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56 Mittwoch, 13. Juli 2011 ! Nr. 161FORSCHUNG UND TECHNIKNeuö Zürcör Zäitung
Expertenstreit um Entdeckung derExpansion des Universums Seite 54
Freie Radikale hemmeneinige Arten von Krebs Seite 55
Das Worst-Case-Szenarioim Klimawandel Seite 55
Geschichtliche Begegnungen vonEisbären und Braunbären Seite 55
Ab in die Tiefe!Die Städte der Zukunft sollen auch nach unten wachsen
Wenn an der Oberfläche derPlatz knapp wird, heisst dieStandardantwort: Baut in dieHöhe! Dem widersprechenimmer mehr Stadtplaner. Für sieliegt die Zukunft unter der Erde.
Matthias Daum
Am Anfang war die Kloake. Mitte des19. Jahrhunderts, als der berühmteStadtplaner Baron Haussmann monu-mentale Achsen durch Paris schlug,untertunnelte einer seiner Bauingenieu-re dieMetropole. Ein 600Kilometer lan-ges Tunnelnetz, die Gänge gross genug,damit einMann darin stehen konnte – soplante es Eugene Belgrand. Damit be-freite er Paris nicht nur von den Fäkalienseiner Einwohner und verbesserte dieHygiene in der Stadt. Auch Trink-wasser, Kochgas oder Elektrizität unddie Telefonleitungen wanderten späterdurch die Tunnels – Paris entdeckte alserste Weltstadt die «vierte Dimension».
Sowieso künstlich beleuchtetHeute ist der Untergrund einer jedenGrossstadt durchlöchert wie ein Em-mentalerkäse. U-Bahn, Eisenbahn,Strassen, Abwasser, Trinkwasser, Gas,Strom, Telekommunikation – das Ner-vensystem einer City liegt unter demBoden. Doch in der Raumplanungspielt der Untergrund kaum eine Rolle.Wenn an der Oberfläche der Platzknapp wird, weichen die Planer in dieHöhe aus. An der ETH Lausanne tüf-teln Forscher nun an einem anderenWeg, dem Gang in die Tiefe.
Ihr Vordenker ist Aurele Parriaux.Mit seinem «Deep City Project» will erdie Raumplanung umkrempeln: «Wirdürfen nicht länger nur in Oberflächen,sondern müssen in Volumen denken»,sagt er. Aber was soll unter den Boden?«In den Untergrund gehört nur, wasdort sinnvoll ist.» Der ETH-Forscherwill kein infernalisches Metropolisschaffen wie im Film von Fritz Lang.Aber alles, was kein Tageslicht brauche,könne unter die Erde, sagt sein nieder-ländischer Kollege Han Admiraal. Erleitete über zehn Jahre lang das Nether-lands Centre for Underground Con-struction and Underground Space Useund war bei der International Tunnel-ling and Underground Space Associa-tion zuständig für unterirdischen Städ-tebau. Heute arbeitet er als selbständi-ger Berater in Rotterdam.
«Es muss Spass machen, im Unter-grund zu sein», sagt Admiraal. Dasunterstreicht auch Ray Sterling von derLouisiana Tech University, ein Doyendes Fachgebiets. Als ihn vor ein paarJahren ein Fernsehteam anfragte, ob esmöglich wäre, eine Stadt 200 Meterunter Chicago zu bauen, antworteteSterling: «Warum würdet ihr so etwasbauen wollen? Es geht nicht um Sci-ence-Fiction.» Aber beispielsweise umSupermärkte, deren Fenster sowieso zu-geklebt sind. Oder Theater, Konzert-säle, Kinos, Lagerräume, Parkhäuser,Bibliotheken, Eishockeystadien – wiesosollen diese Infrastrukturbauten, die so-wieso Kunstlicht brauchen, an derOberfläche Land fressen?
Unbekannter UntergrundDas grosse Problem vieler Städte ist je-doch: Sie kennen ihren Untergrundnicht. «Der Mensch kann Lichtjahre indie Vergangenheit schauen, aber nichtin den Boden», klagt Han Admiraal.Das zu ändern versucht das ProjektDeep City 3 D des Fraunhofer-Institutsfür Graphische Datenverarbeitung inDarmstadt und des französischen Bu-reau de recherches geologiques et mi-nieres. Ihre Experimentierfelder sinddie Städte Mainz und Toulouse. DieForscher unter der Leitung von Thors-
ten Reitz tragen sämtliche existierendengeologischen Daten zum städtischenUntergrund zusammen; sie interessie-ren sich zwar nur für die ersten 50 bis100 Meter unter der Erdoberfläche, da-für auf den Meter genau.
Hierzu kombinieren sie Daten ausPlänen und Katastern mit vorhandenenOberflächenkarten und modellieren amComputer daraus anschauliche 3-D-Vi-sualisierungen. «Die Informationenüber den Untergrund sind jedoch sehrungenau», sagt Reitz. Deshalb erhebendie Forscher mit eigens gedrillten Bohr-löchern zusätzlich neue Daten überseine Beschaffenheit.
Auch so bleibt zwar vieles im Dun-keln: Denn die Bohrlöcher in Mainz be-finden sich in einemAbstand von einemKilometer; was dazwischenliegt, weissniemand. Und die Stichproben sindteuer. Doch seit dem Einsturz des Köl-ner Stadtarchivs imMärz 2009, der zweiMenschenleben forderte und unzähligehistorische Artefakte zerstörte, ist dasInteresse der Stadtpolitik geweckt. Manwill genau wissen, was unter den eige-nen Füssen liegt.
In Köln verursachten in erster LiniePfusch und mangelnde Kontrollen dieKatastrophe. Doch überall gilt: Bautman im Untergrund, ist gute Planungungleich wichtiger als beim Hochbau.Denn Abreissen geht nicht, und Reno-vationen sind sehr aufwendig, wennnicht gar unmöglich. «Was im Unter-grund gebaut ist, ist gebaut!», sagt RaySterling, der sich ein Professorenlebenlang mit der Untergrund-Renovationbeschäftigt hat. Man könne zwar nach-träglich eingreifen, sagt er, aber nurpunktuell: etwa Überbrückungen fürdas Grundwasser legen oder mit Injek-tionen von Beton oder Kunststoff dasumliegende Gestein stabilisieren. Aberwenn man eine Grundwasserschichtverschmutze, müsse man im schlimms-ten Fall einen Hunderte Kilometer lan-gen Aquädukt bauen, sagt Sterling.
Ein weltweites Vorbild für dieUnter-grundplanung ist Helsinki. Die Stadt istdurch den Hafen und denkmalgeschütz-te Bauten in ihrer Entwicklung ge-hemmt. Also baut man in die Tiefe. Ilk-kaVähäaho, oberster Unterwelt-Planer,ist ein bescheidener Mann, das behaup-tet er zumindest von sich selbst. Trotz-dem müsse er es sagen: «Wir haben hierin Helsinki die besten Untergrundkar-ten der Welt.» Alle 30 Meter findet sichein Bohrloch.
Vähäahos Stabsstelle wurde bereits1955 gegründet. Denn die 200 Quadrat-
kilometer grosse Stadt steht auf speziel-lemBoden:massivemFelsen und brüchi-ger Erde. Also ist es für die Planer wich-tig zu wissen, wo sich der feste Baugrundbefindet. Zudem wünschen sich die Fin-nen eine gesunde und luftige Metropole:Obschon Helsinki ein riesiges Hinter-land hat, soll es auch in der Stadt selbstgrünen, soll Platz sein für Parks undAlleen. Auch in Zürich wälzt man solcheIdeen. Zum Beispiel der ETH-ProfessorUlrich Weidmann, der bis ins Jahr 2045in der Innenstadt alle Tramlinien in denUntergrund verlagern will.
In Helsinki wird heute schon unterdie Erde gebracht, was man nicht an derOberfläche haben will: eine Kläranlageetwa oder ein Schwimmbad, wo dasWasser dank der konstanten Tempera-tur von 7 Grad Celsius in den kalten fin-nischen Wintern viel weniger geheiztwerden muss; ein Kohledepot oder eineSchneedeponie, um die weisse Prachtnicht weiter ins Meer kippen zu müssen.400 unterirdische Räume, 200 Kilo-meter Tunnel umfasst Helsinkis Unter-welt. Im Masterplan der Stadt sind wei-tere 200 Reserven aufgeführt.
Gutes Geschäft in Helsinki«Drill and blast» – bohren und spren-gen. So wird in Helsinkis UntergrundPlatz geschaffen. Und Vähäaho ist stän-dig auf der Suche nach weiteren geeig-neten Gebieten. «Es ist eine Detektiv-arbeit», sagt er. Denn es geht nichtallein darum, sich immer tiefer sich insErdreich zu buddeln. Helsinkis Planerversuchen, den Raum unter der Erdemöglichst intelligent zu nutzen. Das be-deutet, Ebenen zwischen bestehendenInfrastrukturen neu zu erschliessen.Zum Beispiel zwischen einer Wärme-pumpstation, einem Kabeltunnel undeinem Abwasserkanal ein neues Daten-zentrum zu bauen.
Der Untergrund ist in Helsinki aberauch ein gutes Geschäft. Zumindest fürden Staat. Zwei Drittel der Stadtflächegehören ihm – sowie das Erdreich, dasmehr als sechs Meter unterhalb einerParzelle in Privatbesitz liegt. Den dortunten erschaffenen Raum vermietet dieStadt für die Hälfte des Preises einesOberflächen-Grundstücks, was auchPrivate unter den Boden lockt.
An der Machbarkeit scheitern heutefast keine Tiefbauprojekte mehr, dasversichern alle Experten unisono. Inden Niederlanden zum Beispiel ist derUntergrund eine Herausforderung – eswird in «Wasser mit etwas Sand» ge-
baut, wie Han Admiraal es ausdrückt.Das sei zwar kompliziert, der unterirdi-sche Lebensraum müsse bewahrt undGrundwasserströme müssten berück-sichtigt werden – aber Grenzen setzenicht die Technik, sondern allein derWasserdruck in der Tiefe. Hier ist des-halb bei 60 Metern Schluss. Andernortskann weitaus tiefer gebaut werden.
Und was ist mit den Kosten? DerETH-Professor Parriaux berechnete ineiner Studie: Ein Warenhaus wird 26Prozent teurer, wennman es in schwieri-gem, wässrigem Untergrund baut, abernur 10 Prozent teurer, wenn das Gesteinkompakt ist. Und die Unterhaltskostenseien sogar tiefer, weil die Bauten vorder Witterung geschützt seien. Allein:Städte wurden und werden kaum je dortgebaut, wo der Untergrund für Tiefbau-ten ideal ist. So liegen in der Schweiz dieboomenden Städte Zürich, Basel undGenf allesamt in mit Wasser durch-tränkten Flussbetten. Die höher gelege-nen Orte Lausanne, Freiburg und Bernhingegen haben bessere Karten.
Ein Problem ist auch, dass derUnter-grund heute häufig nur für eineNutzungkonzipiert wird. Entweder U-Bahn oderGeothermie. Entweder Schutzraumoder Parkhaus. Dabei könne man daseine tun und das andere nicht lassen, soParriaux. In Kuala Lumpur in Malaysiaversucht man dies. Ein Autobahntunneldient dort bei Sturzfluten als riesigerunterirdischer Hochwasserkanal. AberForscher wie Parriaux wollenmehr, zumBeispiel den U-Bahn-Bau an Geother-mieprojekte koppeln oder einen Schutz-bunker mit dem Abbau von Boden-schätzen kombinieren.
Nur, wie bringt man Stadtplaner,Geologen, Hydrologen, die Bauwirt-schaft und das Energiewesen an einenTisch? Die einfachste Lösung ist dieTop-down-Planung. Das zeigt sich inChina. Aurele Parriaux ist eben aus derostchinesischen MillionenmetropoleSuzhou zurückgekehrt. Dort berät erdie örtlichen Behörden, die einen Un-tergrund-Masterplan erstellen wollen.Die Stadt baue gerade die erste Metro,sagt Parriaux. Und anders als Schang-hai, wo die galoppierende Bautätigkeitteilweise ein Chaos unter der Erde pro-duzierte, will man hier schon von An-fang an Ordnung haben. Aber auch füreine demokratisch organisierte Planungwie in der Schweiz sieht Parriaux Per-spektiven unter der Erde. «Wer imUntergrund baut, trifft auf fast keinenWiderstand seitens der Bevölkerung.» –Was man nicht sieht, stört einen nicht.
UmstrittenerSalzkonsum
Was bewirkt eine Reduktion?
In mehreren Ländern wird vomStaat propagiert, nicht zu vielSalz zu sich zu nehmen. Dies sollzu weniger Herztoten führen.Neue Studien wecken Zweifel.
slz. ! In der Schweiz ebenso wie in derEU oder den USA bemühen sich Ge-sundheitspolitiker seit Jahren, den Salz-konsum der Bevölkerung durch diverseKampagnen deutlich zu senken. DieWeltgesundheitsorganisation empfiehlt,täglich maximal 5 GrammKochsalz auf-zunehmen – das ist weniger als dieHälfte der momentan in den Industrie-ländern im Durchschnitt verzehrtenMenge. Denn epidemiologische Studienaus verschiedenen Ländern hätten ge-zeigt, dass ein gesteigerter Salzkonsumden Blutdruck erhöhe und zu krankhaf-tem Bluthochdruck führen könne, sodie Experten. Dies wiederum steigeredas Risiko für Herz-Kreislauf-Erkran-kungen. Doch neue Studien weckenZweifel an der Annahme, dass eineReduktion des Salzkonsums tatsächlichdie Sterblichkeit bei Herz-Kreislauf-Er-krankungen senkt.
So hat ein britisches Forscherteamum Rod Taylor von der University ofExeter sieben grosse epidemiologischeStudien miteinander verglichen und de-tailliert überprüft.1 In denUntersuchun-gen waren bei Gesunden wie auch beiBluthochdruck-Patienten die Auswir-kungen eines verminderten Salzkon-sums auf die Sterblichkeitsrate beiHerz-Kreislauf-Erkrankungen analy-siert worden. Man habe jedoch keinestatistisch gesicherten Beweise dafürgefunden, dass ein verminderter Salz-konsum tatsächlich zu weniger Todes-fällen durch Herz-Kreislauf-Erkran-kungen führe, berichten nun die Auto-ren. Man habe nur eine minime Reduk-tion des höheren (systolischen) Blut-drucks um 1 bis 4 Millimeter Quecksil-bersäule durch die Ernährungsände-rung feststellen können.
Eine erst vor wenigenWochen publi-zierte europäische Studie hatte sogareinen negativen Effekt einer salzärme-ren Ernährung gefunden.2 Jan Staessenund sein Team von der UniversitätLöwen hatten gut 3600 Personen ohneeine bestehende Herz-Kreislauf-Er-krankung zu Studienbeginn über achtJahre hinweg beobachtet. Bei ihnenführte die Reduktion des Salzkonsumszu einer leicht erhöhten Sterblichkeitdurch Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Somit stellt sich die Frage, ob die vie-len und manchmal auch nicht ganz billi-gen Kampagnen im Lichte der neuenForschungsdaten wirklich sinnvoll sind.Wie die Sprecherin für Gesundheit derEU-Kommission auf Anfrage mitteilte,hält man nach wie vor an dem Ziel fest,die Salzaufnahme durch Nahrungsmit-tel signifikant zu reduzieren. Schliess-lich belege die Mehrzahl der Studieneinen deutlichen Zusammenhang zwi-schen einem erhöhten Salzkonsum undHerz-Kreislauf-Erkrankungen wie aucheiner erhöhtenMortalität. Deshalb wer-de man weiter daran arbeiten, zum Bei-spiel Grenzwerte für Salz in Nahrungs-mitteln festzulegen, oberhalb deren dasProdukt nicht mehr als gesund bewor-ben werden dürfe.
In der Schweiz wurde 2008 eine«Salz-Strategie zur Reduktion desKochsalzkonsums» formuliert. Kern-punkte des Programms sind, wie auch inanderen Ländern, eine bessere Aufklä-rung der Bevölkerung sowie Interven-tionen bei der Nahrungsmittelindustriefür eine freiwillige Reduktion der Salz-beigabe in verarbeiteten Lebensmitteln.Laut dem Bundesamt für Gesundheitwill man erst am Ende der veranschlag-ten vier Jahre Bilanz ziehen und gegebe-nenfalls Anpassungen vornehmen.
1 American Journal of Hypertension, Online-Veröffent-lichung vom 6. Juli 2011; 2 JAMA 305, 1777–1785 (2011).
Der Boden unter Helsinki wird intensiv bewirtschaftet. Im Bild eine Trinkwasseraufbereitungsanlage. MIKKO STIG / LEHTIKUVA / KEYSTONE