie
schmerzhaft sie eine Darmspiegelung erlebt hatten.11 Sie stellten fest,
dass die Gesamtmenge der von Patienten erlebten Schmerzen weniger
wichtig war als der höchste Schmerzgrad im Laufe der Prozedur und
die Schmerzmenge, die sie in den letzten drei Minuten erlebten. Dieses
Ergebnis nannten die Forscher das »Spitzen- und Endmuster«.
Manchmal hat ein zyklisches Muster zwei Spitzen. Forscher stellten
bei Untersuchungen zu Autounfällen über eine 24-stündige Periode zwei
Spitzen fest. Sie sehen »eine extrem hohe Fehlerspitze gegen 3 Uhr mor-
gens und eine etwa ein Viertel so hohe Fehlerspitze gegen 15 Uhr«.12 Das
ist ein Beispiel für ein Muster, das Politiker und Gesetzgeber bei Geset-
zen und Richtlinien zur Verkehrssicherheit in Betracht ziehen können.
Es ist wichtig, alle Phasen eines Zyklus zu berücksichtigen. Wenn
Sie schätzen sollten, in welcher Schulsportart die meisten Verletzungen
vorkommen, würden die meisten vermutlich Football oder Hockey nen-
nen. Aber laut einer Studie von 1993, die Daten aus 13 Jahren erfasste,
gab es damals bei Crossläufen der Mädchen im Herbst prozentual mehr
Verletzungen als in jeder anderen Sportart. Der Grund ist, dass sie eine
Sommerpause machen. »Dagegen rangierte der Bahnlauf der Mädchen,
ein Winter- und Frühjahrssport, der Läuferinnen ausreichend Zeit lässt,
während der Schulzeit wieder in Form zu kommen, in der Studie nur auf
dem neunten Platz und hatte nicht einmal halb so hohe Verletzungsquo-
ten wie der Crosslauf der Mädchen.«13
Es passiert leicht, dass man eine Phase oder die Notwendigkeit eines
zusätzlichen Zyklus übersieht. So haben manche Flughäfen rechtwink-
lig zueinander verlaufende Start- und Landebahnen. Gewöhnlich ist
diese Anordnung unproblematisch, aber wenn ein Flugzeug seinen Lan-
deanflug abbrechen und nach links oder rechts abdrehen muss, um zu
einem erneuten Anflug zu kreisen, kann dieses Flugmuster es gefährlich
dicht an ein Flugzeug heranführen, das auf der rechtwinklig verlaufen-
den Startbahn abhebt.
Sobald Sie alle Phasen eines Zyklus erkannt haben, fragen Sie sich,
welche Probleme auftreten könnten, wenn eine davon ausgelassen, ver-
schoben oder wiederholt werden muss.
160 Jetzt!
Amplitude
Die Amplitude (Schwingungsweite) ist die Größe oder Höhe eines Zyklus
von der Spitze zum Tal. Besteht ein Zyklus aus einer Reihe sanfter Hügel
und Täler oder aus steilen Anstiegen, gefolgt von todesmutigen Abstie-
gen? Die Amplitude kann wichtig sein. Wenn der Markt für ein Produkt
oder einen Rohstoff steil ansteigt oder fällt, geht die Planung den Bach
runter. Im Juli 2009 lautete eine Schlagzeile in der New York Times: »Hef-
tige Ölpreisschwankungen behindern Vorhersagen«. Die Fluggesell-
schaft Southwest Airlines schrieb 2008 in zwei aufeinanderfolgenden
Quartalen Verluste, als der Ölpreis innerhalb weniger Monate Spitzen-
werte erreichte und dann einbrach. »Die Preise fielen schneller, als wir
aus Sicherungsverträgen aussteigen konnten«, erklärte Laura Wright,
die Finanzchefin von Southwest Airlines. Das Unternehmen hatte lang-
fristige Ölverträge abgeschlossen, um sich gegen Preisschwankungen
abzusichern.14
Symmetrie
Ist der Kurvenverlauf eines Zyklus symmetrisch? Anders gefragt: Wenn
sie steil abfällt, sollten Sie dann auch mit einem steilen Anstieg rechnen?
Laut Bill Dudley, dem Leiter der Abteilung für US-Wirtschaftsfor-
schung bei Goldman Sachs, verlaufen Börsenzyklen asymmetrisch: »Die
am Markt verbreitete Vorstellung, dass es eine steile Erholung geben
muss, nachdem es einen steilen Einbruch gegeben hat, wird von den
empirischen Belegen nicht bestätigt.«15 Auch Finanzblasen sind asym-
metrisch. Bei einer typischen Blase steigt die Kurve »am Anfang meist
langsam, dann allmählich immer schneller« an; dann »kommt der
Moment der Wahrheit […], gefolgt von einer Zeit des Zwielichts« und
schließlich »ein massiver Absturz«.16 Würde die Blase langsam in sich
zusammenfallen, wäre sie weniger gefährlich.
Wenn Sie Ihre Umgebung auf wichtige Formen überprüfen, gehen
Sie von Asymmetrie aus. Fragen Sie sich, was wahrscheinlicher ist: eine
Kurve, die schnell ansteigt und langsam ausläuft, oder eine Kurve, die sich
langsam aufbaut und schnell abfällt? In der Wahrscheinlichkeitstheorie
Form 161
und der Statistik heißt das Maß der Asymmetrie »Schiefe«. Wenn Sie in
Ihrer Umgebung nicht eine gewisse Menge positiv oder negativ schiefer
Kurven finden, haben Sie sie vermutlich übersehen. Im herkömmlichen
Denken ist die Tendenz, Symmetrie vorauszusetzen, ebenso verbreitet
wie der Wunsch, in einem ständigen Gleichgewichtszustand zu leben.
Das ist schlichtweg unrealistisch. Wenn uns etwas nicht gelingt, sagen
wir umgangssprachlich, dass wir »nicht die Kurve kriegen«. Und die
meisten Kurven sind meiner Ansicht nach asymmetrisch. Im Baseball
beschreibt der Slider – eine bestimmte Wurfart des Werfers – über dem
Schlagmal eine Kurve, nicht auf halbem Weg dorthin.
Stetigkeit
Verläuft ein Zyklus glatt und rund wie eine Achterbahn oder voller schar-
fer Ecken und Kanten wie ein Sägemesser? Die Sägeblattform ist eine
besonders wichtige Variante.
Als in den USA erstmals die Health Maintenance Organization (HMO)
als Krankenversicherungsmodell eingeführt wurde, nahm man an, ihre
enorme Kaufkraft würde die Kosten niedrig halten. Das trat aber nicht
ein – und das zum Teil wegen einer Sägezahnkurve, wie ich dieses Phä-
nomen nenne: Neue Medikamente, Untersuchungen und Behandlungen
sind teuer. Je mehr Menschen sie nutzen, umso stärker sinken die Kos-
ten. Aber sobald bessere Medikamente oder Behandlungen entwickelt
werden, wollen alle sie haben. Das Ergebnis ist eine Reihe von Spitzen
(siehe Abbildung 5.3). Zwischen diesen Spitzen bleibt nicht genug Zeit
für spürbare und dauerhafte Kostensenkungen, bevor die nächste Spitze
folgt.
Im Fall der HMO versäumten es die Experten, in der Analyse der
Preistrends die Wahrscheinlichkeit der Sägezahnkurve zu berücksich-
tigen. Wieso? Ein Grund ist das Zahlendenken. Wir lernen, der Preis
werde von der Höhe von Angebot und Nachfrage bestimmt. Wenn das
Angebot steigt, sinkt der Preis, wenn die Nachfrage steigt, steigt der
Preis. Aber so einfach ist es nicht, das haben wir ja gesehen. Im Fall der
Sägezahnkurve brauchen wir nicht genau zu wissen, wie hoch die Spit-
zen sind oder wie viel Zeit zwischen ihnen liegt, um die Auswirkungen
162 Jetzt!
dieser Kurvenform zu sehen. Wir müssen lediglich erkennen, dass die
Spitzen hoch und die Intervalle zwischen ihnen kurz sind. Das genügt,
um die Vermutung zu dämpfen, dass Kaufkraft allein die Kosten in
Schach halten könnte.
Menge
Wie viele Zyklen treten in einem bestimmten Zeitraum auf? Folgt ein
Zyklus von Hochkonjunktur und Rezession nahezu unmittelbar auf den
anderen? Wie vielen Zyklen ist Ihr Unternehmen unterworfen, und was
könnte passieren, wenn sich die Zahl erhöhen sollte? Bei US-Soldaten
führten Mehrfacheinsätze im Irak zu Erschöpfung und Gesundheitspro-
blemen.
Berechenbarkeit
Manche der oben genannten Merkmale sind berechenbar, wie die Länge
eines Auslandseinsatzes im Irak für einen US-Soldaten oder die Legis-
laturperiode eines US-Senators. Andere wie die Länge des Konjunktur-
zyklus sind weniger vorhersehbar.
Wenn Anfang und Ende eines wiederkehrenden oder zyklischen Phä-
nomens vorhersehbar sind, rechnen Sie mit Gesellschaft. Sowohl Flo-
rida als auch Michigan zogen 2008 ihre Vorwahlen vor. Wenn es Vorteile
bringt, der Erste zu sein, sollten Sie damit rechnen, dass einige früher
loslegen, als Sie erwarten.
Abb. 5.3: Sägezahnkurve
Form 163
Verknüpfung von Zyklen
Wie bereitet uns ein Zyklus auf den nächsten vor? Wie bereitet uns bei-
spielsweise eine Periode hoher Inflation auf das nächste Mal vor, wenn
die Preise in die Höhe schnellen?
Der Zusammenbruch der »Doha-Runde«, also der Handelsverhand-
lungen im Rahmen der Welthandelsorganisation, im Sommer 2008 ver-
anschaulicht, was passiert, wenn man die Verknüpfung von Zyklen nicht
berücksichtigt. Die Verhandlungen scheiterten weitgehend durch den
Erfolg der vorherigen Verhandlungsrunden. Die Uruguay-Runde hatte
1994 vereinbart, dass Länder ihre Einfuhrquoten für Agrarerzeugnisse
in normale Zölle umwandeln konnten. Aus Sorge vor einer Importflut
durften Länder kurzfristige Schutzzölle als Hemmschwelle einführen.
Aber was als Übergangslösung gedacht war, wurde zu einer Krücke. Die
Unfähigkeit der Verhandlungspartner, das Problem anzugehen und sich
auf eine Reform der Schutzzölle zu einigen, führte mit zum Scheitern
der Doha-Runde.17
Ein weiterer Grund für das Scheitern der Verhandlungen war der Ein-
druck der Entwicklungsländer, dass die vorigen Gesprächsrunden ein-
seitig zugunsten der reichen Staaten verlaufen waren. Daher wollten sie
in Doha das Gleichgewicht wiederherstellen. Die Verhandlungspartner
hätten berücksichtigen müssen, wie sich das Ende eines Zyklus (oder
einer Gesprächsrunde) auf den nächsten auswirken würde. Das Gleiche
gilt in der Geschäftswelt. Bedenken Sie, wie Zyklen miteinander ver-
knüpft sind. Ein umsatzstarker Jahreszyklus mag unrealistische Erfolgs-
erwartungen für den folgenden Zyklus schüren. Umgekehrt kann ein
Unternehmen, das in einem Zyklus als Reaktion auf einen schrumpfen-
den Markt Personal abgebaut hat, für die bevorstehende Konjunkturer-
holung schlecht gerüstet sein.
Einfluss
Zyklen beeinflussen auch die Verhaltensweisen, die mit ihnen verknüpft
oder assoziiert sind. Welche Aktivitäten sind beispielsweise in Bezug auf
Sequenz oder Timing auf Anfang oder Ende des Bilanzjahres abgestimmt?
164 Jetzt!
Eine Passage aus der Novelle Main-Travelled Roads von Hamlin Gar-
land veranschaulicht die Macht eines Zyklus, das Verhalten zu beeinflus-
sen. Darin schildert die Arbeitgeberin ihre Hausangestellte, die auf die
regemäßigen sonntäglichen Besuche ihres Freundes wartet:
»Verliebte Mädchen sind die ganze Woche zu nichts zu gebrauchen«, sagte
sie. »Sonntags schauen sie die Straße entlang und warten, dass er kommt.
Sonntagnachmittags können sie an nichts anderes denken, weil er hier ist. Am
Montagmorgen sind sie verschlafen, verträumt und empfindlich, und diens-
tags und mittwochs taugen sie zu nichts. Am Donnerstag werden sie geistes-
abwesend und fangen wieder an, dem Sonntag entgegenzufiebern, laufen mit
Trauermiene herum und lassen das Spülwasser vor ihrer Nase kalt werden.
Am Freitag lassen sie Geschirr fallen, schleichen sich heulend ins beste Zim-
mer und starren aus dem Fenster. Samstags bekommen sie seltsame Anfälle
von Arbeitswut und Anwandlungen, sich Locken in die Haare zu machen. Und
sonntags fangen sie wieder von vorn an.18
Bei Zyklen denken wir an etwas Wiederkehrendes, an einen Prozess, der
wiederholt auf und ab geht wie die Konjunktur. Aber wie die angeführte
Passage zeigt, sind Zyklen etwas wesentlich Komplexeres als lediglich
periodisch wiederkehrende Ereignisse. Wenn Sie also auf einen Zyklus
stoßen, sollten Sie sich zwei Fragen stellen: Erstens, welcher externe
Prozess oder Zeitplan bestimmt, steuert oder beeinflusst den Zyklus?
Zweitens, wie würde sich eine Änderung dieses Prozesses oder Zeit-
plans auf den Zyklus auswirken? Was würde etwa passieren, wenn das
Geschäftsjahr Ihrer Organisation um sechs Monate verkürzt oder auf 18
Monate verlängert würde? Was würde sich daraus an Kosten oder Nut-
zen ergeben, und wie könnten Sie die Vorteile nutzbar machen, ohne das
Geschäftsjahr tatsächlich zu modifizieren (was vermutlich unmöglich
ist)?
Teufelskreise
Teufelskreise sind Situationen, in denen ein Problem oder ein Lösungs-
versuch zu einem weiteren Problem führt, das das ursprüngliche ver-
schlimmert, womit der ganze Prozess von vorn anfängt. Wenn ein Unter-
Form 165
nehmen eine sehr große Position, die sie am Markt hält, aufgeben muss,
kann dieser Verkauf die Preise sinken lassen und die Firma zwingen,
noch mehr zu verkaufen – was den Markt noch weiter einbrechen lässt
und in einem Teufelskreis immer so weitergeht. Ein anderes Beispiel sind
die sprunghaft steigenden Immobilienpreise während der Immobilien-
blase in den USA. Hohe Preise und schneller Umsatz schürten den Bau-
boom, der zu einem Überangebot an Immobilien führte. Neben anderen
Faktoren ließ dieses Überangebot die Preise fallen. Plötzlich überstiegen
die Schulden vieler Hauseigentümer den Wert ihrer Häuser. Als die Zahl
der Zwangsvollstreckungen stieg, zögerten die Banken, Käufern Kredite
zu geben, was das Überangebot verschlimmerte und zu weiterem Preis-
verfall und mehr Zwangsvollstreckungen führte.19
Bei den meisten schweren Krisen sind mehrere Teufelskreise im
Spiel. Das ist einer der Gründe, warum es zur Krise kommt. Organi-
sationen sollten die Teufelskreise, in die sie geraten könnten, im Auge
behalten. Sie sollten sich ihre Ursachen, die erwartete Dauer und die not-
wendigen Strategien klar machen, um sie zu durchbrechen. Keine Strate-
gieplanung darf als vollständig gelten, solange sie diesen Fragenkatalog
nicht einbezieht.
Helix
Eine Helix ist eine dreidimensionale Kurve, die sich in einer gleichmä-
ßigen Spirale um einen Zylinder oder Kegel windet. Das ist die Lexikon-
definition; aber jeder, den man fragt, was eine Helix ist, wird mit dem
Zeigefinger in der Luft eine Korkenzieherform beschreiben (siehe Abil-
dung 5.4).
Beim Timing ist die Helix aus zwei Gründen eine wichtige Form:
Erstens hilft sie uns, einen verbreiteten Fehler in Bezug auf das Feed-
back zu vermeiden: nämlich das Vergehen der Zeit nicht zu berücksich-
tigen. Das Bild des Korkenziehers erinnert uns daran, dass wir Rückmel-
dungen nicht zu dem Zeitpunkt bekommen, an dem wir erstmals darum
bitten, sondern erst irgendwann in der Zukunft. Daher müssen Mana-
ger sich im Klaren sein, was sich in der Zwischenzeit verändert haben
166 Jetzt!
könnte. Werden diejenigen, die das Feedback angefordert haben, noch in
der Firma sein, wenn es kommt? Werden diejenigen, die es bekommen,
imstande sein, es zu verstehen und entsprechend zu nutzen? Wird die
Information noch relevant sein? Umfragen, eingehende Interviews und
andere Formen von Rückmeldungen können teuer sein. Vergewissern
Sie sich, dass Sie diese Fragen beantworten können, bevor Sie ein Feed-
back verlangen.
Der zweite Grund, weshalb die Helixform wichtig ist, hat etwas mit
Planung zu tun. Wir mögen es, Dinge abzuschließen, das habe ich bereits
im Kapitel über zeitliche Interpunktion dargelegt. In einer geschäftigen
Welt wollen Manager Probleme »ein für alle Mal« gelöst wissen. Gewisse
Probleme werden aber nie endgültig gelöst. Sie stellen sich sukzessive
immer wieder an verschiedenen zukünftigen Punkten und bilden eine
Helix.
Solche Probleme gilt es zu erkennen, damit Sie vorbereitet sind, wenn
sie erneut auftreten. Ein hervorragendes Beispiel ist das Dilemma: eine
Zwickmühle, die durch drei Merkmale gekennzeichnet ist. Erstens sind
die zur Wahl stehenden Alternativen unvereinbar, können also nicht
koexistieren. Sie müssen sich für eine entscheiden. Zweitens ist jede
von ihnen unverzichtbar. Sie können keine kurzerhand ausschließen,
da sie für Sie und Ihre Organisation wesentlich ist. Und schließlich ist
jede Alternative unantastbar, darf also nicht verwässert oder durch Kom-
promisse eingeschränkt werden. Wenn alle drei Merkmale erfüllt sind,
stehen Sie vor einem Dilemma. Die Möglichkeit, gegen die Sie sich ent-
Abb. 5.4: Die Helix
Zeit
Form 167
scheiden, wird keineswegs eliminiert, sondern lediglich unterdrückt
oder umgangen. Deshalb wird sie immer wieder auftauchen. Nachdem
Sie sich für eine Alternative oder einen Kurs entschieden haben, soll-
ten Sie sich zwei zeitbezogene Fragen stellen: (1) Wann werden wir dem
Problem erneut begegnen, und (2) was könnte den Umgang mit diesem
Problem zu diesem späteren Zeitpunkt besonders schwierig gestalten?
Tandemisierende Formen
Bislang haben wir uns auf Einzelkurven und -formen konzentriert. Als
Übergang zum folgenden Kapitel über Polyphonie möchte ich ein Kur-
venpaar vorstellen, das ich als tandemisierende Formen bezeichne. Solche
Kurven haben zwei Phasen: Anfangs verlaufen sie in entgegengesetzter
Richtung, dann ändert eine Kurve die Richtung, sodass sich beide paral-
lel oder im Tandem bewegen. Abbildung 5.5 zeigt zwei tandemisierende
Kurven, eine positive und eine negative, je nach Bewegungsrichtung.
Abb. 5.5: Tandemisierende Formen
Viele Risikomanagementstrategien gehen von der ersten Phase aus:
Etwas (wie eine Aktie) bewegt sich in eine Richtung, während etwas
anderes (eine Anleihe) in die entgegengesetzte Richtung geht. In Krisen-
zeiten können jedoch beide gleichzeitig fallen, also sich parallel im Tan-
dem bewegen. Negativ korrelierte Formen können zu positiv korrelierten
werden. Und dieser Umschwung kann genau im falschen Augenblick
erfolgen, in dem man ihre negative Korrelation für das Risikomanage-
ment am dringendsten braucht.
Wir mögen antizyklische Strategien, sich ausgleichende Geschwindig-
keiten und Formen, die sich gegenseitig aufheben, weil sie Schwankun-
gen mildern oder beseitigen. Aber niemand kann Veränderung eliminie-
168 Jetzt!
ren. Wenn eine Risikomanagementstrategie von der Annahme ausgeht,
dass Komponenten sich in entgegengesetzte Richtungen bewegen, soll-
ten Sie daher auf tandemisierende Formen achten. Wenn Sie sich keine
Bedingungen vorstellen können, unter denen es zu einer »Tandemisie-
rung« kommt, sind Sie weniger geschützt als notwendig.
Risiken und Chancen von Formen
Die meisten formbezogenen Risiken entstehen, weil man Formen und ihre
Auswirkungen nicht berücksichtigt. So stellte ein Artikel in der Tages-
zeitung Florida Today fest, der brasilianische Flugzeughersteller Embraer
sei erfolgreich, weil er gerade zur rechten Zeit gerade die richtige Flugzeug-
größe produziere.20 Allerdings enthielt der Artikel in seiner Schilderung
guten Timings keinerlei Hinweis auf die zeitliche Verlaufsform. Wie steil
verlief die Nachfragekurve nach diesem Flugzeug, und wann wurde die
Form oder Steigung dieser Kurve offensichtlich? Wann wird das Flug-
zeug nicht mehr die richtige Größe haben, und wie schnell wird die Nach-
frage zurückgehen? In der Einleitung habe ich ausgeführt, dass unsere
Beschreibungen der Welt häufig zeitverarmt sind: Sie lassen viele Zeit-
merkmale aus. Auch unsere nachträglichen Erklärungen tendieren dazu,
Elemente wie die Form, also die zeitliche Verlaufskurve, zu übersehen.
Das würde den eingangs zitierten Bildhauer Henry Moore selbstver-
ständlich nicht überraschen. Ihm wäre klar, wie schwierig diese Aufgabe
ist. Die Formen, die er brauchte, waren in seiner Umgebung vorhanden.
Er konnte sie mit Muße suchen und umfassend erkunden. Bei den For-
men, die wir für unsere Arbeit brauchen, ist das nicht der Fall. Sie ent-
wickeln sich im Laufe der Zeit. Sie zu erkennen erfordert Erinnerungs-
vermögen und Fantasie, und auf beides können wir uns nicht immer
verlassen. Den besten Schutz davor, eine Form zu übersehen, bietet Ihre
Erfahrung – Sie sollten in der Vergangenheit viele Beispiele erlebt haben.
Zu diesem Zweck schlage ich Ihnen vor, die hier begonnene Formenliste
zu ergänzen und zu aktualisieren. Das schärft den Blick, auf die Formen
zu achten, die für Ihre Arbeit wichtig sind.
Form 169
Wenn Sie wissen, dass eine bestimmte Form existiert, können Sie die-
ses Wissen nutzen, um Entscheidungen, Prozesse und Vorhersagen zu
verbessern. Nehmen wir als Beispiel den Tag-Nacht-Rhythmus des Kör-
pers, der Schlaf- und Wachphasen auf den 24-stündigen Sonnenzyklus
abstimmt. Wie Abigail Zuger in der New York Times schrieb, kann man
sich vorstellen, dass die Medizin eines Tages den Tag-Nacht-Rhythmus
von Krankheiten berücksichtigt. »Asthmauntersuchungen würden mit-
ten in der Nacht die aussagekräftigsten Ergebnisse liefern … Bei Herz-
patienten würde man lebensbedrohliche Gerinnsel der Herzarterien am
Spätnachmittag auflösen, wenn das Gerinnungssystem des Körpers am
schwächsten ist.«21
Eine weitere Möglichkeit, die Form zu nutzen, um mit Risiken umzu-
gehen und Chancen zu erkennen, besteht in präziseren Fragestellungen.
Denken Sie nur an die Blasenbildung. Menschen stellen tendenziell die
gleichen Fragen: Bildet sich eine Blase oder nicht, und wenn ja, wann
wird sie platzen? Meist endet die Diskussion an diesem Punkt. Stattdes-
sen sollten sie nach der Verlaufsform fragen (sowie nach Tempo, Intervall
und Sequenz). Wenn eine Blase existiert, wird sie platzen oder allmäh-
lich schwinden, und falls Letzteres der Fall ist, über welchen Zeitraum
wird es passieren? Fragen Sie auch nach Mechanismen. Ist ein Teufels-
kreis im Spiel? Wenn Sie beispielsweise von Häusern in Zwangsvollstre-
ckungsverfahren umgeben sind, verliert Ihr Haus an Wert, wodurch das
Ihres Nachbarn ebenfalls an Wert verliert, was wiederum zu einem wei-
teren Wertverlust Ihrer Immobilie führt, und so weiter. Wir sagen zwar,
dass wir Transparenz und vollständige Information schätzen. Aber wenn
jeder zur selben Zeit dieselbe Form erkennt und auf dieselbe Art inter-
pretiert, müssen wir mit dem Herdentrieb rechnen. Im Fall einer Blase
kann das eine Panik auslösen, alle wollen aussteigen, bevor die ganze
Sache platzt. Denken Sie also daran, nach der Form der Informations-
kurve zu fragen: Wann werden immer mehr Menschen über bestimmte
Fakten Bescheid wissen und danach handeln? Und schließlich sollten
Sie sich fragen, wie viel Vorwarnzeit Sie wahrscheinlich haben, bevor
eine bekannte Blase platzt.
Auf diese Fragen Antworten zu suchen – oder sie auch nur zu stel-
len –, bereitet Sie besser auf alle Eventualitäten vor, besonders wenn Sie
170 Jetzt!
sich mit früheren Blasen in Ihrer Branche befasst und in der Geschichte
nach Antworten auf diese Fragen gesucht haben. Lassen Sie keine
Information ungenutzt. So wissen wir, dass die US-Notenbank Federal
Reserve bei Beginn eines Wirtschaftsaufschwungs und wieder einset-
zender Inflation die Zinssätze nur langsam anhebt, aus Sorge, die kon-
junkturelle Erholung abzuwürgen. Wenn Sie nicht zwei Kurven verfol-
gen, eine für die steigende Inflation und eine zweite für die absehbar
verzögerte Reaktion der Federal Reserve, wird die Information über diese
zeitliche Verzögerung verlorengehen.
Denken Sie an das Mantra: Muster geht vor Präzision! Wenn Sie auf
eine Kurve mit einer seltsamen, aber wichtigen Form stoßen, können Sie
ihr einen Namen geben, wie ich es bei der tandemisierenden Form oder
der Sägezahnkurve getan habe. Das hilft, sie sich einzuprägen.
Machen Sie sich bewusst, wo Sie voreingenommen sind. Wir alle stre-
ben die Stoßkraft und den Adrenalinschub des entscheidenden Augen-
blicks an. Wenn ungünstige Bedingungen herrschen, möchten wir sie
beenden, Punkt. Erst allmählich wird uns klar, dass wir mehr zeitli-
che Verlaufsformen berücksichtigen müssen. Immer »mehr Ärzte und
Patienten fangen an, Krebs als chronische Erkrankung zu sehen, die es
zu behandeln, nicht zu heilen gilt«.22 Das ist ein historischer Wandel, der
sich auf die Behandlung der Patienten auswirkt. Wir bevorzugen kurze
und selbstverständlich gerade Linien. Wenn wir schon auf eine Kurve sto-
ßen, möchten wir, dass sie symmetrisch und glatt, ohne Lücken, Unter-
brechungen oder scharfe Kanten verläuft. Folglich erkennen wir vermut-
lich erst zu spät Formen wie die Sägezahnkurve und ihre Auswirkungen.
Wenn sich etwas zum Positiven verändert, möchten wir, dass es so wei-
tergeht, wie es bei den Immobilienpreisen der Fall war: immer weiter
nach oben. Wenn wir eine Frage nicht präzise beantworten können – etwa
wann eine Blase platzen wird –, machen wir weiter und vergessen, andere
Fragen wie die oben genannten zu stellen. Der beste Schutz bei jedem
Vorhaben besteht darin, die vermutlich vorhandenen Formen aufzulisten
und dann mit Blick auf die eigene Voreingenommenheit zu hinterfragen.
Wenn Sie beispielsweise mit einem stetig wachsenden Umsatz rechnen,
achten Sie auf Zeiten, in denen er sprunghaft ansteigt und dann fällt,
bevor er wieder anzieht. Wenn Sie mit dem Ende eines Projekts rechnen,
Form 171
stellen Sie sich darauf ein, dass manche Teile vielleicht sogar inoffiziell
weitergehen wie die Glut eines Feuers, die erst nach langer Zeit erlischt.
Es gibt viele Formen, die aus Platzmangel in diesem Kapitel nicht
behandelt oder nur flüchtig erwähnt wurden. Manche Formen wie Bla-
sen und Klippen (ein steiler Abfall oder eine abrupte Änderung einer
Situation) dominieren die öffentliche Debatte tendenziell, weil mit ihnen
Ängste und Sorgen einhergehen. Bei Henry Moore zählte ich 17 Formen,
für die er sich bei seinen Strandspaziergängen interessierte – unter ande-
rem Eier, Muscheln, Nüsse und Pflaumen. Zeitliche Formen sind nach
meiner Vermutung ebenso zahlreich und vielfältig wie räumliche. Wir
müssen nur nach ihnen suchen.
Zeitfantasie
Ich habe mich auf Formen konzentriert, die man sich leicht visuell vor-
stellen kann: Punkte, Linien und Zyklen. Aber es gibt, wie gesagt, noch
viele weitere. Eine Form aus Laurence Sternes Roman Tristram Shandy,
die er entwickelte, um den narrativen Bogen seines Buches visuell dar-
zustellen, erinnert mich daran, dass es eine Vielzahl von Formen gibt,
von denen viele nicht einmal einen Namen haben (siehe Abbildung 5.6).
Laut Howard Anderson, Herausgeber einer kritischen Ausgabe dieses
Romans, wollte Sterne damit unter anderem zeigen, »wie alle mögli-
chen konventionellen Ideen unser Denken und unsere Vorstellungen auf
unendlich viele Weisen in Fesseln gelegt haben«.23 Dieses Ziel verfolgt
auch das vorliegende Buch.
Abb. 5.6: Der narrative Bogen des Romans Tristram Shandy
172 Jetzt!
Form: im Überblick
Vielfältige Arten zeitlicher Formen
• Punkte: das Fehlen einer zeitlichen Verlaufsform (ein einzelner Zeit-
punkt).
• Linien: die Strecke oder das Segment, das zwei oder mehr Zeitpunkte
direkt verbindet. Wenn Sie den Verlauf eines Prozesses grafisch dar-
stellen und feststellen, dass er sich überhaupt nicht verändert, ist das
Ergebnis eine Gerade.
• Kurven: die Form der Veränderung, z. B.:
• Beschleunigungs- und Verzögerungskurven: Kurven, die ihre Steigung
ändern, wie die Geschwindigkeitskurve Ihres Wagens, wenn Sie
das Gaspedal durchtreten oder auf die Bremse steigen.
• Bögen: eine Form wie ein Regenbogen oder eine sanfte Hügelkuppe.
• S-Kurven: langsam ansteigende Kurven erreichen einen Höhepunkt
und laufen dann aus.
• Zyklen: ein Prozess, der sich periodisch wiederholt, grafisch darge-
stellt durch steigende und wieder fallende Kurven.
• Helix: eine Korkenzieherform wie eine Spiralfeder oder der Hand-
lauf einer Wendeltreppe.
• Tandemisierende Formen: zwei Kurven laufen anfangs in entgegenge-
setzter Richtung, aber dann kehrt eine die Richtung um und ver-
läuft parallel oder im Tandem mit der anderen.
Risiken und Chancen von Formen
• Wir mögen einfache Formen. Wir möchten, dass Linien kurz und
gerade sind, Kurven symmetrisch und schön gerundet ohne Lücken
oder scharfe Kanten. Folglich erkennen wir Formen, die diese Merk-
male nicht besitzen, wie die Sägezahnkurve, wahrscheinlich erst
spät.
Form 173
• Wenn etwas sich zum Positiven verändert, möchten wir, dass es so
weitergeht wie bei den Immobilienpreisen: immer nach oben.
• Als Vorbereitung dafür, Formen in Ihre Überlegungen einzubezie-
hen, sollten Sie eine Liste der Formen erstellen, die für Ihre Arbeit
wichtig sind.
• Wenn Sie wissen, dass eine bestimmte Form existiert, können Sie die-
ses Wissen nutzen, um Entscheidungen, Prozesse und Vorhersagen
zu verbessern.
• Denken Sie daran, mehr Fragen zu stellen. Bildet sich gerade eine
Blase, und wenn ja, wann wird sie platzen? Wenn wir diese Frage nicht
präzise beantworten können, gehen wir meist darüber hinweg und
vergessen andere Fragen zu stellen wie: Wird die Blase platzen oder
sich einfach langsam zurückbilden, und wenn das Letztere zutrifft,
über welchen Zeitraum wird das geschehen?
• Antworten auf diese Fragen zu suchen – und sie überhaupt erst zu
stellen –, wird Sie besser auf alle Eventualitäten vorbereiten.
• Der beste Schutz für jedes Vorhaben besteht darin, die vermutlich vor-
handenen Formen aufzulisten und mit Blick auf die eigene Vorein-
genommenheit zu hinterfragen: Wenn Sie ein stetiges Umsatzwachs-
tum erwarten, achten Sie auf Zeiten, in denen es nicht eintritt. Wenn
Sie mit dem Ende eines Projekts rechnen, stellen Sie sich darauf ein,
dass manche Teile weitergehen.
174 Jetzt!
6
Polyphonie
Wir können uns nicht mehr darauf verlassen, dass eine Handlung sich sequenziell
entwickelt, eine sich stetig aufbauende Geschichte geradlinig fortschreitet … denn es
passiert zu viel gegen den Strich der Zeit …
John Berger1
In der Musik bezeichnet Polyphonie eine Kompositionsform, bei der
mehrere Melodien gleichzeitig gespielt werden, aber ihre Individualität
bewahren, während sie mit anderen harmonieren. In den bisherigen
fünf Kapiteln haben wir uns mit einzelnen horizontal angeordneten Zeit-
mustern befasst wie mit einer einzelnen Melodie, die ihre Sequenz, ihre
Entwicklungs- oder Änderungsrate, ihre Gesamtform, Anfang und Ende
und so weiter hat. Mit dem Element der Polyphonie kommt nun die Ver-
tikale hinzu. Bei den meisten Führungskräften geht ständig eine Menge
gleichzeitig vor, und für das richtige Timing ist es notwendig, herauszu-
finden, wie diese multiplen Handlungs- und Ereignisstränge interagie-
ren.
Da wir nun zum Ende des Linsensatzes kommen, den wir für Timing-
analysen brauchen, werde ich in diesem Kapitel einige einfache Beispiele
für beginnende Timinganalysen anführen, um die Grundlagen für die
folgenden Kapitel zu legen. Aber zunächst untersuchen wir zwei Arten
von Beziehung, die bei gleichzeitig ablaufenden Handlungen und Ereig-
nissen vorhanden sind. Die erste ist strukturell und betrifft die Frage,
inwieweit ein Ereignis mit einem parallelen Ereignis zusammenfällt
oder sich mit ihm überschneidet. Die zweite betrifft den Einfluss, also
die Frage, inwieweit ein Ereignis oder Prozess einen gleichzeitigen Vor-
gang verdeckt, mit ihm konkurriert, ihn ersetzt oder verstärkt. Unsere
Unfähigkeit, Muster zu erkennen, wenn mehrere Handlungen sich über-
schneiden, nenne ich Copland-Beschränkung. Der klassische Kompo-
nist Aaron Copland wies darauf hin, dass wir nicht ohne weiteres mehr
Polyphonie 175
als drei Melodien gleichzeitig folgen können, wenn wir Musik hören.
Copland beschrieb Polyphonie und ihre Schwierigkeiten so:
Polyphon geschriebene Musik stellt größere Ansprüche an die Auffassungs-
gabe des Hörers, weil sie sich mittels verschiedener selbständig geführter
melodischer Linienzüge bewegt …
Polyphone Musik setzt einen Hörer voraus, der horizontale Melodien auf-
fassen kann, die von den einzelnen Stimmen vorgetragen werden, statt nur den
vertikalen Zusammenklang aller Stimmen zu hören, wie er sich von Augenblick
zu Augenblick ergibt …
Polyphoner Satz bringt die Frage mit sich, wie viele selbständige Stimmen
das menschliche Ohr gleichzeitig auffassen kann. Die Meinungen gehen hierü-
ber auseinander … Nichtsdestoweniger glaube ich behaupten zu können, daß
bei einiger Erfahrung zwei- oder dreistimmige Musik ohne allzu große geistige
Anstrengung aufgefaßt werden kann. Eine wirkliche Schwierigkeit beginnt erst,
wenn die Polyphonie aus vier, fünf, sechs oder acht unterschiedlichen, selb-
ständigen Stimmen besteht.2
Eine der größten Herausforderungen für das Timing besteht darin, Mus-
ter (Patterns) zu erkennen, wenn multiple Handlungsstränge gleich-
zeitig ablaufen. Auch wenn wir daran nicht gewöhnt sind, ist es mei-
ner Ansicht nach die Aufgabe, vor die wir im 21. Jahrhundert gestellt
sind. General Rupert Smith schildert diese neue Realität in Hinblick auf
moderne Kriegsführung:
In der Welt des industriellen Krieges gilt die Prämisse der Abfolge Frieden
Krise Krieg Lösung, die wieder zum Frieden führt …. Dagegen basiert das neue
Paradigma des Krieges unter Völkern auf dem Konzept eines ständigen Hin
und Her zwischen Konfrontation und Konflikt … Statt Krieg und Frieden gibt
es keine vorher definierte Abfolge, und Frieden ist nicht zwangsläufig der Aus-
gangs- oder Endpunkt: Konflikte werden gelöst, aber nicht unbedingt Konfron-
tationen beendet.3
Leider sind wir für eine solche Welt schlecht gerüstet. Wenn wir sprechen
oder schreiben, müssen wir ein Wort hinter das andere setzen. Wenn wir
eine bestimmte Situation beschreiben, können wir das Wort »zugleich«
nur in begrenztem Maß benutzen, sonst verdrehen schon bald manche
176 Jetzt!
die Augen. In unserem Denken verlangen wir, dass unsere Schlüsse
logisch aus dem folgen, was vorher kam. Kurz, wir sind serielle Wesen in
einer überaus parallelen Welt. Folglich werden wir ständig von Ereignissen
»überrumpelt«, die scheinbar aus heiterem Himmel, also buchstäblich
von oben kommen. Vieles passiert gleichzeitig, und wir können nicht
allen Strängen folgen.
Polyphonietracks
Um alle Parallelprozesse zu finden, die Auswirkungen auf das Timing
haben, ist es hilfreich, jedes Ereignis oder jede Situation in Tracks zu
gliedern, und dann jede einzelne zu untersuchen. Ein Beispiel: Auf
den Meinungsseiten der New York Times schilderte eine Frau 1996 ihre
Bemühungen, sich scheiden zu lassen. Der Beitrag trug die Überschrift:
»34 Monate und immer noch keine Scheidung«.4 Warum dauerte es so
lange?
Im Laufe des Verfahrens passierten einige Dinge etwa zur gleichen
Zeit, unter anderem folgende: »Drei Familienrichter wurden in andere
Bereiche des State Supreme Court versetzt und durch drei Richter
ersetzt, die keine Erfahrung im Scheidungsrecht hatten.« Ihr Mann
erschien nicht zur Verhandlung, die daraufhin vertagt werden musste.
Eine zweite Vertagung war notwendig, weil die Anwälte ihres Mannes
in einem anderen Fall ein Berufungsverfahren vorbereiten mussten.
Ein Anwalt hatte gesundheitliche Probleme. Dann steckte der Richter in
einem anderen Verfahren und musste die Verhandlung erneut vertagen.
Schließlich teilte das Gericht ihr mit, dass es ihre sämtlichen Akten ver-
legt hatte.5
Vermutlich ist diese Frau mittlerweile geschieden, aber das Verfahren
dauerte wesentlich länger, als sie erwartet hatte. Ich möchte hier einen
Ansatz beschreiben, wie man feststellen kann, warum dieser Prozess so
langwierig war. Er besteht darin, sämtliche parallelen Ereignisse und
Vorgänge als verschiedene Stimmen einer Partitur zu sehen, die ver-
schiedene Instrumente gleichzeitig spielen.
Polyphonie 177
Partituren (siehe die Beethoven-Partitur im ersten Kapitel) haben
eine horizontale und eine vertikale Dimension. In diesem Beispiel steht
die horizontale Dimension für den sequenziellen Ablauf des rechtli-
chen Verfahrens: einen Anwalt beauftragen, die Scheidung einreichen,
mit dem Richter sprechen und so fort. In einem Scheidungsverfahren
müssen bestimmte Schritte in einer festgelegten Reihenfolge erfol-
gen. Hätte die Frau in unserem Beispiel die bisherigen Kapitel gelesen,
wüsste sie, dass alle Ereignisse, die in einer bestimmten Reihen-
folge – also in einer Sequenz mit strengen seriellen Zwängen – ablau-
fen müssen, erheblich länger dauern können als erwartet. Sie wüsste
zudem, dass immer, wenn die akute Notwendigkeit eines Abschlus-
ses besteht – was bei einer Scheidung der Fall ist –, jede Verzögerung
besonders schmerzlich sein kann, insbesondere, wenn sie gegen Ende
eintritt.
Die Situation der Frau hatte auch eine vertikale Dimension: Es pas-
sierte vieles gleichzeitig. Die vertikale Dimension bestand aus elf ver-
schiedenen Paralleltracks, die jeweils einen der folgenden Akteure oder
Vorgänge betrafen:
1. Ehemann
2. Ehefrau
3. Anwalt der Frau
4. Erster Anwalt des Mannes
5. Zweiter Anwalt des Mannes
6. Andere Fälle des 1. Anwalts
7. Andere Fälle des 2. Anwalts
8. Richter 1
9. Richter 2
10. Andere Fälle des 1. Richters
11. Andere Fälle des 2. Richters
Wenn wir noch detaillierter vorgehen wollten, könnten wir noch weitere
Tracks für die anderen Fälle einfügen, mit denen die Anwälte und Richter
befasst waren (Punkt 6, 7, 10 und 11). Die Anzahl der Stimmen in einer
Partitur bezeichne ich als C-Wert (C für Copland). In diesem Beispiel ist
C = 11, was die Copland-Beschränkung (C = 4) erheblich übersteigt. Das
178 Jetzt!
ist keineswegs ungewöhnlich. In den meisten Situationen liegt er sogar
noch höher.
Ein hoher C-Wert spielt nur insofern eine Rolle, als das Handeln der
verschiedenen Parteien koordiniert werden muss. Wenn ein Anhörungs-
termin angesetzt ist und die Ehefrau nicht erscheint oder der Anwalt
ihres Mannes nicht teilnehmen kann, kommt der Prozess nicht voran.
Das nenne ich eine Synchronanforderung: Gewisse Dinge müssen gleich-
zeitig passieren, damit ein Ereignis fristgerecht stattfindet.
In unserem Beispiel verzögerte sich die Scheidung der Frau durch
drei Faktoren: (1) durch einen hohen C-Wert: vieles passiert gleich-
zeitig; (2) serielle Zwänge: die verschiedenen Schritte bis zur endgül-
tigen Scheidung lassen sich nur begrenzt überspringen, verdichten,
zusammenlegen oder umkehren; und (3) Synchronanforderungen:
bestimmte Vorgänge oder Aktivitäten müssen gleichzeitig stattfinden.
Die Schritte und Stufen des Prozesses sind eindeutig gegliedert. Eine
Anhörung oder Sitzung beginnt an einem festgelegten Tag zu einer
bestimmten Uhrzeit. Wenn ein hoher C-Wert mit strengen seriellen
Zwängen und Synchronanforderungen verbunden ist, erhöht das
die Zahl der Verzögerungsmöglichkeiten erheblich. Das macht Ver-
zögerungen zwar nicht unvermeidlich, aber doch wahrscheinlich.
Gesundheitliche Probleme eines Anwalts oder die Versetzung eines
Richters hätte vielleicht niemand vorhersehen können. Vorhersehbar
war jedoch, dass ein Prozess mit hohem C-Wert, strengen seriellen
Zwängen und Synchronanforderungen anfällig für Verzögerungen
sein würde. Je mehr sich ein solcher Prozess in die Länge zog, umso
größer war auch die Gefahr zufälliger Ereignisse, die den angestrebten
Ausgang noch weiter verzögerten.
Daraus können wir also die Lehre ziehen, dass wir auf den hohen Sta-
pel paralleler Prozesse achten müssen, die in jedem Moment vorhanden
sind. Das können wir, wenn wir nach oben schauen.
Bevor ich auf einige Strategien eingehe, die Ihnen helfen, auf poly-
phone Strukturen zu achten, möchte ich zunächst den Unterschied zwi-
schen Polyphonie und Multitasking klären. Beim Multitasking sind die
einzelnen Aufgaben bereits festgelegt. Das Problem ist lediglich, dass
wir sie nicht alle gleichzeitig erledigen können. Polyphonie stellt uns
Polyphonie 179
vor eine völlig andere Herausforderung. Die Tracks einer vielschichti-
gen polyphonen Struktur sind weder vollständig sichtbar noch leicht vor-
stellbar. Wir müssen nach ihnen und ihren wechselseitigen Einflüssen
suchen. Bei der Polyphonie besteht die Herausforderung nicht darin, mit
Bekanntem zu jonglieren. Es geht vielmehr darum, nach Unbekann-
tem zu suchen, so wie wir es auch bei »verborgenen« Intervallen und
Geschwindigkeiten tun müssen.
Nutzung der Polyphonielinse
Wenn wir die Polyphonielinse nutzen, um sich überschneidende Ereig-
nisse zu entwirren und zu untersuchen, läuft das im Wesentlichen auf
drei Aufgaben hinaus:
1. Auf die Vertikale achten: Stellen Sie fest, was gleichzeitig vorgeht und Aus-
wirkungen auf Ihre Arbeit oder Ihr Unternehmen haben könnte.
2. Auf die Struktur achten: Machen Sie sich klar, wie gleichzeitige Ereig-
nisse, Aktivitäten und Prozesse zusammentreffen. Welche preschen
vor, hinken hinterher, überschneiden sich usw.?
3. Auf Einflüsse achten: Finden Sie heraus, wie ein Ereignis gleichzeitige
Vorgänge verursacht, beeinträchtigt oder beeinflusst.
Auf die Vertikale achten: Was passiert gleichzeitig?
Denken Sie an eine berufliche oder private Situation in Ihrem Leben,
in der es auf das Timing ankommt. Es gibt einige Faustregeln, wie viele
Tracks zu ihrer Beschreibung notwendig sind. Jede Situation hat zwar
ihre Eigenheiten, aber einige allgemeine Strategien können bei ihrer
Analyse helfen. Sie gliedern sich in zwei Kategorien. Die erste befasst
sich mit den sichtbaren, die zweite mit den »vergessenen« oder »verbor-
genen« Tracks. Ich beginne mit der ersten Kategorie.
180 Jetzt!
Alle beweglichen Elemente oder Dimensionen erfassen
Bestimmen Sie zunächst alle Bereiche und Funktionen (wie Forschung
und Entwicklung, Herstellung und Marketing), die mit der fraglichen
Situation zu tun haben. Skizzieren Sie dann die einzelnen Tracks, die
mit jedem dieser beweglichen Elemente verbunden sind. Denken Sie
daran, alle Dimensionen einzubeziehen: Wirtschaft (konjunkturelle
Tracks), Finanzen (Tracks für steigende und fallende Kurse), Verwaltung
(Tracks für personelle Veränderungen), Technik (Tracks für Erfindung
und Nutzung von Technologie), Politik (Tracks für politisch-ideologische
Veränderungen), Recht (Tracks für Änderungen bei Gesetzen und Vor-
schriften) und soziokulturelles Umfeld (etwa Tracks für den Aufstieg
und Niedergang sozialer Bewegungen oder veränderte Wertvorstellun-
gen).
Nicht zu vergessen sind die Kontextfaktoren. Sehen Sie Tracks für
Aktionäre und für Verhalten und Reaktionen verschiedener Agenten
und Akteure vor. Stellen Sie sich den Kontext als einen Satz konzen-
trischer Kreise vor, angefangen beim Einzelnen über die Gruppe, die
Firma oder Organisation bis hin zur Branche und zur Nation. Der größte
Kontext ist der globale, der internationale Vorgänge erfasst. Ordnen Sie
jedem »Ring« einen eigenen Track oder einen Satz von Tracks zu.
Es geht darum, dass Sie alle beweglichen Elemente in dem Kontext,
in dem Sie sich befinden, ausmachen. Eine hilfreiche Regel lautet, sämt-
lichen »Substantiven« einen eigenen Track zuzuordnen. Alles, was even-
tuell eine eigene Entwicklungssequenz haben könnte, zum Beispiel eine
eigene Änderungsrate, einen eigenen Rhythmus oder eine eigene Inter-
punktion, bekommt einen eigenen Track. Jeder dieser Tracks kann das,
was in Ihrer Situation vor sich geht, potenziell beeinflussen.
Alle verborgenen oder übersehenen Tracks suchen
Dieser Schritt ist etwas komplexer. Wir neigen dazu, Prozesse, die sich
auf unsere Arbeit und unser Unternehmen auswirken, zu übersehen,
weil unsere Beschreibungen der Welt häufig »flach« sind. Um die
Höhendimension zu erfassen, müssen wir Ereignisse anders beschrei-
Polyphonie 181
ben. Nehmen wir als Beispiel die Äußerung: »Eine Firma beschließt,
ein Produkt herzustellen und zu vermarkten.« Dieser Satz bezieht sich
auf eine einzige Zeitschiene: zuerst A, dann B; zuerst herstellen, dann
vermarkten.
Dieselbe Ereignisfolge lässt sich als polyphone Struktur beschreiben,
indem wir sie parallel betrachten. Untersuchen Sie einfach jedes Ele-
ment auf seiner eigenen Zeitschiene: jeweils eine Schiene für die Firma,
den Herstellungsprozess, das Produkt und den Markt. Jedes dieser vier
Elemente wird sich im Laufe der Zeit verändern und mit anderen über-
schneiden. Firmen werden gekauft und verkauft. Neue Technologien ver-
ändern die Herstellung des Produkts. Marketingstrategien entwickeln
sich ebenso weiter wie der Markt für das Produkt.
Der Wechsel von der seriellen zur parallelen Betrachtung rückt Fra-
gen der Zeit und des Timings in den Vordergrund. Ist es der richtige
Zeitpunkt für diese Firma, dieses spezielle Produkt auf den Markt zu
bringen? Wird sich ihre Marketingstrategie schnell genug verändern?
Diese Fragen fördert ein Satz nicht zutage, der lediglich sagt: »Eine
Firma beschließt, ein Produkt herzustellen und zu vermarkten.« Aus
diesem Grund ist eine andere Sichtweise sinnvoll. Da die Welt komplex
ist, neigen wir dazu, sie zu vereinfachen, und weil sie in Bewegung ist,
stabilisieren wir sie. Wir müssen uns über diese unbewussten Verein-
fachungen unserer Welt im Klaren sein (und daran arbeiten, sie zu über-
winden), sonst entgehen uns die überlappenden Ereignisse, die sich auf
unsere Tätigkeit auswirken.
Die Sichtweise zu ändern ist keineswegs bloß eine akademische
Übung. Erinnern wir uns, wie General Rupert Smith den Wandel des
modernen Krieges beschrieb. Entscheidend ist seine Formulierung »Hin
und Her«, ein Hinweis darauf, dass eine Art Parallelstruktur notwendig
ist, um das Ganze zu verstehen. Wenn wir nicht in polyphonen Struktu-
ren denken, führt das zu Verwirrung und letztlich zu Frustration. Neh-
men wir ein Problem der zeitlichen Interpunktion. Wann wird ein Krieg
vorbei sein? Wann wird erneut Gewalt ausbrechen? In einer seriellen
Welt gibt es Antworten auf solche Fragen. In der polyphonen Welt sind
solche Antworten weitaus weniger klar umrissen. Statt zu einer einzigen
Antwort zu führen, wirft eine Frage weitere Fragen auf: Was müssen wir
182 Jetzt!
parallel erledigen, und wie beeinflussen diese verschiedenen Prozesse
sich gegenseitig, wenn wir sie im Laufe der Zeit umsetzen?
Wenden wir uns nun Möglichkeiten zu, alle relevanten Tracks (Ereig-
nisse, Situationen, Umstände), die durch andere Tracks verborgen oder
verdeckt werden, zu finden und zu bedenken.
Vergessene Tracks
Bei verschiedenen Arten von Tracks neigen wir dazu, sie zu vergessen.
Ein Grund, warum wir sie übersehen, ist die Copland-Beschränkung.
Die Lage wird durch sie einfach zu vielschichtig. Die beiden ersten »ver-
gessenen« Tracks ergeben sich aus Änderungsraten, die zu langsam oder
zu schnell sind, um sie zu bemerken.
Termitentracks sind Prozesse, in denen das Mindesttempo des lang-
samsten Vorgangs so langsam ist, dass wir gar keine Veränderung bemer-
ken. So haben viele Menschen Rückenprobleme, weil wir größer, die
Tische jedoch niedriger geworden sind. Laut A. C. Mandel, Chefchirurg
am dänischen Finsen-Institut, hat die Durchschnittsgröße von Männern
und Frauen in den vergangenen 50 Jahren um 10 Zentimeter zugenom-
men, während die Durchschnittshöhe von Tischen um 20 Zentimeter
gesenkt wurde. »Das führt unausweichlich zu einer unnatürlicheren
Sitzhaltung [und] ist vermutlich der Hauptgrund für die wachsende Zahl
von Rückenleiden.«6 Termitentracks stehen für Prozesse, die sich lang-
sam vollziehen, aber letztlich die Gesamtstruktur eines Systems unter-
graben können. So kann sich eine Unternehmenskultur langsam und
schrittweise verändern, wenn einzelne Mitarbeiter die Firma verlassen
und durch andere ersetzt werden. Sobald dieser Kulturwandel den Kipp-
punkt erreicht, kann es Auswirkungen auf das Unternehmen haben.
Dennoch übersehen wir vielleicht die Warnzeichen, weil der Wandel so
langsam erfolgt ist. Es ist, als würde der Autopilot in einem Flugzeug die
Flugrichtung so allmählich ändern, dass die Piloten die Abweichung gar
nicht bemerken.7
Highspeed-Systeme: In Kapitel vier (Tempo) haben wir uns mit dem
Maximaltempo des schnellsten Prozesses befasst. Solche Tracks bleiben
oft verborgen, weil sie so schnell sind, dass wir sie weder vorhersehen
Polyphonie 183
noch erfassen. Ein Highspeed-Prozess kann ein Naturereignis wie ein
tobender Waldbrand sein oder eine Kettenreaktion wie ein von Panik
geschürter Bankenrun. Auch die hohe Geschwindigkeit von Symbol-
systemen habe ich bereits erwähnt. Wenn Symbolsysteme zu einem
wichtigen Bestandteil unserer Realität werden, sollten wir uns auf ihre
Geschwindigkeit einstellen. Aufgrund von Netzwerken, die auf Symbo-
len – Computercodes und Algorithmen – basieren, rast Kapital in Nano-
sekunden um den Globus. Vergessen Sie also nicht, Tracks für Prozesse
vorzusehen, die »im Nu« oder bei Computern noch schneller ablaufen
können.
Alternativtracks
Diese Tracks beschreiben Handlungen oder Ereignisse, die Alternativen
zu den Vorgängen anderer Tracks darstellen. Erinnern wir uns an das
Beispiel der Frau, die sich scheiden ließ. Das Verfahren dauerte unter
anderem deswegen so lange, weil die beteiligten Anwälte noch andere
Fälle bearbeiteten, die ihre Aufmerksamkeit verlangten. Sie konnten
A nicht tun, weil sie B tun mussten. Wenn Sie also wissen wollen, wie
lange die Renovierung Ihrer Küche dauern wird, fragen Sie den Hand-
werker, wie viele andere Aufträge er zur gleichen Zeit erledigen wird oder
erledigen könnte, wenn sich die Gelegenheit dazu böte. Seine Antwort
wird Ihnen viel darüber sagen, wann Ihre Küche wahrscheinlich fertig
wird. Nehmen wir an, eine Firma betreibt eine Sparte in einem sich ver-
schlechternden Markt. Wann sollte sie diese Sparte schließen und diesen
Markt verlassen? Wenn sie keine Alternativen kennen – etwa andere, ein-
träglichere Geschäftsfelder –, werden viele Firmen die ohnehin bereits
gesenkten Kosten noch weiter rationalisieren und auf eine Wende hof-
fen. Die beste Möglichkeit für einen rechtzeitigen Ausstieg: eine Alter-
native parat zu haben, wenn man sie braucht. Und das erreichen Sie am
besten, indem Sie jeder möglichen Alternative zu Ihrem gegenwärtigen
Kurs einen eigenen Track zuordnen. Auf diese Weise behalten Sie den
Überblick.
Alternativtracks gehören auch in die Betrachtung von Angebot und
Nachfrage. Nach gängiger Ansicht kaufen Kunden mehr, wenn der Preis
184 Jetzt!
eines Produkts sinkt; wenn Preise steigen, kaufen sie weniger. Das ist
jedoch nicht immer der Fall. Wenn Preise fallen, fühlen Kunden sich
manchmal reicher und kaufen folglich nicht mehr von einem Produkt,
sondern etwas anderes, was sie sich vorher nicht leisten konnten. Sol-
che Produkte bezeichnen Wirtschaftswissenschaftler als Giffen-Güter,
benannt nach dem britischen Statistiker der viktorianischen Zeit Robert
Giffen, der dieses Phänomen als Erster erkannte.8 Fragen Sie sich: Wie
könnten sich die Bedürfnisse meiner Kunden so verändern, dass sie ein
völlig anderes Produkt oder Erlebnis suchen, wenn sich der Preis meines
Produkts ändert?
Interpretationstracks
Ob man den richtigen Zeitpunkt zum Handeln wählt, hängt von der
Interpretation der jeweiligen Situation ab. Wenn ein Land anfängt, seine
Biowaffen von einem Standort an einen anderen zu verlagern, heißt das,
es bereitet sich darauf vor, sie einzusetzen? Falls ja, ist dann sofortiges
Handeln erforderlich? Um nicht zu vergessen, dass Timing von der
Interpretation der Ereignisse abhängt, gibt man am besten jeder Inter-
pretation einen eigenen Track.
Während einer Protestaktion gegen einen konservativen Kolumnisten
ging die Polizei 1993 an der Universität von Pennsylvania gegen schwarze
Studenten vor, um zu verhindern, dass diese sich der aktuellen Ausgabe
der Studentenzeitung bemächtigten. In einem späteren Bericht über den
Vorfall hieß es: Die »Beamten hätten erkennen müssen, dass der Ver-
such der Studenten, sämtliche Zeitungen zu beseitigen, zwar gegen die
Universitätsregeln verstieß, aber ›eine Form von Protest und kein Hin-
weis auf kriminelles Verhalten‹ war«.9 Hätten die Studenten sich krimi-
nell verhalten, hätte die Polizei rechtzeitig eingegriffen. War die Aktion
der Studenten jedoch ein rechtmäßiger Protest, dann hatte die Polizei
vermutlich vorschnell gehandelt. Wenn die Polizei einen Timingfehler
beging, so hatte er mit ihrer Interpretation der Ereignisse zu tun.
Gäbe es für diese Geschichte nur eine mögliche Interpretation, dann
ließen sich die Ereignisse nacheinander auf einem einzigen Track oder
einer Zeitschiene anordnen. Wenn aber verschiedene Interpretationen
Polyphonie 185
möglich sind, brauchen Sie mehrere Tracks – einen für jede »Lesart«
der möglichen Vorgänge. Stellen Sie sich drei Fragen: (1) Wann werde
ich wissen, welcher Track oder welche Interpretation zutrifft? (2) Welche
möglichen Vorgänge zu diesem Zeitpunkt könnten mein Urteil beeinflus-
sen? (3) Angenommen, meine Interpretation ist richtig, wann sollte ich
handeln?
Reaktionstracks
Wenn jemand in einer Organisation eine Änderung – zum Beispiel
eine neue Unternehmenspolitik – vorschlägt oder einführt, ist mit einer
Reaktion zu rechnen: vielleicht Unterstützung, vielleicht Opposition.
Auf jede Aktion gibt es eine gleich starke Reaktion, wie Newton sagen
würde. Es stellen sich vier Timingfragen in Bezug auf Reaktionen. Sie
betreffen zeitliche Interpunktion, Form und Tempo:
1. Wann wird die Reaktion oder der Gegenprozess anfangen?
2. Wie schnell wird er sich entwickeln?
3. Wann wird er eine beträchtliche Größe erreichen?
4. Wann wird er vorbei sein?
Kurz: Wie sieht die Gesamtform der Kurve aus, die Anfang, Entwicklung
und Verlauf der Reaktion darstellt?
Einen Überblick über eine mögliche Reaktion verschaffen Sie sich am
besten, indem Sie ihr einen eigenen Track zuordnen. Auf diese Weise
können Sie Form und Timing von Anfang an berücksichtigen. Wenn
Sie Aktionen und Reaktionen auf demselben Track anordnen, werden Sie
eine mögliche Reaktion tendenziell als zukünftiges Ereignis einstufen.
Dadurch könnten Sie es leicht aus dem Blick verlieren und vergessen.
Zieltracks
Häufig verfolgen Menschen und Organisationen mehrere Ziele und Zwe-
cke gleichzeitig: Gewinn, Steigerung des Ansehens, Wohlstand für die
nächste Generation eines Familienunternehmens und so fort. Manch-
mal sind diese Ziele miteinander vereinbar, manchmal nicht. Und im
186 Jetzt!
Laufe der Zeit können sich manche Zielsetzungen verändern. Ein Ziel
kann an die Stelle eines anderen treten. Nehmen wir die Dollarauktion,
die ich im vierten Kapitel (zeitliche Interpunktion) beschrieben habe.
Das ursprüngliche Motiv der Gewinnmaximierung wurde schließlich
bei vielen durch das Motiv ersetzt, Verluste zu vermeiden, da der Ver-
lierer sein letztes Gebot zahlen musste. Wenn Sie nicht für verschiedene
Ziele und Zwecke separate Tracks vorsehen, könnte Ihnen zu spät klar
werden, dass Ihre Ziele sich ändern sollten.
Qualitative Tracks
Wichtige Ereignisse, Prozesse oder Aktivitäten, die sich schwer quanti-
fizieren lassen, sollten ebenfalls Tracks erhalten. Der Zusammenbruch
der Sowjetunion ist ein warnendes Beispiel dafür, was passiert, wenn wir
nicht berücksichtigen, was sich nicht ohne weiteres messen lässt: näm-
lich »die Leidenschaften – die Anziehungskraft von ethnischer Loyalität
und Nationalismus, die Forderungen nach freier Religionsausübung und
freiem kulturellem Ausdruck und das Gefühl, dass das Regime schlicht
seine moralische Legitimität verloren hatte«.10 Weil viele Experten für die
Sowjetunion diese Faktoren nicht bedachten, sondern auf Dinge vertrau-
ten, die sie präziser darstellen konnten – also wirtschaftliche und militä-
rische Faktoren –, entging ihnen, wann und wie schnell es zum Zusam-
menbruch kommen würde. Bedenken Sie also auch qualitative Tracks,
ganz gleich, in welchem Bereich Sie tätig sind. Was sich nicht quanti-
fizieren lässt, wird häufig als soft oder subjektiv abgetan – besonders in
Organisationen, die Wert auf Präzision legen und darauf bestehen, alle
Entscheidungen aufgrund von »Zahlen« zu treffen. Aber diese Einstel-
lung kann wie beim Zusammenbruch der Sowjetunion zu Timingfeh-
lern und verpassten Chancen führen.
Sobald Sie die sichtbaren und verborgenen Ereignisse und Situationen
(Tracks) für Ihr Umfeld erkannt haben, können Sie diese eingehender
daraufhin untersuchen, wie sie sich gegenseitig beeinflussen und über-
schneiden.
Polyphonie 187
Genügend Tracks einbeziehen
Nachdem wir uns mit den Möglichkeiten befasst haben, verborgene oder
leicht zu übersehende Tracks zu finden, stellt sich die Frage: Wie viele
Tracks sind genug? Allerdings ist das so, als würde man bei einem Wol-
kenkratzer fragen: Wie hoch ist hoch genug? Die Antwort hängt vom
Zweck des Gebäudes ab. Soll er ein Wahrzeichen sein und die Skyline
der Stadt prägen? Soll er etwas beweisen – zum Beispiel den Rekord für
das höchste Bauwerk brechen? Soll er die Wirtschaft stimulieren und mit
neuen Gewerbeflächen Unternehmen anlocken? Die Höhe eines Gebäu-
des hängt von seinem Zweck ab. Das Gleiche gilt für die Nutzung der
Polyphonielinse für Timingentscheidungen. Ich kann nicht sagen, wie
viele Tracks Sie einbeziehen und analysieren sollten. Aber aus Erfahrung
weiß ich, dass Sie für eine sachkundige Entscheidung einen C-Wert über
20 brauchen.
Im Rahmen einer Beratung über eine Unternehmensstrategie
spielte ich mit dem IT-Abteilungsleiter einer Versicherungsgesellschaft
bestimmte Geschäftsszenarien durch. Wir schrieben Tracks auf sein
Whiteboard. Als wir etwa 20 Tracks hatten, trat er einen Schritt zurück
und stellte fest, dass die Entscheidung, wann das Unternehmen sein
Computersystem nachrüsten sollte, Auswirkungen auf die gesamte stra-
tegische Ausrichtung der Firma haben würde. Die Polyphonielinse half
ihm, über den eigenen Tellerrand zu schauen. Ein ähnliches Erlebnis
hatte ich bei der Arbeit mit einem Finanzunternehmen. Die Mitarbeiter
waren darauf bedacht, bei der Preisgestaltung mit der Konkurrenz mit-
zuhalten. Wir fingen an, die Branche zu beschreiben, in der die Firma
tätig war, und fügten immer mehr Tracks hinzu, um ihre Komplexität zu
erfassen. Bei etwa zwanzig Tracks stellten wir fest, dass Veränderungen
in der Branche den Preiskampf wahrscheinlich irrelevant machen wür-
den. Der Preis wäre bald nicht mehr der Hauptfaktor für Rentabilität.
Wie viele Tracks brauchen Sie also? Eine Maxime ist das, was ich die
Regel des zweiten Dutzends genannt habe. Nach meiner Erfahrung bildet
das erste Dutzend Tracks lediglich das visuell ab, was Sie bereits wissen.
Erst das zweite Dutzend ermöglicht es Ihnen, die Situation in neuem
Licht zu sehen.
188 Jetzt!
Auf die Struktur achten: Wie treffen Ereignisse, Aktivitäten und Prozesse zusammen?
Die Polyphonielinse lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das Zusammen-
treffen gleichzeitiger Prozesse: Welche finden gleichzeitig statt, welche
sind zeitlich getrennt? Jede Anordnung (Überschneidung oder Nicht-
überschneidung) kann Geschäftsrisiken oder Chancen bergen.
Synchronrisiko: das Risiko der Überschneidung
Im Jahr 2000 musste der Fernsehsender NBC peinlich berührt feststel-
len, dass sich nicht so viele amerikanische Zuschauer die Olympischen
Spiele in Australien ansahen, wie er – und seine Werbekunden – es
erwartet hatten. Das Problem hatte unter anderem mit dem Termin der
Spiele zu tun, die später als üblich anfingen, weil das Gastgeberland
Australien auf der Südhalbkugel liegt, wo die Jahreszeiten gegenüber
der Nordhalbkugel verkehrt sind. Laut Wall Street Journal schoben die
NBC-Chefs und andere die schlechten Einschaltquoten auf die sport-
liche Konkurrenz – unter anderem durch den Titelkampf im Baseball
und durch die Spiele der National Football League. Als weiteren Faktor
nannten sie den Zeitunterschied zwischen Australien und den Ver-
einigten Staaten.11 Manche gingen sogar so weit, sich zu fragen, ob die
Amerikaner völlig das Interesse an den Olympischen Spielen verloren
hätten.
Acht Jahre später bewiesen die Olympischen Spiele in Beijing
jedoch, dass dieses Ereignis nach wie vor ein großes Publikum anlo-
cken konnte. Die Medien verzeichneten sogar ein stärkeres Interesse
an den Spielen denn je und das größte Fernsehpublikum der olym-
pischen Geschichte. Auch die Olympischen Spiele 2012 in London
waren ein großer Erfolg. »Die Spiele hatten durchschnittlich über 30
Millionen Zuschauer pro Abend und insgesamt weit über 200 Millio-
nen Zuschauer.«12 Was hatte NBC also falsch gemacht? Ein Teil des
Fehlers war sicherlich, dass NBC die Auswirkungen sämtlicher sich
überschneidender Ereignisse und Umstände zur Zeit der Olympischen
Spiele nicht erfasste, nämlich:
Polyphonie 189
• Wetter: Die Olympischen Spiele fanden nicht im Sommer, sondern im
Herbst statt, um dem australischen Winter zu entgehen.
• Der politische Kalender: Im Herbst fand in den USA eine Präsidentschafts-
wahl statt, die um die Aufmerksamkeit der Medien und Zuschauer
konkurrierte.
• Auf- und Abschwung des Patriotismus: Das Ende des Kalten Krieges Jahre
zuvor beseitigte eine klare Rivalität und machte die Olympischen
Spiele weniger symbolträchtig. Sie waren nun stärker ein Wettkampf
zwischen Athleten und weniger ein Wettkampf zwischen Nationen
und Ideologien (ein Beispiel für Termitentracks).
• Technologie: Durch das aufkommende Internet, das Informationen in
Echtzeit verfügbar machte, wurde die zeitverzögerte Übertragung der
Ereignisse zu einer schwierigen Aufgabe.
• Konkurrenz: Die Olympischen Spiele standen in Konkurrenz zur Base-
ball- und Footballsaison (einem Alternativtrack).
Mit der Polyphonielinse lässt sich besser erkennen, welche sich über-
schneidenden Bedingungen im Spiel sind und wie man darauf reagieren
sollte. Hätte NBC die Probleme vorausgesehen, die durch so viele gleich-
zeitige Ereignisse entstehen – was durchaus möglich gewesen wäre –,
dann hätte der Sender Möglichkeiten entwickeln können, von der Zeit-
verzögerung zu profitieren. Er hätte beispielsweise in Großaufnahme
und Zeitlupe zeigen können, wie ein Athlet die Goldmedaille gewann.
Oder er hätte während der Baseballspiele aktuelle »Olympia-Updates«
einblenden können, um Zuschauer an die Spiele zu erinnern. Entschei-
dend ist, dass die Nutzung der Polyphonielinse im Voraus die Probleme
offenbart hätte, auf die NBC stoßen würde.
Da sich immer viele Ereignisse und Bedingungen überschneiden, sind
Synchronrisiken nahezu überall zu finden. Am 1. August 2007 stürzte
eine Brücke über den Mississippi in Minneapolis ein. Es gab 14 Tote und
145 Verletzte. Ermittlungen ergaben, dass sich beim Hauptbrückenbogen
mehr als die Hälfte der Last auf eine 35 Meter kurze Teilstrecke konzen-
trierte, die zu beiden Seiten der Einsturzstelle lag. Bei der Erneuerung
der Fahrbahndecke hatte man feine und grobe Baustoffe für den Belag
unmittelbar über der Stelle abgekippt, an der die Nationale Behörde für
190 Jetzt!
Verkehrssicherheit später den Konstruktionsfehler entdeckte, der Stahl
und Beton in den Mississippi stürzen ließ.13
Schauen wir zurück, um zu verstehen, was passierte. Eine Brücke
wird gebaut. Der Verkehr fließt während der Rushhour stärker, zu ande-
ren Zeiten schwächer. Nach vielen Jahren muss die Brücke instandge-
setzt werden. Um den Einsturz zu vermeiden, hätte man vorhersehen
müssen, wie die Reparaturarbeiten und der zunehmende Berufsverkehr
zusammenwirkten. Im Laufe der Jahre hatte der Verkehr zugenommen.
Die Bevölkerung war gewachsen und mit ihr der Verkehr während der
Stoßzeiten. (Diese langsamen Steigerungen sind Beispiele für Termiten-
tracks.) In der Folge hatte sich die Gesamtlast der Brücke erhöht. Das
führte zusammen mit dem Gewicht der Baustoffe und Baumaschinen
zum Einsturz der Brücke.
Die anschließenden Ermittlungen stellten zudem einen Kon-
struk tionsfehler bei einem Brückenteil fest: Es war zu schwach ausge-
legt. Das war sicher ein wichtiger Faktor. Aber die Lehre ist klar: Um
Synchronrisiken – Gefahren durch sich überschneidende Ereignisse –
vorherzusehen, sollten Sie von Anfang an Bedingungen bedenken, die
im weiteren Verlauf zusammentreffen könnten. Ein Grund, weshalb
wir es nicht tun, ist ironischerweise das Phänomen, dass unser übliches
Kausaldenken unsere Überlegungen weitgehend auf eine einzige Zeit-
schiene fokussiert. Wir konzentrieren uns darauf, was auf was folgt, statt
auf das, was gleichzeitig vorgeht – aber eben dort sind Synchronrisiken
zu finden. Ursache der Weltwirtschaftskrise war nicht der Börsencrash
1929, sondern »eine Reihe unzusammenhängender internationaler
Finanzereignisse«, die gleichzeitig eintraten, wie der US-Notenbankchef
Ben Bernanke anmerkte.14
Für den Umgang mit Synchronrisiken bietet sich eine asynchrone
Lösung an. So gehen Hedge-Fonds vor, wenn sie die Rücknahme der
Anteile auf eine gestaffelte Auszahlung begrenzen. Diese gestaffelte Aus-
zahlung verhindert, dass im Fall einer Panik alle Anleger ihr Geld gleich-
zeitig abziehen. Sie verschafft darüber hinaus Zeit, einen kühlen Kopf
zu bewahren und eine Änderung der Marktlage abzuwarten, die Anleger
überzeugt, weiter in den Fonds zu investieren.
Ein weiteres Beispiel ist die asynchrone Lösung, die der Ökonom
Polyphonie 191
Richard Thaler für das unzureichende Sparverhalten amerikanischer
Arbeiter vorschlug (soweit ich weiß, wartet sie immer noch auf eine
Umsetzung). Der Plan sollte Arbeitern Anreize bieten, einen Teil ihrer
zukünftigen Lohnerhöhungen in höhere Rentensparbeiträge zu inves-
tieren. Sie sollten sich lange vor der nächsten Lohnerhöhung zu dieser
Beitragserhöhung verpflichten, die aber erst mit der Auszahlung des
höheren Lohns in Kraft treten sollte. Da die höheren Rentensparbeiträge
erst mit der Lohnerhöhung fällig würden, wäre gewährleistet, dass der
Nettolohn der Arbeiter nicht sank.15 Das Timing des höheren Einkom-
mens und der zusätzlichen Sparbeiträge wäre synchronisiert. Eine per-
fekte Harmonie.
Die Überschneidung von Ereignissen und Umständen kann also
auch positive Folgen haben, die wir Synchronvorteil nennen können. So
erklärte der Regisseur Peter Brook, dass Überschneidungen ihn vor Fehl-
schlägen schützten: »Dabei erlebte ich das Ende einer Arbeit nie in dieser
Weise … Ich sorgte immer dafür, daß die nächste Produktion schon ver-
abredet war, bevor ich die laufende zu Ende brachte, um die Gefahr des
Scheiterns zu überspielen.«16
Es ist auch durchaus effizient, von vornherein die Erledigung mehre-
rer Dinge gleichzeitig zu planen. So findet der Fahrplanwechsel für die
Züge, die zur Grand Central Station in New York fahren, gleichzeitig mit
der Umstellung von Sommer- und Winterzeit statt. Wie Dan Brucker, ein
Sprecher der Metro-North Commuter Railroad Company, erklärt, sind
die gleichzeitigen Umstellungen einfacher und ermöglichen es Fahr-
gästen, sich besser an die Fahrplanänderungen zu gewöhnen.17 Wenn
wir sorgfältig über gleichzeitige Ereignisse nachdenken, eröffnet uns das
Möglichkeiten für positive Ergebnisse und besseres Risikomanagement.
Synchronanforderungen: Wenn Bedingungen zusammentreffen müssen
Synchronanforderungen betreffen Bedingungen, die gleichzeitig
erfüllt sein müssen, damit ein Plan oder eine Aktivität erfolgreich
ist. So kann eine Technologie zu früh kommen, wenn die für ihren
Erfolg notwendigen Voraussetzungen wie beispielsweise Marktbereit-
192 Jetzt!
schaft und nötige Infrastruktur nicht vorhanden und synchronisiert
sind. Ein Beispiel ist der Pneu oder Luftreifen, den Robert Thompson
1845 zum Patent anmeldete. Allerdings konnte er das Produkt nie zu
einem kommerziellen Erfolg machen. Erst John Dunlop gelang es in
den 1880er Jahren, den Luftreifen weithin zu vermarkten. Mittlerweile
gab es immer mehr Fahrräder, und Luftreifen sorgten hervorragend
für ein ruhiges Fahrverhalten.18 Thompsons Timing war schlecht, weil
bestimmte Bedingungen nicht gegeben waren, als er seine Innovation
vorstellte.
In vielen Situationen gibt es Synchronanforderungen. Das beste Bei-
spiel aus jüngster Zeit ist die erfolgreiche Notlandung auf dem Hudson
River durch den Piloten Sullenberger, nachdem sein Flugzeug einen
Vogelschlag erlitten hatte. Er schilderte seine Aufgabe folgendermaßen:
»Ich musste mit der Nase leicht nach oben landen … mit exakt waage-
recht ausgerichteten Tragflächen … mit einer angemessenen Geschwin-
digkeit, die unser Überleben sicherte … knapp über unserer Mindestflug-
geschwindigkeit, aber nicht darunter. Und ich musste zusehen, dass das
alles gleichzeitig gegeben war.«19
Sullenberger vollbrachte eine außergewöhnliche Leistung. Sie erfor-
derte Training, Erfahrung und eiserne Nerven. Aber wir alle leisten mit
jeder Entscheidung, die wir treffen, etwas, was Synchronisation verlangt.
Denn ein Vorgang gilt erst als Entscheidung, wenn drei Bedingungen
gleichzeitig erfüllt sind: Erstens muss uns klar sein, dass wir eine Wahl
haben; zweitens muss diese Wahl zwischen zwei erkennbar unterschied-
lichen Alternativen erfolgen, die zu unterschiedlichen Ergebnissen füh-
ren. Sonst könnten wir ebenso gut eine Münze werfen. Und schließlich
müssen wir das Gefühl haben, etwas bewirken zu können. Wenn wir
glauben, dass Kräfte jenseits unserer Kontrolle bereits über den Ausgang
entschieden haben, ist die Wahl lediglich eine Formalität. Erst wenn
diese drei Bedingungen gleichzeitig erfüllt sind, wird aus einem Vor-
gang eine Entscheidung. Deshalb ist manchmal nicht klar, ob wir tat-
sächlich eine Entscheidung getroffen oder aber aus Gewohnheit oder
nach den üblichen Gepflogenheiten gehandelt haben. Wir sprechen gern
von Entscheidungen, um den Augenblick zu dramatisieren, in dem wir
sie treffen. Aber bei genauerem Hinsehen ist eine echte Entscheidung
Polyphonie 193
keine Einzelhandlung, sondern ein Zusammentreffen von Bedingun-
gen. Das ist einer der Gründe, weshalb die Polyphonielinse wichtig ist.
Synchronanforderungen kann man leicht vergessen.
Synchronanforderungen unter der LupeDie Polyphonielinse ist bei der Planung aller möglichen Dinge nütz-
lich, von geschäftlichen Chancen bis zu Reisen. Laut New York Times
wollte ein Telekommunikationsingenieur namens Matt Holdrege aus
Los Angeles seinen Flug umbuchen, als es bei seinem Flug von Paris
in letzter Minute am Abflugterminal zu einer Verzögerung kam. Da
es angeblich technische Probleme gab, konnte sich die Verzögerung
endlos in die Länge ziehen. Während die Crew die Treppe heranrollte,
um den Techniker an Bord zu lassen, buchte Holdrege per Handy
einen anderen Nonstop-Flug mit British Airways nach Los Angeles.
Aber als die Flugbegleiter ihn gerade aussteigen lassen wollten, war
das technische Problem bereits behoben. Er beschloss, an Bord zu
bleiben, und das Flugzeug startete. Zum Leidwesen von Holdrege
und den anderen Passagieren war das jedoch noch nicht das Ende
der Geschichte. Das Flugzeug hatte in Paris so viel Zeit verloren, dass
die Crew nicht nach Los Angeles fliegen konnte, ohne die gesetzlich
erlaubte Arbeitszeit zu überschreiten. Also landete die Maschine in
Washington und wartete auf eine Ersatzcrew, was die ohnehin schon
große Verspätung noch verlängerte.20
Nichts hätte Holdrege gehindert, sich nach der Wahrscheinlich-
keit weiterer Verzögerungen zu erkundigen, aber er tat es nicht.
Warum? Oberflächlich betrachtet, ist die Antwort einfach. Da er
nicht für Fluggesellschaften arbeitete, konnte er nicht wissen, wie
lange Flugzeugbesatzungen ohne Pause fliegen durften. Das ist die
herkömmliche Auffassung, die so weit in Ordnung geht.
Aber wenn wir tiefer bohren, sieht die Geschichte anders aus.
Aus einem schlichten Übersehen wird ein Symptom für grundlegen-
dere Schwierigkeiten. Die Zeitarchitektur von Holdreges Flug (siehe
Abbildung 6.1) verdeutlicht, was ich meine.
194 Jetzt!
Abb. 6.1: •••• Holdreges Flug
Jedes Element von Holdreges Flug hat seinen eigenen Track. Die fünf
Haupttracks sind durch Pfeile dargestellt, die ihre Bewegungsrich-
tung anzeigen: einer für die Piloten, einer für die Kabinenbesatzung,
einer für das Flugzeug, einer für Holdrege und einer für die übrigen
Passagiere. Die Linie der Kabinenbesatzung beginnt vor dem Start
des Flugzeugs und endet vor dem geplanten Abschluss des Fluges,
was die Unterbrechung der anderen Linien erzwingt.
Zwei Uhren, die nicht abgebildet sind, spielen eine Rolle: Eine
zeigt die Abflugzeit des Flugzeugs, die andere die zulässige Arbeits-
zeit der Kabinenbesatzung.
Ein musikalisches Beispiel kann uns helfen, Holdreges Lage nach-
zuvollziehen: Stellen Sie sich vor (oder probieren Sie es aus), die fünf
Finger Ihrer linken Hand auf fünf beliebige Klaviertasten zu legen.
Dann schlagen Sie die Tasten kraftvoll an (der Start). Lauschen Sie
auf den Akkord (das gedämpfte Dröhnen eines fliegenden Flug-
zeugs). Heben Sie die Finger zur Landung. Machen Sie nun das Glei-
che noch einmal, aber diesmal nehmen wir an, dass Ihr Mittelfinger
mitten im Flug ermüdet und durch einen Finger der anderen Hand
ersetzt werden muss. Das Problem ist sofort offensichtlich. Was ist,
wenn dieser Finger gerade einen anderen Akkord spielt? Und selbst
wenn nicht, müsste der Wechsel reibungslos erfolgen, sonst würde
der Akkord unterbrochen, der für den Flug steht.
Der Akkord ist ein wichtiges Bild. Er erinnert uns daran, vertikal
zu denken und auf Dinge zu achten, die schon in der Gegenwart
ersichtlich sind. Selbst in den einfachsten Situationen ist die Zahl
ursprünglicher Nonstop-Flug
PilotenKabinenbesatzungFlugzeugHoldregeandere Passagiere
Polyphonie 195
Synchronanforderungen sind wichtig, aber in manchen Fällen ist Asyn-
chronizität von Vorteil. In gewissem Sinne geht es bei Innovationen
genau darum: der Erste zu sein. Ein asynchroner Verlauf kann auch eine
Quelle wissenschaftlicher Entdeckungen sein. Laut Einstein entwickelte
er sich als Kind asynchron zur Norm – und vielleicht trug diese Tatsache
dazu bei, dass er die Relativitätstheorie entdeckte. Er drückte es so aus:
»Der normale Erwachsene denkt nicht über Raum-Zeit-Probleme nach.
Alles, was darüber nachzudenken ist, hat er nach seiner Meinung bereits
in der frühen Kindheit getan. Ich dagegen habe mich derart langsam
entwickelt, dass ich anfing, mich über Raum und Zeit zu wundern, als
ich bereits erwachsen war. Naturgemäß bin ich dann tiefer in die Proble-
matik eingedrungen als ein gewöhnliches Kind.«21
Auf Einflüsse achten: Wie verursacht, beeinträchtigt oder beeinflusst ein Prozess Parallelprozesse?
Nachdem wir uns mit Anordnungen und Überschneidungen befasst
haben, kommen wir im nächsten Schritt zu der Frage, wie verschiedene
Ereignisse und Prozesse sich gegenseitig beeinflussen können. Der fol-
der Pfade oder Bahnen, die wir im Auge behalten müssen, größer,
als wir vielleicht dachten. In diesem Beispiel sind es fünf Tracks. Das
ist eindeutig mehr, als unserem nach der Copland-Beschränkung
begrenzten Denken lieb ist. Aber Holdrege musste noch ein weiteres
Hindernis überwinden – nämlich die Macht der Gewohnheit. Er war
es gewöhnt, die Flugbegleiter bei der Arbeit zu sehen. An die Tatsa-
che, dass alle Rollen und sichtbaren Aktivitäten mit einer zeitlichen
Infrastruktur einhergehen, die sie unterstützt, dachte er gar nicht.
Meine Beschreibung der Zeitarchitektur seines Fluges würde er zwar
erkennen, aber vertikales Denken und die Berücksichtigung serieller
Zwänge gehörten nicht zu seiner üblichen Art, Entscheidungen zu
treffen. Dazu müsste er die Polyphonielinse benutzen.
196 Jetzt!
gende Abschnitt erhebt zwar keinen Anspruch auf Vollständigkeit, bietet
aber einen hilfreichen Ausgangspunkt, über solche Einflüsse nachzu-
denken.
Ursache oder Auslöser
Eine Aktion kann eine andere verursachen oder auslösen. So hängt die
Solvenz mancher Institutionen wie etwa Banken vom Vertrauen anderer
ab. Wenn es schlecht läuft, bringen Vorstände von Finanzunternehmen
häufig ihr Vertrauen in die Zukunft zum Ausdruck. Alles andere würde
gerade die Bedingungen herbeiführen, die sie vermeiden wollen – eine
Panik und einen weiteren Vertrauensverlust. Wenn die Lage sich jedoch
verschlechtert, wird man diesen Führungskräften vorwerfen, dass sie
nicht sofort offengelegt haben, wie ernst die Situation war. Wenn eine
Krise eintritt, scheint sie daher oft »über Nacht« zu entstehen (das Maxi-
maltempo des schnellsten Prozesses ist sehr schnell), obwohl die Bedin-
gungen, die sie hervorgebracht haben, natürlich schon lange im Werden
waren. Was auf einem Track (von einer Gruppe) gesagt oder nicht gesagt
wird, definiert und erzeugt die Realität auf einem anderen Track (für
eine andere Gruppe).
Konkurrenz
Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, dass einzelne Beteiligte innerhalb
eines Unternehmens um Ressourcen – Geld, Technologie oder Perso-
nal – für Projekte konkurrieren. Aber eine zu extreme Konkurrenz kann
die Aufmerksamkeit von externen Chancen ablenken. Wenn in einem
Unternehmen Unruhe herrscht, ist damit zu rechnen, dass Manager
Marktchancen übersehen oder zeitlich falsch einschätzen, vor allem,
wenn sie unerwartet kommen oder flüchtig sind. Wenn wir wissen wol-
len, wann es zu handeln gilt, braucht es unsere Aufmerksamkeit für
unsere Umgebung, und dazu gehört auch die Dynamik der internen
Konkurrenz.
Polyphonie 197
Kooperation
Verschiedene Firmen beeinflussen sich gegenseitig in vielfältiger Weise
durch Kooperation. Sie arbeiten zum Beispiel zusammen, um Industrie-
standards festzusetzen oder gemeinsame Lobbyarbeit zu finanzieren.
Intern mögen verschiedene Abteilungen einer Organisation wie For-
schung und Entwicklung oder Marketing ihre eigenen Interessen ver-
folgen, aber sie müssen in gewissem Maße auch kooperieren, wenn sie
die Gesamtziele der Organisation erreichen wollen.
Verdeckung
Ein laufender Prozess kann einen anderen verdecken. So stellte Anthony
Harris, Leiter des Criminal-Justice-Programms an der University of Mas-
sachusetts, 1997 fest, dass die Rate schwerer Körperverletzungen »in den
vergangenen vier Jahrzehnten um mehrere Hundert Prozent in die Höhe
geschnellt, aber die Mordrate flach geblieben ist und nie um mehr als 50
Prozent zu- oder abgenommen hat«.22 Als Grund gab er an: »Die Mord-
rate wird künstlich niedrig gehalten, weil alljährlich Tausende poten-
zieller Mordopfer mittlerweile schnelle medizinische Hilfe bekommen
und überleben. Mit anderen Worten, Amerikaner sind nicht weniger
mordlüstern – es ist nur schwerer für uns geworden, uns gegenseitig zu
töten.« Schießereien mit Sturmgewehren mögen in jüngster Zeit diese
Sicht relativiert haben, aber bessere medizinische Notfallversorgung und
Reaktionszeiten bewahren Patienten davor, in die Mordstatistiken einzu-
gehen. Kurz: Die Zahl der Mordversuche mag steigen (Track 1), aber bes-
sere Behandlung (Track 2) lässt mehr Opfer überleben. Der zweite Trend
verdeckt den ersten. Um diese Tatsache zu erkennen, sollte man eine ein-
zelne Handlungskategorie wie einen Mord – der nach unserer Annahme
zu einem Zeitpunkt stattfindet (katzenhafte Punktfixierung) – als Folge
einer Sequenz von Vorgängen sehen, die sich auf verschiedenen Tracks
entwickeln.
198 Jetzt!
Verstärkung
Wenn verschiedene Handlungen oder Ereignisse gleichzeitig stattfin-
den, kann eine die andere verstärken oder intensivieren. Reduzieren in
einer Rezession alle gleichzeitig die Ausgaben, kann dieses kollektive
Verhalten die Rezession verschlimmern. Es gibt auch vorhersehbare Zei-
ten, in denen wir mit Verstärkungseffekten rechnen können. So äußern
Politiker sich im Wahlkampf besorgt über Themen wie Obszönitäten in
den Medien, um die Gemüter in bestimmten Wählergruppen zu erhit-
zen. Aber sobald die Wahlen vorbei sind, ebbt das Interesse wieder ab.
Aufhebung
Zwei parallele Prozesse können sich gegenseitig aufheben. Der Militär-
analytiker Daniel Ellsberg erinnerte sich an ein Gespräch, das er wäh-
rend des Vietnamkriegs mit dem damaligen US-Verteidigungsminister
Robert McNamara führte.23 Damals ging es um die Frage, ob Washing-
tons Bemühungen um eine Befriedung der Lage funktionierten. Ellsberg
fand, die Situation sei noch genauso wie ein Jahr zuvor. McNamara wies
seinerseits darauf hin, dass sich in diesem Zeitraum die Truppenstärke
um 100 000 Soldaten erhöht hatte, aber keine Veränderung eingetreten
war – tatsächlich hatte sich die Lage also verschlechtert.
Imitation und Entrainment
Es gibt viele Beispiele dafür, dass ein Prozess sich an einem anderen
orientiert. Dass es George Mitchell 1998 gelang, in Nordirland ein Frie-
densabkommen auszuhandeln, mag unter anderem am Präzedenzfall
Südafrika gelegen haben, das Anfang der 1990er Jahre eine friedliche
Abkehr von der Apartheid schaffte.24
Unter Entrainment verstehe ich eine Situation, in der ein Prozess
sich auf den Rhythmus eines anderen einschwingt.25 So beschlossen die
Franzosen vor einigen Jahren, etwas gegen die hohe Arbeitslosigkeit zu
unternehmen. Ihre Lösung: Sie reduzierten die Wochenarbeitszeit auf
35 Stunden. Dahinter stand eine einfache Strategie. Wenn Unternehmen
Polyphonie 199
dieselbe Produktivität bei kürzerer Arbeitszeit aufrechterhalten wollten –
was der Fall war –, müssten sie mehr Personal einstellen. Schließlich
entspricht die Produktivität der Zahl der Arbeitskräfte, multipliziert mit
der geleisteten Arbeitszeit. Wenn die Produktivität gleich bleiben und die
Arbeitszeit eines jeden Beschäftigten sinken sollte, musste das Unter-
nehmen mehr Personal einstellen, um die Differenz auszugleichen. C’est
logique! (Logisch!)
Aber so kam es nicht. Bei geringer Auslastung gaben die Unterneh-
men den Beschäftigten frei, und wenn die Nachfrage anzog, baten sie
sie, ohne Überstundenzuschläge mehr Stunden zu arbeiten. Im Laufe
eines Jahres arbeiteten sie durchschnittlich 35 Stunden pro Woche, aber
ihre Arbeitszeit variierte von Woche zu Woche und von Monat zu Monat.
Die Unternehmen synchronisierten also zwei Rhythmen: den wechseln-
den Bedarf an Arbeitskräften im Laufe des Jahres mit ihrer Möglichkeit,
das Angebot an Arbeitskräften über die Zeit zu regulieren. Ich sollte
allerdings noch hinzufügen, dass die Franzosen ihr Experiment einer
35-Stunden-Woche schließlich aufgaben – ohne Reue, wie Edith Piaf
sagen würde.
Kontrolle
Manche Muster kontrollieren oder steuern andere. Denken Sie nur
daran, wie stark unser Arbeits- und Privatleben von Uhr und Kalender
bestimmt wird. Die Verfügungsgewalt über die Zeit ist eine der mäch-
tigsten Kontrollformen, die wir besitzen. Bei den Nationalsozialisten in
Deutschland gab es den Begriff der »Gleichschaltung«, also »den Ver-
such, die gesamte Gesellschaft auf Linie zu bringen, nach den Impe-
rativen eines totalitären Regimes zu synchronisieren und in einen ein-
heitlichen Takt und Rhythmus zu bringen«.26 Jeder Wissenschaftler, der
im Labor forscht, beklagt sich zuweilen über finanzielle und bürokrati-
sche Kontrollen, die seine Kreativität einschränken und Entdeckungen
erschweren.
200 Jetzt!
Ersatz
Ein Track lässt sich durch einen anderen ersetzen. So wird ein stark
diversifiziertes Unternehmen versuchen, die Aufmerksamkeit der Bör-
sen auf seine einzige erfolgreiche Sparte zu lenken, wenn es in den ande-
ren Verlust macht.
Austausch oder Markt
Viele Tracks können zusammen einen Markt oder ein Netzwerk bilden.
Das geschieht, wenn beispielsweise Einzelne, Gruppen oder Firmen
unterschiedlicher Tracks im Rahmen einer Versorgungskette Güter und
Dienstleistungen untereinander kaufen und verkaufen.
Engagement
Unternehmen haben unterschiedlich viel miteinander zu tun. In man-
chen Fällen weiß eine Firma vielleicht nur vage, was eine andere macht.
In anderen Fällen beschließt sie vielleicht, die Aktivitäten der anderen
aufmerksam zu beobachten. Und in wieder anderen entscheidet sie, mit
anderen Firmen in Wettbewerb zu treten oder Einfluss auf deren Tätig-
keit zu nehmen.
Unabhängigkeit
Nicht alles steht in einem Zusammenhang. Manche Aktivitäten und
Handlungsstränge beeinflussen sich gegenseitig gar nicht. Sie bestehen
schlicht nebeneinander. Mein Lieblingsbeispiel stammt aus dem Prosage-
dicht »Glocke« des einflussreichen russischen Malers Wassily Kandinsky:
Einmal sagte ein Mann in Weißkirchen: »nie, nie tue ich das«. Ganz genau zur
selben Zeit sagte eine Frau in Mühlhausen: »Rindfleisch mit Meerrettich.«27
Auf irgendeine quantenmechanische Art mögen diese beiden Aktionen
vielleicht zusammenhängen. Aber praktisch dürfen wir meiner Ansicht
nach sicher annehmen, dass sie völlig unabhängig voneinander sind.
Polyphonie 201
Wir haben die Polyphonielinse genutzt, um die externe Umgebung
unter die Lupe zu nehmen. Schreiben Sie doch einmal drei oder vier
Vorgänge oder Ereignisse aus Ihrem Leben und Arbeitsbereich auf. Stel-
len Sie sich zwei Fragen: (1) Was passiert gleichzeitig? (2) Welche Dinge
geschehen getrennt voneinander? Und wie beeinflussen sich diese ver-
schiedenen Vorgänge oder Prozesse gegenseitig?
Angenommen, die Firmen A, B und C stehen im Wettbewerb um die-
selben Kunden. Es herrscht intensive Konkurrenz. Aber während dieses
Konkurrenzkampfes bemühen sich andere Akteure (Firmen, Lobbyis-
ten), aktiv Einfluss auf geplante Regulierungen zu nehmen, die Auswir-
kungen auf die gesamte Branche haben werden. Die Firmen A, B und C
sind vielleicht so auf ihren Konkurrenzkampf untereinander fokussiert,
dass sie diese Entwicklungen nicht verfolgen und daher nicht auf die
bevorstehenden Veränderungen vorbereitet sind.
Ziel der Polyphonielinse ist es, Beziehungen (in Hinblick auf Struktur
wie auch auf Einfluss) zwischen den zahlreichen gleichzeitig stattfinden-
den Prozessen und Ereignissen zu untersuchen. Informell tun wir das
ständig. Dieses Kapitel soll lediglich dazu einladen, es systematischer
und umfassender zu tun.
Polyphonierisiken
Täglich hören wir etwas über das Auf und Ab der Börsenkurse, aber nur
wenig über die unzähligen Transaktionen, die auf anderen, weitgehend
undurchsichtigen Märkten und Börsen stattfinden. Tatsächlich passiert
sehr viel, was dem durchschnittlichen Investor verborgen bleibt. Ange-
nommen, jemand würde Ihnen sagen, Sie könnten ein Wertpapier mit
einer Stückelung von 25 US-Dollar kaufen, das 30 Jahre lang monatli-
che Zinsen mit einem garantierten jährlichen Zinssatz zwischen 3 und
8 Prozent abwirft, und würden am Ende der Laufzeit Ihr Geld zurück-
bekommen. Das klingt zu schön, um wahr zu sein … und war es auch.
Aber die Bank Wells Fargo, die dieses Angebot machte, erklärte, sie habe
die Investoren umfassend über die Risiken aufgeklärt. Das Problem war,
202 Jetzt!
dass sich die Bedingungen in einer Weise änderten, die niemand voraus-
gesehen hatte. Neue Gesetze zur Reform der Wall Street und zum Ver-
braucherschutz machten es möglich, die Wertpapiere zu kündigen, die
dem Angebot zugrunde lagen. Die Kündigungsentscheidung basierte
auf Zinssätzen, und weil nur wenige Institutionen betroffen waren (der
Markt war klein), wirkten sich die Beschlüsse eines Unternehmens auf
alle aus. Um die tatsächlichen Risiken zu erkennen, hätte ein Investor
Veränderungen der Gesetzeslage, der Zinssätze und der Marktgröße
beobachten müssen – um abschätzen zu können, wie sämtliche betei-
ligten Unternehmen alle diese Veränderungen bewerten würden. Das
tat niemand.
Floyd Norris, der in der New York Times über dieses Thema schrieb,
machte für das Problem teils die Tatsache verantwortlich, dass Wells Far-
gos »Interesse am Bestand des Wertpapiers dem der Kunden entgegen-
gesetzt« war und das Bankhaus »nicht eindeutig erklärte, was schiefge-
hen könnte«.28 Das Problem besteht aber nicht nur in falschen Anreizen,
verborgenen Risiken oder der schlichten Unterlassung, diese Risiken zu
erklären. Was wir brauchen, ist vielmehr eine neue Erklärungskategorie
mit dem Namen »polyphone Risiken« – zu dem Zweck, sämtliche Risi-
ken durch eine Vielfalt von Akteuren aufzuzeigen, die alle im Eigenin-
teresse ihren jeweils eigenen Kurs unter wechselnden Bedingungen ver-
folgen. Nur eine solche klar präsentierte polyphone Offenlegung würde
es Investoren ermöglichen, das tatsächliche Risiko ihrer Investitionen zu
verstehen.
Wir können sicher nicht alle Situationen, Ereignisse, Konkurrenten
oder Prozesse im Auge behalten. Aber wir können trainieren, unser
Blickfeld so zu erweitern, dass wir die Auswirkungen vielfältiger Hand-
lungsstränge, ihre Wechselwirkungen und Einflüsse aufeinander über
die Zeit hinweg erfassen. Wenn jemand Ihnen vorschlägt, als Einzelner
oder als Institution ein Projekt zu sponsern oder eine Investition zu täti-
gen, sollten Sie sich fragen, wie viele Ereignisse, Vorgänge oder Aktivi-
täten gleichzeitig stattfinden werden und wie sich deren Wechselbezie-
hungen im Laufe der Zeit auswirken könnten.
Selbst bei Bauwerken wie zum Beispiel Brücken hat Synchronizität
Auswirkungen. Wie der Ingenieur und Autor Henry Petroski anmerkte,
Polyphonie 203
gehen Menschen normalerweise nicht im Gleichschritt, aber wenn sie
sich auf einer Brücke befinden, die zu schwingen anfängt, neigen sie
dazu, ihre Schritte zu synchronisieren, um die Balance zu halten. Die
Folge ist eine positive Rückkopplung, die die Brücke nur noch stärker
schwingen lässt.29
Nach Ansicht von Thomas Friedman, einem Kolumnisten der New
York Times, werden wir in Zukunft häufiger in globalem Maßstab mit
Synchronrisiken konfrontiert sein. Als Beleg führt er Konflikte in der ara-
bischen Welt und in Europa im Jahr 2012 an. Im Nahen Osten konnten,
wie er sagt, »die Jugendlichen durch diese Hyperkonnektivität [die stän-
dige Verbindung aller mit allen] besser erkennen, wie weit sie zurückla-
gen – mit allen Ängsten, die das schürte –, und folglich kommunizieren
und sich zusammenschließen, um etwas dagegen zu unternehmen«. In
der Europäischen Union offenbarte die Hyperkonnektivität, »wie wenig
wettbewerbsfähig manche ihrer Volkswirtschaften waren, aber auch, in
welch großer Abhängigkeit sie sich mittlerweile voneinander befanden.
Es war eine tödliche Kombination.«30 In beiden Fällen erwächst das Syn-
chronrisiko aus zwei Faktoren, Globalisierung und Informationstech-
nologie, die dafür sorgen, dass die Welt nicht nur verbunden, sondern
hyperverbunden ist.
In der Wirtschaft stellt sich die Frage, ob dieselben Bedingungen der
Konnektivität und Interdependenz – also Verbindung und gegenseitige
Abhängigkeit – zu einem steilen Anstieg der Inflation führen werden,
wenn die Volkswirtschaften der Welt sich gleichzeitig zu erholen begin-
nen. Und in Hinblick auf das Timing fragt sich, wie viel Vorwarnzeit wir
im Verhältnis zur Vorlaufzeit haben werden, die wir brauchen, um mit
diesem Risiko umzugehen.
Wenn wir die Polyphonie nicht berücksichtigen, können wir die fal-
schen Schlüsse ziehen. So untersuchte das Preisvergleichsportal Extra-
bux 2012 den günstigsten Zeitpunkt für Studenten, ihre Fachbücher im
Internet zu kaufen und zu verkaufen. Es fand heraus, dass am Anfang
und Ende des Herbstsemesters, also vom 20. bis 26 August und vom 7.
bis 13. Januar, die besten Zeitfenster waren. Bis hierhin entspricht das
Ergebnis dem gesunden Menschenverstand. Interessant war jedoch, was
Extrabux über das Verhältnis von Angebot und Nachfrage herausfand:
204 Jetzt!
Manchmal fallen die Online-Preise, wenn die Nachfrage nach Produkten
steigt.31 Die meisten von uns glauben, es müsste genau umgekehrt sein:
Bei hoher Nachfrage müssten die Preise steigen, nicht fallen.
Erst bei genauerem Hinsehen zeigt sich, warum dieses Phänomen
auftritt und wie es mit Polyphonie zusammenhängt. Dazu müssen
wir uns die Aktionen von Käufern und Verkäufern im Laufe der Zeit
ansehen. Wie verhalten sie sich? Wenn der Semesterbeginn näherrückt,
wird Studenten klar, dass es für ihre gebrauchten Bücher keinen Markt
mehr gibt, sobald die Seminare angefangen haben; möglicherweise ver-
wenden die Professoren im folgenden Jahr auch nicht das gleiche Buch.
Verkäufer eines Produkts, das sich seinem Verfallsdatum nähert, gera-
ten zunehmend in Bedrängnis, zumal wenn sie das Geld brauchen,
um ihre Bücher für das neue Semester zu kaufen. Deshalb sinken die
Preise, auch wenn es mehr Käufer gibt. Verkäufer müssen ein Produkt
mit kurzer Haltbarkeitsdauer verkaufen, und es finden sich in der Folge
zahlreiche Käufer, die diese Situation nutzen. Es ist alles eine Frage des
Timings. Um diesen Effekt vorherzusehen, müssen wir uns eine poly-
phone Struktur mit mehreren Akteuren vorstellen, die gleichzeitig eine
ähnliche oder unterschiedliche Vorgehensweise verfolgen.
Polyphonieoptionen und -chancen
Mehrere sich überschneidende Ereignisse und Vorgänge bergen Risiken;
sie können aber auch Gelegenheiten zu Innovationen schaffen. Die Poly-
phonielinse lässt sich auf verschiedene Arten nutzen, um das Timing zu
verbessern.
Höhe anpassen
Jeder von uns kann sich entschließen, mehr (oder weniger) gleichzeitig
zu tun. Multitasking ist mit persönlichen Kosten verbunden, beschert
uns aber auch Nutzen. Bei Organisationen steht jedoch mehr auf dem
Polyphonie 205
Spiel. Firmenübernahmen und Veräußerungen von Unternehmens-
bereichen erhöhen oder verringern die Menge der Aktivitäten, die ein
Unternehmen gleichzeitig managen muss, und sind somit Höhenan-
passungen. Das Gleiche gilt für Entscheidungen über Outsourcing und
globale Stellenbesetzung, die Menge, Art und Timing der gleichzeitig zu
verwaltenden Aufgaben verändern. Je nach Zielsetzungen und Struktur
eines Unternehmens muss es sich zwischen Breite und Tiefe, Expansion
und Fokussierung entscheiden. Höhe zu reduzieren – weniger Aktivitä-
ten und damit weniger Tracks zu verfolgen – ist eine ebenso berechtigte
Option, wie mehr Tracks hinzuzufügen.
Struktur ändern
Wenn wir verschiedene Anordnungen und Überschneidungsmuster (bei
Aufgaben und Strukturen) in Betracht ziehen, kann uns das neue Chan-
cen eröffnen. So hat das Internet ganze Wirtschaftszweige geschaffen
und andere schrumpfen lassen, da es einige der traditionellen Einzel-
handelswege überflüssig macht und Kunden der Produktherstellung
näherbringt.
Immer wenn die Möglichkeit besteht, parallel statt einfach seriell zu
arbeiten, lässt sich Zeit und vielleicht auch Geld sparen. Ein Beispiel aus
der Bauindustrie ist ein sogenannter Design-build-Prozess, bei dem Pla-
nung und Bauausführung in einer Hand liegen und beide Phasen sich
überschneiden. Das reduziert häufig die Zeit bis zur Fertigstellung des
Projekts und spart Geld.
In der Medizin entstanden innovative Therapien aus der Synchroni-
sierung von Prozessen. So kommt es bei manchen Menschen nach einer
Amputation zu Phantomschmerzen. Doktor Vilayanus S. Ramachan-
dran, Professor für Neurowissenschaften an der University of California
in San Diego, entwickelte eine einfache Methode, diese Schmerzen zu
beseitigen:32 Er entwarf einen Kasten mit einem Schrägspiegel. Wenn
der Patient seine Hand in den Kasten legt, sieht er zwei spiegelbildli-
che Arme. Nun soll der Patient seinen Arm bewegen, als würde er ein
Orchester dirigieren. Seine Augen sehen zwei Arme, die sich bewegen,
206 Jetzt!
aber sein Gehirn bekommt nur Rückmeldung von einem Arm. Da es ver-
wirrt ist, schaltet es die Nervenbahnen des fehlenden Arms einfach ab,
was die Schmerzen beseitigt.
Als die Synchronisierung mit Zulieferern einmal nicht funktionierte,
entdeckte Boeing eine geschäftliche Chance. Die Flugzeugproduktion
musste 1997 für einen Monat ruhen, weil nach einer Auftragsschwemme
Teile nicht lieferbar waren. Das führte am Jahresende zu einem Verlust
und zu Ertragsbelastungen in Höhe von 2,6 Milliarden US-Dollar über
zwei Jahre.33 Nach dieser schmerzlichen Erfahrung beschloss Boeing, das
Problem anzugehen, indem es Kunden Wahlmöglichkeiten einräumte.
Sie konnten einen festen Auftrag mit einem festgesetzten Liefertermin
erteilen, hatten aber die Möglichkeit, ihn innerhalb eines Jahres vor Aus-
lieferung zu stornieren oder zu verschieben. Alternativ konnten Kunden
sich aber auch für ein »Kaufrecht« entscheiden, das ihnen einen Fest-
preis, aber keinen festen Liefertermin garantierte.34 Ein Team bei Boe-
ing behält diese verschiedenen Kundenkategorien und ihre wechselnden
Bedürfnisse ständig im Auge, sodass es »wichtigen oder ungeduldigen
Kunden Lieferungen zuteilen kann, falls andere Kunden in Schwierig-
keiten geraten und die bestellten Flugzeuge nicht mehr wollen«. Damit
setzte Boeing praktisch ein polyphones, mehrschichtiges Modell um:
Das Unternehmen überwachte, was im Laufe der Zeit bei verschiedenen
Kundenkategorien passierte, wenn das Umfeld sich änderte.
Einflüsse nutzen
Manche polyphonen Optionen ergeben sich aus den Einflüssen, die Pro-
zesse jeweils aufeinander haben. Denken Sie nur an das Kapital, das Ban-
ken in Reserve halten müssen. Zu viel beeinträchtigt die regulären Bankge-
schäfte: Sie können keine Kredite vergeben, was der Wirtschaft schadet. Zu
wenig macht die Bank in Krisenzeiten anfällig. Charles Goodhart, Professor
an der London School of Economics, schlug für dieses Problem eine Lösung
vor, die auf Polyphonie basierte:35 Regulatoren sollten die Geschwindigkeit
des Kreditwachstums und die Preissteigerungsrate der Vermögenswerte
beobachten. Sobald sie den allgemeinen Trend stark überstiegen, müssten
Polyphonie 207
die Banken ihr Kapital aufstocken. Goodhart argumentierte, man müsse
ein dynamisches System verwalten und regulieren, indem man kritische
Variablen überwache, die sich im Laufe der Zeit in ihrem Verhältnis zuei-
nander verändern. Eine Variable beeinflusse die andere.
Informationen, wie ein Prozess einen anderen beeinflussen kann,
lassen sich auf vielfältige Weise nutzen. So verglich eine Studie unter
Leitung von Dr. William Keatinge vom Queen Mary and Westfield Col-
lege in London Gesundheits- und Klimadaten in Europa. Sie fand einen
Zusammenhang zwischen Temperaturveränderungen und dem Auftre-
ten von Herzinfarkten und Schlaganfällen. Die Zahl der Herzinfarkte
wies jeweils zwei Tage nach einem Temperaturabfall, die der Schlagan-
fälle fünf Tage nach einem Temperaturabfall eine Spitze auf. Laut der
Zeitschrift The Economist entwickelte man aufgrund der Ergebnisse »ein
Computermodell, das meteorologische, demografische und medizini-
sche Daten kombinierte, um den Bedarf an medizinischer Versorgung
vorherzusagen. Ein vierwöchiger Versuch […] erbrachte bei den Betriebs-
kosten Einsparungen von 400 000 Pfund.«36
Wenn Sie über Polyphonierisiken und -chancen nachdenken, vergessen
Sie eines nicht: Es kommt darauf an, Ihr gewohntes Klassifikationssystem
auszusetzen, das möglicherweise allzu eng gefasst ist. Das jeweilige Pro-
blem mag allem Anschein nach in erster Linie Finanzen, Herstellung, Mar-
keting, Umsatz, globale Strategie oder auch Klimawandel betreffen. Aber
ein Problem ausschließlich innerhalb einer dieser Kategorien zu betrach-
ten, kann Sie dazu verleiten, seinen größeren Kontext zu übersehen. Wenn
es um Timing geht, kommt es darauf an, viele fortlaufende Handlungs-
stränge und Ereignisse zu erkennen und zu untersuchen. Dazu ist die Poly-
phonielinse gedacht. Das Ziel ist, Ihr peripheres Blickfeld zu erweitern, da
gerade dort unbemerkte Risiken und Chancen zu finden sind.
Zeitfantasie
Eine der frustrierendsten Tätigkeiten ist Warten. Sie sind an Ihrem Ziel-
ort angekommen, aber jemand, den Sie treffen möchten, oder etwas, was
208 Jetzt!
Sie brauchen, ist noch nicht da. Sie müssen warten, und wenn Sie es
eilig haben, kann die Wartezeit entnervend sein. So war es am Flugha-
fen Houston. Die Passagiere trafen schnell am Gepäckband ein, aber ihr
Gepäck kam nicht. Ein klassisches Polyphonieproblem: Sie steigen aus
dem Flugzeug und gehen zum Gepäckband. Ihr Gepäck wird ausgela-
den und zum Gepäckband gebracht. Wer oder was ist zuerst da: Sie oder
Ihr Gepäck? Und wie groß ist die Zeitspanne dazwischen? In Houston
waren die Passagiere zuerst am Band und beschwerten sich, wie lange
es dauerte, bis ihr Gepäck eintraf, was durchschnittlich sieben Minuten
dauerte.
Als offensichtliche Lösung bot sich an, das Gepäck schneller zum
Gepäckband zu befördern. Ich kann mir vorstellen, wie eine ganze
Armee von Arbeitszeitermittlern – ganz im Stil des Effizienzexperten
Frederick Taylor aus dem 19. Jahrhundert mit Klemmbrett und Stopp-
uhr bewaffnet – jede Bewegung des Arbeitsablaufs beobachtet, misst
und vielleicht sogar untersucht, wie das Gepäck im Flugzeug verla-
den ist. Aber diese Lösung wählte der Flughafen nicht. Asynchrone
Risiken, also das Risiko, dass etwas nicht zeitgleich, sondern vor oder
nach etwas anderem passiert, verlangen nach synchronen Lösungen.
Also verlegte der Flughafen »die Ankunftsgates vom Hauptterminal
weg und [leitete] das Gepäck zum äußersten Band. Nun mussten Pas-
sagiere sechsmal länger gehen, um an ihr Gepäck zu kommen. Die
Beschwerden gingen auf null zurück.«37 Für die Zufriedenheit der Pas-
sagiere ist nicht entscheidend, wie lange es dauert, bis sie ihr Gepäck
haben, sondern dass sie ihr Gepäck heranrollen sehen, wenn sie sich
dem Band nähern: dass also beide synchron eintreffen. Die Lösung in
Houston erforderte Fantasie und Sinn für Polyphonie und kostete ver-
mutlich so gut wie nichts.
Polyphonie: im Überblick
Das Konzept der Polyphonie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Tat-
sache, dass viele Handlungen, Ereignisse und Prozesse gleichzeitig statt-
Polyphonie 209
finden und im Lauf der Zeit jeweils ihren eigenen Verlauf oder Pfad neh-
men. Die Polyphonielinse zeigt Ihnen, wohin Sie schauen und wonach
Sie suchen sollten.
• Auf die Vertikale achten: Erkennen Sie, was gleichzeitig vorgeht und sich
auf Ihre Arbeit oder Ihr Geschäft auswirken könnte.
• Auf Strukturen achten: Stellen Sie fest, wie gleichzeitige Ereignisse, Akti-
vitäten und Prozesse zusammentreffen. Welche preschen vor, hinken
hinterher oder überschneiden sich?
• Auf Einflüsse achten: Finden Sie heraus, wie ein Ereignis gleichzeitige
Vorgänge verursacht, beeinträchtigt oder beeinflusst.
Polyphonie geht mit folgenden Risiken und Chancen einher
• Wenn vier oder mehr Ereignisse sich überschneiden (Copland-Be-
schränkung), kann man die Auswirkungen ihrer Interaktion leicht
übersehen.
• Manche Ereignisse haben Synchronanforderungen, das heißt, es müs-
sen bestimmte Bedingungen zusammentreffen, damit ein Plan oder
eine Tätigkeit erfolgreich ist. Sind diese nicht gegeben, tritt das Ergeb-
nis, das von ihnen abhängt, nicht ein.
• Asynchrone Risiken betreffen die Gefahr, dass Ereignisse, die gleich-
zeitig eintreten sollten, nacheinander passieren können. Dafür zu
sorgen, dass manche Dinge zeitgleich eintreten, kann ebenso wichtig
sein, wie andere Vorgänge voneinander zu trennen.
• Wenn Ereignisse sich überschneiden, kann eines das andere verde-
cken oder überschatten und damit zu Fehlern oder Missverständnis-
sen führen. Wenn eine Sparte eines Unternehmens marktführend ist,
kann es sein, dass das Unternehmen andere Sparten, die hinter den
Erwartungen zurückbleiben, gar nicht wahrnimmt.
• Stellen Sie sich komplexe Situationen als parallele Prozesse oder
Tracks vor. Wie wirken sich Ereignisse eines Tracks auf Ereignisse
anderer Tracks aus?
210 Jetzt!
• Überprüfen Sie wichtige Prozesse, die gleichzeitig stattfinden, und
überlegen Sie, welche Tätigkeit sich einstellen lässt, damit Sie sich auf
das Wichtigste konzentrieren können.
• Manchmal lässt sich etwas Neues entwickeln, indem man einen Pro-
zess oder ein Produkt erfindet, das eine bestehende Tätigkeit begleitet
oder verbessert (ein Beispiel sind die Riedel-Gläser, siehe Kapitel 4).
Anwendung der Timinglinsen. Zum Timing von Widerspruch 211
7
Anwendung der TiminglinsenZum Timing von Widerspruch
Ein aus tiefster Überzeugung geäußertes »Nein« ist besser
als ein »Ja«, das bloß gesagt wird, um zu gefallen,
oder schlimmer noch, um Ärger zu vermeiden.
Mahatma Gandhi1
Der erste Schritt einer Timinganalyse besteht darin, die Welt durch jede
der sechs Linsen zu betrachten, die in den vorangegangenen Kapiteln
beschrieben sind. So lässt sich klar in den Fokus rücken, was in einer
Situation falsch läuft und wie es sich korrigieren lässt.
Das Beispiel eines kleinen Pharmaunternehmens, das wir uns im
Folgenden näher ansehen, veranschaulicht dieses Vorgehen. Bei einem
Meeting soll entschieden werden, ob das Unternehmen die Markteinfüh-
rung seines neuen Medikaments zur Gewichtsreduzierung, Britonin, in
Angriff nimmt. Als Teilnehmer dieses Meetings ist Ihnen schmerzlich
bewusst, dass die Beteiligten im Begriff stehen, eine schlechte Entschei-
dung zu treffen. Sie wissen, dass es wahrscheinlich in einem Desaster
enden wird, aber Sie finden nicht den richtigen Moment, Ihre Einwände
zu äußern, ohne Ihre Stelle aufs Spiel zu setzen.
Hier folgt ein Protokoll des Meetings.2 Zu den Anwesenden gehören:
Jonathan, Präsident des Unternehmens
Bob, Marketingleiter
Sue, Anwältin
Fred, Anwalt und Verbindungsmann zu den Behörden
Richard, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung
1. Jonathan: Gut. Da Bob jetzt hier ist, fangen wir an. Wir haben heute
nur einen Punkt zu besprechen, und ich denke, wir können die
Sache recht zügig abhandeln: Nehmen wir die Markteinführung
212 Jetzt!
von Britonin, unserem Medikament zur Gewichtsreduzierung, in
Angriff oder nicht? Bevor wir anfangen, möchte ich gern ein paar
Dinge ganz zwanglos sagen. Einer der Gründe, weshalb ich von Bri-
tonin begeistert bin: Es kann uns ermöglichen, unser Wachstum
der letzten Zeit fortzusetzen. Außerdem kann es uns ermöglichen,
unsere Dividenden an unsere Aktionäre zu erhöhen. Ich weiß, dass
einige externe Tests hereingekommen sind, die nicht restlos positiv
sind, und ich möchte den neuesten Stand klären. Gut. Ich übergebe
jetzt an Sie, Bob. Geben Sie uns doch einen kurzen Überblick über
das Marketing.
2. Bob: Da Sie alle mein Memo zur grundlegenden Marktstrategie
bekommen haben, lassen Sie mich nur ein paar Dinge anspre-
chen. Wir rechnen damit, unsere Investition in 14 Monaten wieder
hereinzuholen. Nach drei Jahren erwarten wir 2,3 Millionen Dollar
kumulativen Gewinn, was einer Investitionsrendite von 29 Prozent
entspricht. Also, einfach ausgedrückt heißt das, wir können viel
Geld verdienen … und gleichzeitig können wir viele unglückliche
dicke Menschen ein bisschen dünner und ein bisschen glücklicher
machen.
3. Sue: Was ist mit der Konkurrenz? Haben wir da etwas zu befürch-
ten?
4. Bob: Na ja, ich glaube, wir haben mit Britonin das wirksamste Pro-
dukt. Ich schätze den Marktanteil in zwei Jahren auf 20 Prozent.
5. Jonathan: Fred, was ist mit den Behörden? Haben Sie alle notwendigen
Genehmigungen?
6. Fred: Alles in Ordnung. Die FDA [US-Arzneimittelzulassungsbe-
hörde] wird natürlich nach einem Jahr auf dem Markt noch einmal
prüfen, aber vorerst sind wir freigegeben. Das Problem sind diese
externen Tests … die ungünstigen Resultate … na ja … diese FDA-
Leute machen gern Ärger.
7. Sue: Klar, das verschafft ihnen gute Presse – der Staat schützt die
armen Steuerzahler.
8. Jonathan: Richard, wie lesen Sie als Pessimist des Hauses diese
Berichte?
9. Richard: Meine Abteilung hätte Britonin offensichtlich nicht empfoh-
Anwendung der Timinglinsen. Zum Timing von Widerspruch 213
len, wenn wir es nicht für im Grunde sicher halten würden. Aber
trotzdem, einige der Berichte, die von der Ärztestichprobengruppe
hereingekommen sind, sind nicht sonderlich gut.
10. Jonathan: Wie viel Prozent?
11. Richard: Was?
12. Jonathan: Wie viel Prozent der Berichte sind negativ?
13. Richard: Ach, ganz wenig, weniger als 5 Prozent.
14. Sue: Wie schwerwiegend sind die Symptome?
15. Richard: Ach, na ja, ein Arzt berichtete von Erbrechen bei einem sei-
ner Patienten. Ein anderer vermutete Blutgerinnsel. Ein Patient hatte
Schwindelanfälle.
16. Fred: Nichts besonders Dramatisches.
17. Bob: Also, das hört sich nach Symptomen an, die durch alles Mög-
liche verursacht sein könnten.
18. Richard: Solche Daten sind nicht sehr aussagekräftig. Außerdem wäh-
len wir unsere Arztstichprobe zufällig aus. Also, einige der Ärzte
könnten Quacksalber oder professionelle Spinner sein. Aber wir wis-
sen, dass wir in unserem Labor die besten haben. Ihnen sollten wir
vertrauen.
19. Jonathan: Sue, sehen Sie irgendwelche Haftungsprobleme?
20. Sue: Ein Anwalt sieht immer Haftungsprobleme. Das Beste wäre,
weiter zu testen.
21. Bob: Mein Gott! Wenn es nach den Anwälten ginge, würde die
gesamte Pharmaindustrie noch immer nichts anderes herstellen als
Aspirin. In dieser Branche muss man gewisse Risiken eingehen.
Außerdem verkaufen wir Britonin nicht frei im Handel. Es ist streng
verschreibungspflichtig.
22. Richard: Wenn ein Arzt kein sicheres Gefühl dabei hat, braucht er es
ja nicht zu verschreiben.
23. Sue: Das ist es nicht allein … Wir haben uns den besten Ruf in der
Branche aufgebaut, weil wir offen und ehrlich mit der Öffentlich-
keit umgehen. Den werden wir ja wohl nicht durch ein mangelhaftes
Produkt gefährden.
24. Jonathan: Okay. Gut. Versuchen wir, in dieser Sache einig zu sein.
Ich bin sicher, Sue wollte nicht alles über den Haufen werfen. Bob,
214 Jetzt!
was ist mit dem Memo von Dr. Heller [leitender Forscher des Unter-
nehmens, der nicht an der Sitzung teilnimmt]? Er wollte doch seine
Ausführungen bei diesem Meeting präsentieren. Haben Sie mit ihm
darüber gesprochen?
25. Bob: Deshalb kam ich ja zu spät. Er hat mich abgefangen, als ich
gerade herkommen wollte. Konservativ, wie immer … im Grunde
konservativ. Es war das Übliche wegen weiterer Tests und so. Aber
da es eilig war, habe ich im Wesentlichen versucht, die Information
weiterzugeben. Sonst säßen wir hier und würden ihm eine halbe
Stunde lang zuhören.
26. Jonathan: Fred, er ist in Ihrer Gruppe. Was denken Sie?
27. Fred: Der Rest der Gruppe ist sehr zuversichtlich. Sie waren sehr
gewissenhaft.
28. Sue: Es gibt nichts, worüber wir uns Sorgen machen müssten.
29. Jonathan: Sonst noch jemand? (Pause) Gut, ich denke, es ist einstim-
mig. Wir machen es.
Das Meeting ist erfunden und der Dialog nach einem alten 16-Millime-
ter-Schwarz-Weiß-Film über Gruppenprozesse modifiziert. Kein Phar-
maunternehmen hat diese Entscheidung getroffen, aber die vorhandene
Dynamik ist nur zu real, wie jeder aus der Wirtschaft bestätigen kann.
Die Frage ist: Was ist schiefgegangen, und wie hätte es sich verhindern
lassen?
Nehmen wir uns einen Moment Zeit, über die Risiken nachzudenken,
die das Unternehmen eingeht. Angesichts der großen Anzahl Überge-
wichtiger und eines projektierten Marktanteils von 20 Prozent ist die Zahl
der Menschen, die das Medikament nehmen werden, recht groß. Neben-
wirkungen, die teils potenziell tödlich sein könnten, wurden auf »weni-
ger als 5 Prozent« geschätzt, aber 5 Prozent einer sehr großen Menge ist
nun mal eine sehr große Menge. Bei potenziell Hunderten Toten stünde
das Unternehmen vor einer PR-Katastrophe. Der Absatz seiner anderen
Medikamente wäre gefährdet, weil das Vertrauen der Öffentlichkeit in das
Unternehmen abstürzen würde. Das Sitzungsprotokoll enthält keinerlei
Hinweise auf Konkurrenzdruck oder eine finanzielle Zwangslage, die
für das rasche Vorgehen sprechen oder es zumindest vernünftig erklären
Anwendung der Timinglinsen. Zum Timing von Widerspruch 215
könnten. Die Entscheidung für die Markteinführung des Medikaments,
ohne zunächst Dr. Heller, den leitenden Forscher des Unternehmens,
anzuhören, ist unverantwortlich. Aber im Verlauf des Meetings scheint
es extrem schwierig zu sein, diesen Ausgang zu verhindern. Die Anwäl-
tin versucht es und scheitert.
Wir alle waren schon in solchen Meetings. Könnten Sie etwas vor-
bringen, was die Markteinführung des Medikaments hinauszögern und
die Zustimmung aller Anwesenden, einschließlich Jonathans fände?
Für die meisten dürfte diese Aufgabe eine mission impossible sein. Aber
wie wir in diesem Kapitel sehen werden, ist sie das keineswegs. Wir
müssen – und das ist entscheidend – die Dynamik des Meetings durch
alle sechs Zeitlinsen betrachten. Jede von ihnen hilft, zu klären, warum
Widerspruch so schwierig ist. Sobald wir die Schwierigkeit erkannt
haben, können wir Möglichkeiten finden, sie zu überwinden. Alle diese
Vorschläge werde ich nummerieren, um daraus am Ende des Kapitels
eine effektive Strategie zu entwickeln. Fangen wir mit den Risiken an,
die das Unternehmen mit der Markteinführung des Medikaments ein-
geht.
Kurz nach dem 15. Redebeitrag, in dem die negativen Nebenwirkun-
gen erstmals erwähnt sind, könnten Sie etwa folgenden Einwand vor-
bringen:
(1) Korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre, Bob, aber sagten Sie nicht, dass
wir mit einem Marktanteil von 20 Prozent in nur wenigen Jahren rechnen?
Das ist großartig. Das sind beeindruckend viele Leute und beeindruckende
Profite. [Pause] Aber mir scheint, wenn auch nur bei einem kleinen Pro-
zentsatz der Leute schwere Nebenwirkungen auftreten, könnten wir ein
ernsthaftes Problem bekommen. Ein kleiner Prozentsatz einer sehr großen
Menge ist schließlich eine sehr große Menge. Wir könnten Hunderte Kran-
ker aufgrund dieses Medikaments bekommen, und falls das einträte, hätte
es Auswirkungen auf das gesamte Unternehmen – auf unsere sämtlichen
anderen Produkte. Unser Ruf stünde auf dem Spiel.
Leider ist diese Äußerung gefährlich, weil sie die Autorität des Präsiden-
ten bedroht. Macht lässt sich aus vielen Perspektiven betrachten, aber
unter dem Timingaspekt bedeutet Macht die Fähigkeit, eine Reihe von
216 Jetzt!
Zeitelementen zu steuern, nämlich Sequenz, Interpunktion, Tempo,
Intervall, Dauer und Form.
• Jonathan kann das Meeting jederzeit eröffnen und beenden. Er
bestimmt Länge (Dauer), Anfang und Ende (Interpunktion) sowie
Tempo (Geschwindigkeit) des Gesprächs.
• Das Meeting verläuft in einem Hin und Her (Form), da verschiedene
Teilnehmer sprechen und einander antworten. Jonathan entscheidet,
wer spricht und wie lange (Intervalle).
• Jonathan kann sich jederzeit beliebig lange zu jedem Thema äußern.
• Er kann Intervalle und somit Zeitfenster für Gelegenheiten verlän-
gern oder verkürzen. Er kann Beiträge abtun oder eine detailliertere
Antwort verlangen.
• Vor allem aber kontrolliert Jonathan die Abfolge (Sequenz) des Mee-
tings. Tatsächlich hat er die normale Reihenfolge einer Sitzung umge-
kehrt, in der eine Entscheidung zu treffen ist. Um zu sehen, wie er
damit die Möglichkeit einschränkt, Einwände zu äußern, betrachten
wir das Meeting durch die Sequenzlinse.
Die Sequenzlinse
Jonathan eröffnet die Sitzung mit dem Satz: »Wir haben heute nur einen
Punkt zu besprechen, und ich denke, wir können die Sache recht zügig
abhandeln.« Die Entscheidung für die Markteinführung des Medika-
ments ist also eigentlich schon gefallen. Jeder im Raum weiß es. Diesen
Stand der Dinge veranschaulicht Abbildung 7.1.
In einem solchen Meeting sieht die normale Abfolge so aus: Zuerst
wird über die fragliche Angelegenheit diskutiert und am Ende trifft man
eine Entscheidung. Vor der Entscheidung ist ein Zeitfenster für Debatten
und Diskussionen offen, aber nicht hinterher. Sobald eine Sache entschie-
den ist, ist Widerspruch buchstäblich »nicht in Ordnung« (geschlossenes
Zeitfenster). Jonathan hat die normale Sequenz umgekehrt. Folglich ist
jeder Widerspruch schwierig und riskant.
Anwendung der Timinglinsen. Zum Timing von Widerspruch 217
Für Probleme der Sequenzumkehr gibt es jedoch Lösungen. Drei möchte
hier anführen.
Erneute Umkehrung
Sie könnten die Sequenz erneut umkehren und das Diskussionsfenster
öffnen, indem Sie behaupten, dass noch keine Entscheidung gefallen sei.
Sie könnten also sagen:
(2) Ich glaube nicht, dass wir die Entscheidung heute treffen müssen, daher
würde ich die Frage gern erneut zur Diskussion stellen.
Eine solche Äußerung stellt allerdings die Autorität des Präsidenten
offen infrage. Niemand wird so etwas sagen. Zwei andere Lösungen
haben bessere Chancen.
Maßstabänderung
Wenn sich die Sequenz »erst Debatte, dann Entscheidung« irgendwie
ignorieren ließe, würde das Problem der Sequenzumkehr gar nicht exis-
tieren. Eine Möglichkeit, das zu erreichen, wäre, aus der fernen Zukunft
zurückzublicken. Wer erinnert sich in fünf Jahren noch an das genaue
Timing der Vorgänge? Also könnten Sie sagen:
(3) Also, das Wichtigste ist nicht, ob wir die Entscheidung heute oder
nächste Woche fällen. Wenn wir in fünf Jahren zurückblicken,
wird das Wichtigste sein, ob wir das Richtige getan haben, nicht,
Abb. 7.1: Sequenzumkehr
Diskussion
geschlossenesFenster
O�enes Fensterd1 d2EntscheidungEntscheidung
218 Jetzt!
an welchem Tag oder in welcher Woche wir darüber entschieden
haben.
Größere zeitliche oder räumliche Distanz verringert unsere Fähigkeit,
Gegenstände und die Zeitspannen zwischen ihnen zu unterscheiden.
Was wir aus der Nähe als unterschiedlich wahrnehmen, verschwimmt
und verschmilzt aus einem gewissen Abstand.
Irrelevanz behaupten
Der Zweck einer Handlung bestimmt den richtigen Zeitpunkt. In die-
sem Beispiel dient das Meeting zwei Zwecken. Erstens soll es eine bereits
getroffene Entscheidung ratifizieren. Zweitens soll es »den neuesten
Stand klären«. Wenn der zweite Punkt Zweck des Meetings ist, wird die
Sequenzumkehr irrelevant, weil keine Entscheidung notwendig ist.
(4) Aber Jonathan, sagten Sie nicht, dass es Zweck des Meetings ist, den neu-
esten Stand zu klären? Wir tun so, als ob wir jetzt eine Entscheidung fällen
müssten.
Den Zweck des Meetings umzudefinieren ist jedoch nicht ohne Risiko.
Das können im Grunde nur die Verantwortlichen tun. Ein Untergebener
kann es nicht, ohne seine Befugnisse zu überschreiten.
Die Interpunktionslinse
Die Interpunktionslinse lenkt unsere Aufmerksamkeit auf Kommas,
Pausen, Punkte und andere Zeichen, die den kontinuierlichen Zeit-
fluss gliedern. Interpunktionszeichen und ihre Platzierung können auf
unterschiedliche Weise dazu beitragen, gute Bedingungen für einen wir-
kungsvollen Widerspruch zu schaffen.
Anwendung der Timinglinsen. Zum Timing von Widerspruch 219
Interpunktion setzen
Das Schweigen von Teilnehmern ist nicht nur auf Angst zurückzufüh-
ren, etwas zu sagen, oder auf das Gefühl, sie hätten nichts zu sagen. Viel-
mehr liegt es häufig daran, dass es dem Verlauf des Meetings und dem
Zeitfluss an innerer Interpunktion fehlt. Ein Moment geht in den nächsten
über, der wiederum mit dem vorhergehenden verschmilzt und auf ihn
folgt. Und bevor Sie wissen, wie Ihnen geschieht, ist das Meeting vorbei.
Interpunktion muss bewusst gesetzt werden. Sie könnten beispielsweise
ausdrücklich um eine Pause bitten:
(5) Könnten wir einen Moment Pause machen und versuchen, über die Sache
nachzudenken?
Normalerweise kann nur eine Führungskraft eine Pause verlangen, des-
halb habe ich den Vorschlag als Frage formuliert. Eine weitere Option
hängt vom Timing ab. Je länger eine Sitzung dauert und je komplexer
die Themen werden, umso angemessener erscheint die Bitte: »Könnten
wir einen Moment Pause machen, um zu sehen, wo wir stehen?« Die
Antwort kann die Form einer Zusammenfassung annehmen – und diese
bietet die Gelegenheit, sich für eine Vertagung auszusprechen.
Interpunktionszeichen verschieben
Im Kapitel über Interpunktion habe ich ausgeführt, dass ein Ereignis
wie die Markteinführung eines Medikaments sich mit der Vergangen-
heit oder der Zukunft koppeln lässt. Man kann sie als letzten Schritt des
langen Entwicklungsprozesses sehen, den man zum Abschluss bringen
will, oder als ersten Schritt einer neuen Marketingkampagne, bei der
Vorsicht geboten ist, weil es auf den ersten Eindruck ankommt. Wenn
Sie also einen Prozess verzögern möchten, könnten Sie sagen:
(6) Wir sollten die ersten Schritte richtig machen, um Konsumenten einen
guten ersten Eindruck zu vermitteln. Wenn wir das nicht schaffen, könnte
es lange dauern, den Schaden zu beheben.
220 Jetzt!
Eine Frist setzen
Der Vorschlag, in weiteren Studien Art, Wahrscheinlichkeit und Schwere
von Nebenwirkungen bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu erfor-
schen, weckt die Schreckensvorstellung, dass es sich um einen endlosen
Prozess handelt. Aus wirtschaftlicher Sicht ist das fatal: Das Medika-
ment könnte nie auf den Markt kommen, weil wissenschaftliche Studien
niemals alle Eventualitäten abdecken und hundertprozentige Gewiss-
heit schaffen können. Für unser Beispielmeeting gibt es zwei mögliche
Lösungen. Eine bezieht sich auf die Interpunktion, die andere auf ein
Intervall, das eine kurze Verzögerung im Vergleich lohnend erscheinen
lässt. Sie könnten etwa sagen:
(7) Auch wenn es sinnvoll ist, diese Nebenwirkungen genauer zu untersu-
chen, wollen wir uns doch nicht ewig aufhalten lassen. Holen wir doch
eine Schätzung ein, wie lange es dauert, zu einem vertretbaren Abschluss
dieser Frage zu kommen, und setzen wir dann eine Frist fest. Danach
sollten wir das Risiko, das mit einer solchen Verzögerung verbunden ist,
gegen die Zeit abwägen, die wir zur Erholung brauchen würden, falls sich
herausstellen sollte, dass das Medikament schwerere Nebenwirkungen
hat, als wir dachten.
Durch Interpunktion Grenzen setzen
Wenn ein starkes, klares Interpunktionszeichen vorhanden ist, wie die
Entscheidung zur Markteinführung des Medikaments, können Sie beto-
nen, wie sich die Situation nach Überschreiten dieser Grenze gegenüber
vorher verändern wird. So könnte jemand, der die Markteinführung ver-
schieben will, sagen:
(8) Sobald das Medikament auf dem Markt ist, entzieht sich vieles unserer
Kontrolle und wir stehen stärker unter dem prüfenden Blick der Öffent-
lichkeit. Sollten sich die Nebenwirkungen als schwerer herausstellen, als
wir dachten, wird die Öffentlichkeit uns dann noch vertrauen? Mangeln-
des Vertrauen könnte unsere gesamte Produktlinie gefährden. Es ist rat-
Anwendung der Timinglinsen. Zum Timing von Widerspruch 221
sam, zu warten. Die Markteinführung des Medikaments ist ein großer
Schritt.
Gemeinsame Werte bekräftigen
Es kann eine schmale Gratwanderung sein, einen Einwand vorzubrin-
gen, ohne in der Folge von der Gruppe an den Rand gedrängt oder aus-
gegrenzt zu werden. Eine Äußerung führt zur anderen, und bevor Sie
wissen, wie Ihnen geschieht, gelten Ihre Kommentare nicht mehr als
hilfreich. Die Grenze zwischen konstruktiver Kritik und dem Eindruck,
ein Querulant zu sein, ist nicht klar markiert. Ein möglicher Umgang
mit fehlender Interpunktion ist, gemeinsame Werte zu bekräftigen.
Damit erschweren Sie es anderen, Sie als geschätztes Gruppenmitglied
auszugrenzen, auch wenn sie nicht mit Ihren Ansichten übereinstim-
men. Sie könnten also sagen:
(9) Also, mir ist klar, dass wir alle den Erfolg dieses Produkts wollen. Wenn
wir gründlich vorgehen, können wir glänzende Geschäfte machen.
Die Intervall- und Dauerlinse
Widerspruch ist in dieser Situation unter anderem deshalb so schwie-
rig, weil Jonathan hat durchblicken lassen, dass die Entscheidung
bereits getroffen ist. Aus seiner Sicht ist es nicht wünschenswert, die
Markteinführung des Medikaments zu verschieben: Das ist nicht das
Ergebnis, das er haben will. Es gibt jedoch in der Sequenz ED2 + R
(siehe Kapitel 3) zwei Intervalle, die es Jonathan ermöglichen, dennoch
das Gesicht zu wahren und das Meeting zu einem Erfolg zu erklären.
Das erste Intervall geht der Sequenz ED2 + R voraus. Es ist die Spanne
zwischen einer Vorwarnung und dem Eintreten (der Existenz) der
Bedingungen, vor denen gewarnt wurde. Betrachtet man die Infor-
mation über Nebenwirkungen als Teil eines funktionierenden Früh-
222 Jetzt!
warnsystems, ließe sich das Meeting zumindest als Teilerfolg werten.
Damit diese Einordnung funktioniert, darf eine Warnung allerdings
nicht zu früh erfolgen (die »verbleibende Zeit bis« zu der erwarteten
Krise muss relativ kurz sein). Sonst würde die Warnung als verfrüht
gelten und vielleicht als falscher Alarm abgetan werden. Eine mögliche
Lösung könnte so aussehen:
(10) Wenn Bob Recht hat … werden wir sehr bald einen sehr großen Marktan-
teil erreichen. Aber je größer der Marktanteil ist, umso größer ist unser
Risiko, falls es wirklich ein Problem mit Nebenwirkungen gibt. Die Iro-
nie ist: Je erfolgreicher wir sind, umso größer wird unser Problem. Und
dieses Problem … könnte sich ganz beträchtlich auf unsere nächste Jah-
resbilanz auswirken. Ich habe den Eindruck, wenn wir einem so hohen
Risiko so nahe sind, wäre es ratsam, zur Sicherheit nur ein paar Wochen
mehr zu investieren, um sicherzugehen, dass diese Nebenwirkungen
nicht die Spitze eines Eisbergs sind. Eigentlich sind diese Daten doch ein
Frühwarnsystem, das funktioniert hat. Vielleicht ist es ja falscher Alarm,
aber ich bin eindeutig froh, dass wir es jetzt feststellen, und nicht erst,
wenn es zu spät ist.
Eine andere Möglichkeit, die Situation unter dem Intervallaspekt zu
betrachten, bietet die Reparaturphase (R) der Sequenz ED2 + R. Eine
Frühwarnung gibt Ihnen mehr Zeit (ein längeres Intervall), ein vor-
handenes Problem zu beheben (reparieren). Damit vermeiden Sie auch
das Synchronrisiko, dass Sie sich um beunruhigende Nebenwirkungen
kümmern müssen, wenn gerade andere Probleme auftauchen, die Ihre
Aufmerksamkeit binden. Sie könnten also sagen:
(11) Ich glaube nicht, dass diese Nebenwirkungen sich als große Sache erwei-
sen werden, aber wenn wir sie jetzt untersuchen, haben wir einen Vor-
sprung, das Problem zu beheben. Wenn wir frühzeitig damit anfangen,
geraten wir nicht in die schwierige Lage, mit einem potenziellen PR-De-
saster umgehen und gleichzeitig andere Probleme bewältigen zu müs-
sen.
Anwendung der Timinglinsen. Zum Timing von Widerspruch 223
Der Antrag zur Geschäftsordnung
Die Intervalle der Sequenz ED2 + R sind noch aus einem anderen Grund
wichtig. Bei allen Meetings gilt ein bestimmter Rahmen von Regeln und
Werten. Wenn eine entscheidende Regel gefährdet ist, sollte derjenige,
der es bemerkt, die anderen umgehend informieren. Die Zeit zwischen
Entdeckung (detection) und Offenlegung (disclosure) sollte so kurz
wie möglich sein. Dazu gibt es den »Antrag zur Geschäftsordnung«.
Er benennt eine Gefahr, die fatale Auswirkungen auf ein ordnungsge-
mäßes Verfahren haben könnte. Aus diesem Grund ist ein Antrag zur
Geschäftsordnung immer in Ordnung. Anträge zur Geschäftsordnung
sind jederzeit möglich. Sie öffnen also ein Fenster für Einwände, wenn
das, was gerade passiert, einen Kernwert der Gruppe gefährdet.
(12) Wissen Sie, wenn ich mir die Diskussion anhöre, fällt mir auf, dass es
ein entscheidendes Prinzip gibt, an das wir, denke ich, immer geglaubt
haben, und das lautet, dass wir uns kein vorschnelles Urteil bilden. Aber
wir sitzen auch nicht herum und drehen Däumchen. Beide Extreme
wären fatal.
Den Zeitfaktor beachten
Aus Jonathans einleitender Bemerkung wissen wir, dass das Meeting
weitgehend reine Formsache ist und er mit einer kurzen Sitzung rech-
net. Widerspruch droht sie zu verlängern. Hier gibt es zwei mögliche
Herangehensweisen.
Verdichtung
Wählen Sie eine Strategie, Einwände vorzubringen, die erklärtermaßen
kurz ist und in ein kleines Zeitfenster passt. Ein Beispiel:
(13) Also lassen Sie mich kurz den Advocatus Diaboli spielen. Das ist eine
weitreichende Entscheidung, und es ist wichtig, dass wir das Problem
von allen Seiten betrachten. Wenn Bob Recht hat und das Medikament
224 Jetzt!
potenziell einen sehr großen Markt hat, dann ist auch die Zahl der poten-
ziell schwerwiegenden Nebenwirkungen sehr groß …
Den Advocatus Diaboli zu spielen dauert nicht lange. Es ist ein zeitlich
begrenztes Ritual und hat den Vorteil, dass es sich um eine etablierte
Gepflogenheit handelt. Es ist ein häufig beschrittener Weg ohne Über-
raschungen und lange Verzögerungen. Daher geht es schnell. Zudem ist
es weithin akzeptiert und gilt als hilfreiche Taktik, die Gruppenziele zu
fördern, und nicht, sie zu untergraben.
Auslassung
Signalisieren Sie, dass Ihnen die engen zeitlichen Grenzen klar sind:
(14) Lassen Sie mich gleich zu dem Punkt springen, der meiner Ansicht nach
hier der zentrale ist.
Auf die verbleibende Zeit konzentrieren
In Kapitel drei habe ich den Unterschied zwischen der »verstrichenen
Zeit seit« und der »verbleibenden Zeit bis« ausgeführt. Die Zeit, seit das
Medikament in der Entwicklung ist, ist lang, aber die Zeit, bis sich ein
Problem ergeben könnte, ist kurz. Daher könnten Sie sagen:
(15) Ich habe den Eindruck, wenn wir einem so hohen Risiko so nah sind, wäre
es ratsam, nur ein paar Wochen zu investieren, um sicherzugehen, dass
diese Nebenwirkungen nicht die Spitze eines Eisbergs sind.
Die Regel der »letzten Chance«
Eine verbreitete Timingregel lautet: Nutze deine letzte Chance. Aber
diese Regel, die eine Aktion hätte auslösen können, lässt sich in unserem
Beispiel nicht anwenden, weil niemand außer Jonathan weiß, wie lange
das Meeting dauern wird. Diese Regel stößt auch noch auf ein anderes
Anwendung der Timinglinsen. Zum Timing von Widerspruch 225
Problem: Jeder weiß, dass man Einwände nicht erst in letzter Minute
vorbringen sollte. Sonst könnte jemand erwidern: »Wieso haben Sie das
nicht schon früher gesagt?« Allerdings ließe sich Äußerung 14 abwan-
deln:
(16) Wenn es nicht schon zu spät ist, sich freiwillig für eine Zusatzaufgabe
zu melden, möchte ich nur sagen, dass ich gern die Überprüfung dieser
wenigen Berichte übernehme. Denn wenn irgendetwas Substanzielles an
ihnen dran ist, hätte das sicher tiefgreifende Auswirkungen auf unsere
Marketingstrategie. Wahrscheinlich ist es Zeitverschwendung, aber ich
mache es gern.
Es ist nie zu spät, Zusatzaufgaben zu übernehmen.
Betrachten wir dieses Meeting durch die Intervalllinse, so sehen wir,
was fehlt: Wir haben keine Möglichkeit, zu wissen, wie nah eine end-
gültige Entscheidung ist. Wenn Sie wüssten, wann dieser Moment ein-
tritt, wüssten Sie auch, wie lange Sie abwarten könnten, ob ein anderer
sich gegen die Markteinführung des Medikaments ausspricht, bevor Sie
gezwungen wären, es zu tun. Aber die Uhr, die Tempo und Länge des
Meetings bestimmt, ist nicht an der Wand oder auf einem Smartphone
zu finden. Die einzige Uhr, auf die es ankommt, befindet sich in Jona-
thans Kopf. Nur er kann sie sehen, und nur er kann sagen, wie spät es ist.
Tatsächlich hat er es bereits getan. Laut Jonathans subjektiver Uhr ist der
Zeitpunkt der Entscheidung bereits vorbei.
Die Tempolinse
Die Tempolinse und die Intervalllinse vermitteln uns zwei Aspekte des-
selben Phänomens. Was schnell ist, braucht weniger Zeit, was langsam
ist, braucht mehr. Was man durch die Intervalllinse sieht, kann man also
auch durch die Tempolinse sehen. Aber wie bei zwei Werkzeugen für die-
selbe Aufgabe kann sich eines besser anfühlen oder aus unerklärlichen
Gründen zu kreativeren Ideen und Lösungen führen als das andere. Wir
alle haben unsere persönlichen Vorlieben. Ein Phänomen mit anderen
226 Jetzt!
Worten zu beschreiben sorgt manchmal für den fehlenden »Aha-Effekt«.
Hier nun einige knappe Beobachtungen über das Meeting, durch die
Tempolinse betrachtet.
Aus Jonathans einleitenden Äußerungen wissen wir, dass er mit
einer kurzen Sitzung rechnet. Allgemein gilt, dass kurze Meetings ein
hohes Tempo haben. Das ist ihr Normaltempo: keine Pausen, kein langes
Schweigen, keine Auszeiten, um sich zu sortieren, aufzuladen oder nach-
zudenken. Es ist immer nützlich, das Normaltempo einer Situation zu
kennen, die man bewältigen muss. So können Sie sich auf einen schnel-
len Meinungsaustausch oder einen langen, ermüdenden Marathon mit
detaillierten Tabellen und Grafiken einstellen.
Wenn ich darüber nachdenke, wie schnell etwas passieren oder wie
lange etwas dauern könnte, komme ich immer wieder auf eine Zelle in
der Tabelle »Tempohülle« (Tabelle 4.1) zurück: das Minimaltempo des
langsamsten Prozesses. Bei einem komplexen Problem, das sorgfältige
Überlegungen erfordert, wird die Entscheidungsfindung langsam erfol-
gen. Aber sie darf sich nicht so weit in die Länge ziehen, dass es den
Anschein hat, als ob es nie zu einer Entscheidung kommen würde. Wer
in der Chefetage Hamlet spielt, wird sich nicht lange halten. Es wird sein
letzter Akt sein. Wenn wir also das Normaltempo eines kurzen Meetings
und das Normaltempo eines durchdachten Entscheidungsprozesses
nehmen, wissen wir, dass es einen Konflikt gibt. Bei einem komplexen
Problem müssen wir uns entweder einig sein, dass eine Entscheidung
bereits durchdacht und getroffen wurde, oder aber beschließen, der Ent-
scheidung mehr Zeit einzuräumen.
In den Tempo- und Intervall-Kapiteln habe ich bereits erwähnt, dass
verschiedene Beteiligte dasselbe Tempo oder dasselbe Intervall unter-
schiedlich auslegen können. Für die Anwältin mag die Verschiebung
der Markteinführung ein Problem vermeiden. Aber der Marketingchef
könnte feststellen, dass eine andere Firma ihm knapp zuvorkommt und
ein neues Medikament gegen Übergewicht als »Durchbruch« vorstellt.
Bei der Entscheidung, wie und wann man für eine Verschiebung ein-
treten soll, ist es immer gut, zu wissen, wie andere einen längeren, lang-
sameren Prozess interpretieren.
Anwendung der Timinglinsen. Zum Timing von Widerspruch 227
Die Formlinse
Die Dynamik des Meetings lässt sich mit den folgenden Formen
beschreiben: Zyklen, Linien, Helix, Punkt und Fächer sowie Spannungs-
bogen. Es lohnt sich, über diese Formen nachzudenken. Es eröffnet uns
eine weitere Möglichkeit, zu verstehen, warum Einwände gegen die
Markteinführung des Medikaments schwierig sind und wie sich diese
Schwierigkeiten überwinden lassen. Da das Meeting mit einer Ent-
scheidung enden soll, ist die dazu passende Metapher eine Waage, auf
deren Waagschalen die verschiedenen Argumente für und wider gelegt
werden. Deshalb wird das Ritual des »Advocatus Diaboli« akzeptiert:
Es hilft, Dinge auf die Waagschale zu legen, ein Vorgang, den wir uns
als durchbrochene Linie oder Wippe vorstellen können. Eine Handlung
ist rechtzeitig, wenn sie zur Form dessen passt, was in dem Moment
besprochen wird.
Zyklusstrategien und -taktiken
Jonathan möchte von jedem Anwesenden mindestens einmal eine Äuße-
rung hören, wenn seine oder ihre Fachkenntnis relevant ist. Daher erfor-
dert das Meeting mindestens einen vollständigen Zyklus, bevor es zu
einer Entscheidung kommen kann. Allerdings wird die Zahl der Zyklen
gering sein. Es ist nicht zu erwarten, dass sich die Diskussion endlos im
Kreis dreht. Die zyklische Form des Meetings lässt sich auf verschiedene
Weise nutzen, um für eine Verschiebung der Markteinführung einzu-
treten. Wenn Sie verfolgen, wer bereits zu Wort gekommen ist und wer
nicht, können Sie über das beste Timing für Ihren Einwand entschei-
den – vor oder nach einem bekannten Standpunkt. So können Sie schon
vorher die Position der Anwältin und die Reaktion des Marketingchefs
absehen und sie selbst vorbringen und entkräften, bevor sie sie äußert –
oder aber abwarten und erst reagieren, nachdem sie gesprochen hat. Das
Wissen, dass es einen Zyklus gibt, liefert Ihnen auch Hinweise, wann
das Meeting sich seinem Ende nähert – und wie viel Zeit Ihnen bleibt,
Ihren Standpunkt klarzumachen. Nachdem jeder sich ein- oder zweimal
228 Jetzt!
geäußert hat, wissen Sie, dass das Zeitfenster für Widerspruch sich sehr
bald schließen wird. Machen Sie sich also bereit zu handeln.
Gerade Linien und Helix
Die beste Möglichkeit, ein Meeting kurz und zielgerichtet zu halten,
ist, geradlinig vorzugehen. Ein Punkt sollte zum nächsten führen, ohne
Umwege, Pausen, Unterbrechungen und ständiges Zurückkommen auf
dasselbe Thema. Wenn unsere Welt komplex wird, sehnen wir uns nach
Einfachheit, nach dem Reiz eines geradlinigen Prozesses, selbst wenn er
zwischen den Schritten stockt. Aber dieses Meeting beschreibt Kurven.
Die Diskussion kreist in ihrem Verlauf immer wieder um alle Punkte,
die für eine Entscheidung wichtig sind (Marketing, staatliche Zulas-
sung, Nebenwirkungen usw.). Daher liegt der Sitzung keine gerade Linie
zugrunde, sondern eine Helix. Die Drehungen und Wendungen im
Verlauf des Meetings unterstützen die Argumentation, eine Pause ein-
zulegen und umgehend die Nebenwirkungen zu untersuchen. Die Sit-
zungsteilnehmer erleben ja gerade am eigenen Leib, wie unangenehm es
ist, ständig wieder auf ein Problem zurückzukommen, das bereits hätte
gelöst werden können.
Punkt und Fächer
Beim Blick in die Zukunft weiß die Gruppe: Falls Nebenwirkungen zu
einem Problem werden sollten, würde sie vor die Entscheidung gestellt,
ob sie das Medikament vom Markt nehmen soll. Sie wird mit der nega-
tiven Publicity umgehen müssen, die mit schwerwiegenden Nebenwir-
kungen einhergeht. Sie wird dafür sorgen müssen, dass die anderen Pro-
dukte nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Es wird viel zu bedenken
geben. Die Entscheidungen, vor die das Unternehmen sich gestellt sieht,
werden sich vervielfachen und einem Punkt-Fächer-Diagramm ähneln,
da eine Entscheidung zur nächsten führt. Je stärker die Zukunft einem
Punkt-Fächer-Diagramm ähnelt – statt einer geraden Linie vom Produkt
Anwendung der Timinglinsen. Zum Timing von Widerspruch 229
über die Markteinführung zum Profit –, desto unsicherer erscheint die
Zukunft. Daraus ergibt sich die Timingregel: Angesichts großer Unsi-
cherheit sollte man langsam und vorsichtig vorgehen.
Der dramatische Spannungsbogen
Der Spannungsbogen ist wichtig, um die Dringlichkeit zu verstehen, mit
der Jonathan und Bob die Markteinführung des Medikaments wollen.
Bei den meisten Medikamenten dauert der Entwicklungsprozess sehr
lange und trägt erst am Ende Früchte. Zum Zeitpunkt des Meetings
brauchen alle die Entspannung und den Lohn, für den die Markteinfüh-
rung sorgt. Im Idealfall sollten Anstieg und Absinken der Spannung bei
der Entwicklung und Vermarktung eines Medikaments der Form des
dramatischen Spannungsbogens folgen. Während der Entwicklung baut
sich Spannung auf und wird bei der Markteinführung aufgelöst. Eine
Pause, um Nebenwirkungen zu untersuchen, bringt eine Kerbe in diese
Form und zögert den erwarteten erlösenden Moment hinaus. Wenn Sie
wissen, was eine Gruppe frustrierend findet, sollten Sie darauf vorberei-
tet sein, ihr bei der Verarbeitung der Frustration zu helfen.
Die Polyphonielinse
Die Polyphonielinse lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit
paralleler Prozesse. Sie könnten vorschlagen, zwei Dinge gleichzeitig zu
verfolgen:
(17) Ich möchte mich freiwillig für ein Follow-up mit Heller anbieten. Ich
glaube nicht, dass etwas dran ist, und wir sollten sicher die Markteinfüh-
rung weiter vorantreiben. Ich gebe Ihnen sofort Bescheid, falls ich etwas
finde. Das halte ich zwar für unwahrscheinlich, aber es wäre gut, uns
Hellers Wohlwollen zu bewahren. Er ist einer der besten Wissenschaftler,
die wir haben.
230 Jetzt!
Diese Äußerung dehnt den Entscheidungsprozess über die Grenzen des
Meetings hinaus aus. Die Sitzung endet, aber ein anderer Prozess geht
weiter. Das ist die Kontinuitätskomponente, auf die ich im Kapitel über
Interpunktion (Kapitel 2) bereits eingegangen bin. Ein Follow-up bedeu-
tet, dass parallel zur Entscheidung über die Markteinführung des Medi-
kaments ein zweiter Prozess stattfindet.
Die Markteinführung hinauszuzögern, um Nebenwirkungen des
Medikaments zu untersuchen, ist nicht gerade das erstrebenswerteste
Ergebnis. Aber die Kosten der Verzögerung werden durch ihren poten-
ziellen Nutzen, einen Fehler zu beheben, bevor es zu spät ist, mehr als
aufgewogen. Zum Teil können Sie die Kosten der Verzögerung auch aus-
gleichen, indem Sie die Last auf sich nehmen, weil Sie sie verursacht
haben.
Von Einzelkomponenten zur Strategie
Manche Gründe, die einen Widerspruch erschweren, gehören insofern
zu den Konstanten, als sie während des Meetings durchgängig vorhan-
den sind. (Das gilt etwa für Jonathans Äußerung zu Beginn des Mee-
tings, die durchblicken lässt, dass die Entscheidung bereits gefallen ist.)
Andere sind an gewissen Punkten vorhanden, an anderen nicht. So kann
jeweils nur eine Person gleichzeitig sprechen, und es ist schwierig, sie
zu unterbrechen. Wenn jemand spricht, können Sie also nicht sprechen,
und umgekehrt. Andere Kräfte werden im Laufe des Meetings stärker
oder schwächer. Jonathan deutet an, dass das Meeting kurz werden soll.
Je länger es dauert, umso mehr verstößt es gegen seine Erwartung und
umso schwieriger wird es, etwas zu sagen, was es noch weiter in die
Länge zieht.
Es gibt keinen Moment, in dem nicht mindestens ein gewichtiger
Grund Einwände schwierig macht. Das bringt uns zur zeitlichen Allmen-
deproblematik, dass ein Verhalten insgesamt unvernünftig sein kann, auch
wenn es in jedem Einzelmoment vernünftig ist. Wenn Sie das Sitzungsproto-
koll Satz für Satz durchgehen, werden Sie an jedem Punkt des Meetings
Anwendung der Timinglinsen. Zum Timing von Widerspruch 231
zwingende Gründe finden, zu schweigen. Aber völliges Schweigen for-
dert das Unglück geradezu heraus. Was also für jeden Moment sinnvoll
ist, ist für die Gesamtheit (aller Momente) nicht sinnvoll. Also, was tun?
Im Umgang mit einer komplexen Situation ist wahrscheinlich keine
Einzelaktion ausreichend. Das Gleiche gilt für dieses Meeting. Wahr-
scheinlich wird keine einzelne Äußerung Wirkung zeigen. Sie müssen
also die Komponenten, die unsere sechs Linsen aufgezeigt haben, zu
einer Sequenzstrategie zusammenfügen. Hier ein Beispiel:
(9) Also, mir ist klar, dass wir alle den Erfolg dieses Produkts wollen. Wenn
wir gründlich vorgehen, können wir glänzende Geschäfte machen. (1) Kor-
rigieren Sie mich, wenn ich mich irre, Bob, aber sagten Sie nicht, dass
wir mit einem Marktanteil von 20 Prozent in nur wenigen Jahren rech-
nen? Das ist großartig. Das sind beeindruckend viele Leute und beein-
druckende Profite. [Pause] Aber mir scheint, wenn auch nur bei einem
kleinen Prozentsatz der Leute schwere Nebenwirkungen auftreten, könn-
ten wir ein ernsthaftes Problem bekommen. Ein kleiner Prozentsatz einer
sehr großen Menge ist schließlich eine sehr große Menge. Wir könnten
Hunderte Kranker aufgrund dieses Medikaments bekommen, und falls
das einträte, hätte es Auswirkungen auf das gesamte Unternehmen – auf
unsere sämtlichen anderen Produkte. Unser Ruf stünde auf dem Spiel. (4)
Aber Jonathan, sagten Sie nicht, dass es Zweck des Meetings ist, den neu-
esten Stand zu klären? Wir tun so, als ob wir jetzt eine Entscheidung fällen
müssten. (3) Also, das Wichtigste ist nicht, ob wir die Entscheidung heute
oder nächste Woche fällen. Wenn wir in fünf Jahren zurückblicken, wird
das Wichtigste sein, ob wir das Richtige getan haben, nicht, an welchem
Tag oder in welcher Woche wir darüber entschieden haben. (10) Wenn
Bob Recht hat … werden wir sehr bald einen sehr großen Marktanteil errei-
chen. Aber je größer der Marktanteil ist, umso größer ist unser Risiko, falls
es wirklich ein Problem mit Nebenwirkungen gibt. Die Ironie ist: Je erfolg-
reicher wir sind, umso größer wird unser Problem. Und dieses Problem …
könnte sich ganz beträchtlich auf unsere nächste Jahresbilanz auswirken.
Ich habe den Eindruck, wenn wir einem so hohen Risiko so nahe sind, wäre
es ratsam, nur ein paar Wochen mehr zu investieren, um sicherzugehen,
dass diese Nebenwirkungen nicht die Spitze eines Eisbergs sind. Eigent-
232 Jetzt!
lich sind diese Daten doch ein Frühwarnsystem, das funktioniert hat. Viel-
leicht ist es ja falscher Alarm, aber ich bin eindeutig froh, dass wir es jetzt
feststellen, und nicht erst, wenn es zu spät ist. (7) Auch wenn es sinnvoll
ist, diese Nebenwirkungen genauer zu untersuchen, wollen wir uns doch
nicht ewig aufhalten lassen. Holen wir doch eine Schätzung ein, wie lange
es dauert, zu einem vertretbaren Abschluss dieser Frage zu kommen, und
setzen wir dann eine Frist fest. Danach sollten wir das Risiko, das mit
einer solchen Verzögerung verbunden ist, gegen die Zeit abwägen, die wir
zur Erholung brauchen würden, falls sich herausstellen sollte, dass das
Medikament schwerere Nebenwirkungen hat, als wir dachten. (8) Sobald
das Medikament auf dem Markt ist, entzieht sich vieles unserer Kontrolle
und wir stehen stärker unter dem prüfenden Blick der Öffentlichkeit. Soll-
ten sich die Nebenwirkungen als schwerer herausstellen, als wir dachten,
wird die Öffentlichkeit uns dann noch vertrauen? Mangelndes Vertrauen
könnte unsere gesamte Produktlinie gefährden. Es ist ratsam, zu warten.
Die Markteinführung des Medikaments ist ein großer Schritt.
Im ersten Kapitel (Sequenz) habe ich Julio Cortázars Roman Rayuela:
Himme und Hölle erwähnt, in dem er es Lesern freistellt, in welcher Rei-
henfolge sie die Kapitel lesen. Hier also nun einige Vorschläge für andere
Sequenzstrategien. Jede reagiert auf eine andere Art auf die Vorgänge
im Meeting, auch auf Dinge, die im Protokoll nicht enthalten sind, auf
andere Fakten über das Unternehmen und die Beteiligten, ihre nonver-
balen Signale und so fort.
Sequenz: 5, 1, 4, 10, 8
Sequenz: 1, 7, 11, 17
Sequenz: 14, 1, 10, 11, 8
Ob eine dieser Sequenzen angesichts der Dynamik und Organisations-
kultur bei diesem Meeting funktionieren würde, kann jeder selbst ent-
scheiden. Klar ist, dass wir einer effektiven Strategie erheblich näher
gekommen sind, als wir es nach dem Lesen des Protokolls am Anfang des
Kapitels waren. Die Timinglinsen haben uns ein Fenster in die weitge-
hend unsichtbare Zeitstruktur des Meetings geöffnet und es uns ermög-
licht, eine Reaktion auf das Problem des Widerspruchs zu erarbeiten.
Anwendung der Timinglinsen. Zum Timing von Widerspruch 233
Lehren
Aus dem Beispiel in diesem Kapitel lassen sich einige Lehren ziehen,
nicht zuletzt die, dass Timingprobleme nicht immer offensichtlich sind.
Die Zeitstruktur des Meetings musste erst aufgedeckt werden. Wir
brauchten die Timinglinsen, um herauszufinden, was das Vorbringen
von Einwänden im Einzelnen erschwerte und wie sich diese Schwierig-
keiten überwinden lassen. Es ist schwer, mit einem unsichtbaren Gegner
umzugehen. Zudem brauchten wir alle sechs Linsen, um sämtliche Ele-
mente der Zeitarchitektur zu erkennen, die die Struktur des Meetings
prägt. Wenn Sie feststellen, dass Sie eine Entscheidung nur aufgrund
von einem oder zwei Elementen fällen – aufgrund eines bevorstehen-
den Termins (Interpunktion) oder weil sich etwas schnell verändert
(Tempo) –, denken Sie daran, auch andere Elemente in Ihre Überlegun-
gen einzubeziehen. Sie können Sie vor Risiken warnen oder auf Chancen
aufmerksam machen, von deren Existenz Sie nichts wussten.
Es gibt zwar noch andere Möglichkeiten, zu verstehen, was in diesem
Meeting falsch gelaufen ist – schlechte Entscheidungsprozesse, unzu-
reichende Führung, Gruppendenken, ein mangelhafter Gruppenpro-
zess, eine Organisationskultur, die Andersdenkende mundtot macht –,
aber eine Timinganalyse bietet eine einzigartige Perspektive. Sie bringt
zutage, was andere Modelle übersehen oder nur flüchtig erwähnen.
Vor über 2000 Jahren beobachtete Aristoteles, wie Schiffe mit dem
Mast zuerst am Horizont erschienen, und erkannte – vielleicht erstmals
in der Geschichte –, dass die Erde nicht flach, sondern gewölbt ist. Wäre
uns diese Tatsache aufgefallen – wie viele von uns hätten sie wohl als
optische Täuschung abgetan und angenommen, es läge an der Beugung
des Lichts, das unsere Augen erreicht, und nicht an der Beugung des
Bodens unter unseren Füßen? Aristoteles brauchte die Gesetze der Geo-
metrie, um Beobachtung in Erkenntnis umzusetzen. Eben das leisten
die Timinglinsen: Sie offenbaren Muster, die Beobachtung in Erkenntnis
verwandeln.
Die hier dargelegte Analyse soll Menschen in untergeordneten
Positionen helfen, die sofortige Markteinführung des Medikaments zu
verhindern. Sie enthält aber auch Lehren für alle in Führungspositionen,
234 Jetzt!
die von Wissen und Ansichten ihrer Untergebenen profitieren möchten.
Sie sollten sich fragen, ob sie ihre Tätigkeit so strukturiert haben, dass
ein Chancenfenster entsteht, in dem andere abweichende Meinungen
gefahrlos äußern können. Sie dürfen sich nicht nur auf den guten Willen
und Mut Ihrer Untergebenen verlassen, Ihnen zu sagen, was Sie wissen
müssen. Vielmehr müssen Sie Momente schaffen, die es ermöglichen,
die Wahrheit zu sagen – und das bedeutet unter anderem, auf das Timing
zu achten. Sie müssen für die richtigen Bedingungen und den geeigne-
ten Moment sorgen. Wenn Sie wissen, was ein Fenster schließt, können
Sie Wege finden, es zu öffnen, wie unser Beispiel gezeigt hat.
Das folgende Kapitel bietet ein strukturierteres Herangehen an eine
Timinganalyse. Der Prozess ist in sieben Schritte gegliedert. Im Laufe
dieser Schritte wird sich Ihr Timingverständnis vertiefen und verfei-
nern. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, das richtige Timing zu
wählen.
Eine Timinganalyse in sieben Schritten 235
8
Eine Timinganalysein sieben Schritten
… und zwar nicht, um eine bestimmte Antwort zu geben,
sondern um einen möglichen Weg anzudeuten.
Josef Albers1
Eine Timinganalyse ist eine strukturierte Methode, die helfen soll, einige
wichtige Ziele zu erreichen.
Zunächst hilft sie vor allem, Chancenfenster zu finden. Eine Timing-
analyse macht deutlich, wann der Moment günstig ist, um zu handeln, und
wann nicht. Als Nächstes hilft sie, die mit Handeln und Untätigkeit ver-
bundenen Risiken vorherzusagen. Alles, was wir tun, hat timingbezogene
Risiken. Manche sind nicht gleich offensichtlich. Vielleicht ist uns nicht
klar, wie schnell sich eine Situation ändern kann. Eine Timinganalyse
deckt diese Risiken auf. Zudem hilft sie uns, die Bedeutung des Timings
in einer bestimmten Situation einzuschätzen. Manchmal spielt das Timing
keine Rolle, in anderen Situationen entscheidet es alles. Da Manager einer
Flut von Informationen ausgesetzt sind, können Timingfragen leicht unter-
gehen. Eine Timinganalyse fördert sie zutage. Sie hilft Führungskräften
zudem, über das Vorgehen zu entscheiden. Sollten sie schnell oder lang-
sam handeln, vor weiteren Schritten vielleicht eine Pause einlegen oder das
Tempo ihres Vorgehens dem Rhythmus externer Ereignisse anpassen und
es je nach Bedarf beschleunigen oder verlangsamen? Solche Entscheidun-
gen über Tempo, Interpunktion, Entrainment und andere Elemente der
Zeitarchitektur bezeichne ich als Wahl des Zeitdesigns.
Eine gute Timinganalyse sollte herkömmliche Auffassungen über-
zeugend bestätigen oder infrage stellen und eine größere Bandbreite von
Optionen sichtbar machen, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Zudem
verdeutlicht sie, was vielleicht nur vage oder als Intuition oder Bauchge-
fühl vorhanden ist.
236 Jetzt!
Eine Timinganalyse besteht aus sieben grundlegenden Schritten.
Bevor ich sie eingehender erläutere, möchte ich sie kurz skizzieren:
Schritt 1: Situation beschreiben: Beschreiben Sie zunächst die vorliegende Situ-
ation. Beinhaltet sie Timingentscheidungen? Wenn ja, wie sollten sie Ihrer
Einschätzung nach entschieden werden? Wann sollten Sie handeln und
wann abwarten?
Schritt 2: Partiturdiagramm zeichnen. Denken Sie über die beschriebene Situation
nach. Was passiert gleichzeitig innerhalb und außerhalb Ihrer Organisation?
Stellen Sie diese sich überschneidenden Ereignisse als Tracks dar, wie in der
Partitur eines Musikstücks (mehr dazu später). Es geht darum, zu sehen,
wie diese gleichzeitigen Ereignisse zusammenwirken. Nutzen Sie die in den
vorangegangenen Kapiteln beschriebenen sechs Timinglinsen, um Details
hinzuzufügen und möglichst viel über die »Partitur« herauszufinden.
Schritt 3: Vertiefen: Untersuchen Sie anhand der Polyphonielinse zwei Bezie-
hungen zwischen den Tracks: Was prescht vor, hinkt hinterher oder passiert
gleichzeitig, und wie beeinflusst ein Prozess oder Ereignis andere?
Schritt 4: Chancenfenster suchen. Solche Fenster haben verschiedene Merkmale,
von denen jedes entscheidend sein kann für die Frage, wann es zu handeln
gilt.
Schritt 5: Timingrisiken erkennen. Mit welchen Risiken sehen Sie sich konfron-
tiert? Was könnte schneller oder langsamer eintreten, als Sie erwarten? Was
könnte Außerordentliches oder, in Bezug auf anderes, zur falschen Zeit pas-
sieren?
Schritt 6: Optionen bewerten. Prüfen Sie ein letztes Mal kritisch Ihre Analyse.
Anhand einer Checkliste können Sie entscheiden, was Sie noch bedenken
sollten, bevor die Analyse vollständig ist.
Schritt 7: Handeln. Beschließen Sie aufgrund der Ergebnisse Ihrer Timing-
analyse, zu handeln oder abzuwarten.
Wenn Sie diese sieben Schritte durcharbeiten, sollten Sie Einsteins
Äußerung über Einfachheit im Sinn behalten: »Man sollte alles so ein-
fach wie möglich sehen, aber nicht einfacher.« Bei einer Timinganalyse
steckt der Teufel oft im Detail. Einige Schritte sind kompliziert. Sie füh-
ren über gewundene Wege mit vielen Kehren, wo es wahrscheinlich eine
Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 Kilometern pro Stunde gibt. Wenn
Eine Timinganalyse in sieben Schritten 237
viel auf dem Spiel steht, gibt es gute Gründe, sich Zeit zu nehmen. Es
gilt viel zu beachten und zu bedenken. Aber sobald Sie sich erst einmal
mit der Methode vertraut gemacht haben, werden Ihnen die Schritte in
Fleisch und Blut übergehen. Sie werden Abkürzungen und Zwischen-
schritte entdecken, die Sie getrost auslassen können.
Eine Timinganalyse ist jedoch keine Formel, sondern eine Möglich-
keit, reale Situationen zu untersuchen, um Antworten auf Timingfragen
zu finden. Sie arbeitet unter »Ortsbedingungen«, das heißt, mit den
Details, Unsicherheiten und komplexen Gegebenheiten der chaotischen
Welt, in der wir leben. Da Manager ständig als Feuerwehr im Einsatz
sind, illustriere ich die sieben Schritte jeweils anhand eines Beispiels aus
der Brandbekämpfung.
Kommen wir nun zu den Schritten im Einzelnen.
Schritt 1: Situation beschreiben
Der erste Schritt einer Timinganalyse ist deskriptiv. Beschreiben Sie mit
eigenen Worten das Problem, vor dem Sie stehen. Jede Berufsgruppe
und jedes Fachgebiet hat einen eigenen Fachjargon. Im IT-Bereich, im
Marketing und in Strategieabteilungen herrscht jeweils eine eigene
Denkweise und Sprache. Es ist hilfreich, Ihren ersten Eindruck aufzu-
schreiben, damit Sie im weiteren Vorgehen Details hinzufügen oder
anpassen können. Diese Beschreibung sollte nicht mehr als einige Sei-
ten umfassen. Als Nächstes fragen Sie sich: Welche Timingfragen treten
bei meinem angestrebten Ziel auf? Vielleicht geht es darum, wann Sie ein
Produkt am Markt testen, wann Sie aus einem Geschäft, das fehlschlägt,
aussteigen oder wie Sie die verschiedenen Schritte eines komplexen Pro-
zesses timen. Diese erste Beschreibung sollte sich auf das große Ganze
konzentrieren.
Ziel der Brandbekämpfung ist es, Leben und Eigentum zu retten. Die
Timingfrage lautet, wie man so schnell wie möglich handelt, ohne die
Sicherheit außer Acht zu lassen.
Schnelligkeit ist in vielen Situationen wichtig, aber aus Erfahrung
238 Jetzt!
wissen wir, dass es noch andere Faktoren zu bedenken, andere Fragen zu
stellen und Entscheidungen zu treffen gilt: Welche Dinge sollten gleich-
zeitig erledigt werden, wann ist eine Pause notwendig, lässt sich ein
bestimmter Schritt in einem Prozess auslassen und so weiter. Auf diese
Fragen und Optionen stoßen Sie im Laufe Ihrer Analyse. Am Anfang
halten Sie einfach Ihre gegenwärtige Sicht der Situation fest.
Vor welchen Timingfragen stehen Sie? Listen Sie für jede Frage die
Faktoren auf, die sich auf die Entscheidung auswirken könnten. Warum
ist es besser, zu einem bestimmten Zeitpunkt zu handeln als zu einem
anderen? Bei der Brandbekämpfung gehören zu den relevanten Faktoren
Größe und Ort des Feuers, Art des betroffenen Gebäudes, die Frage, ob
im Inneren Menschen eingeschlossen sind, die unmittelbare Wettervor-
hersage und Ähnliches. Diese Liste wird Ihnen helfen, wenn Sie ein Par-
titurdiagramm erstellen.
Schritt 2: Partiturdiagramm zeichnen
Wir nutzen die Vertikal- und Horizontalstruktur einer Musikpartitur,
um die an einer Timingentscheidung beteiligten Faktoren grafisch dar-
zustellen oder zu skizzieren. (Wer nicht weiß, wie eine solche Partitur
aussieht, findet in der Einleitung ein Beispiel aus einer Partitur Beet-
hovens.) Die von verschiedenen Instrumenten gespielten Stimmen wer-
den vertikal angeordnet. Im Ergebnis lässt sich an einer Partitur ablesen,
was auf was (welche Note auf welche) folgt und was gleichzeitig passiert
(welche Akkorde und Harmonien entstehen). Ähnlich aufgebaut ist das
Diagramm, das Sie anfertigen, das aber keinerlei künstlerisches oder
musikalisches Talent erfordert. Es hat eine vertikale und eine horizon-
tale Dimension.
Das Zeichnen ist wichtig. Ich weiß nicht, warum Kinder zeichnen,
aber als einen Grund vermute ich, dass Zeichnen unsere instinktive
Reaktion auf eine Welt ist, die wir noch nicht begreifen: Wir meistern
sie, indem wir ihr visuell Form verleihen, eine Form, die wir beherr-
schen können. Zeichnen macht die Welt begreifbar, bringt sie in Reich-
Eine Timinganalyse in sieben Schritten 239
weite unserer Hände, Augen und letztlich unseres Verstandes. So geht
es uns auch mit den Mustern der Zeitarchitektur (eine ausführlichere
Beschreibung findet sich im Anhang). Wir können sie uns nicht im Kopf
vorstellen und erkunden. Dazu sind sie zu kompliziert. Wir müssen sie
tatsächlich skizzieren und zeichnen. Und obwohl Computer nützlich für
Analysen und Berechnungen sind, können wir mit nichts Raffinierte-
rem als einem Stift und der Rückseite eines Briefumschlags eine ganze
Menge lernen.
Relevante Faktoren vertikal auflisten
Ordnen Sie zunächst jedem eigenständigen Faktor einen eigene horizon-
tale Linie zu, die wir als Track bezeichnen (siehe Kapitel 6: Polyphonie).
Eine Gruppe von Tracks können Sie für alles vorsehen, was innerhalb
Ihrer Organisation vorgeht, eine andere für Ihre Konkurrenten, eine
dritte für Änderungen der staatlichen Politik und so weiter.
Geben Sie allem, was Sie für wichtig halten, einen Track. Wie viele
Tracks Sie einbeziehen sollen, lässt sich nicht vorhersagen, da jede Situ-
ation anders ist. Hier sind Ihre Kenntnisse und Erfahrungen gefragt. Es
liegt auf der Hand, dass Sie nicht jeden Faktor und jede Variable, jeden
Akteur oder Beteiligten als Track erfassen können. Aber in diesem Sta-
dium ist es besser, zu viele einzubeziehen, als etwas Wichtiges zu über-
sehen. Nach meiner Erfahrung braucht man für die komplexesten Situ-
ationen mindestens zwei Dutzend Tracks, um zu erfassen, was vorgeht.
Folglich dürften die meisten Diagramme recht hoch werden.
Die Horizontaltracks detailliert beschreiben
Als Nächstes fügen Sie ein, was Sie über jeden Track wissen. Nehmen Sie
sie durch die ersten fünf Timinglinsen unter die Lupe. Fragen Sie sich:
1. Sequenz: Was weiß ich über die Reihenfolge der Ereignisse? Wie ent-
wickeln sie sich tendenziell im Laufe der Zeit?
240 Jetzt!
2. Zeitliche Interpunktion: Welche Interpunktionszeichen gibt es für jedes
Ereignis oder jede Aktion der Sequenz? Wo gibt es Fristen, Anfänge,
Enden, Urlaube, Wahlen und so weiter?
3. Intervall und Dauer: Wie viel Zeit trennt zwei Ereignisse? Wie lange
braucht oder dauert jedes?
4. Tempo: Was passiert schnell oder langsam? Was ist die Mindestge-
schwindigkeit des schnellsten und des langsamsten Prozesses?
5. Form: Welche Formen erkenne ich? (Achten Sie auf Teufelskreise, Bla-
sen, Hockeyschlägerform und Prozesse, die langsam anfangen und
dann stark beschleunigen.)
Brandbekämpfung: Ein Partiturdiagramm zeichnen
Die folgenden Schritte sind eine verbreitete Sequenz, wenn die Feuer-
wehr an einem brennenden Gebäude eintrifft:2
1. Belüften: Feuerwehrleute schlagen Löcher in die Gebäudehülle, damit
heiße Gase und Rauch abziehen können.
2. Suchen und Retten: Während der Bau belüftet wird (und oft noch bevor
der erste Wassertropfen das Feuer trifft), brechen Feuerwehrleute
Fenster auf und beginnen das Innere zu durchsuchen.
3. Löschen: Das Wasser für die Schläuche wird aufgedreht.
Im Partiturdiagramm 8.1 habe ich jedem dieser Vorgänge einen eigenen
Track zugeordnet. Außerdem gibt es einen Track für das Feuer, um die
Veränderung seiner Intensität im Laufe der Zeit anzuzeigen. Nehmen
Sie sich die Zeit, das Diagramm aufmerksam zu studieren. Es ist weni-
ger kompliziert, als es auf den ersten Blick erscheint, wenn Sie ein sol-
ches Diagramm noch nie gesehen haben.
Betrachten wir das Diagramm durch jede der sechs Timinglinsen,
die in den vorigen Kapiteln ausgeführt sind. Brandbekämpfung ist eine
Situa tion, in der es auf Schnelligkeit ankommt. Daher ist das Tempo (in
der oberen linken Ecke), mit dem verschiedene Handlungen erfolgen
und Ereignisse eintreten, prestissimo, »sehr schnell«.
Handlungen, die ich kontrollieren kann, positioniere ich gern im
Eine Timinganalyse in sieben Schritten 241
oberen Teil des Diagramms und weiter unten Vorgänge und Prozesse,
die zum Kontext gehören und über die ich keine Kontrolle habe. Für
die Ersteren verwende ich den Violinschlüssel (das S-förmige Sym-
bol) und für die Letzteren den Altschlüssel (eine halbe 8). Da auf ver-
schiedenen Tracks vieles gleichzeitig geschieht, habe ich die Polyphonie
eigens gekennzeichnet. Unter dem Diagramm läuft eine Zeitschiene
mit Markierungen, um wichtige Intervalle anzuzeigen. Zudem ist ange-
geben, dass das Zeitmaß in Minuten (M) statt etwa in Stunden gemes-
sen wird.
Jede Handlung hat einen eigenen Track: Belüften, Suchen und Ret-
ten, Wassereinsatz, und zwar in der Reihenfolge, in der die Tätigkeiten
stattfinden. Im Allgemeinen ordne ich jedem Schritt oder Stadium einer
Sequenz einen eigenen Track zu. Folgt man jedem Track von links nach
rechts, finden sich Interpunktionszeichen. Jeder Vorgang oder Zustand
hat Anfang und Ende, die abrupt oder allmählich sein können. Zur Erin-
nerung, dass die Interpunktion wichtig sein kann, verwende ich als Platz-
halter den Buchstaben I. Bei Feuern beispielsweise kann es lange dau-
ern, bis sie vollständig gelöscht sind.
Die Intensität des Feuers verändert sich im Laufe der Zeit (Form). Es
brennt stärker, sobald die Feuerwehrleute das Gebäude belüften und
Fenster aufbrechen, was dem Feuer neuen Sauerstoff zuführt.
Abb. 8.1: Partiturdiagramm einer konventionellen Brandbekämpfung
Tempo = prestissimo
Form
M Minuten
M
M
I
Interpunktion = I
I
Intervall
Polyphonie
Sequenz
I I
I I
I I
1 2 3
Belüften
Zeitfenster
Suchen & Retten
Wasser
Feuer
242 Jetzt!
Die grau markierte Spalte zeigt das Chancenfenster für Rettungsein-
sätze.
Meine Zeichnung ist als Skizze gedacht. Wenn Architekten ein
Gebäude entwerfen, beginnen sie mit einer Skizze, nicht mit detaillier-
ten Bauzeichnungen. Uns geht es nicht um mathematische Genauig-
keit. Später können Sie dem Diagramm das übliche Gitternetz für Tage,
Wochen und Monate hinzufügen und präzisere Maße angeben. Das
sollte jedoch erst der letzte Schritt sein. Denken Sie an das Mantra: Mus-
ter geht vor Präzision.
Schritt 3: Vertiefen
Nun haben Sie ein einfaches Partiturdiagramm, das einen ersten Ver-
such darstellt, das Wesentliche Ihrer Situation zu erfassen. Im nächs-
ten Schritt untersuchen, erweitern und verfeinern Sie das Diagramm
anhand von zwei Faktoren, die im Polyphoniekapitel behandelt sind:
Struktur und Einfluss. Beginnen wir mit der Struktur, den vertikalen
Beziehungen zwischen den Tracks.
Die vertikalen Beziehungen zwischen den Tracks untersuchen
Schauen Sie sich die verschiedenen Tracks Ihres Partiturdiagramms an
und fragen Sie sich:
• Was fällt zeitlich zusammen, was nicht? Korrespondiert die Marktein-
führung eines Produkts mit einer Nachfragespitze danach?
• Welche Tracks preschen vor, hinken hinterher oder überschneiden
sich? Bringen etwa drei Firmen gleichzeitig praktisch identische Pro-
dukte auf den Markt?
• Gibt es Lücken und spielen sie eine Rolle? Ein Unternehmen hat even-
tuell zu kämpfen, wenn zwischen neuen Produkten lange zeitliche
Lücken klaffen.
Eine Timinganalyse in sieben Schritten 243
• Welche Tracks oder Teiltracks verlaufen synchron oder asynchron zu
anderen? Sind die internen Systeme des Unternehmens auf Verände-
rungen des Marktes abgestimmt oder nicht?
• Wie beeinflussen sich die Tracks gegenseitig? Verursachen, verdecken
oder verstärken die Inhalte eines Tracks die Vorgänge anderer Tracks
oder konkurrieren sie mit ihnen?
Eine Timinganalyse lenkt die Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen
der horizontalen und der vertikalen Dimension einer Situation. In den
meisten Fällen wissen Sie wahrscheinlich am Anfang nicht, welche Teile
des Partiturdiagramms Ihnen am meisten Aufschluss über das Timing
geben. Es könnte die Erkenntnis sein, dass ein Schritt oder Stadium einem
anderen folgen muss, dass zwei Prozesse sich nicht überschneiden dürfen
oder ein anderes Muster sinnvoll ist. (Das Kapitel über Polyphonie erläu-
tert eingehender, wie ein Track andere beeinflussen kann.)
Brandbekämpfung: Der herkömmliche Such- und RettungseinsatzWie das Partiturdiagramm in Abbildung 8.1 zeigt, gibt es eine Zeit-
spanne, bevor zusätzlicher Sauerstoff das Feuer intensiviert. Je län-
ger dieser kurze Aufschub dauert, umso besser, denn er gibt den
Feuerwehrleuten Zeit, im Gebäude Eingeschlossene zu suchen und
zu retten. George K. Healy, Löschzugführer in Queens, New York,
sagte: »Vor Jahren konnte man ein Fenster aufbrechen, und das
Feuer brauchte dann noch mehrere Minuten – oder sogar zig Minu-
ten, um sich zu entwickeln.«3 Rettungskräfte planen diese Zeit in
ihren Einsätzen ein.
Diagrammgröße anpassen
Fragen Sie sich:
• Habe ich genügend Tracks und in jedem Track genügend Details über
Sequenz, Interpunktion und so weiter einbezogen?
244 Jetzt!
• Ist mein Diagramm »hoch« genug?
• Ist es auch lang und breit genug?
• Bezieht es die bekannte Vergangenheit und wahrscheinliche Zukunft
ausreichend ein, um die Situation zu verstehen?
Falls Sie eine dieser Fragen verneinen müssen, fügen Sie Tracks hinzu
und schließen Sie die Lücken.
Wenn wir nicht weit genug zurück in die Vergangenheit und nicht
weit genug nach vorn in die Zukunft schauen, können die tatsächlichen
Ereignisse uns überraschen. So glaubt jeder, gute Leistung sollte gegen-
über schlechter belohnt werden. Allerdings müssen wir vorsichtig sein,
wie wir »gut« und »schlecht« messen – und welche Auswirkung diese
Bemessung auf das Ergebnis hat. Eine kalifornische Studie unter 35 000
Ärzten, die nach ihrer Leistung beurteilt wurden, ergab, dass manche
Ärzte diejenigen Patienten fallen ließen, die sich nicht an ihre Anwei-
sungen hielten, eine schlechte Prognose oder eine schwierige Erkran-
kung hatten. Mit anderen Worten, sie ließen Patienten fallen, die ihr
Rating verschlechtern würden.4 Ein Partiturdiagramm mit einem Track
für Ärzte und separaten Tracks für verschiedene Patientengruppen
hätte das Problem aufgedeckt, bevor die Studie durchgeführt wurde.
Was hinterher offenkundig wurde, hätte schon zu Anfang ersichtlich
sein sollen.
Wenn etwas schiefgeht, hören wir am häufigsten den Vorschlag, die
Kontrolle zu straffen – es geht also darum, Aufsicht und Regulierung
zu verschärfen. Das lässt jedoch einen Schritt aus. Der erste Schritt ist,
die zu kontrollierende Situation besser zu beschreiben. Dazu muss man
in Betracht ziehen, was sich im Laufe der Zeit ändern kann. Um das
zu tun, braucht man ein Partiturdiagramm, das ausreichend viele und
lange Tracks enthält, um alle wichtigen zeitabhängigen Phänomene
zu erfassen. Alles, was wir tun, braucht Zeit, passiert also vor, wäh-
rend oder nach etwas anderem. Wenn wir nicht bedenken, was Ärzte
tun, bevor sie einen Patienten annehmen, oder welche Entscheidungen
sie während der Behandlung möglicherweise treffen, könnten uns die
Ergebnisse einer Intervention oder einer Verfahrensänderung überra-
schen.
Eine Timinganalyse in sieben Schritten 245
Fragen Sie sich:
• Was könnte in Zukunft passieren, was Auswirkungen auf meine
Arbeit hat?
• Was aus der Vergangenheit wirkt sich nach wie vor auf die Gegenwart
aus?
• Was passiert sonst noch in der Gegenwart, was ich vielleicht überse-
hen habe?
Die Tatsache, dass wir in einer globalen Welt wirken und handeln, bringt
es mit sich, dass es immer mehr Faktoren zu berücksichtigen gilt. Fra-
gen Sie sich, was passieren würde, wenn das Diagramm, mit dem Sie
arbeiten, höher wäre – also mehr Tracks hätte –, und wie diese zusätz-
lichen Tracks Ihre Timingentscheidungen verändern könnten.
Brandbekämpfung: Veränderung des konventionellen VorgehensIn dem Maße, wie Kunststoffe im Laufe der Zeit Baumwolle und andere
Naturmaterialien in Wohnungen ersetzt haben, hat sich die Situation für
Feuerwehrleute in zweierlei Hinsicht verändert.
Erstens: »Da es in Wohnungen mehr Kunststoffe gibt, verbrau-
chen Wohnungsbrände eher den gesamten Sauerstoff auf …, bevor
sie alle brennbaren Materialien aufzehren. Die daraus resultierenden
rauchigen, sauerstoffarmen Schwelbrände scheinen auszugehen.
Aber tatsächlich warten sie auf einen Zustrom an frischer Luft, der
eintreten kann, sobald Feuerwehrleute Dächer öffnen und Fenster
einschlagen.« Die Geschwindigkeit, mit der das Feuer den Sauerstoff
im Raum verbraucht, bevor es alle brennbaren Materialien verbrennt
(eine Frage der Geschwindigkeitsdifferenz), führt zu einem Irrtum
in Bezug auf die zeitliche Interpunktion: Man meint, ein Prozess sei
vorbei oder nahezu vorbei, obwohl es nicht der Fall ist.
Zweitens: »Bei Kunststoffen wie Polyurethanschaum, der in vie-
len Sofas und Matratzen als Füllmaterial dient, ist die Zeit drastisch
reduziert, die ein Feuer braucht, um einen Raum auf 600 Grad Cel-
sius aufzuheizen, einen Punkt, an dem er meist in Flammen auf-
geht.«5 Somit bleibt den Feuerwehrleuten erheblich weniger Zeit,
246 Jetzt!
Überlebende zu suchen. Das Maximaltempo des schnellsten Pro-
zesses hat sich drastisch erhöht und das Fenster für den Such- und
Rettungseinsatz verkleinert.
Wie in Abbildung 8.2 dargestellt, überdenken Feuerwehrleute
mittlerweile ihr herkömmliches Vorgehen. In manchen Fällen ist es
am besten, das Feuer vor der Rettung von Überlebenden zu löschen.
Das Timing dieser Entscheidung muss in das Vorgehen der Feuer-
wehrleute einbezogen werden.
Abb. 8.2: Aktualisiertes Partiturdiagramm der Brandbekämpfung
Dieses Diagramm ähnelt der Abbildung 8.1. Das Tempo ist nach wie
vor sehr schnell, da es auf die Zeit ankommt. Allerdings werden Sie
mehrere Ergänzungen und Modifikationen bemerken.
Unten im Diagramm habe ich neben dem Bassschlüssel Tracks für
Veränderungen bei den brennbaren Materialien eingefügt und ange-
nommen, dass die Zunahme der Kunststoffe allmählich über einen
längeren Zeitraum hinweg erfolgte und daher nicht bemerkt wurde.
Wenn ein Diagramm höher wird, verwende ich den Violinschlüs-
sel für Ereignisse und Prozesse im Vordergrund, den Altschlüssel für
Tempo: prestissimo
M Minuten
J Jahre
M
M
J
Interpunktion = I
Intervall
Polyphonie
Sequenz
I I
I I
1 2 3
Belüften
Zeitfenster
Suchen & Retten
Baumwolle
Plastik
Wasser
Feuer II
Form
I I
Eine Timinganalyse in sieben Schritten 247
Jede Timinglinse kann vieles aufzeigen. So einfach das Beispiel der
Brandbekämpfung auch ist: es veranschaulicht doch, wie wichtig es ist,
das Maximaltempo des schnellsten Prozesses festzustellen (wie schnell
sich das Feuer ausbreiten kann), Termitentracks aufzuspüren (das
Tempo, mit dem Kunststoff Naturfasern ersetzte), die Interpunktion zu
beachten (wann das Feuer tatsächlich vorbei ist) und die richtige Sequenz
zu wählen (Rettung vor Wassereinsatz oder umgekehrt). Würden wir das
Brandbekämpfungsbeispiel eingehender durch jede der sechs Linsen
betrachten, träten noch andere Probleme zutage. Als ich die Linien für
Belüftung, Rettung und Wassereinsatz zeichnete, wusste ich nicht, wie
lange jeder dieser Prozesse dauern würde. Wie lange sollten Feuerwehr-
leute nach dem Öffnen des Dachs warten, bis sie das Gebäude betreten?
Tracks im Mittelfeld und den Bassschlüssel für Ereignisse und Pro-
zesse im Hintergrund. Das ist keine feststehende Regel, aber eine
Möglichkeit zur Organisation eines Diagramms, das äußerst kom-
plex werden kann. So lässt sich der Violinschlüssel auch für Vorgänge
in Ihrem Team oder Ihrer Gruppe verwenden, der Altschlüssel für
Prozesse in Ihrer Organisation und der Bassschlüssel für das, was in
Ihrer Branche passiert.
Um verschiedene Zeiteinheiten im selben Diagramm unterzu-
bringen, benutze ich eine durchbrochene Linie, an der neben jedem
Track die Zeiteinheit angegeben ist (M für Minuten, J für Jahre).
Wenn wir Veränderungen bei den brennbaren Materialien und
ihren Einfluss auf die Brandbekämpfungsstrategie einbeziehen, führt
das zu einem umfangreicheren Diagramm, das höher (mehr Tracks )
und breiter (Tracks über längere Zeitspannen) ist.
Auch die Sequenz verändert sich, da der Wassereinsatz aufgrund
der veränderten Zusammensetzung brennbarer Materialien nun
schon vor der Rettung beginnt. Eine grau unterlegte Spalte zeigt das
Fenster für den Rettungseinsatz an. In diesem Beispiel beginnt und
endet die Rettung, wenn das entsprechende Fenster sich öffnet und
schließt.
248 Jetzt!
Eine halbe Minute kürzer oder länger bewirkt vielleicht den entscheiden-
den Unterschied – oder ändert gar nichts.
Wenn Sie sämtliche Timinglinsen anwenden und die Details einfü-
gen, die sie zutage fördern, stellen Sie möglicherweise fest, dass Ihr Par-
titurdiagramm zu groß und zu komplex wird. Es gibt zwei Strategien,
mit Komplexität umzugehen. Die erste ist eine Organisationsstrategie:
Sie können die Tracks gruppieren. Die zweite Möglichkeit: Sie können
das Diagramm in einem größeren Zeitmaßstab zeichnen. Im Folgenden
beschreibe ich beide Strategien.
Tracks gruppieren
Nach meinem Vorschlag können Sie Violin-, Alt- und Bassschlüssel
für Tracks verwenden, die jeweils Vordergrund (Ihre Handlungsmög-
lichkeiten), Mittelfeld (Ihren unmittelbaren Kontext) und Hintergrund
(den weiteren Kontext) beschreiben. Die größten Chancen, Vorgänge zu
beeinflussen, haben Sie gewöhnlich in Ihrem unmittelbaren Umfeld –
etwa innerhalb Ihres Teams oder Ihrer Gruppe. Dagegen können nur
wenige von uns Einfluss auf die Weltwirtschaft nehmen. Sie können
also die Tracks nach Ihren Einflussmöglichkeiten gruppieren. Eine
andere Möglichkeit wäre, sie nach Wichtigkeit zu ordnen. Welche Tracks
haben wahrscheinlich die größten Auswirkungen auf das angestrebte
Ergebnis? Oder Sie gruppieren sie nach Tempo oder Änderungsrate und
stellen die schnellsten Tracks zusammen. Die Sortierung nach Betei-
ligten ist eine weitere Option. Keine Gruppierung kann für sich bean-
spruchen, die beste zu sein. Wenn wir verschiedene Gruppierungen
ausprobieren, hilft das nicht nur, ein komplexes Diagramm beherrsch-
bar zu machen, sondern auch, die zu bewältigende Situation besser zu
verstehen.
Unterschiedliche Zeiteinheiten verwenden
Wenn ein Diagramm allzu kompliziert wird und eine Gruppierungs-
strategie nicht ausreicht, nehmen Sie Tracks heraus und erstellen ein
separates Diagramm. Eine Timinganalyse ist eine Kunst. Stellen Sie sich
Eine Timinganalyse in sieben Schritten 249
also darauf ein, sich im ständigen Wechsel einmal auf Details zu kon-
zentrieren und dann wieder mit der Gesamtkomposition zu arbeiten.
Im Fall der Brandbekämpfung könnten Sie ein detailliertes Diagramm
ausschließlich für den Rettungseinsatz erstellen und jedem einzelnen
Beteiligten einen separaten Track zuweisen, der zeigt, was er oder sie in
jedem Augenblick tut. Sie können das Diagramm auch in einem größe-
ren Zeitmaßstab anlegen. Wenn Sie sich eine Geschäftssituation in einer
bestimmten Zeiteinheit angesehen haben, betrachten Sie sie einmal in
einer anderen Zeiteinheit. Der Umsatz pro Stunde ergibt ein Bild. Wenn
Sie den Umsatz aber Monat für Monat über ein Jahr hinweg zeichnen,
ergibt sich wahrscheinlich ein anderes Bild.
Mittlerweile haben Sie vielleicht alles erkannt, was Sie wissen müssen
oder wofür Sie Zeit haben. Aber wenn Sie aus einem Partiturdiagramm
das Maximum an Informationen herausholen wollen, können Sie noch
mehr tun.
Das Diagramm modifizieren
Der beste Weg, etwas zu verstehen, ist manchmal, es zu verändern. Hier
folgen nun drei Möglichkeiten, ein Partiturdiagramm weiter zu unter-
suchen.
Richtung oder Stärke der beteiligten Kräfte ändern
Verschiedene Kräfte drängen oder ziehen Prozesse immer in die eine
oder andere Richtung. Fragen Sie sich: Was passiert beispielsweise, wenn
man eine Deadline aufhebt? Wie lange wird es dauern, ein Projekt zum
Abschluss zu bringen, wenn der Druck entfällt, zu einem bestimmten Termin
fertig zu werden? Angenommen, in unserem Brandbekämpfungsbeispiel
hören Sie unmittelbar hinter der Haustür des brennenden Gebäudes
eine Frau um Hilfe rufen. Wahrscheinlich würden Sie mit Ihrem Ret-
tungsversuch nicht warten, bis die Wasserkanonen das Feuer gelöscht
hätten. Die Macht der Umstände kann Vorschriften, was (wann) zu tun
ist, außer Kraft setzen.
250 Jetzt!
Anordnung der Tracks ändern
Fragen Sie sich: Welche Konsequenzen hätte es, die Anordnung, Überschnei-
dungen, Vorsprünge oder Verzögerungen zwischen verschiedenen Tracks zu
ändern? Wann sollte bei der Brandbekämpfung das Wasser besser zuerst,
statt zuletzt zum Einsatz kommen, und welche Auswirkungen hätte das
auf die anderen Tracks?
Die »Lautstärke« der einzelnen Tracks ändern
Versuchen Sie, manche Tracks lauter oder leiser zu machen – also ihre
Bedeutung oder Prominenz gegenüber anderen Tracks zu erhöhen oder
zu verringern.
Ein Manager, mit dem ich mich unterhielt, hatte kürzlich in einem
Unternehmen die Abteilung für Fusionen und Übernahmen übernom-
men. Aber kurz nach seinem Firmeneintritt ließ ein Kampf um die
Unternehmensführung kaum noch Zeit und Energie, sich um Fusionen
und Übernahmen zu kümmern. Der Manager überlegte, ob er einen
Fehler gemacht hatte. Wenn in einem Unternehmen ein Feuergefecht
tobt, wird es tendenziell die Ressourcen aufzehren, die nötig sind, um
externe Chancen zu erkennen und zu nutzen. Wenn Feuerwehrleute
mit einem Brand konfrontiert sind, gilt ihre vorrangige Überlegung der
Anzahl und Position der Menschen im Gebäude. Wenn sie sich ändert,
ändern sich auch Strategie und Taktik.
Die P4-Strategie
Manche Menschen denken visuell, andere in Zahlen oder Symbolen. Das
Partiturdiagramm ist visuell. Hier möchte ich noch eine andere Denk-
weise anführen. Wenn Sie ein Partiturdiagramm zeichnen, setzen Sie
das um, was ich eine P4-Strategie nenne: Sie gehen von Punkt zu Pfad zu
Polyphonie zu Patterns (Mustern).
Bei Timingproblemen sollten Sie sich fragen: Was weiß ich jetzt zu
diesem Zeitpunkt? Als Nächstes denken Sie über zeitlich ausgedehnte
Eine Timinganalyse in sieben Schritten 251
Pfade nach: Welche Ereignissequenzen finden innerhalb meiner Gruppe oder
Firma und im weiteren Umfeld statt? Das Fortschreiten von Punkt zu Pfad
ermöglicht es Ihnen, sich die horizontale Dimension der Partitur vorzu-
stellen. Überlegen Sie, was auf was folgt (Sequenzen); wo Dinge anfan-
gen, Pausen haben und enden (Interpunktion); wie schnell sie werden
könnten (Tempo); wie lange sie dauern könnten (Dauer); wie viel Zeit ver-
schiedene identifizierte Ereignisse trennt (Intervall); und welche vorhan-
denen zeitlichen Verläufe (Form) wie Konjunkturanstieg und -rückgang
Ihre Entscheidung beeinflussen könnten. Da wir in einer Welt simul-
taner Ereignisse leben, sollten Sie auch überlegen, was wahrscheinlich
gleichzeitig passieren wird (Polyphonie). Das ist die vertikale Dimension
der Partitur. Und schließlich suchen Sie nach Mustern (Patterns), die
durch das Zusammenspiel dieser Parallelprozesse entstehen. Diese Fra-
gen zu stellen ist das verbale Äquivalent zu einem Partiturdiagramm.
Schritt 4: Chancenfenster suchen
Eine Timinganalyse soll Ihnen bei der Entscheidung helfen, wann es
zu handeln gilt. Die grau unterlegten Spalten im Brandbekämpfungs-
diagramm zeigen Intervalle an, in denen Rettungseinsätze sicher ausge-
führt werden können. Häufig sprechen wir von Chancen- oder Gelegen-
heitsfenstern. Wann ist die Zeit für unser Vorhaben günstig und wann
nicht? Die Metapher des Fensters deutet auf ein häufig kurzes Intervall
hin. Unausgesprochen vermittelt es den Eindruck, dass, wenn Sie nicht
schnell handeln, Sie es versäumen werden und das Fenster sich schlie-
ßen wird. Das ist jedoch eine allzu simple Sicht. Fenster besitzen außer
Länge und Dauer noch andere Merkmale, auf die Sie achten sollten.
Vorzeichen
Ist ein Chancenfenster offen (+) oder geschlossen (–)? Manchmal ist das
Wissen, wann ein Fenster geschlossen ist, ebenso wichtig wie das Wis-
252 Jetzt!
sen, wann es offen ist. Bei der Brandbekämpfung ist es genauso wichtig,
zu wissen, wann man ein Gebäude nicht betreten darf, wie zu wissen,
wann der richtige Zeitpunkt ist, hineinzugehen.
Zustände und Daten
Wann öffnet sich ein Fenster? Auf diese Frage liefern unter anderem
Zustandsregeln eine Antwort. Dabei handelt es sich um »Wenn-dann-Re-
geln«. Ein Fenster ist offen, wenn ein bestimmter Zustand gegeben oder
eine Bedingung erfüllt ist. »Schießen Sie nicht, bevor Sie das Weiß ihrer
Augen sehen«, befahl Colonel William Prescott in der Schlacht von Bun-
ker Hill. Wir mögen zwar nicht wissen, wann dieser Zustand eintritt,
aber sobald er da ist, gilt: Feuer frei!
Zustandsregeln können sich auf jedes Element der Zeitarchitektur
beziehen. Wann ist die beste Zeit, Aktien zu kaufen? Nach Ansicht man-
cher Analysten sollte man drei oder vier Kurserholungen abwarten, also
im Grunde einen Verlauf in Gestalt eines erweiterten W: eine Regel,
die auf der Form basiert. Manchmal ist der richtige Zeitpunkt, zu han-
deln, unmittelbar vor einer Deadline (Interpunktionszeichen), weil die
Menschen dann mit anderem beschäftigt sind und man den Überra-
schungseffekt auf seiner Seite hat. Wenn Sie ein Chancenfenster gefun-
den haben – oder glauben, gefunden zu haben –, überlegen Sie, welches
Merkmal (Merkmale) der Zeitarchitektur der Grund für Ihre Einschät-
zung ist.
Die einfachsten Timingregeln sind Datumsregeln: Handeln Sie an
einem vorher festgelegten Termin. »Die beste Zeit, das zu erledigen, ist
genau am Ende des Bilanzjahres.«
Bei der Brandbekämpfung bestimmen wahrscheinlich ausschließlich
Zustandsregeln das Timing. Feuerwehrleute beobachten Brände, nicht
die Uhr, um das Timing ihres Handelns festzulegen. In anderen Zusam-
menhängen, etwa im juristischen Bereich oder in der Buchführung,
können Datumsregeln überwiegen.
Eine Timinganalyse in sieben Schritten 253
Länge und Höhe
Wie lange wird ein Fenster offen bleiben (Länge) und wie weit (Höhe)?
Die Höhe zeigt an, wie günstig diese Zeitspanne für Ihr Vorhaben ist.
Manche Fenster lassen sich nur einen Spalt weit öffnen. Wenn Sie in die-
ser Zeitspanne handeln, können Sie Erfolg haben, was allerdings keines-
wegs garantiert ist. Andere Fenster lassen sich vollständig öffnen, auch
wenn sie nur kurze Zeit offen bleiben.
Wie lange und mit welchem Maß an Sicherheit können Feuerwehr-
leute Rettungsarbeiten fortführen? Die Antwort hängt von der Höhe und
Länge des Zeitfensters ab.
Interpunktion und Form
Unabhängig von ihrer Größe springen manche Fenster auf und schla-
gen sofort wieder zu. Andere öffnen und schließen sich allmählich. Es
ist immer hilfreich, in einer Kurve zu skizzieren, wie das Fenster sich
öffnet und schließt. Manche Fenster öffnen sich so langsam, dass Sie
es nicht einmal als Chancenfenster wahrnehmen, bis ein Konkurrent
die Gelegenheit nutzt. Andere gehen mit einem Schlag auf: Alle in der
Umgebung wissen, dass eine nutzbare Chance besteht.
Singularität
Ist das Öffnen des Fensters ein einmaliges Ereignis (Singularität)? Wenn
nicht, wann wird es sich erneut öffnen? Werden Sie eine weitere Chance
bekommen, falls Sie eine Gelegenheit versäumen? Wenn ja, wann?
Wenn Feuerwehrleute gezwungen sind, ein in Flammen stehendes
Gebäude zu verlassen, wann ist dann ein sicheres Betreten wieder mög-
lich?
254 Jetzt!
Synchronizität
Was muss gegeben sein, damit das Fenster sich öffnet (Synchronanfor-
derungen)? Was darf nicht gegeben sein (Synchronrisiken)? Das gleich-
zeitige Eintreten welcher Bedingungen würde in diesem Fall verhindern,
dass sich ein Fenster öffnet, oder das Schließen eines geöffneten Fens-
ters erzwingen?
Bei der Brandbekämpfung muss das Feuer ausreichend unter Kon-
trolle gebracht sein, damit Rettungsarbeiten sicher durchgeführt werden
können.
Fehlerkosten
Sobald Sie ein mögliches Chancenfenster gefunden haben, fragen Sie
sich:
• Welche Kosten entstehen, wenn ich es verpasse?
• Was passiert, wenn ich zu früh oder zu spät handle?
• Spielt es eine Rolle, wie früh oder spät ich handle?
Diese Frage lässt sich anhand einer Fehlerkostenkurve untersuchen, wie
sie Abbildung 8.3 zeigt.
In diesem Beispiel verursacht es nicht die gleichen Kosten, zu früh
oder zu spät zu sein. Die Fehlerkostenkurve ist nicht symmetrisch. Sie
sollten eindeutig nicht zu früh handeln. Aber wenn Sie zu spät handeln,
spielt es offenbar keine Rolle, wie viel zu spät Sie sind. Die Kosten sind
gleich: nämlich sehr hoch. Die Analyse eines Chancenfensters ist erst
vollständig, wenn Sie eine Fehlerkostenkurve gezeichnet haben.
Ein Feuerwehrmann erlitt 2011 bei einem Brand in einem Sand-
steinhaus schwere Verbrennungen. Nach offiziellen Angaben breitete
sich das Feuer sehr schnell aus, »geschürt von Möbeln und durch
offene Fenster einströmende Luft«.6 Aber eine Verzögerung des Ret-
tungseinsatzes kann Leben kosten. Feuerwehrleute denken immer an
Fehlerkostenkurven.
Eine Timinganalyse in sieben Schritten 255
Schritt 5: Timingrisiken erkennen
Schauen Sie sich das Partiturdiagramm an, das Sie gezeichnet haben,
und fragen Sie sich: Welche Timingrisiken fördert es zutage? Risiken treten
sowohl bei spezifischen Elementen als auch auf der Ebene der Gesamt-
muster auf.
Der Überblick am Ende der Kapitel zu den einzelnen Timinglinsen
hilft, elementspezifische Risiken zu erkennen. In einer Sequenz besteht
beispielsweise das Risiko, dass etwas außer der Reihe passiert. Sie rech-
nen damit, dass auf A B folgt, aber B tritt zuerst ein. Jedes Element ist mit
eigenen Risiken behaftet.
Mit Risiken auf der Patternebene meine ich Gefahren, die aus der
Beziehung oder Interaktion von zwei oder mehr Elementen erwachsen.
So haben wir gesehen, dass der Übergang von Baumwolle zu Kunststoff
einen Einfluss darauf hatte, wann Rettungseinsätze bei der Brandbe-
kämpfung ausgeführt werden sollten.
Je mehr Sie über die Risiken wissen, die mit Ihren Plänen und Projek-
ten verbunden sind, umso besser können Sie sich darauf vorbereiten, sie
zu vermeiden oder zu beherrschen.
Abb. 8.3: Fehlerkostenkurve
Zeit
Chancen-fenster
Kos
ten
256 Jetzt!
Schritt 6: Optionen bewerten
Werten Sie die Timinganalyse aus, die Sie erstellt haben. Fragen Sie sich:
Hat sie Timingprobleme aufgedeckt, die ich vorher nicht gesehen habe? Hat
sie mir geholfen, Chancenfenster ausfindig zu machen und ihre Merkmale zu
verstehen? Prüfen Sie anhand folgender Checkliste, ob Ihre Analyse voll-
ständig und angemessen ist.
Eine gute Timinganalyse sollte:
• helfen, die notwendigen Informationen zu finden, um zu entschei-
den, wann Sie handeln sollten; sie sollte Ihnen helfen, genau zu erken-
nen, was wichtig ist;
• bei der Entscheidung helfen, ob die Timingstrategie oder Regel, von
der Sie ausgegangen sind (etwa: sofort handeln) richtig war;
• herkömmliche Ansichten infrage stellen oder bestätigen;
• eine größere Bandbreite von Optionen aufzeigen, als ursprünglich
ersichtlich war; manche können kreative, innovative Lösungen nahe-
legen;
• die Beziehung klären zwischen dem, was Sie vorhaben, und dem Zeit-
punkt, wann Sie es tun wollen;
• Ihnen helfen, die Bedeutung des Timings zu klären; manchmal mag
das Timing keine Rolle spielen, andere Male ist es alles entscheidend;
• Ihre Intuition klären, bestätigen oder vielleicht infrage stellen.
Schritt 7: Handeln
Handeln Sie aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse: sofort, falls Zeit
ausschlaggebend ist, später, falls Sie festgestellt haben, dass Abwar-
ten besser ist. Manchmal liegt die Antwort auf eine Timingfrage auf
der Hand. Andere Male hat man keine Wahl. (»Sprechen Sie jetzt oder
schweigen Sie für immer.«) Manchmal spielt das Timing vielleicht keine
Rolle, weil Sie Ihr Vorhaben jederzeit umsetzen können. Vielleicht ist ein
Zeitpunkt ebenso gut wie der andere. Erfahrung und Urteilsvermögen
Eine Timinganalyse in sieben Schritten 257
sind nicht zu ersetzen. Aber in einem Punkt bin ich mir sicher: Wenn Sie
eine Timinganalyse durchführen, werden Sie feststellen, dass Sie mehr
über Timing wissen, als Sie dachten. Dieses Wissen brauchen Sie ein-
fach nur abzurufen und zu nutzen.
Sicher ist es besser, eine Timinganalyse durchzuführen, bevor Sie
handeln, als hinterher. Aber selbst im Nachhinein kann eine Timingana-
lyse nützlich sein, um eine Entscheidung als rechtzeitig zu rechtfertigen,
auch wenn das Ergebnis nicht zufriedenstellend war. Zudem lässt sich
daraus lernen, was schiefgegangen ist und inwieweit es am Timing lag.
Sicher haben Sie bemerkt, dass eine Timinganalyse Zeit und Übung
erfordert, wenn sie gut werden soll. Wir alle haben schon den Begriff
Analyseparalyse gehört: Zu viel Zeit fließt in die Analyse, zu wenig in
das, was getan werden muss. Eine Timinganalyse kann jedoch tatsäch-
lich die Entscheidungsfindung beschleunigen. Eine kompetente Timin-
ganalyse kann zu einem erheblich besseren Verständnis von Dingen
führen, die vorher unbekannt oder ungewiss waren. Wenn eine Situ-
ation geklärt ist, wird aus Unsicherheit Risiko, und Risiken lassen sich
beherrschen. Angesichts von Unsicherheit neigen wir zur Impulsivität
und zu vorschnellem Handeln oder wir zaudern und handeln zu spät.
Eine Timing analyse verbessert die Wahrscheinlichkeit, auf Anhieb das
richtige Timing zu wählen, und spart daher die teils beträchtliche Zeit,
die eine Fehlerkorrektur benötigt.
Es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb Sie letztlich Zeit sparen,
wenn Sie lernen, eine Timinganalyse durchzuführen. Die Stärke einer
Timinganalyse beruht auf der Tatsache, dass das gleiche Zeitmuster
in vielen verschiedenen Kontexten vorkommen kann. Daher können
Sie das Gelernte von einem Kontext auf den anderen übertragen. Sie
müssen nicht jedesmal das Rad neu erfinden. Erinnern Sie sich an das
Beispiel des Ketchups und des Mittels gegen Haarausfall, Rogaine, das
ich in der Einleitung geschildert habe. Beide erkannten die zugrunde
l iegende »Nutzungssequenz« des jeweiligen Produkts und entwickelten
daraus Chancen für Marketing und Produktdesign. Ein weiteres Beispiel
belegt, wie wertvoll es ist, das gleiche Zeitdesign in unterschiedlichen
Situationen zu sehen. In diesem Fall geht es um ein asynchrones Risiko,
dass etwas gleichzeitig passieren sollte, dies aber nicht tut.
258 Jetzt!
Computerverschlüsselung. Wenn wir unseren Computer ausschalten, soll die
im DRAM (dynamic random-access memory) gespeicherte Information
zusammen mit den Algorithmen verschwinden, die zur Verschlüsselung
der Daten im Computer notwendig sind. Forscher in Princeton haben
jedoch herausgefunden: »Wenn die Chips mit einer preiswerten Luft-
kühlung versehen waren, blieben die Daten erhalten und ließen sich von
den Forschern ohne weiteres auslesen.«7 Im Grunde schaltet sich also
ein Teil des Computers langsamer ab als der Rest. Die Tatsache, dass
sich Daten auslesen lassen, nachdem der Computer ausgeschaltet wurde,
ermöglicht es, verschlüsselte Informationen zu stehlen.
Die verlorene Geige. Am 7. Mai 2008 stieg der russische Geiger Philippe
Quint am Newark Liberty International Airport aus einem Taxi. Er ging
zum Heck des Wagens, nahm sein Gepäck aus dem Kofferraum und
stellte es auf dem Bürgersteig ab. Den Fahrpreis hatte er bereits bezahlt.
Der Taxifahrer schloss die Seitentür des Minivans und fuhr ab. Leider lag
Quints Stradivari im Wert von 4 Millionen Dollar noch auf dem Rücksitz
des Taxis. Laut Quint hatte er die Geige nicht vergessen, sondern aus
Sicherheitsgründen im Taxi liegen lassen, während er sein Gepäck aus
dem Kofferraum holte. Er hatte die Absicht, sie aus dem Wagen zu holen,
aber sobald er den Kofferraum zuschlug, fuhr der Taxifahrer los. Nach
einigen hektischen Anrufen konnte das Taxi ausfindig gemacht werden,
und der Geiger bekam seine Geige wieder. Einige Tage später kam Quint
wieder an den Flughafen und gab zum Dank ein Konzert für die Taxi-
fahrer.8
Wenn ein Prozess abgeschlossen ist, möchten wir, dass alles fein
säuberlich abgewickelt ist und keine losen Enden bleiben. Wenn etwas
abgeschaltet ist, nehmen wir an, dass sämtliche Komponenten gleich-
zeitig abschalten. Wenn der Fahrpreis im Taxi bezahlt ist, erwarten wir,
dass der Geiger seine unbezahlbare Geige beim Aussteigen mitnimmt.
Asynchrone Enden sind jedoch weit verbreitet. Wenn Sie dafür zuständig
sind, einen Ausstieg zu verwalten, eine Fabrik zu schließen, ein Produkt
einzustellen oder ein Unternehmen zu verkaufen, sollten Sie damit rech-
nen, dass verschiedene Komponenten des Prozesses ihr eigenes Tempo
haben und unterschiedlich lange dauern. Mit dem Konzept asynchro-
Eine Timinganalyse in sieben Schritten 259
ner Enden im Hinterkopf sind Sie besser dafür gerüstet, die mit solchen
losen Enden verbundenen Schwierigkeiten zu meistern.
Mit diesen beiden Geschichten haben wir das Ende dieses Buches
erreicht. Es gibt nichts, das hinzuzufügen ich noch Zeit hätte. Damit
fehlt nur noch die Coda.
260 Jetzt!
9
Coda:
Ein verändertes Weltbild
Koda: Ein Schlussteil, der aus der Grundstruktur einer Komposition herausfällt und
angefügt wird, um den Eindruck der Endgültigkeit zu vermitteln oder zu verstärken.
Harvard Dictionary of Music1
… Ende, es ist zu Ende, es geht zu Ende, es geht vielleicht zu Ende.
Samuel Beckett2
Albert Camus schrieb 1936 in seinen Tagebüchern: »Man denkt nur in
Bildern.«3 Das ist sicher übertrieben, aber Bilder sind wichtig. Wir sagen
gern, die Welt sei heute stärker vernetzt als früher. Wenn wir an Globali-
sierung denken, schwebt uns das entsprechende Bild eines Globus vor
Augen: eine sich drehende Kugel, um die sich ein Verbindungsnetz legt,
für das das World Wide Web ein herausragendes Beispiel ist. Aber die-
ses Bild lässt uns in die Falle eines unendlich komplexen Spinnennetzes
gehen. Zu viel passiert in zu vielen Richtungen, als dass wir alles verste-
hen könnten. Deshalb halte ich eine polyphone Partitur für ein sinnvolles
Organisationsmodell. Als die USA noch eine unumstrittene Weltmacht
waren, konnten sie den Ton angeben. Schwächere Länder hatten keine
andere Wahl, als das, was die Vereinigten Staaten machten, zu beglei-
ten (in Einklang damit zu sein) oder einen hohen Preis zu zahlen. Das
gilt zwar nach wie vor, aber in geringerem Maße. Mit dem Aufstieg Chi-
nas, Indiens, Brasiliens und der Entwicklungsländer werden die USA zu
einem Spieler in einer großen, polyphonen, polyrhythmischen Partitur.
Noch immer sind sie ein wichtiger Spieler, aber nicht mehr der einzige.
Andere Länder möchten selbst entscheiden, welchen Part sie spielen.
Zudem haben sie eigene Vorstellungen, wie die Gesamtkomposition aus-
sehen, gespielt und interpretiert werden sollte.
Wir müssen über Kugeln und Netzwerke, Kästen und Pfeile, Bäume
Coda: Ein verändertes Weltbild 261
und Zweige (ein beliebtes Bild für die grafische Darstellung hierarchi-
scher Organisationen) hinausgehen. Diese Bilder haben ihren Nutzen,
aber auch ihre Grenzen. Sie werden uns nicht helfen, das richtige Timing
zu finden. Stattdessen schlage ich vor, sich die Welt und den Globalisie-
rungsprozess als eine große polyphone Partitur vorzustellen, in der zahl-
reiche Prozesse und Ereignisse gleichzeitig stattfinden.
In der Partitur in Abbildung 9.1 habe ich den Anfang der National-
hymnen einiger Länder so transponiert, dass sie alle dieselbe Tonart
haben wie die US-Hymne »The Star-Spangled Banner«, nämlich D-Dur.
Frei nach Dvořák nenne ich diese Partitur Symphonie der neuen Welt des
21. Jahrhunderts.
Abb. 9.1: Symphonie der neuen Welt des 21. Jahrhunderts
Spielt man die Nationalhymnen der Vereinigten Staaten, Kanadas und
Mexikos bei gleicher Lautstärke gleichzeitig, tritt die US-Hymne gegen
Ende eindeutig dominant hervor. Spielt man die französische und die
deutsche Hymne zusammen, klingt das Ergebnis zumindest in mei-
nen Ohren schlicht nach Lärm. Andere Kombinationen habe ich nicht
USA
Kanada
Mexiko
Brasilien
Deutsch-land
Frank-reich
Iran
Russ-land
China
262 Jetzt!
ausprobiert, aber wenn man alle Hymnen gleichzeitig spielt, hört sich
das Resultat zu meiner Verwunderung gar nicht so schlecht an – und
das nehme ich als hoffungsvolles Zeichen. Jeden Tag würde ich es mir
zwar nicht anhören wollen, aber es ist doch Musik, nicht nur Chaos oder
Lärm. Ganz am Ende klingt die Komposition für einen Moment schief
und ein bisschen falsch. Aber das ist nur ein relativ kurzes Intervall.
Aus dieser Partitur können wir meiner Ansicht nach einiges lernen,
was für eine Timinganalyse in jeder Situation relevant ist.
Von den Nationalhymnen der annähernd zweihundert Staaten der
Welt habe ich nur von neun Hymnen die ersten Takte verwendet. Unser
Bild der Welt und der unmittelbaren Umgebung, in der wir handeln, ist
äußerst begrenzt, wenn wir uns nicht bemühen, es zu erweitern.
Mozart war beispielsweise imstande, das Ganze im Blick zu behalten:
Das erhitzt mir nun die Seele, wenn ich nämlich nicht gestört werde; da wird
es immer größer; und ich breite es immer weiter und heller aus; und das Ding
wird im Kopfe wahrlich fast fertig, wenn es auch lang ist, sodaß ich’s hernach
mit einem Blick, gleichsam wie ein schönes Bild oder einen hübschen Men-
schen im Geiste übersehe, und es auch gar nicht nacheinander, wie es hernach
kommen muß, in der Einbildung höre, sondern wie gleich alles zusammen.
Das ist nun ein Schmaus. Alles das Finden und Machen gehet in mir nur wie
in einem schönstarken Traume vor: aber das Überhören, so alles zusammen,
ist doch das Beste.4
Da keiner von uns Mozart ist, müssen wir Partiturdiagramme zeichnen,
die hoch und breit genug sind, uns zu zeigen, was wir sehen müssen.
Die Akteure (Spieler) mögen wechseln. Die UdSSR existiert nicht
mehr. Um diese Tatsache nicht zu vergessen, habe ich Russland hinzu-
genommen. Diese Partitur erinnert uns daran, die neuen Akteure und
das Verschwinden der alten Mitspieler (wie Lehman Brothers) im Auge
zu behalten – und natürlich die Bedingungen, die sie hervorbringen oder
zerstören.
Alle Nationalhymnen habe ich in die Tonart der amerikanischen
Hymne, D-Dur, transponiert. Die Tonart eines Musikstückes bestimmt
das Ziel und den Bereich der Kräfte, die auf Handlungen (alle Noten und
Akkorde) wirken und es in eine bestimmte Richtung (Tonika) bringen.
Coda: Ein verändertes Weltbild 263
Jede Tonart enthält nur einen Satz möglicher Noten (Aktionen). Das Kon-
zept der Tonart verdeutlicht, dass zwischen Akteuren immer ein Wett-
bewerb darüber stattfindet, was Priorität haben sollte – etwa kurzfristige
Profite, langfristige Wettbewerbsvorteile, die Behauptung in einer vor-
handenen Marktlücke, Diversifizierung und so weiter.
Manchmal sprechen wir davon, dass die Welt multipolar geworden
ist. Diese Beschreibung ist insofern problematisch, als sie wenig Orga-
nisationskraft besitzt. Alles, was wir sehen, sind multiple Zentren, die
auf vielfältige Weise um Einfluss konkurrieren. Dagegen bietet die Par-
titur eine sinnvolle Möglichkeit, Vorgänge zu begreifen. Sie veranschau-
licht die vertikalen Beziehungen, durch die eine Handlungsweise andere
beeinflussen, ergänzen, steuern oder mit ihnen konkurrieren kann.
Zudem lenkt die Partitur unsere Aufmerksamkeit auf den Unterschied
zwischen Vorder- und Hintergrund, Melodie und Begleitung. Was heute
den Hintergrund bildet, kann morgen im Vordergrund stehen.
Da wir uns die vertikale Dimension der Welt nicht ohne weiteres
vorstellen – und Muster in gleichzeitigen Vorgängen finden – können,
schrumpfen wir die Vertikale zusammen, bis sie zu einer einzigen hori-
zontalen Zeitschiene wird. Und da wir Schnelligkeit anstreben, verkür-
zen wir diese Linie zu einem Punkt. Wir denken kurzfristig: Wir wollen
jetzt Resultate. Nach einer umgekehrten P4-Strategie (siehe Kapitel 8)
sind wir von Patterns (Mustern) und Polyphonie zu einem einzelnen,
zeitlich ausgedehnten Pfad und von dort zum einzelnen Punkt zurück-
gegangen. Damit haben wir die Vertikale beseitigt und die Horizontale
geschrumpft. Infolgedessen leben wir in einer Ruine. Wir brauchen die P4-
Strategie und die Darstellung in Form einer Partitur, um unser Weltbild
wieder zu erweitern und aufzubauen – und zwar nicht etwa, um sie kom-
plexer zu machen, sondern um die vorhandene Komplexität wiederher-
zustellen. Dieser Wiederaufbau ist notwendig, denn wenn wir aufgrund
eines unvollständigen Bildes oder einer unvollständigen Karte handeln,
laufen wir Gefahr, eine falsche Abzweigung zu nehmen oder, schlimmer
noch, über eine Klippe zu stürzen, die wir rechtzeitig hätten erkennen
können.
Die Darstellung der Welt als polyphone, polyrhythmische Partitur ver-
ändert, wie wir über die Ursachen und Folgen von Ereignissen denken.
264 Jetzt!
Die meisten von uns verbringen sehr viel Zeit damit, die nächste Zeit-
periode, die wir Zukunft nennen, ins Auge zu fassen. Wenn wir an die
Folgen unserer Handlungen denken, stellen wir uns selbstverständlich
eine Linie vor, auf der Vorhergehendes links und Konsequenzen – durch
eine gewisse Zeitspanne getrennt – rechts stehen. Ganz ähnlich richten
wir den Blick, wenn wir nach der Ursache eines Ereignisses suchen, in
der Regel zurück auf das, was vorher war. Wenn wir sagen, A verursacht
B, konzentrieren wir uns auf die horizontale Dimension der Partitur. Wir
sind darauf fokussiert, was vorher (Ursache) und was nachher (Wirkung)
kommt. Das ist gut und schön, aber wir sollten auch auf das achten, was
in der Vertikale passiert, also auf das, was gleichzeitig vorgehen muss
und was nicht gleichzeitig eintreten darf. Das bedeutet: Wir müssen auf
Akkorde und Akkordfolgen achten. Wenn jemand eine Erklärung liefert
oder eine Vorhersage macht, ohne zu erwähnen, was gleichzeitig an suk-
zessiven Zeitpunkten passiert, wissen Sie, dass er oder sie wahrscheinlich
falsch liegt oder nur zufällig Recht hat.
So war es ein glücklicher Zufall, dass die »Musikberaterin«, mit der
ich zusammengearbeitet habe, sich entschloss, die Hymnen der USA,
Kanadas und Mexikos sowie die Frankreichs und Deutschlands gleich-
zeitig zu spielen. Da wir nicht alle möglichen Kombinationen probiert
haben, wissen wir nicht, welche Hymnen zusammenpassen würden
und welche nicht. Das gilt für jedes komplexe Umfeld. Bilden vielfältige
Handlungsstränge ein kohärentes Muster oder schafft ihre gleichzeitige
Präsenz lediglich Chaos?
Jede Nationalhymne ist für jedes Land einzigartig. In welchem Maße
muss ihre musikalische oder zeitliche Identität gewahrt bleiben? Die fal-
lenden Noten in der Abbildung deuten auf Erosion hin. Die Zukunft lässt
sich aus Rekombinationen vorhandener Noten (Aktionen) oder vielleicht
aus einer neuen Quelle aufbauen, dem großen Notenhaufen am unteren
Ende. Manche Akteure (Länder) werden dann eine Position in der neuen
Welt im Violinschlüssel oder Bassschlüssel beansprucht haben. Andere
werden noch nicht so weit im Voraus geplant haben, oder falls doch,
haben sie ihre Absichten noch nicht publik gemacht. Wieder andere wer-
den bereits Partner gefunden haben und an ihren eigenen Minikompo-
sitionen arbeiten, wie die Klammern zeigen.
Coda: Ein verändertes Weltbild 265
In dem Maße, wie die Partitur Gestalt annimmt, gibt es unterschiedli-
che Rollen, die verschiedene Akteure (Länder, Gruppen, Organisationen,
Institutionen und Einzelne) übernehmen, anstreben oder konkurrie-
rend besetzen, nämlich die des Komponisten, Dirigenten, Musikers,
Publikums oder Kritikers. Wer wird die neue Partitur, Strategie oder
das neue Geschäftsmodell schaffen? Wer wird bewährte Produkte und
Dienstleistungen so auf den neuesten Stand bringen, wie ein Dirigent
ein klassisches Stück für moderne Ohren neu interpretiert? Wer wird
sich die Fähigkeiten aneignen, die es braucht, um die zur Umsetzung
eines Plans, Programms oder Projekts notwendigen Schritte auszufüh-
ren? Wer wird die einzelnen Schritte perfekt ausführen? Wer wird dem
Produzierten Beachtung schenken und es würdigen? Und wer wird das
Geleistete schließlich beurteilen und kritisieren?
Ein Grund, Wirtschaftsumgebungen als Partituren zu sehen, steckt in
Jacques Attalis provokativer Behauptung:
Musik ist Prophetie. Ihre Stilrichtungen und ihre ökonomische Organisation
sind dem Rest der Gesellschaft voraus, weil sie wesentlich schneller, als es
die materielle Wirklichkeit vermag, die gesamte Bandbreite der Möglichkeiten
in einer gegebenen Ordnung auslotet. Sie macht die neue Welt hörbar, die
nach und nach sichtbar werden wird, die sich aufdrängen und die Ordnung
der Dinge regulieren wird; sie ist nicht nur das Abbild der Dinge, sondern (…)
Vorbote der Zukunft.«5
Er schließt: »Wenn es also stimmt, dass die politische Organisation des
20. Jahrhunderts im politischen Denken des 19. Jahrhunderts wurzelt, so
ist das Letztere nahezu vollständig im Embryonalstadium bereits in der
Musik des 18. Jahrhunderts vorhanden.«6
Wer Attalis Äußerungen für weit hergeholt hält, sollte sich die Musik
von Charles Ives ansehen. Seine Vierte Symphonie, die zwischen 1908
und 1916 entstand, erfordert zwei Dirigenten, weil ihr Rhythmus so kom-
plex ist.7 Zu Ives’ typischen Techniken gehörte laut Lawrence Kramer
»die Überlagerung (Schichtung) diverser Musikstile und Prozesse, das
Zurückhalten zielgerichteter harmonischer Bewegung, die Fragmentie-
rung von Material und die drastische Verkomplizierung der Struktur«.8
Nach meiner Einschätzung befinden wir uns heute, ein Jahrhundert spä-
266 Jetzt!
ter, mitten in einer Ives’schen Partitur – einer Partitur, die eine neue
Generation von Komponisten, Musikern und Analytikern braucht, um
sie zu verstehen. Es ist immer schwierig, radikal neue Musik zu hören –
ganz zu schweigen vom Können, das man braucht, um sie zu dirigieren.
Die Partitur zur Neuen Welt des 21. Jahrhunderts erinnert uns daran,
dass die für Timingfragen notwendigen Fähigkeiten nicht Entschluss-
kraft, Kalkül oder Urteilsvermögen sind. Selbstverständlich sind das alles
Tugenden. Aber die relevantere Fähigkeit ist die Kunst, sich musikartige
Muster, die sich durch die moderne Wirtschaftswelt ziehen und sie prä-
gen, vorzustellen, zu finden und mit ihnen zu arbeiten. Wenn wir Zeit
als Datum auf einem Kalender behandeln – wenn wir sie also von den
Vorgängen und Ereignissen trennen, die in diesen Momenten stattfin-
den und das Wesen der Planung ausmachen –, wird es uns immer ein
Rätsel bleiben, wann Dinge passieren. Wir können t nicht lösen, wenn
T nicht Teil der Gleichung ist, wir können also nicht entscheiden, zu
welcher Zeit (t) es zu handeln gilt, wenn unsere Beschreibung des Hand-
lungskontextes nicht alle sechs Elemente der Zeitarchitektur (T) enthält,
alle Sequenzen, Tempi, Zeitspannen, Anfänge, Enden und so weiter, die
die Dynamik der Welt um uns herum beschreiben. Das Bild der Par-
titur mahnt uns, Zeit als Muster und Prozess, nicht bloß als Linie oder
Zahl zu sehen, sie als Bestandteil, nicht bloß als Behälter unseres Han-
delns zu begreifen. Und wir brauchen eine solche Erinnerung. In der
Bhagavadgita sagt der Höchste Herr zu Arjuna:
Von Körperwesen wird nur schwer das unsichtbare Ziel erreicht.9
Zeit ist nicht greifbar. Wir können sie nicht sehen, hören, riechen,
berühren oder schmecken. Wir mögen sie zwar messen, aber wir wis-
sen – zumindest bis jetzt – nicht, woraus die Zeit an sich besteht. Sie ist
verborgen und rätselhaft und daher leicht zu übersehen.
Im Laufe der Zeit werden sich die realen Probleme ändern, vor die
sich Wirtschaftsführer gestellt sehen. Die Weltkarte wird sich ändern;
Unternehmen, Geschäftsmodelle, Nationalstaaten werden kommen und
gehen. Die Notwendigkeit, die richtigen Entscheidungen zur rechten Zeit
zu treffen, wird bleiben. Wir werden immer vor der Timingfrage stehen:
Ist es für ein bestimmtes Vorgehen zu früh oder bereits zu spät? Wie
Coda: Ein verändertes Weltbild 267
soll ich vorgehen, schnell oder langsam, und welche Risiken gehe ich
dabei ein? In diesem Buch habe ich zu zeigen versucht, dass wir über
solche Fragen erheblich mehr wissen können, als auf den ersten Blick
ersichtlich oder in der gegenwärtigen Praxis zu finden ist. Das Können
in Timingfragen lässt sich erlernen und kann zu einer ständigen Quelle
von Erkenntnis und Wettbewerbsvorteilen werden.
Nun ist es Zeit, dieses Buch abzuschließen, den Computer auszu-
schalten und mit der Arbeit anzufangen, die getan werden muss. Denn
wie schon Hillel, der jüdische Schriftgelehrte, sagte: Wenn nicht jetzt,
wann dann?
268 Jetzt!
Anhang
Zeitarchitektur
Konzept und Untersuchungsfeld
Zeitarchitektur ist die Kunst und Wissenschaft, musikartige Muster
(Patterns) zu entwerfen, zu schaffen und zu analysieren, die sich bilden,
wenn vielfältige Handlungen und Prozesse zeitlich aufeinander abge-
stimmt, synchronisiert, überlagert oder auf andere Weise miteinander
verbunden sind. Die Lebensdauer dieser Muster, die die vertikale und
horizontale Struktur einer Partitur haben, kann variieren und Sekun-
den oder Jahre dauern. Zeitarchitektur umfasst die Untersuchung der
Funktionen und Zwecke, denen diese Muster dienen, der Eigenschaften
und Bedeutungen, die sie ausdrücken, der Emotionen, die sie auslösen,
der Intentionen, die sie realisieren oder erschweren, und (was für den
praktischen Akteur vielleicht am wichtigsten ist) der Aktionen, die sie
ermöglichen oder unterbinden. Im Gegensatz zur räumlichen Architektur
sind die Strukturen der Zeitarchitektur ebenso wie die des menschlichen
Gehirns und Körpers nur selten oberflächlich sichtbar. Sie gehören nicht
zu dem, was wir gewöhnlich sehen. Sie gehören nicht zu dem, worüber
wir gewöhnlich nachdenken, wenn wir unser Handeln planen. In der
Regel beziehen wir nur Bruchteile dieser Strukturen in unsere Beschrei-
bung der Welt ein.
Das Gebiet der Zeitarchitektur ist mit dem der räumlichen Architek-
tur verwandt. Der römische Architekt Vitruv definierte die klassischen
Funktionen räumlicher Architektur als firmitas, utilitas und venustas.
Firmitas ist die Festigkeit: Ein Gebäude muss standfest sein. Utilitas,
Anhang: Zeitarchitektur 269
Nützlichkeit, bedeutet, dass Gebäude einem nützlichen Zweck die-
nen müssen; venustas heißt, dass sie schön sein sollen. Sie sollten ein
ansprechendes Äußeres haben. Die Muster der Zeitarchitektur dienen
ähnlichen Funktionen. Sie müssen verschiedene Vorgänge, Ereignisse
und Aktivitäten tragen oder beherbergen. Dazu müssen sie lange genug
andauern. Zudem sollten sie sich richtig anfühlen. Das richtige Zeitmus-
ter hat sowohl eine ästhetische Qualität als auch praktischen Nutzen.
Goethe bezeichnete die traditionelle Architektur als »erstarrte Musik«.
Dieser Ausdruck trifft ebenso auf die Muster der Zeitarchitektur zu. Der
Unterschied ist jedoch, dass sie nicht – wie die traditionelle Architek-
tur – buchstäblich zu Stein erstarrt sind, sondern ebenso wie die Musik
einen Prozess beschreiben, der sich im Laufe der Zeit entwickelt und
verändert. Wenn wir Musik aus ihrer »Erstarrung« befreien und spielen
lassen, ist sie hörbar gemachte Zeit,1 die die beiden Merkmale mensch-
lichen Zeiterlebens einfängt: die Möglichkeit der Gleichzeitigkeit und die
Notwendigkeit der Aufeinanderfolge.
270 Jetzt!
Anmerkungen
Einleitung
1 Eva Brann, What, Then, Is Time?, Lanham, MD, 1999; J. T. Fraser, Time and Time
Again: Reports from a Boundary of the Universe, Boston, 2007. Einen Überblick über
die Forschung zum Thema Zeit im Management: siehe Academy of Management
Review, 26/4, Oktober 2001. Selbstverständlich gibt es sehr viel Literatur zum
Thema Zeit, auf die ich hier nicht hinweisen kann. Den besten knappen Überblick
über philosophische Ansätze, den ich gefunden habe, bietet Eva Branns Buch:
What, Then, Is Time? Unübertroffen in Hinblick auf interdisziplinäre Zeitfor-
schung ist das Werk von J. T. Fraser. Der Band Time and Time Again enthält einige
Aufsätze, die einen Teil seiner Arbeit zusammenfassen. An dieser Stelle möchte
ich auch auf die Arbeit der International Society for the Study of Time hinweisen,
die alle drei Jahre eine Tagung veranstaltet und eine Buchreihe herausgibt.
2 Dan Gilbert weist ebenfalls darauf hin, wie viel wir auslassen, siehe D. T. Gilbert
und T. D. Wilson, »Prospection: Experiencing the Future«, Science 317, Nr. 5843,
7. September 2007, S. 1351–1354.
3 Zur Geschichte und Erörterung des Begriffs kairos, also des richtigen Zeitpunkts
oder Moments, siehe: J. Bartunek und R. Necochea, »Old Insights and New Times:
Kairos, Inca Cosmology, and their Contributions to Contemporary Management
Inquiry«, Journal of Management Inquiry, 2000, 9/2, S. 103–113.
4 Leonard Bernstein, The Joy of Music, New York 2004; dt.: Die Freude an der Musik,
München 1982, S. 138 f.
5 M. B. Lieberman und D. B. Montgomery, »First-mover advantages«, Strategic
Management Journal, 9, Sommer 1988, S. 41–58. Michael E. Porter, Competitive
Strategy, New York 1980; dt.: Wettbewerbsstrategie: Methoden zur Analyse von Bran-
chen und Konkurrenten, Frankfurt a. M. 2009.
Anmerkungen 271
6 Jonathan Glover, Humanity: A Moral History of the Twentieth Century, New Haven,
CT, 2000, S. 242.
7 Mark Ingebretsen, Why Companies Fail: The Ten Big Reasons Businesses Crumble
and How to Keep Yours Strong and Solid, New York 2003, S. XI.
8 A. Ballmer, »Openers: Corner Office«, New York Times, 17. Mai 2009, S. B2.
9 George Mitchell, Making Peace, New York 1999, S. 173.
10 K. E. Weick, »Improvisation as a Mindset for Organizational Analysis«, Organi-
zational Science, 9/5, 1998, S. 543–555. Managementexperten wie Karl Weick ver-
gleichen organisatorisches Handeln mit der Improvisation im Jazz. Mein Fokus ist
etwas anders, aber verwandt. Mich interessiert, das Umfeld von organisatorischem
Handeln zu beschreiben und die aus der Musik bekannten Muster, die in der
Umgebung vorhanden sind, als Informationsquelle über Risiken und Chancen-
fenster zu nutzen. Eben weil wir die Struktur einer Partitur nicht mathematisch
beschreiben können, lässt sich unsere Welt nicht in mathematischen Modellen
erfassen. Wir können das Ergebnis, den Klang der Symphonie als Wellen und
Kleinstwellen beschreiben, aber nicht die Partitur selbst. Das ist einer der Gründe,
warum Risikomodelle scheitern: Sie beruhen auf unvollständigen qualitativen
Daten.
11 Peter Brook, The Empty Space, New York 1968; dt.: Der leere Raum, Hamburg 1989,
S. 202 f.
Kapitel 1: Sequenz
1 »John Archibald Wheeler«, TastefulWords.com, http://quotations.tastefulwords.
com/john-archibald-wheeler/.
2 David Owen, »The Inventor’s Dilemma«, The New Yorker, 17. Mai 2010, S. 42.
3 Ebd.
4 L. Story und D. Barboza, New York Times, 22.12.2007, S. B1, B9.
5 »Pepper … and Salt«, Wall Street Journal, 27. August 1999, S. A9. Meist spricht
man im Englischen von Salt and Pepper. Aus irgendeinem Grund konnte ich nicht
herausfinden, wieso die Sequenz im Titel des Cartoons umgekehrt ist.
6 K. Gesswein und S. Fealty, »Vows«, The New York Times, 23.1.2000, S. 38.
7 American Society of Clinical Oncology, »Progress Against Stomach Cancer«,
2012, www.cancerprogress.net/downloads/timelines/progress_against_stomach_
cancer_timeline.pdf.
8 J. P. Newport, »Why Scientists Love to Study Golf«, Wall Street Journal, 24./25.3.
2012, S. A16.
272 Jetzt!
9 »Inventive Warfare«, The Economist, 20.8.2011, S. 57 f.
10 J. Clements, »Don’t Get Hit by the Pitch: How Advisors Manipulate You«, Wall
Street Journal, 3.1.2007, S. D1.
11 B. Tuchman, The Guns of August, London 1962, S. 100; dt.: August 1914: Ausbruch des
Ersten Weltkriegs, der eigentliche Beginn unseres Jahrhunderts, München 1964, S. 103 f.
12 Allen C. Bluedorn, The Human Organization of Time: Temporal Realities and Expe-
rience, Stanford, CA, 2002, S. 1 f.
13 Zitat von Mark Twain siehe www.brainyquote.com.
Kapitel 2: Zeitliche Interpunktion
1 J. Becker und M. Luo, »In Tuscon, Guns Have a Broad Constituency«, New York
Times, 10.1.2011, http://www.nytimes.com/2011/01/11/us/11guns.html (Hervor-
hebung von mir).
2 J. Markoff, »Slogging Up PC Hill at I.B.M.«, New York Times, 10.5.1992, Teil 3, S. 1 f.
3 B. O’Brian, »You Must Remember This: A Slide Is Still a Slide«, Wall Street Journal,
5.3.2001, S. R1.
4 L. Greenhouse, »Tactic of Delayed Miranda Warning is Barred«, New York Times,
29.6.2004, S. A17.
5 Stuart Albert und Geoffrey Bell, »Timing and Music«, Academy of Management
Review, 27/4, 2002, S. 574–593. Diese Analyse folgt weitgehend diesem Aufsatz und
ist in Teilen identisch.
6 G. Morgenson, »The Markets: Market Place – Mixed Signals from the Fed; If the
Water’s Fine, Why Are Those Sharks Still Circling?«, New York Times, 16.10.1998, siehe
www.nytimes.com/1998/10/16/business/markets-market-place-mixed-signals-
fed-if-water-s-fine-why-are-those-sharks.html.
7 »I Think it’s time we broke for lunch … Court rulings depend partly on when the
judge last had a snack«, The Economist, 16.4.2011, S. 87.
8 G. Bowley, »Loan Sale of 4.1 Billion in Contracts Led to ›Flash Crash‹ in May«, New
York Times, 2.10.2010, S. B1.
9 T. Lauricella, »Bond Funds Fall Victim to Timing: Thinking Worst Was Over, Top
Performers Now Lag Behind«, Wall Street Journal, 17./18.11.2007, S. B1.
10 D. Gross, »A Phantom Rebound in the Housing Market«, New York Times, 7.1.2007,
S. C5.
11 M. R. Gordon, »War, Meet the 2008 Campaign«, New York Times, 20.1.2008, S. A4.
12 L. Tamura, »Who Really Runs Yellow Lights?«, Washington Post, erschienen in der
Star Tribune, 30.6.2010, S. A4.
Anmerkungen 273
13 Einige dieser Fragen basieren auf der Analyse von B. Staw und J. Ross, »Beha-
vior in Escalation Situations«, in: Barry M. Staw und Larry L. Cummings, (Hrsg.),
Research in Organizational Behavior, Bd. 9, Greenwich, CT, 1987, S. 39–78.
14 Die »Dollarauktion« wurde erfunden und beschrieben von Allan I. Teger, Too
Much Invested to Quit, New York 1980.
15 Ebd.
16 Zur Beziehung zwischen Zeit und Organisationskultur siehe Edgar H. Schein,
Organizational Culture and Leadership, San Francisco, CA, 2004, S. 151–163; dt.:
Unternehmenskultur: ein Handbuch für Führungskräfte, Frankfurt a. M. 1995. Zur
Diskussion, wie die Zukunft in verschiedenen Kulturen unterschiedlich betrach-
tet wird, siehe Neal Ashkanasy, Vipin Gupta, Melinda S. Mayfield, Edwin Trevor-
Roberts, »Future Orientation«, in: Robert J. House, P. J. Hanges, M. Javidan, P: W.
Dorfman und V. Gupta (Hrsg.), Culture, Leadership and Organizations, Thousand
Oaks, Ca., 2004, S. 282–342.
17 Zit. in: William W. Lowrance, Modern Science and Human Values, New York 1986,
S. 168.
18 Dieser Abschnitt folgt eng dem Beitrag von Stuart Albert, »A Delete Design Model
for Successful Transition«, in: John R. Kimberly und Robert E. Quinn (Hrsg.),
Managing Organizational Transitions, Homewood, Ill., 1984, Kap. 8.
19 Peter Leo, »Channeling man’s basic instinct«, Pittsburgh Post-Gazette, 25.8.1994,
http://global.factiva.com ezp-prodl.hul.harvard.edu/hp/printsavews.aspx.
20 L. Ellison, »The America’s Cup Comes to Europe«, The Economist, 16.11.2006,
http://www.economist.com/node/8132643.
21 Sue Shellenbarger, »Time-Zoned: Working Around The Round-the-Clock Work-
day«, Wall Street Journal, 15.2.2007, S. D1.
22 R. Walker, »Pointed Copy: The Ginsu Knife«, New York Times Magazine,
31.12.2006, S. 18; http://www.nytimes.com/2006/12/31/magazine/31wwln_consumed.
t.html?n=Top%2fFeatures%2fMagazine%2fColumns%2fConsumed&_r=0.
Kapitel 3: Intervall und Dauer
1 I. Calvino, Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend, Frankfurt a. M. 2012, S. 72.
2 Seth Mydans, »Australians Enter East Timor in Show of Force«, New York Times,
29.9.1999, S. A7.
3 G. Kolata, »Researchers Dispute Benefits of CT Scans for Lung Cancer«, New York
Times, 7.3.2007, S. A18.
4 Ebd.
274 Jetzt!
5 C. Dawson, »Japan Plant Had Earlier Alert«, Wall Street Journal, 15.6.2011, S. A11
(Hervorhebungen von mir).
6 R. L. Rose, »Work Week: A Special News Report About Life on the Job – and Trends
Taking Shape There«, Wall Street Journal, 6.12.1994, S. 1.
7 Zit. in: »Commencements: Change the World and Godspeed«, Time, 12.6.1995, S. 82.
8 A. Alter, »What Don DeLillo’s Books Tell Him«, Wall Street Journal, 30./31.1.2010,
S. W5.
9 J. P. Richter, The Notebooks of Leonardo da Vinci, New York 1970, S. 296.
10 J. Steinhauer, »Sometimes a Day in Congress Takes Seconds, Gavel to Gavel«, New
York Times, 6.8.2011, S. A12.
11 »A 120-Year Lease on Life Outlasts Apartment Heir«, New York Times, 29.12.1995,
S. A8.
12 J. E. Garten, »A Crisis Without a Reform«, New York Times, 18.8.1999; http://www.
nytimes.com/1999/08/18/opinion/a-crisis-without-a-reform.html.
13 S. Shane, »The Complicated Power of the Vote to Nowhere«, New York Times,
1.4.2007, S. D4.
14 E. Nagourney, »Undue Optimism When Death Is Near«, New York Times, 29.2.2000,
S. D8.
15 Zum leeren Intervall siehe S. Zaheer, S. Albert und A. Zaheer, »Time Scales and
Organizational Theory«, Academy of Management Review, 24/4, 1999, S. 725–741.
16 David Finn, How to Look at Everything, New York 2000, S. 95.
17 D. Landes, Revolution in Time: Clocks and the Making of the Modern World, Cam-
bridge, MA., 1983, S. 348 f.
18 Bill Hubbard Jr., A Theory for Practice: Architecture in Three Discourses, Cambridge,
MA., 1996, S. 164.
19 R. Wright, E. de Sabata und G. Segreti, »Alarm Delay ›Critical‹ Says Concordia
Probe«, Financial Times, 18.5.2012; http://www.ft.com/intl/cms/s/0/0c0cbd0e-
a0f7-11e1-aac1-00144feabdc0.html#axzz2P96YG0Fy.
20 J. McPhee, »Checkpoints«, The New Yorker, 9.2.2009, S. 59.
21 J. Bailey, »Chief ›Mortified‹ by JetBlue Crisis«, New York Times, 19.2.2007, S. A1.
22 P. Greer, 1970, zit. in: J. G. Miller, Living Systems, New York 1978, S. 163.
23 S. Adams, »Dilbert«, Minneapolis Star and Tribune, 16.10.2005.
24 J. Longman, »Lilliputians Gaining Stature at Global Extravaganza«, New York
Times, 17.6.2002, S. D2.
25 G. Morgenson, »When Bond Ratings Get Stale«, New York Times, 11.10.2009, S. B1.
26 J. Wilgoren, »President Stuns Brown U. by Leaving to be Vanderbilt Chancellor«,
New York Times, 8.2.2000, S. A18.
Anmerkungen 275
27 B. Pennington und J. Curry, »Andro hangs in Quiet Limbo«, New York Times,
11.7.1999, S. D4.
28 T. McGinty, K. Kelly und K. Scannell, »Debt ›Masking‹ Under Fire«, Wall Street
Journal, 21.4.2010, S. A1.
29 A. K. Naj, »Whistle-Blower at GE to Get $11.5 Million«, Wall Street Journal,
26.4.1993, S. A3.
30 M. Jay, »The Downside of Cohabiting Before Marriage«, New York Times, 15.4.2012,
S. SR4.
31 V. Bernstein, »No Cutting Corners as NASCAR Seeks a Clean Start«, New York
Times, 18.2.2007; http://www.nytimes.com/2007/02/18/sports/othersports/18nascar.
html.
32 P. Dvorak, »Businesses Take a Page from Design Firms«, Wall Street Journal,
10.11.2008, S. B4.
33 I. Molotsky, »Winter Warms Up for Humor Prize«, New York Times, 21.10.1999,
S. A14.
34 C. Berg, »The Real Reason for the Tragedy of the Titanic«, Wall Street Journal,
13.4.2012, S. A13.
Kapitel 4: Tempo
1 L. Neri, L. Cooke und T. de Duve, Roni Horn, London, 2000, S. 18.
2 M. Ali, Transkription nach »Muhhamad [sic] Ali’s Greatest Speech«, YouTube,
http://www.youtube.com/watch?v=LxLokrATgIw.
3 Gina Kolata, »New AIDS Findings on Why Drugs Fail«, New York Times, 12.1.1995,
S. A1.
4 J. Grant, »Wired Offices, Same Workers«, New York Times, 1.5.2000, S. A27.
5 Gina Kolata, »Study Finds That Fat Cells Die and Are Replaced«, New York Times,
5.5.2008, http://www.nytimes.com/2008/05/05/health/research/05fat.html.
6 Ebd.
7 R. Ludlum, The Cry of the Halidon, New York, 1996, S. IX; dt.: Die Halidon-Verfol-
gung, München 2006, Einleitung.
8 G. Ip, »Tough Equations«, Wall Street Journal, 16.5.2001, S. A1, A10.
9 T. Gabriel, »Roll Film! Action! Cut! Edit, Edit, Edit.«, New York Times, 5.5.1997,
S. C1, C13.
10 A. Zimbalist, »Stamping Out Steroids Takes Time«, New York Times, 6.3.2005,
http://www.nytimes.com/2005/03/06/sports/baseball/06zimbalist.html.
11 A. R. Sorkin, »A ›Bonfire‹ Returns as Heartburn«, New York Times, 24.6.2008, S. C5.
276 Jetzt!
12 Gemeint sind ein Spiegel, ein Reflektor oder eine Spiegelung.
13 Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht, München 1983, 2004, S. 172.
14 W. Tapply, Client Privilege, New York 1990, S. 73 f.
15 George Stalk und Thomas Hout, Competing Against Time, New York 1990, S. 58 f.;
dt.: Zeitwettbewerb: Schnelligkeit entscheidet auf den Märkten der Zukunft, Frankfurt
a. M. 1990, S. 40.
16 John Maeda, The Law of Simplicity, Cambridge, MA, 2006, S. 27 f.; dt.: Simplicity:
die zehn Gesetze der Einfachheit, München 2007, S. 27 f.
17 Stephen Kern, The Culture of Time and Space, 1880–1918, Cambridge, MA, 1983,
S. 275 f.
18 Ebd.
19 »The Hollow Promise of Internet Banking«, The Economist, 11.11.2000, S. 91.
20 B. Bahree und K. Johnson, »Iraqi Shortfall Means Oil Prices Could Stay High This
Year«, Wall Street Journal, 27.6.2003, S. C10.
21 J. E. Hilsenrath, »Why For Many This Recovery Feels More Like a Recession«, Wall
Street Journal, 29.5.2003, S. A1, A14.
22 N. Pachetti, »Crude Economics«, New York Times Magazine, 23.4.2000, S. 36.
23 Siehe: Claus J. Riedel, http://www.riedel.com/de/geschichte/generationen/.
24 Merleau-Ponty, LŒil et l’esprit, Paris 1964; dt.: Das Auge und der Geist, Hamburg
1984, S. 38.
Kapitel 5: Form
1 G. Anders und A. Murray, »Behind H-P Chairman’s Fall, Clash with a Powerful
Director«, Wall Street Journal, 9.10.2006, S. A14.
2 Philip James, The Documents of 20th Century Art: Henry Moore on Sculpture, New
York 1971, S. 67.
3 Ebd.
4 E. Eakin, »Penetrating the Mind by Metaphor«, New York Times, 23.2.2002, S. A19.
5 M. Gimein, »Is a Hedge Fund Shakeout Coming Soon? This Insider Thinks So«,
New York Times, 4.11.2005, S. B5.
6 R. Kurzweil, The Singularity Is Near: When Humans Transcend Biology, New York
2006, S. 8.
7 G. Soros, The New Paradigm for Financial Markets, New York 2008, S. XVIII–XIX;
dt.: Das Ende der Finanzmärkte – und deren Zukunft: die heutige Finanzkrise und was
sie bedeutet, München 2008, S. 16.
8 B. Childs, Time and Music: A Composer’s View, Seattle 1977.
Anmerkungen 277
9 J. Angwin, »Consumer Adoption Rate Slows in Replay of TV’s History: Bad News
for Online Firms«, Wall Street Journal, 16.7.2001, S. B8.
10 M. Oliver, »Flare«, in: The Leaf and the Cloud, Cambridge, MA, 2000, S. 1.
11 D. A. Redelmeier und D. Kahneman, »Patients’ Memories of Painful Treatments:
Real-Time and Retrospective Evaluations of Two Minimally Invasive Procedures«,
Pain, 66/1, 1996, S. 3–8.
12 J. C. Miller, Fatigue, New York 2001, S. 46.
13 M. Bloom, »Girls’ Cross-Country Taking a Heavy Toll, Study Shows«, New York
Times, 4.12.1993, http://www.nytimes.com/1993/12/04/sports/track-field-girls-
cross-country-taking-a-heavy-toll-study-shows.html.
14 J. Mouawad, »Volatile Swings in the Price of Oil Hobble Forecasting«, New York
Times, 6.7.2009, S. A3.
15 K. Brown, »Leaner Budgets at Corporations Are Bad Omen«, New York Times,
16.7.2001, S. C2.
16 Soros, The New Paradigm, a.a.O.; dt.: Das Ende der Finanzmärkte, S. 81.
17 »The Trade Talks That Never Conclude«, The Economist, 2.8.2008, S. 71.
18 Zit. in: A. Delbanco, Required Reading: Why Our American Classics Matter Now,
New York 1997, S. 116.
19 M. Corkery und J. R. Hagerty, »Outlook: Continuing Vicious Cycle of Pain in Hou-
sing and Finance Ensnares Market«, Wall Street Journal, 14.7.2008, S. A2.
20 B. Mutzabaugh, »Brazil’s Embraer jets are sized just right«, Florida Today, 20.7.2012,
siehe http://www.floridatoday.com/article/20120722/BUSINESS/307220011/Brazil-
s-Embraer-jets-sized-just-right.
21 A. Zuger, »Nighttime, and Fevers Are Rising«, New York Times, 28.9.2004, S. D6.
22 T. Parker-Pope, »Why Curing Your Cancer May Not Be the Best Idea«, Wall Street
Journal, 11.2.2003, S. R1.
23 L. Sterne, Tristram Shandy, Hrsg. H. Anderson, New York 1980, S. VII;. Erstaus-
gabe in 9 Bd. 1759, 1761, 1762, 1765, 1767.
Kapitel 6: Polyphonie
1 Zit. in Edward W. Soja, Postmodern Geographies: The Reassertion of Space in Critical
Social Theory, London 1989, S. 138.
2 Aaron Copland, What to Listen for in Music, New York 1953; dt.: Vom richtigen Anhö-
ren der Musik. Ein Komponist an sein Publikum, Reinbek b. Hamburg 1967, S. 91, 92 f.
3 R. Smith, The Utility of Force: The Art of War in the Modern World, New York 2007,
S. 19.
278 Jetzt!
4 A. T. Board, »34 Months and Still No Divorce«, New York Times, 3.8.1996, S. A15.
5 Ebd.
6 J. Pierson, »Stand Up and Listen: Your Chair May Harm Your Health«, New York
Times, 12.9.1995, S. B1.
7 W. Carley, »Mystery in the Sky: Jet’s Near-Crash Shows 747s May Be at Risk of Auto-
pilot Failure«, Wall Street Journal, 26.4.1993, S. A1.
8 D. Rodrik, »Elusive ›Giffen Behavior‹ Spotted in Chinese Homes«, Wall Street Jour-
nal, 17.7.2007, S. B9.
9 »Panel Says Penn Police Overreacted«, New York Times, 28.7.1993, S. B7.
10 W. Connor, »Why Were We Surprised?«, American Scholar, 60/2, Frühjahr 1991, S. 177.
11 J. Flint, »NBC Ratings: Olympic-Sized Anticlimax«, Wall Street Journal, 22.9.2000,
S. B6.
12 B. Carter, »NBC Banks on Olympics as Springboard for New Shows«, New York
Times, 13.8.2012, S. B1.
13 J. Hoppin, »Tons of Rock, Sand Piled at Point Where Bridge Broke«, Pioneer Press,
18.3.2008, S. A1.
14 A. Scardino, »The Market Turmoil: Past Lessons, Present Advice; Did ’29 Crash
Spark the Depression?«, New York Times, 21.10.1987, http://www.nytimes.
com/1987/10/21/business/the-market-turmoil-past-lessons-present-advice-did-29-
crash-spark-the-depression.html.
15 R. H. Thaler und S. Benartzi, Save More Tomorrow: Using Behavioral Econo-
mics to Increase Employee Saving, November 2000, http://www.cepr.org/meets/
wkcn/3/3509/papers/thaler_save_more_tomorrow.pdf.
16 P. Brook, Threads of Time, Washington, DC, 1998, S. 63; dt.: Zeitfäden. Erinnerun-
gen, Frankfurt a. M. 1999, S. 101.
17 J. Scott, »Spring Ahead, Sleep Behind«, New York Times, 2.4.1995, S. A37.
18 D. Goldner, »Ahead of the Curve«, Wall Street Journal, 22.5.1995, S. R19.
19 S. Carey, »Chaos in Jet After It Hit River«, Wall Street Journal, 9.2.2009, S. A6.
20 M. L. Wald, »When Can You Deplane Early?«, New York Times, 5.9.2004, Practical
Traveler Section, S. 2.
21 Zit. in A. Koestler, The Act of Creation: A Study of the Conscious and Unconscious in
Science and Art, New York 1964, S. 175; dt.: Der göttliche Funke. Der schöpferische Akt
in Kunst und Wissenschaft, Bern/München/Wien 1966, S. 183 f.
22 »The Year in Ideas: The Ambulance-Homicide Theory«, New York Times Magazine,
15.12.2002, S. 66.
23 D. Ellsberg, Secrets: A Memoir of Vietnam and the Pentagon Papers, New York 2002,
S. 141 f.
Anmerkungen 279
24 J. Darnton, »But How Two Irish Enemies Got the Ball Rolling«, New York Times,
5.9.1994, S. A1, A4.
25 Es gibt umfangreiche Literatur zum Entrainment: Siehe D. Ancona und C.-I.
Chong, »Entrainment: Pace, Cycle, and Rhythm in Organizational Behavior«, in:
Research in Organizational Behavior, Hrsg. B. Staw und L. Cummings, Greenwich,
CT, 1996, 18, S. 251–284. Manche Autoren vertreten die Meinung, Organisationen
sollten sich um eine Synchronisierung ihrer internen Rhythmen mit denen ihrer
Umgebung bemühen. Ich verfolge einen etwas anderen Ansatz. Als Erstes müs-
sen sie sämtliche wichtigen Rhythmen erkennen, was angesichts der Copland-Be-
schränkung nicht einfach ist. Als Nächstes müssen Sie deren Interaktionen und
Wechselbeziehungen sowie Art und Zeitpunkt möglicher Rhythmusänderungen
verstehen. Manchmal ist es am besten, mit einem Umgebungsrhythmus synchron
zu sein, manchmal ist es am besten, asynchron dazu zu handeln.
26 F. Schwartz, Blind Spots: Critical Theory and the History of Art in Twentieth-century
Germany, New Haven, CT, 2005, S. 130.
27 Wassily Kandinsky, Klänge, München 1913, S. 14.
28 F. Norris, »Buried in Details, a Warning to Investors,« New York Times, 2. August
2012, http://www.nytimes.com/2012/08/03/business/a-wells-fargo-security-goes-
wrong-for-investors.html?pagewanted=all.
29 C. Dean, »Engineering and the Art of the Fail«, Rezension zu To Forgive Design:
Understanding Failure, von Henry Petroski, New York Times, 13.7.2012, S. C25.
30 T. Friedman, »Two Worlds Cracking Up,« New York Times, June 12, 2012, http://
www.nytimes.com/2012/06/13/opinion/friedman-two-worlds-cracking-up.html.
31 T. S. Bernard, »The Best Time to Buy and Sell College Textbooks«, Bucks (blog),
8. August 2012, http://bucks.blogs.nytimes.com/2012/08/08/the-best-time-to-buy-
and-sell-college-textbooks.
32 S. Blakeslee, »A Rare Victory in Fighting Phantom Limb Pain«, New York Times,
28.3.1995, S. B12.
33 J. L. Lunsford, »Gradual Ascent: Burned by Last Boom, Boeing Curbs Its Pace; It
Uses New Restraint to Juggle Jet Orders; Avoiding ›Bunny Holes‹«, Wall Street Jour-
nal, 26.3.2007, S. A1.
34 Ebd., S. A13.
35 »Joseph and the Amazing Technicalities: Adjusting Banking Regulation for the
Economic Cycle«, The Economist, 26.4.2008, S. 18.
36 »And Now Here Is the Health Forecast: Understanding the Link Between Illness
and Temperature Should Help Hospitals«, The Economist, 1.8.2002, http://www.
economist.com/node/1259077.
37 A. Stone, »Why Waiting Is Torture«, New York Times, 18.8.2012, S. SR12.
280 Jetzt!
Kapitel 7: Anwendung der Timinglinsen. Zum Timing von Widerspruch
1 »Mahatma Gandhi Quotes«, BrainyQuote, http://www.brainyquote.com/quotes/
authors/m/mahatma_gandhi.html#8K8lItl36cQKsbQR.99
2 S. Albert, »The Timing of Dissent«, Leader to Leader, Herbst 2001, 22, S. 34. Die
Analyse in diesem Kapitel folgt dem Artikel in Leader to Leader. Das Gespräch
basiert auf Notizen, die ich nach einem 16-mm-Schwarz-Weiß-Film über Grup-
penprozesse gemacht habe, der nicht mehr erhältlich ist. Ich glaube, der Vertrieb
lief überMcGraw-Hill, aber ich bin mir nicht sicher. Der Titel des Films lautete
möglicherweise Victims of Group Think.
Kapitel 8: Eine Timinganalyse in sieben Schritten
1 J. Albers, Interaction of Color, New Haven, CT, 2006, 1. Aufl. 1963; dt.: Interaction of
Colour. Grundlegung einer Didaktik des Sehens, Köln 1997, S. 21.
2 J. Goldstein, »As Furniture Burns Quicker, Firefighters Reconsider Tactics«, New
York Times, 2.7.2012, S. A1.
3 Ebd.
4 J. Groopman and P. Hartzband, »Why Quality of Care is Dangerous«, Wall Street
Journal, 8.4.2009, S. A13.
5 J. Goldstein, a.a.O.
6 Goldstein, a.a.O., S. A3.
7 J. Markoff, »Researchers Find Way to Steal Encrypted Data«, New York Times,
22.2.2008, S. C1, C6.
8 D. J. Wakin, »Time to Tie a String Around That Strad«, New York Times, 11.5.2008,
S. A6.
Kapitel 9: Koda: ein verändertes Weltbild
1 W. Apel und R. T. Daniel, The Harvard Brief Dictionary of Music, New York 1960,
S. 62.
2 S. Beckett, Endgame and Act Without Words, New York 1958, S. 1; dt.: Endspiel und
Alle die da fallen, Frankfurt a. M. 1957, S. 8.
3 Albert Camus, Tagebücher 1935–1951, Reinbek b. Hamburg, 1997, S. 18.
4 Heinrich Schenker, »Ein verschollener Brief von Mozart und das Geheimnis sei-
nes Schaffens«, in: Der Kunstwart, 10/1931, zit. nach Hartmut Cramer, »Die Rolle
der Motivführung in der klassischen Komposition«, S. 56, www.schiller-institut.
de/jahr2005/mozart/iby1994-46.pdf .
Anmerkungen 281
5 J. Attali, Noise: The Political Economy of Music, Manchester, UK, 1985, S. 11.
6 Ebd., S. 4.
7 M. Hall, Leaving Home: A Conducted Tour of the 20th Century Music with Simon
Rattle, London 1996, S. 68.
8 L. Kramer, Classical Music and Postmodern Knowledge, Berkeley 1995, S. 176.
9 Bhagavad Gita. Des Erhabenen Sang, Jena 1922, Vers 12.5.
Anhang: Zeitarchitektur
1 S. K. Langer, Feeling and Form, New York 1953, S. 110. Dort sagt Langer: »Musik
macht Zeit hörbar und ihre Form und Kontinuität spürbar« (Hervorhebung im Origi-
nal).
282 Jetzt!
Danksagung
Bei der Verwirklichung dieses Buches hatte ich viel Unterstützung.
Einige Kollegen nahmen sich die Zeit, viele Kapitel zu lesen und zu
kommentieren. Ich danke Professor Edgar Schein vom MIT für mehrere
ausführliche Gespräche und seine umfassende Unterstützung. Mein
Freund und Kollege Professor Marc Anderson half mir, das Fallbeispiel
zum Timing von Widerspruch zu entwickeln. Zudem las er Teile des
Manuskripts mit Blick auf eine bessere Präsentation. Besonderer Dank
gilt Dekan Sri Zaheer, Professor Aks Zaheer und Geoff Bell von der Uni-
versity of Minnesota. Geoff war mein Mitautor bei diversen Artikeln zu
Zeit und Timing und half mir, die Beziehung zwischen Timing und
Musik zu formulieren. Ann Waltner, Direktorin des Institute for Advan-
ced Studies an der University of Minnesota, verdanke ich ein einsemes-
triges Fellowship, das es mir ermöglichte, mich ganz dem Schreiben zu
widmen. Dekan Thomas Fisher von der School of Design an der Univer-
sity of Minnesota veranstaltete gemeinsam mit mir ein Honors-Seminar
zu Zeit- und Raumdesign. Die Gelegenheit, diese beiden Bereiche neben-
einander zu erforschen, war für mich von großem Wert.
Den Professoren Ellen Langer und Herbert Kelman vom Fachbereich
Psychologie in Harvard habe ich es zu verdanken, dass ich dort in zwei
Forschungssemestern als Gastdozent tätig sein konnte. Professor Debo-
rah Ancona ermöglichte mir eine Gastprofessur an der Sloan School des
MIT, wo ich ein wunderbares, produktives Jahr verbrachte.
Professor Dan Gilbert von der Harvard University schlug den Titel
dieses Buches vor: When. Ich wünschte nur, es wäre früher fertig gewor-
Danksagung 283
den. Aber manches dauert länger, als man denkt. Es entbehrt nicht einer
gehörigen Portion Ironie, dass ausgerechnet ein Buch über Timing zu
spät fertig wird!
Die Bürokräfte des Fachbereichs Strategie und Unternehmertum an
der University of Minnesota, Julie Cutting, Noelle French und Kate Nel-
son, waren immer bereit, mir behilflich zu sein. Sie sind die besten Büro-
kräfte, die man sich wünschen kann.
Mein Dank gilt auch Professor Thomaz Wood von der Fundação Getú-
lio Vargas in São Paulo, Brasilien, und Professor Bertrand Moingeon von
der École des hautes études commerciales in Frankreich, die mich ein-
luden, über meine Arbeit zu sprechen.
Die vom verstorbenen J.T. Fraser gegründete International Society for
the Study of Time bietet mir seit über 20 Jahren eine geistige Heimat.
Während ich dieses Buch schrieb, arbeitete ich mit einer Reihe von
Unternehmen und Führungskräften zusammen. Mein besonderer Dank
gilt Alex Cirillo von 3M für unsere monatlichen Frühstückstreffen. Die
Diskussion über jedes Kapitel trug erheblich dazu bei, es klarer und für
die praktische Anwendung in der Wirtschaft nützlicher zu machen.
Roger Raigna danke ich für seine Freundschaft und die Gelegenheit,
mit seinem Unternehmen Rücksprache zu halten. Drei Führungs-
kräfte haben mich sehr dabei unterstützt, mein Timingverständnis in
verschiedenen Unternehmenszusammenhängen weiterzuentwickeln:
Jim Van Houten, ehemaliger CEO von MSI Insurance; Dennis R. Cos-
tello, geschäftsführender Gesellschafter von Braemar Energy Ventures
und ehemals Chef der Investmentabteilung für Nordamerika bei Advent
International; und Michael Colson, Vizepräsident für Forschung und
Geschäftsentwicklung bei Medtronic.
Mariam Kocharian war mir eine wunderbare Forschungsassistentin
und half mir als Musikberaterin entscheidend, die Symphonie der neuen
Welt des 21. Jahrhunderts zu entwickeln und zu spielen. Natalie Roberts
danke ich für die ersten Entwürfe einiger Grafiken und Erin Mason von
First Street Design für die hervorragende Ausführung der Grafiken in
diesem Buch und für ihre Designvorschläge. Mein Dank gilt auch Amjad
Habouch, einem Berater und ehemaligen Studenten, für sein Feedback
und seine Unterstützung dieses Projekts.
284 Jetzt!
Ohne meine jetzige Lektorin und Mitarbeiterin Jacqueline Murphy
von Cottage Literary wäre dieses Buch nie entstanden. Aus meiner Sicht
war es eine ideale redaktionelle Zusammenarbeit. Ihre Fähigkeit, kom-
plexe Zusammenhänge zu vereinfachen und die beste Struktur zu erken-
nen, ist ohnegleichen. Jacque ist zudem meine Literaturagentin, der ich
es zu verdanken habe, dass sie mich mit den hervorragenden Mitarbei-
tern von Jossey-Bass/Wiley zusammenbrachte.
Genoveva Llosa, Cheflektorin bei Jossey-Bass, danke ich, dass sie
sich sehr für dieses Buch eingesetzt und mich durchgängig unterstützt
hat. Mein Dank gilt auch Clancy Drake und John Maas von Jossey-Bass.
Clancy verbesserte das Buch mit seinem eingehenden redaktionellen
Rat. John war eine große Unterstützung und immer hilfsbereit. Michele
Jones leistete bei der Manuskriptbearbeitung hervorragende Arbeit.
Janet Coleman danke ich für ihre redaktionelle Hilfe und Gast-
freundschaft in der Frühphase, als dieses Buch noch kaum mehr als ein
Glanz in meinen Augen war. Unsere Gespräche beim Mittagessen, beim
Abendessen sowie rund um die Uhr halfen, die Kernideen dieses Buches
herauszuarbeiten.
Besonderen Dank verdient auch Erin Wigg, die half, die Datenbasis
für dieses Buch zu erfassen und zu verwalten, und auf meine sämtlichen
bibliografischen Fragen einging. Wahrscheinlich weiß sie mittlerweile
auswendig, wo jedes meiner 3000 Bücher bei mir zu Hause steht. Dan-
kend erwähnen möchte ich die Unterstützung von Joe Scott und Clayton
McClintock bei der Manuskriptbearbeitung und Alan Fines Kommen-
tare und Rückmeldungen zur Covergestaltung.
Jack Galloway lektorierte die ersten Entwürfe dieses Buches. Meine
Zusammenarbeit mit ihm wurde für mich zu einem Meisterkurs in
der Kunst des Schreibens, ein Lernprozess, der noch immer im Gang
ist. Jacks leidenschaftliches Eintreten für die legitimen Bedürfnisse der
Leser und sein fester Glaube an den Wert dieses Buches halfen, es über-
haupt erst möglich zu machen.
Mein besonderer Dank gilt auch der Herausgeberin und Filmema-
cherin Lucy McCauley, die dieses Buchprojekt unterstützte, sowie Joan
Poritsky und Jacque Wiersma für ihre Unterstützung und ihren Rat über
Jahre hinweg. Meine langjährigen guten Freunde John Bryson und Bar-
Danksagung 285
bara Crosby waren mir mit ihren beruflichen Leistungen Vorbild und
Inspiration. Gern denke ich auch an die zahlreichen Abendessen mit
meiner Frau, Alan und Carol Bensman, bei denen wir über die Ideen in
diesem Buch sprachen.
Besonders glücklich schätze ich mich, eine wunderbare Familie in
Brasilien zu haben. Clarice und José Abuleac und Suely und Thomas
Hirschbruch sorgten für Herzlichkeit, Kameradschaft und Lachen und
unterstützten meine Arbeit an diesem Buch über viele Jahre hinweg.
Meinen verstorbenen Schwiegereltern Bernardo und Ella Daskal danke
ich für ihre Liebe und ein Heim fern der Heimat. Ich vermisse sie nach
wie vor. Lucia Vicente danke ich, dass sie ständig fragte: »Wie kommt das
Buch voran?«
Meiner Schwester Myra Albert gilt mein Dank für ihr Interesse an
meiner Arbeit und ihr scharfsichtiges Feedback zur Einbandgestaltung.
Auch Robert und Kathy Mintz und Ginny und Steve Freid danke ich für
ihr Interesse und ihre Begeisterung, die sie über Jahre für dieses Projekt
aufgebracht haben.
Meinen Dank an meine Frau Rosita für ein Leben voller Liebe und
Unterstützung vermag ich nicht in Worte zu fassen.
286 Jetzt!
Register
4S-Rahmen 56
Abstandsrisiken 77
Advocatus Diaboli 223 f., 227
Analyseparalyse 257
Anschlussregel 72
Antrag zur Geschäftsordnung 223
Asymmetrie 139, 160 f.
Asynchrone Enden 258
Asynchrone Lösung 190
Asynchrone Strategie 77
Asynchrones Risiko 208 f., 257
Asynchronizität 195
Ausstiegsstrategie 79, 84
Beschleunigungskurve 148, 154 f.
Bewegungsrichtung 134 f., 167, 194
Chancenfenster 31, 234–236, 242,
251–256
Copland-Beschränkung 18 f., 35, 174,
177, 182, 209
C-Wert (Copland-Wert) 177 f., 187
Data-Mining 20
Datumsregeln 252
Dauerlinse 221
Deadline 67, 116, 249, 252
Delete-Design-Modell 85
Downstream-Ereignisse 47, 51
ED2 + R-Sequenz 115, 221–223
Entrainment 198, 235
Erster sein 24 f.
Exponentialfunktion 154 f.
Fehlerkostenkurve 254 f.
Flaschenhals 40 f., 46, 108
Follow-up 229 f.
Formlinse 227
Front-Running 44
Gerade 108, 151 f.
Giffen-Güter 184
Größenregel 63
Helix 148, 165 f.
Horizontfehler 116
Interessenkonflikte 75
Interpunktion 30 f.
– fehlende 221
Register 287
– gleichzeitige 76
– innere 219
– übersehen 73
– verschieben 89
Interpunktionslinse 98, 218
Interpunktionszeichen
– Abstände zwischen 91
– Anzahl der 69
– Arten von 90
– unnötige 87
– Zeitspanne zwischen 70
Intervall 30 f.
– festes 104
– leeres 107, 121
Intervalldifferenz 110
Intervalle, mehrfache 110
Intervallgröße 105 f.
Intervallhülle 99, 101, 104, 115, 122
Intervalllinse 221, 225
Intervallmerkmale 99
Katzenhafte Punktfixierung 49, 53, 56,
114, 119, 123, 197
Komma 66
Kurve 148, 154
Linie 148, 150
Maximallänge
– des kürzesten Intervalls 101, 103 f.
– des längsten Intervalls 101–104
Maximaltempo 130 f., 182, 196, 246 f.
Minimallänge
– des kürzesten Intervalls 101–104
– des längsten Intervalls 101, 103 f.
Minimaltempo 129–131, 226
Multitasking 178, 204
Nationalhymnen 261 f., 264
Normaltempo 127–129, 138 f., 226
P4-Strategie 250, 263
Parallelereignisse 19
Partitur 29 f., 32, 176 f., 238, 251, 260
Partiturdiagramm 236, 238, 240–244,
246, 248–251, 255
Polyfonielinse 179, 187–189, 193, 195,
201, 229, 236
Polyfonierisiken 201, 207
Polyfonietracks 176
Polyphonie 30 f.
Punkt 66, 148 f.
– beseitigen 87
– verfrühter 77
Punkt und Fächer 149, 227 f.
Quantum-(Q)-Kapazität des Gehirns
18 f., 35
Risiken, systemische 20
Rituale 80, 86, 224, 227
Rückdatierung 76
Sägezahnkurve 161 f.
Schlusspunkt 67, 79, 85, 89, 91 f.
Schnelligkeit 43 f., 83, 97, 136, 139, 237,
240, 263
Sequenz, längste relevante 48
Sequenzausdehnung 40, 47,
Sequenzen, Merkmale von 40
Sequenzielle Risiken 48
Sequenzlinse 98, 216
Sequenzumkehrung 50 f.
Simultanität 57
Singularität 56, 253
288 Jetzt!
S-Kurve 154, 156 f.
Spannungsabbau 89
Spannungsbogen 154–156, 227, 229
Sperrfrist 64
Strukturrisiken 78
Symbole 131–133, 183, 250
Synchronanforderungen 178, 191–193,
195, 254
Synchronrisiko 15, 77, 188, 203, 222
Synchronvorteil 191
Tandemisierende Form 148, 167 f.
Tempo 30 f.
– objektives (O-Tempo) 135, 143
– subjektives (S-Tempo) 135, 143
Tempodifferenz 133, 137–139, 143
Tempoextreme 129
Tempohülle 127, 129 f., 133, 139, 142
Tempolinse 141 f., 225 f.
Tempomerkmale 127
Temporeduzierendes Dilemma 136
Temporisiken 138
Termitentracks 182, 189, 190, 247
Teufelskreis 42, 150, 155, 164 f., 169,
240
Timinganalyse
– grundlegende Schritte 236
– gute 256
– Kern einer 29
– Ziel einer 34
Timingfehler, verbreiteter 77
Timinglinsen 98, 141, 211, 233 f., 239,
240, 248, 255
Timingprobleme, entscheidende 23
Timingrisiken managen 25
Timingstrategie 33, 43, 256
Tripel 152–154
Upstream-Lösungen 46
Verantwortung 82
Verstärkungseffekte 198
Verzögerung 26, 47, 69, 109 f., 170,
177 f.,, 193, 220, 254
– Kosten der 230
Verzögerungskurve 148, 154
Zahlendenken 111 f., 161
Zeit
– verbleibende 96, 100, 122, 222, 224
– verstrichene 100, 122
Zeitdesign 235, 257
Zeitgefühl 105
Zeitreise 18
Zeitschienen 65 f., 112 f.
Zeitsprünge 97
Zeitverarmte Beschreibung 16 f., 19, 168
Zirkularität 41, 46
Zustandsregeln 252
Zwänge, strikte serielle 42, 55
Zwischenzeit 45, 100, 106, 122, 165
Zyklus 148, 158