interview-neue-zurcher-zeitung

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56 Mittwoch, 13. Juli 2011 Nr. 161 FORSCHUNG UND TECHNIK Neuö Zürcör Zäitung Expertenstreit um Entdeckung der Expansion des Universums Seite 54 Freie Radikale hemmen einige Arten von Krebs Seite 55 Das Worst-Case-Szenario im Klimawandel Seite 55 Geschichtliche Begegnungen von Eisbären und Braunbären Seite 55 Ab in die Tiefe! Die Städte der Zukunft sollen auch nach unten wachsen Wenn an der Oberfläche der Platz knapp wird, heisst die Standardantwort: Baut in die Höhe! Dem widersprechen immer mehr Stadtplaner. Für sie liegt die Zukunft unter der Erde. Matthias Daum Am Anfang war die Kloake. Mitte des 19. Jahrhunderts, als der berühmte Stadtplaner Baron Haussmann monu- mentale Achsen durch Paris schlug, untertunnelte einer seiner Bauingenieu- re die Metropole. Ein 600 Kilometer lan- ges Tunnelnetz, die Gänge gross genug, damit ein Mann darin stehen konnte so plante es Eug ` ene Belgrand. Damit be- freite er Paris nicht nur von den Fäkalien seiner Einwohner und verbesserte die Hygiene in der Stadt. Auch Trink- wasser, Kochgas oder Elektrizität und die Telefonleitungen wanderten später durch die Tunnels Paris entdeckte als erste Weltstadt die «vierte Dimension». Sowieso künstlich beleuchtet Heute ist der Untergrund einer jeden Grossstadt durchlöchert wie ein Em- mentalerkäse. U-Bahn, Eisenbahn, Strassen, Abwasser, Trinkwasser, Gas, Strom, Telekommunikation das Ner- vensystem einer City liegt unter dem Boden. Doch in der Raumplanung spielt der Untergrund kaum eine Rolle. Wenn an der Oberfläche der Platz knapp wird, weichen die Planer in die Höhe aus. An der ETH Lausanne tüf- teln Forscher nun an einem anderen Weg, dem Gang in die Tiefe. Ihr Vordenker ist Aur ` ele Parriaux. Mit seinem «Deep City Project» will er die Raumplanung umkrempeln: «Wir dürfen nicht länger nur in Oberflächen, sondern müssen in Volumen denken», sagt er. Aber was soll unter den Boden? «In den Untergrund gehört nur, was dort sinnvoll ist.» Der ETH-Forscher will kein infernalisches Metropolis schaffen wie im Film von Fritz Lang. Aber alles, was kein Tageslicht brauche, könne unter die Erde, sagt sein nieder- ländischer Kollege Han Admiraal. Er leitete über zehn Jahre lang das Nether- lands Centre for Underground Con- struction and Underground Space Use und war bei der International Tunnel- ling and Underground Space Associa- tion zuständig für unterirdischen Städ- tebau. Heute arbeitet er als selbständi- ger Berater in Rotterdam. «Es muss Spass machen, im Unter- grund zu sein», sagt Admiraal. Das unterstreicht auch Ray Sterling von der Louisiana Tech University, ein Doyen des Fachgebiets. Als ihn vor ein paar Jahren ein Fernsehteam anfragte, ob es möglich wäre, eine Stadt 200 Meter unter Chicago zu bauen, antwortete Sterling: «Warum würdet ihr so etwas bauen wollen? Es geht nicht um Sci- ence-Fiction.» Aber beispielsweise um Supermärkte, deren Fenster sowieso zu- geklebt sind. Oder Theater, Konzert- säle, Kinos, Lagerräume, Parkhäuser, Bibliotheken, Eishockeystadien wieso sollen diese Infrastrukturbauten, die so- wieso Kunstlicht brauchen, an der Oberfläche Land fressen? Unbekannter Untergrund Das grosse Problem vieler Städte ist je- doch: Sie kennen ihren Untergrund nicht. «Der Mensch kann Lichtjahre in die Vergangenheit schauen, aber nicht in den Boden», klagt Han Admiraal. Das zu ändern versucht das Projekt Deep City 3 D des Fraunhofer-Instituts für Graphische Datenverarbeitung in Darmstadt und des französischen Bu- reau de recherches g ´ eologiques et mi- ni ` eres. Ihre Experimentierfelder sind die Städte Mainz und Toulouse. Die Forscher unter der Leitung von Thors- ten Reitz tragen sämtliche existierenden geologischen Daten zum städtischen Untergrund zusammen; sie interessie- ren sich zwar nur für die ersten 50 bis 100 Meter unter der Erdoberfläche, da- für auf den Meter genau. Hierzu kombinieren sie Daten aus Plänen und Katastern mit vorhandenen Oberflächenkarten und modellieren am Computer daraus anschauliche 3-D-Vi- sualisierungen. «Die Informationen über den Untergrund sind jedoch sehr ungenau», sagt Reitz. Deshalb erheben die Forscher mit eigens gedrillten Bohr- löchern zusätzlich neue Daten über seine Beschaffenheit. Auch so bleibt zwar vieles im Dun- keln: Denn die Bohrlöcher in Mainz be- finden sich in einem Abstand von einem Kilometer; was dazwischenliegt, weiss niemand. Und die Stichproben sind teuer. Doch seit dem Einsturz des Köl- ner Stadtarchivs im März 2009, der zwei Menschenleben forderte und unzählige historische Artefakte zerstörte, ist das Interesse der Stadtpolitik geweckt. Man will genau wissen, was unter den eige- nen Füssen liegt. In Köln verursachten in erster Linie Pfusch und mangelnde Kontrollen die Katastrophe. Doch überall gilt: Baut man im Untergrund, ist gute Planung ungleich wichtiger als beim Hochbau. Denn Abreissen geht nicht, und Reno- vationen sind sehr aufwendig, wenn nicht gar unmöglich. «Was im Unter- grund gebaut ist, ist gebaut!», sagt Ray Sterling, der sich ein Professorenleben lang mit der Untergrund-Renovation beschäftigt hat. Man könne zwar nach- träglich eingreifen, sagt er, aber nur punktuell: etwa Überbrückungen für das Grundwasser legen oder mit Injek- tionen von Beton oder Kunststoff das umliegende Gestein stabilisieren. Aber wenn man eine Grundwasserschicht verschmutze, müsse man im schlimms- ten Fall einen Hunderte Kilometer lan- gen Aquädukt bauen, sagt Sterling. Ein weltweites Vorbild für die Unter- grundplanung ist Helsinki. Die Stadt ist durch den Hafen und denkmalgeschütz- te Bauten in ihrer Entwicklung ge- hemmt. Also baut man in die Tiefe. Ilk- ka Vähäaho, oberster Unterwelt-Planer, ist ein bescheidener Mann, das behaup- tet er zumindest von sich selbst. Trotz- dem müsse er es sagen: «Wir haben hier in Helsinki die besten Untergrundkar- ten der Welt.» Alle 30 Meter findet sich ein Bohrloch. Vähäahos Stabsstelle wurde bereits 1955 gegründet. Denn die 200 Quadrat- kilometer grosse Stadt steht auf speziel- lem Boden: massivem Felsen und brüchi- ger Erde. Also ist es für die Planer wich- tig zu wissen, wo sich der feste Baugrund befindet. Zudem wünschen sich die Fin- nen eine gesunde und luftige Metropole: Obschon Helsinki ein riesiges Hinter- land hat, soll es auch in der Stadt selbst grünen, soll Platz sein für Parks und Alleen. Auch in Zürich wälzt man solche Ideen. Zum Beispiel der ETH-Professor Ulrich Weidmann, der bis ins Jahr 2045 in der Innenstadt alle Tramlinien in den Untergrund verlagern will. In Helsinki wird heute schon unter die Erde gebracht, was man nicht an der Oberfläche haben will: eine Kläranlage etwa oder ein Schwimmbad, wo das Wasser dank der konstanten Tempera- tur von 7 Grad Celsius in den kalten fin- nischen Wintern viel weniger geheizt werden muss; ein Kohledepot oder eine Schneedeponie, um die weisse Pracht nicht weiter ins Meer kippen zu müssen. 400 unterirdische Räume, 200 Kilo- meter Tunnel umfasst Helsinkis Unter- welt. Im Masterplan der Stadt sind wei- tere 200 Reserven aufgeführt. Gutes Geschäft in Helsinki «Drill and blast» bohren und spren- gen. So wird in Helsinkis Untergrund Platz geschaffen. Und Vähäaho ist stän- dig auf der Suche nach weiteren geeig- neten Gebieten. «Es ist eine Detektiv- arbeit», sagt er. Denn es geht nicht allein darum, sich immer tiefer sich ins Erdreich zu buddeln. Helsinkis Planer versuchen, den Raum unter der Erde möglichst intelligent zu nutzen. Das be- deutet, Ebenen zwischen bestehenden Infrastrukturen neu zu erschliessen. Zum Beispiel zwischen einer Wärme- pumpstation, einem Kabeltunnel und einem Abwasserkanal ein neues Daten- zentrum zu bauen. Der Untergrund ist in Helsinki aber auch ein gutes Geschäft. Zumindest für den Staat. Zwei Drittel der Stadtfläche gehören ihm sowie das Erdreich, das mehr als sechs Meter unterhalb einer Parzelle in Privatbesitz liegt. Den dort unten erschaffenen Raum vermietet die Stadt für die Hälfte des Preises eines Oberflächen-Grundstücks, was auch Private unter den Boden lockt. An der Machbarkeit scheitern heute fast keine Tiefbauprojekte mehr, das versichern alle Experten unisono. In den Niederlanden zum Beispiel ist der Untergrund eine Herausforderung es wird in «Wasser mit etwas Sand» ge- baut, wie Han Admiraal es ausdrückt. Das sei zwar kompliziert, der unterirdi- sche Lebensraum müsse bewahrt und Grundwasserströme müssten berück- sichtigt werden aber Grenzen setze nicht die Technik, sondern allein der Wasserdruck in der Tiefe. Hier ist des- halb bei 60 Metern Schluss. Andernorts kann weitaus tiefer gebaut werden. Und was ist mit den Kosten? Der ETH-Professor Parriaux berechnete in einer Studie: Ein Warenhaus wird 26 Prozent teurer, wenn man es in schwieri- gem, wässrigem Untergrund baut, aber nur 10 Prozent teurer, wenn das Gestein kompakt ist. Und die Unterhaltskosten seien sogar tiefer, weil die Bauten vor der Witterung geschützt seien. Allein: Städte wurden und werden kaum je dort gebaut, wo der Untergrund für Tiefbau- ten ideal ist. So liegen in der Schweiz die boomenden Städte Zürich, Basel und Genf allesamt in mit Wasser durch- tränkten Flussbetten. Die höher gelege- nen Orte Lausanne, Freiburg und Bern hingegen haben bessere Karten. Ein Problem ist auch, dass der Unter- grund heute häufig nur für eine Nutzung konzipiert wird. Entweder U-Bahn oder Geothermie. Entweder Schutzraum oder Parkhaus. Dabei könne man das eine tun und das andere nicht lassen, so Parriaux. In Kuala Lumpur in Malaysia versucht man dies. Ein Autobahntunnel dient dort bei Sturzfluten als riesiger unterirdischer Hochwasserkanal. Aber Forscher wie Parriaux wollen mehr, zum Beispiel den U-Bahn-Bau an Geother- mieprojekte koppeln oder einen Schutz- bunker mit dem Abbau von Boden- schätzen kombinieren. Nur, wie bringt man Stadtplaner, Geologen, Hydrologen, die Bauwirt- schaft und das Energiewesen an einen Tisch? Die einfachste Lösung ist die Top-down-Planung. Das zeigt sich in China. Aur ` ele Parriaux ist eben aus der ostchinesischen Millionenmetropole Suzhou zurückgekehrt. Dort berät er die örtlichen Behörden, die einen Un- tergrund-Masterplan erstellen wollen. Die Stadt baue gerade die erste Metro, sagt Parriaux. Und anders als Schang- hai, wo die galoppierende Bautätigkeit teilweise ein Chaos unter der Erde pro- duzierte, will man hier schon von An- fang an Ordnung haben. Aber auch für eine demokratisch organisierte Planung wie in der Schweiz sieht Parriaux Per- spektiven unter der Erde. «Wer im Untergrund baut, trifft auf fast keinen Widerstand seitens der Bevölkerung.» Was man nicht sieht, stört einen nicht. Umstrittener Salzkonsum Was bewirkt eine Reduktion? In mehreren Ländern wird vom Staat propagiert, nicht zu viel Salz zu sich zu nehmen. Dies soll zu weniger Herztoten führen. Neue Studien wecken Zweifel. slz. In der Schweiz ebenso wie in der EU oder den USA bemühen sich Ge- sundheitspolitiker seit Jahren, den Salz- konsum der Bevölkerung durch diverse Kampagnen deutlich zu senken. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, täglich maximal 5 Gramm Kochsalz auf- zunehmen das ist weniger als die Hälfte der momentan in den Industrie- ländern im Durchschnitt verzehrten Menge. Denn epidemiologische Studien aus verschiedenen Ländern hätten ge- zeigt, dass ein gesteigerter Salzkonsum den Blutdruck erhöhe und zu krankhaf- tem Bluthochdruck führen könne, so die Experten. Dies wiederum steigere das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkran- kungen. Doch neue Studien wecken Zweifel an der Annahme, dass eine Reduktion des Salzkonsums tatsächlich die Sterblichkeit bei Herz-Kreislauf-Er- krankungen senkt. So hat ein britisches Forscherteam um Rod Taylor von der University of Exeter sieben grosse epidemiologische Studien miteinander verglichen und de- tailliert überprüft. 1 In den Untersuchun- gen waren bei Gesunden wie auch bei Bluthochdruck-Patienten die Auswir- kungen eines verminderten Salzkon- sums auf die Sterblichkeitsrate bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen analy- siert worden. Man habe jedoch keine statistisch gesicherten Beweise dafür gefunden, dass ein verminderter Salz- konsum tatsächlich zu weniger Todes- fällen durch Herz-Kreislauf-Erkran- kungen führe, berichten nun die Auto- ren. Man habe nur eine minime Reduk- tion des höheren (systolischen) Blut- drucks um 1 bis 4 Millimeter Quecksil- bersäule durch die Ernährungsände- rung feststellen können. Eine erst vor wenigen Wochen publi- zierte europäische Studie hatte sogar einen negativen Effekt einer salzärme- ren Ernährung gefunden. 2 Jan Staessen und sein Team von der Universität Löwen hatten gut 3600 Personen ohne eine bestehende Herz-Kreislauf-Er- krankung zu Studienbeginn über acht Jahre hinweg beobachtet. Bei ihnen führte die Reduktion des Salzkonsums zu einer leicht erhöhten Sterblichkeit durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Somit stellt sich die Frage, ob die vie- len und manchmal auch nicht ganz billi- gen Kampagnen im Lichte der neuen Forschungsdaten wirklich sinnvoll sind. Wie die Sprecherin für Gesundheit der EU-Kommission auf Anfrage mitteilte, hält man nach wie vor an dem Ziel fest, die Salzaufnahme durch Nahrungsmit- tel signifikant zu reduzieren. Schliess- lich belege die Mehrzahl der Studien einen deutlichen Zusammenhang zwi- schen einem erhöhten Salzkonsum und Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie auch einer erhöhten Mortalität. Deshalb wer- de man weiter daran arbeiten, zum Bei- spiel Grenzwerte für Salz in Nahrungs- mitteln festzulegen, oberhalb deren das Produkt nicht mehr als gesund bewor- ben werden dürfe. In der Schweiz wurde 2008 eine «Salz-Strategie zur Reduktion des Kochsalzkonsums» formuliert. Kern- punkte des Programms sind, wie auch in anderen Ländern, eine bessere Aufklä- rung der Bevölkerung sowie Interven- tionen bei der Nahrungsmittelindustrie für eine freiwillige Reduktion der Salz- beigabe in verarbeiteten Lebensmitteln. Laut dem Bundesamt für Gesundheit will man erst am Ende der veranschlag- ten vier Jahre Bilanz ziehen und gegebe- nenfalls Anpassungen vornehmen. 1 American Journal of Hypertension, Online-Veröffent- lichung vom 6. Juli 2011; 2 JAMA 305, 17771785 (2011). Der Boden unter Helsinki wird intensiv bewirtschaftet. Im Bild eine Trinkwasseraufbereitungsanlage. MIKKO STIG / LEHTIKUVA / KEYSTONE

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56 Mittwoch, 13. Juli 2011 ! Nr. 161FORSCHUNG UND TECHNIKNeuö Zürcör Zäitung

Expertenstreit um Entdeckung derExpansion des Universums Seite 54

Freie Radikale hemmeneinige Arten von Krebs Seite 55

Das Worst-Case-Szenarioim Klimawandel Seite 55

Geschichtliche Begegnungen vonEisbären und Braunbären Seite 55

Ab in die Tiefe!Die Städte der Zukunft sollen auch nach unten wachsen

Wenn an der Oberfläche derPlatz knapp wird, heisst dieStandardantwort: Baut in dieHöhe! Dem widersprechenimmer mehr Stadtplaner. Für sieliegt die Zukunft unter der Erde.

Matthias Daum

Am Anfang war die Kloake. Mitte des19. Jahrhunderts, als der berühmteStadtplaner Baron Haussmann monu-mentale Achsen durch Paris schlug,untertunnelte einer seiner Bauingenieu-re dieMetropole. Ein 600Kilometer lan-ges Tunnelnetz, die Gänge gross genug,damit einMann darin stehen konnte – soplante es Eugene Belgrand. Damit be-freite er Paris nicht nur von den Fäkalienseiner Einwohner und verbesserte dieHygiene in der Stadt. Auch Trink-wasser, Kochgas oder Elektrizität unddie Telefonleitungen wanderten späterdurch die Tunnels – Paris entdeckte alserste Weltstadt die «vierte Dimension».

Sowieso künstlich beleuchtetHeute ist der Untergrund einer jedenGrossstadt durchlöchert wie ein Em-mentalerkäse. U-Bahn, Eisenbahn,Strassen, Abwasser, Trinkwasser, Gas,Strom, Telekommunikation – das Ner-vensystem einer City liegt unter demBoden. Doch in der Raumplanungspielt der Untergrund kaum eine Rolle.Wenn an der Oberfläche der Platzknapp wird, weichen die Planer in dieHöhe aus. An der ETH Lausanne tüf-teln Forscher nun an einem anderenWeg, dem Gang in die Tiefe.

Ihr Vordenker ist Aurele Parriaux.Mit seinem «Deep City Project» will erdie Raumplanung umkrempeln: «Wirdürfen nicht länger nur in Oberflächen,sondern müssen in Volumen denken»,sagt er. Aber was soll unter den Boden?«In den Untergrund gehört nur, wasdort sinnvoll ist.» Der ETH-Forscherwill kein infernalisches Metropolisschaffen wie im Film von Fritz Lang.Aber alles, was kein Tageslicht brauche,könne unter die Erde, sagt sein nieder-ländischer Kollege Han Admiraal. Erleitete über zehn Jahre lang das Nether-lands Centre for Underground Con-struction and Underground Space Useund war bei der International Tunnel-ling and Underground Space Associa-tion zuständig für unterirdischen Städ-tebau. Heute arbeitet er als selbständi-ger Berater in Rotterdam.

«Es muss Spass machen, im Unter-grund zu sein», sagt Admiraal. Dasunterstreicht auch Ray Sterling von derLouisiana Tech University, ein Doyendes Fachgebiets. Als ihn vor ein paarJahren ein Fernsehteam anfragte, ob esmöglich wäre, eine Stadt 200 Meterunter Chicago zu bauen, antworteteSterling: «Warum würdet ihr so etwasbauen wollen? Es geht nicht um Sci-ence-Fiction.» Aber beispielsweise umSupermärkte, deren Fenster sowieso zu-geklebt sind. Oder Theater, Konzert-säle, Kinos, Lagerräume, Parkhäuser,Bibliotheken, Eishockeystadien – wiesosollen diese Infrastrukturbauten, die so-wieso Kunstlicht brauchen, an derOberfläche Land fressen?

Unbekannter UntergrundDas grosse Problem vieler Städte ist je-doch: Sie kennen ihren Untergrundnicht. «Der Mensch kann Lichtjahre indie Vergangenheit schauen, aber nichtin den Boden», klagt Han Admiraal.Das zu ändern versucht das ProjektDeep City 3 D des Fraunhofer-Institutsfür Graphische Datenverarbeitung inDarmstadt und des französischen Bu-reau de recherches geologiques et mi-nieres. Ihre Experimentierfelder sinddie Städte Mainz und Toulouse. DieForscher unter der Leitung von Thors-

ten Reitz tragen sämtliche existierendengeologischen Daten zum städtischenUntergrund zusammen; sie interessie-ren sich zwar nur für die ersten 50 bis100 Meter unter der Erdoberfläche, da-für auf den Meter genau.

Hierzu kombinieren sie Daten ausPlänen und Katastern mit vorhandenenOberflächenkarten und modellieren amComputer daraus anschauliche 3-D-Vi-sualisierungen. «Die Informationenüber den Untergrund sind jedoch sehrungenau», sagt Reitz. Deshalb erhebendie Forscher mit eigens gedrillten Bohr-löchern zusätzlich neue Daten überseine Beschaffenheit.

Auch so bleibt zwar vieles im Dun-keln: Denn die Bohrlöcher in Mainz be-finden sich in einemAbstand von einemKilometer; was dazwischenliegt, weissniemand. Und die Stichproben sindteuer. Doch seit dem Einsturz des Köl-ner Stadtarchivs imMärz 2009, der zweiMenschenleben forderte und unzähligehistorische Artefakte zerstörte, ist dasInteresse der Stadtpolitik geweckt. Manwill genau wissen, was unter den eige-nen Füssen liegt.

In Köln verursachten in erster LiniePfusch und mangelnde Kontrollen dieKatastrophe. Doch überall gilt: Bautman im Untergrund, ist gute Planungungleich wichtiger als beim Hochbau.Denn Abreissen geht nicht, und Reno-vationen sind sehr aufwendig, wennnicht gar unmöglich. «Was im Unter-grund gebaut ist, ist gebaut!», sagt RaySterling, der sich ein Professorenlebenlang mit der Untergrund-Renovationbeschäftigt hat. Man könne zwar nach-träglich eingreifen, sagt er, aber nurpunktuell: etwa Überbrückungen fürdas Grundwasser legen oder mit Injek-tionen von Beton oder Kunststoff dasumliegende Gestein stabilisieren. Aberwenn man eine Grundwasserschichtverschmutze, müsse man im schlimms-ten Fall einen Hunderte Kilometer lan-gen Aquädukt bauen, sagt Sterling.

Ein weltweites Vorbild für dieUnter-grundplanung ist Helsinki. Die Stadt istdurch den Hafen und denkmalgeschütz-te Bauten in ihrer Entwicklung ge-hemmt. Also baut man in die Tiefe. Ilk-kaVähäaho, oberster Unterwelt-Planer,ist ein bescheidener Mann, das behaup-tet er zumindest von sich selbst. Trotz-dem müsse er es sagen: «Wir haben hierin Helsinki die besten Untergrundkar-ten der Welt.» Alle 30 Meter findet sichein Bohrloch.

Vähäahos Stabsstelle wurde bereits1955 gegründet. Denn die 200 Quadrat-

kilometer grosse Stadt steht auf speziel-lemBoden:massivemFelsen und brüchi-ger Erde. Also ist es für die Planer wich-tig zu wissen, wo sich der feste Baugrundbefindet. Zudem wünschen sich die Fin-nen eine gesunde und luftige Metropole:Obschon Helsinki ein riesiges Hinter-land hat, soll es auch in der Stadt selbstgrünen, soll Platz sein für Parks undAlleen. Auch in Zürich wälzt man solcheIdeen. Zum Beispiel der ETH-ProfessorUlrich Weidmann, der bis ins Jahr 2045in der Innenstadt alle Tramlinien in denUntergrund verlagern will.

In Helsinki wird heute schon unterdie Erde gebracht, was man nicht an derOberfläche haben will: eine Kläranlageetwa oder ein Schwimmbad, wo dasWasser dank der konstanten Tempera-tur von 7 Grad Celsius in den kalten fin-nischen Wintern viel weniger geheiztwerden muss; ein Kohledepot oder eineSchneedeponie, um die weisse Prachtnicht weiter ins Meer kippen zu müssen.400 unterirdische Räume, 200 Kilo-meter Tunnel umfasst Helsinkis Unter-welt. Im Masterplan der Stadt sind wei-tere 200 Reserven aufgeführt.

Gutes Geschäft in Helsinki«Drill and blast» – bohren und spren-gen. So wird in Helsinkis UntergrundPlatz geschaffen. Und Vähäaho ist stän-dig auf der Suche nach weiteren geeig-neten Gebieten. «Es ist eine Detektiv-arbeit», sagt er. Denn es geht nichtallein darum, sich immer tiefer sich insErdreich zu buddeln. Helsinkis Planerversuchen, den Raum unter der Erdemöglichst intelligent zu nutzen. Das be-deutet, Ebenen zwischen bestehendenInfrastrukturen neu zu erschliessen.Zum Beispiel zwischen einer Wärme-pumpstation, einem Kabeltunnel undeinem Abwasserkanal ein neues Daten-zentrum zu bauen.

Der Untergrund ist in Helsinki aberauch ein gutes Geschäft. Zumindest fürden Staat. Zwei Drittel der Stadtflächegehören ihm – sowie das Erdreich, dasmehr als sechs Meter unterhalb einerParzelle in Privatbesitz liegt. Den dortunten erschaffenen Raum vermietet dieStadt für die Hälfte des Preises einesOberflächen-Grundstücks, was auchPrivate unter den Boden lockt.

An der Machbarkeit scheitern heutefast keine Tiefbauprojekte mehr, dasversichern alle Experten unisono. Inden Niederlanden zum Beispiel ist derUntergrund eine Herausforderung – eswird in «Wasser mit etwas Sand» ge-

baut, wie Han Admiraal es ausdrückt.Das sei zwar kompliziert, der unterirdi-sche Lebensraum müsse bewahrt undGrundwasserströme müssten berück-sichtigt werden – aber Grenzen setzenicht die Technik, sondern allein derWasserdruck in der Tiefe. Hier ist des-halb bei 60 Metern Schluss. Andernortskann weitaus tiefer gebaut werden.

Und was ist mit den Kosten? DerETH-Professor Parriaux berechnete ineiner Studie: Ein Warenhaus wird 26Prozent teurer, wennman es in schwieri-gem, wässrigem Untergrund baut, abernur 10 Prozent teurer, wenn das Gesteinkompakt ist. Und die Unterhaltskostenseien sogar tiefer, weil die Bauten vorder Witterung geschützt seien. Allein:Städte wurden und werden kaum je dortgebaut, wo der Untergrund für Tiefbau-ten ideal ist. So liegen in der Schweiz dieboomenden Städte Zürich, Basel undGenf allesamt in mit Wasser durch-tränkten Flussbetten. Die höher gelege-nen Orte Lausanne, Freiburg und Bernhingegen haben bessere Karten.

Ein Problem ist auch, dass derUnter-grund heute häufig nur für eineNutzungkonzipiert wird. Entweder U-Bahn oderGeothermie. Entweder Schutzraumoder Parkhaus. Dabei könne man daseine tun und das andere nicht lassen, soParriaux. In Kuala Lumpur in Malaysiaversucht man dies. Ein Autobahntunneldient dort bei Sturzfluten als riesigerunterirdischer Hochwasserkanal. AberForscher wie Parriaux wollenmehr, zumBeispiel den U-Bahn-Bau an Geother-mieprojekte koppeln oder einen Schutz-bunker mit dem Abbau von Boden-schätzen kombinieren.

Nur, wie bringt man Stadtplaner,Geologen, Hydrologen, die Bauwirt-schaft und das Energiewesen an einenTisch? Die einfachste Lösung ist dieTop-down-Planung. Das zeigt sich inChina. Aurele Parriaux ist eben aus derostchinesischen MillionenmetropoleSuzhou zurückgekehrt. Dort berät erdie örtlichen Behörden, die einen Un-tergrund-Masterplan erstellen wollen.Die Stadt baue gerade die erste Metro,sagt Parriaux. Und anders als Schang-hai, wo die galoppierende Bautätigkeitteilweise ein Chaos unter der Erde pro-duzierte, will man hier schon von An-fang an Ordnung haben. Aber auch füreine demokratisch organisierte Planungwie in der Schweiz sieht Parriaux Per-spektiven unter der Erde. «Wer imUntergrund baut, trifft auf fast keinenWiderstand seitens der Bevölkerung.» –Was man nicht sieht, stört einen nicht.

UmstrittenerSalzkonsum

Was bewirkt eine Reduktion?

In mehreren Ländern wird vomStaat propagiert, nicht zu vielSalz zu sich zu nehmen. Dies sollzu weniger Herztoten führen.Neue Studien wecken Zweifel.

slz. ! In der Schweiz ebenso wie in derEU oder den USA bemühen sich Ge-sundheitspolitiker seit Jahren, den Salz-konsum der Bevölkerung durch diverseKampagnen deutlich zu senken. DieWeltgesundheitsorganisation empfiehlt,täglich maximal 5 GrammKochsalz auf-zunehmen – das ist weniger als dieHälfte der momentan in den Industrie-ländern im Durchschnitt verzehrtenMenge. Denn epidemiologische Studienaus verschiedenen Ländern hätten ge-zeigt, dass ein gesteigerter Salzkonsumden Blutdruck erhöhe und zu krankhaf-tem Bluthochdruck führen könne, sodie Experten. Dies wiederum steigeredas Risiko für Herz-Kreislauf-Erkran-kungen. Doch neue Studien weckenZweifel an der Annahme, dass eineReduktion des Salzkonsums tatsächlichdie Sterblichkeit bei Herz-Kreislauf-Er-krankungen senkt.

So hat ein britisches Forscherteamum Rod Taylor von der University ofExeter sieben grosse epidemiologischeStudien miteinander verglichen und de-tailliert überprüft.1 In denUntersuchun-gen waren bei Gesunden wie auch beiBluthochdruck-Patienten die Auswir-kungen eines verminderten Salzkon-sums auf die Sterblichkeitsrate beiHerz-Kreislauf-Erkrankungen analy-siert worden. Man habe jedoch keinestatistisch gesicherten Beweise dafürgefunden, dass ein verminderter Salz-konsum tatsächlich zu weniger Todes-fällen durch Herz-Kreislauf-Erkran-kungen führe, berichten nun die Auto-ren. Man habe nur eine minime Reduk-tion des höheren (systolischen) Blut-drucks um 1 bis 4 Millimeter Quecksil-bersäule durch die Ernährungsände-rung feststellen können.

Eine erst vor wenigenWochen publi-zierte europäische Studie hatte sogareinen negativen Effekt einer salzärme-ren Ernährung gefunden.2 Jan Staessenund sein Team von der UniversitätLöwen hatten gut 3600 Personen ohneeine bestehende Herz-Kreislauf-Er-krankung zu Studienbeginn über achtJahre hinweg beobachtet. Bei ihnenführte die Reduktion des Salzkonsumszu einer leicht erhöhten Sterblichkeitdurch Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Somit stellt sich die Frage, ob die vie-len und manchmal auch nicht ganz billi-gen Kampagnen im Lichte der neuenForschungsdaten wirklich sinnvoll sind.Wie die Sprecherin für Gesundheit derEU-Kommission auf Anfrage mitteilte,hält man nach wie vor an dem Ziel fest,die Salzaufnahme durch Nahrungsmit-tel signifikant zu reduzieren. Schliess-lich belege die Mehrzahl der Studieneinen deutlichen Zusammenhang zwi-schen einem erhöhten Salzkonsum undHerz-Kreislauf-Erkrankungen wie aucheiner erhöhtenMortalität. Deshalb wer-de man weiter daran arbeiten, zum Bei-spiel Grenzwerte für Salz in Nahrungs-mitteln festzulegen, oberhalb deren dasProdukt nicht mehr als gesund bewor-ben werden dürfe.

In der Schweiz wurde 2008 eine«Salz-Strategie zur Reduktion desKochsalzkonsums» formuliert. Kern-punkte des Programms sind, wie auch inanderen Ländern, eine bessere Aufklä-rung der Bevölkerung sowie Interven-tionen bei der Nahrungsmittelindustriefür eine freiwillige Reduktion der Salz-beigabe in verarbeiteten Lebensmitteln.Laut dem Bundesamt für Gesundheitwill man erst am Ende der veranschlag-ten vier Jahre Bilanz ziehen und gegebe-nenfalls Anpassungen vornehmen.

1 American Journal of Hypertension, Online-Veröffent-lichung vom 6. Juli 2011; 2 JAMA 305, 1777–1785 (2011).

Der Boden unter Helsinki wird intensiv bewirtschaftet. Im Bild eine Trinkwasseraufbereitungsanlage. MIKKO STIG / LEHTIKUVA / KEYSTONE