»in diese sinfonie habe ich, ohne Übertreibung gesagt ... · arvo pärts „cantus“ lässt sich...

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DAS ORCHESTER DER ELBPHILHARMONIE B3: Do, 17.11.2011, 20 Uhr | A3: So, 20.11.2011, 11 Uhr | Hamburg, Laeiszhalle L2: Fr, 18.11.2011, 19.30 Uhr | Lübeck, Musik- und Kongresshalle Manfred Honeck Dirigent Rudolf Buchbinder Klavier Arvo Pärt Cantus in memoriam Benjamin Britten Wolfgang Amadeus Mozart Klavierkonzert C-Dur KV 467 Peter Tschaikowsky Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 „Pathétique“ »In diese Sinfonie habe ich, ohne Übertreibung gesagt, meine ganze Seele gelegt.« Peter Tschaikowsky an den Großfürsten Konstantin, September 1893

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D A S O R C H E S T E R D E R E L B P H I L H A R M O N I E

B3: Do, 17.11.2011, 20 Uhr | A3: So, 20.11.2011, 11 Uhr | Hamburg, LaeiszhalleL2: Fr, 18.11.2011, 19.30 Uhr | Lübeck, Musik- und KongresshalleManfred Honeck DirigentRudolf Buchbinder KlavierArvo Pärt Cantus in memoriam Benjamin BrittenWolfgang Amadeus Mozart Klavierkonzert C-Dur KV 467Peter Tschaikowsky Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 „Pathétique“

»In diese Sinfonie habe ich, ohne Übertreibung gesagt, meine ganze Seele gelegt.«

Peter Tschaikowsky an den Großfürsten Konstantin, September 1893

Dirigent: Solist:

Arvo Pärt (*1935)

Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791)

Peter Iljitsch Tschaikowsky (1840 – 1893)

Donnerstag, 17. November 2011, 20 UhrSonntag, 20. November 2011, 11 UhrHamburg, Laeiszhalle, Großer Saal

Freitag, 18. November 2011, 19.30 UhrLübeck, Musik- und Kongresshalle

Manfred HoneckRudolf Buchbinder Klavier

Cantus in memoriam Benjamin Brittenfür Streichorchester und eine Glocke(1977/1980)

Konzert für Klavier und Orchester C-Dur KV 467(1785)

I. Allegro maestosoII. AndanteIII. Allegro vivace assai

Pause

Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 „Pathétique“(1893)

I. Adagio – Allegro non troppo – Andante – Moderato mosso – Andante – Moderato assai – Allegro vivo – Andante come prima – Andante mossoII. Allegro con graziaIII. Allegro molto vivaceIV. Finale: Adagio lamentoso – Andante

Einführungsveranstaltung mit Habakuk Traber am 17.11.2011 um 19 Uhrim Großen Saal der Laeiszhalle.

NDR SINFONIEORCHESTER

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Das Konzert am 20.11.2011 wird live auf NDR Kultur gesendet

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NDR SINFONIEORCHESTER

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Rudolf Buchbinder ist eine feste Größe in der internationalen Klavierszene und regelmäßiger Gast bei den bedeutenden Orchestern und Fes-tivals weltweit. Sein Repertoire ist umfangreich und schließt auch zahlreiche Kompositio nen des 20. Jahrhunderts ein. Rudolf Buchbinder legt besonderen Wert auf die akribi sche Quel-lenforschung. So befi nden sich u. a. über 27 komplette Ausgaben der Klaviersonaten Beet-hovens, eine umfangreiche Sammlung von Erstdrucken und Originalausgaben sowie Ko-pien der eigenhändigen Klavierstimmen und Partituren der beiden Klavierkonzerte von Brahms in seinem Besitz.

Über 100 Aufnahmen dokumentieren Größe und Vielfalt von Buchbinders Repertoire. Besonde-res Aufsehen erregte seine Einspielung des Klavier-Gesamtwerkes von Joseph Haydn, die mit dem „Grand Prix du Disque“ ausgezeichnet wurde, sowie eine CD mit Klavier-Transkriptio-nen unter dem Titel „Waltzing Strauss“. Mittler-weile bevorzugt Rudolf Buchbinder Live-Auf-nahmen. Die Konzert-Mitschnitte der beiden Klavierkonzerte von Johannes Brahms (Royal Concertgebouw Orchestra/Nikolaus Harnon-court) sowie zwei DVDs live von den Wiener Festwochen 2006, wo Buchbinder als Solist und Dirigent mit den Wiener Philharmonikern sechs Mozart-Klavierkonzerte interpretierte, spiegeln dies in beeindruckender Weise wider. Im November 2010 erschien eine weitere Live-Aufnahme der beiden Klavierkonzerte von Brahms mit dem Israel Philharmonic Orchestra unter Zubin Mehta. Im Mai 2011 wurden Rudolf Buchbinders Auftritte als Solist und Dirigent

der Wiener Philharmoniker mit den fünf Klavier-konzerten von Beethoven im Großen Musik-vereinssaal in Wien live auf DVD aufgezeichnet.

Zu einem wichtigen Anliegen wurde für Rudolf Buchbinder die Interpretation des „Neuen Tes-taments“ der Klaviermusik: mit der zyklischen Wiedergabe aller 32 Sonaten Ludwig van Beet-hovens in über 40 Städten – darunter Wien, München, Hamburg, Zürich, Buenos Aires und Mailand – setzte und setzt er immer wieder Maß-stäbe. Während der Saison 2010/11 war Rudolf Buchbinder „Artist in Residence“ der Staats-kapelle Dresden. Sein Beethoven-Sonaten-Zyklus in der Semperoper Dresden wurde live mitge-schnitten und erschien im Mai 2011 als CD-Box. Seit 2007 ist Rudolf Buchbinder Intendant der Festspiele Grafenegg. In seiner Biographie „Da Capo“ gibt er Einblicke in sein Leben als einer der bedeutendsten Pianisten von heute.

Rudolf Buchbinder Klavier

Der gebürtige Österreicher Manfred Honeck ist seit der Saison 2008/09 Music Director beim Pittsburgh Symphony Orchestra. Nach umjubel-ten Konzerten im Jahr 2010 in der New Yorker Carnegie Hall und in zahlreichen europäischen Musikmetropolen führte eine weitere Tournee im August/September 2011 zu den großen Musikfestivals Europas. Honecks erfolgreiche Arbeit in Pittsburgh wird auch auf CD doku-mentiert. Bislang erschienen Mahlers Sinfonien Nr. 1, 3 und 4, Tschaikowskys Fünfte sowie das „Heldenleben“ von Richard Strauss. Von 2007 bis 2011 war Manfred Honeck General-musikdirektor der Staatsoper Stuttgart. Gast-spiele im Bereich der Oper führten ihn daneben an die Semperoper Dresden, an die Komische Oper Berlin, zum White Nights Festival nach St. Petersburg, zu den Salzburger Festspielen und zum Verbier Festival. Im Laufe seiner um-fangreichen Konzerttätigkeit dirigierte Honeck führende internationale Klangkörper, darunter das Symphonieorchester des Bayerischen Rund-funks, das Gewandhausorchester Leipzig, Royal Concertgebouw Orchestra, London Philharmo-nic, Los Angeles Philharmonic, Chicago und Boston Symphony Orchestra sowie die Wiener Philharmoniker. In der aktuellen Saison ist er als Gastdirigent nicht nur an seinen früheren Wirkungsstätten in Stockholm, Oslo, Prag und Stuttgart zu erleben, sondern steht auch am Pult etwa der Staatskapelle Dresden, der Bamber-ger Symphoniker oder des Orchestre de Paris. Manfred Honeck begann seine Laufbahn als Assistent von Claudio Abbado in Wien. Anschlie-

ßend wurde er als Erster Kapellmeister an das Opernhaus Zürich verpfl ichtet und erhielt dort 1993 den Europäischen Dirigentenpreis. Zu weiteren Stationen seiner Karriere zählen Leipzig, wo er von 1996 bis 1999 einer der drei Hauptdirigenten des MDR Sinfonieorchesters war, und Oslo, wo er 1997 die musikalische Leitung der Norwegischen Nationaloper über-nahm und für mehrere Jahre als Erster Gast-dirigent des Oslo Philharmonic Orchestra ver-pfl ichtet wurde. Von 2000 bis 2006 war Honeck Chefdirigent des Swedish Radio Symphony Or-chestra Stockholm, von 2008 bis 2011 Erster Gastdirigent der Tschechischen Philharmonie in Prag. 2010 wurde er vom St. Vincent College in Latrobe, Pennsylvania, zum Ehrendoktor ernannt. Er ist darüber hinaus seit mehr als 15 Jahren Künstlerischer Leiter der Internatio-nalen Wolfegger Konzerte.

Manfred HoneckDirigent

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NDR SINFONIEORCHESTER

allem der tonalen Musik nichts Neues mehr zu entdecken gebe, fand er den Ausweg schließ-lich in einer Kompositionstechnik, in der er das „ganze moderne Arsenal zurücklassen und sich durch die nackte Einstimmigkeit retten“ wollte. Die bewusste Beschränkung auf das Notwen-digste sollte von der überfrachteten musikali-schen Tradition und dem individuellen Fort-schrittsdrang erlösen, zugleich der „Wahrheit des Herrn“ möglichst nahe kommen. „Tintinna-buli-Stil“ nannte Pärt diese Technik fortan – und hob mit diesem Begriff (von lat. „tintinnabulum“ = Glöckchen) sowohl auf die sinnliche, assozia-tive Vielfalt des Glockenklangs als auch auf die konkrete Satztechnik ab: wie bei Glocken sind der Einzelton und der Dreiklang die tragenden Komponenten in Pärts Werken seit dieser Zeit.

Mit Benjamin Britten hat ein solches Streben nach größtmöglicher Vereinfachung im Grunde wenig zu tun. Es mag daher zunächst über-raschen, dass sich Arvo Pärt, der sich musika-lisch die „Flucht in die freiwillige Armut“ zum Ziel gemacht hat, ausgerechnet auf Benjamin Britten bezieht, dessen facettenreiches Schaf-fen sich zeitlebens aus dem Reichtum musi-kalischer Stile und Epochen speiste. Und doch war es Pärt sehr daran gelegen, sein erstes im „Tintinnabuli-Stil“ komponiertes Werk aus dem Jahr 1977 mit dem Namen Brittens, der 1975 gestorben war, zu verknüpfen. Im Gespräch mit Enzo Restagno berichtete Pärt 2004 über die Entstehung seines „Cantus“: „Die Entwürfe für dieses Stück waren bereits fertig, als ich zufällig im Radio vom Tode Brittens hörte. In diesem Zusammenhang wurden im Radio

einige seiner Musikstücke übertragen, die meine Frau und mich wegen ihrer Zartheit und einer Transparenz tief berührten, die eine At-mosphäre der Balladen von Guillaume de Machault entstehen ließen. Zu diesem Zeit-punkt verfestigte sich bei mir der Wunsch, dieses Werk zu vollenden und es Britten zu widmen. Schon lange Zeit hatte ich mir ge-wünscht, ihn zu treffen und kennenzulernen, aber nach dieser Nachricht musste ich diesen Gedanken aufgeben.“

Zartheit, Transparenz und ein archaischer Zug: mehr als direkte stilistische Gemeinsamkeiten

Fallende Tonleiterausschnitte, die am Ende in tiefste Register der Kontrabässe münden: Beinahe könnte man sagen, das heutige Kon-zert ende so, wie es begonnen hat. Denn genau wie Arvo Pärts konkret dem Andenken eines Komponisten gewidmeter „Cantus in memori am Benjamin Britten“ spricht auch Tschaikowskys mythenumwobene „Pathétique“ eine unmiss-verständliche Tonsprache: Seufzermotive und absteigende Linien in Moll galten seit frühester Musikgeschichte als Ausdruck der Klage. Für das Geheimnis um den Inhalt der „Pathétique“, das Tschaikowsky – wie sein Bruder Modest bekannte – „mit sich ins Grab“ genommen habe, kann Pärts rund 100 Jahre später entstandener „Cantus“ mit seiner dem Tschaikowskyschen Finale verwandten musikalischen Gestik inso-fern einen gewissen Interpretationsschlüssel anbieten: Das Stück besteht ausschließlich aus dem Material einer absteigenden a-Moll-Tonleiter und läuft damit einem „von allem Anfang an bestimmten Ende entgegen. Diesem kann es ebenso wenig entkommen wie der Mensch seinem Tod“ (Leopold Brauneiss).

Bekanntlich aber wohnt nach Hermann Hesse allem Anfang auch ein Zauber inne. „Wie jede Blüte welkt und jede Jugend dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, blüht jede Weisheit auch und jede Tugend zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern“, heißt es in seinem berühm-ten Gedicht „Stufen“. Bevor also in Tschaikows-kys „Pathétique“ das unausweichliche Ende erscheint, macht das Werk nicht nur bei einem freundlich-eleganten Walzer, sondern auch bei einem triumphalen Marsch in strahlendem

Dur Station. So verstanden wirkt dann auch Mozarts Klavierkonzert im Gesamtgefüge des heutigen Konzertprogramms keinesfalls nur wie ein heiterer Fremdkörper zwischen zwei dunklen Moll-Werken. Zwar gilt die Tonart C-Dur seit jeher als überaus „rein“ und festlich, doch muss es allein schon stutzig machen, dass Mozart dieses Konzert ausgerechnet im An-schluss an sein ungemein düster-dramatisches d-Moll-Konzert KV 466 komponierte. Es war der Musikwissenschaftler und Dirigent Peter Gülke, der daher selbst noch im vordergründig fröhlichen Schlusssatz des C-Dur-Konzerts den Einzug von Moll-Sphären betonte – so, als ob hier eben jene „höhere Heiterkeit des Geistes, welche den Durchgang durch das negative Moment der Entzweiung vollendet hat“ (Hegel), zum Ausdruck komme. Mithin ein Konzert ganz im Sinne von Hesses „Stufen“-Idee: „Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“

„Flucht in die freiwillige Armut“ – Arvo Pärts „Cantus in memoriam Benjamin Britten“

In Anbetracht der Entstehungsumstände von Arvo Pärts „Cantus“ lässt sich Hesses soeben zitierte Sentenz geradezu wörtlich nehmen: Für den estnischen Komponisten war der Ab-schied von Benjamin Britten in der Tat Anstoß und Ermutigung zur „Gesundung“ seiner Kom-positionskrise. Als Pärt 1968, nach der Kompo-sition seines „Credo“, bekennen musste, dass er „einfach nichts zu sagen“ mehr habe, dass es sowohl in den Sphären der atonalen wie vor

„Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“ Zum Programm des heutigen Konzerts

Arvo Pärt (1990)

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verbinden wohl diese Charakteristika Pärts Musik mit derjenigen Brittens. In gewisser Hinsicht jedoch lässt sich auch Brittens Tra-ditionsbewusstsein bei Pärt wieder fi nden. Völlig losgelöst von allem vorher Dagewesenen ist sein „Cantus“ nämlich nicht. Wie erwähnt sind absteigende Tonleitern ein viel genutztes Mittel zur musikalischen Darstellung von Trauer und Dunkelheit, man denke nur an den Beginn von Schönbergs „Verklärte Nacht“ oder eben an das Finale aus Tschaikowskys „Pathétique“. Aber auch die Struktur des „Cantus“ stellt Bezüge zu anderen Trauermusiken her: Wie in Witold Lutosławskis „Musique funèbre in memoriam Béla Bartók“ (1958) werden die Stimmen in einem (Proportions-)Kanon ge-führt und gewinnen allmählich an Dynamik. Bemerkenswerterweise markierte die Trauer-musik auch bei Lutosławski den Beginn einer neuen stilistischen Phase! In seiner Konsequenz der absoluten tonalen Stabilität freilich – das Stück kommt ohne Harmoniewechsel aus und ist, vom ersten bis zum letz ten Glockenschlag, gänzlich auf den Zentralton „a“ fi xiert – geht Pärts „Cantus“ eigene Wege. Das Ideal einer Musik, die die „Zeit zum Stillstand bringt“ (Pärt), scheint hier verwirklicht. Am Ende bleibt der Klang der Glocke als Nachhall ohne hörbaren Anfang übrig – als ob das Stück von vorne losgehen könnte und zugleich in der Ewigkeit verklinge …

„Sinfonisch im höchsten Sinn“ – Wolfgang Amadeus Mozarts Klavierkonzert C-Dur KV 467

Wie kaum eine andere Gattung war das Klavier-konzert zu Mozarts Zeiten eine ausgesprochen öffentliche Angelegenheit. Klavierkonzerte schrieb man nicht etwa für den häuslichen Gebrauch oder zur privaten Unterhaltung, sondern vor allem, um in einer Stadt als Kom-ponist und Pianist zu glänzen und sich damit zugleich als Instrumentalpädagoge oder Ver-anstalter von Akademie-Konzerten zu empfeh-len. Kein Wunder, dass Wolfgang Amadeus Mozart als „freischaffender“ Künstler in seiner Wiener Zeit kaum mehr andere Instrumental-konzerte schrieb. Etwas überspitzt könnte man sagen: Aus fi nanziellen Gründen wurde das Klavierkonzert neben der Oper zu jener Gattung, in der Mozart am innovativsten war und Maß-stäbe setzte. Dabei ging es ihm keineswegs nur darum, die Form als „Showpiece“ zu ver-stehen und lediglich den in der Regel von ihm selbst gespielten Solopart ins rechte Licht zu rücken. Im Gegenteil: Gerade die Rolle des Orchesters erfuhr in den Wiener Konzerten eine erhebliche Aufwertung, so dass der Mozart-Forscher Marius Flothuis das C-Dur-Konzert KV 467 mitsamt seinem Vorgänger und Nachfolger zu einer Gruppe „sinfonischer Konzerte“ zusammenfasste. Insbesondere die Bläser wurden nun neben dem Klavier und den Streichern zu eigenständigen Akteuren. „Man begreift, daß Mozart in diesen ersten Wiener Jahren keine Sinfonien schrieb: denn diese Konzerte sind sinfonisch im höchsten

Sinn“, konstatierte auch der Mozart-Biograph Alfred Einstein.

Gleich zu Beginn des am 9. März 1785 voll-endeten C-Dur-Klavierkonzerts KV 467 lässt sich dieses orchestrale Denken erkennen: Das im Verlauf des 1. Satzes omnipräsente Hauptthema, das im Übrigen zum Marsch-Idiom früherer Mozart-Konzerte zurückkehrt, wird in

vielfältigen instrumentalen Etappen präsen-tiert. Es erscheint zunächst im Unisono, wird in einem Tutti mit Gegenstimmen angereichert und lässt dann schließlich solistische Bläser hervortreten. Das Klavier steuert nach solch sinfonischer Entfaltung lieber ein eigenstän-diges Thema bei. – „Wie eine von allen Rück-sichten auf die Menschenstimme befreite ide-ale Aria“ erschien Alfred Einstein der 2. Satz. Dessen melodischer Strom über gleichförmi-ger Begleitung droht immer wieder durch schmerzliche Bläsereinwürfe aus der Behag-lichkeit abzugleiten, um dann jedoch mit umso versöhnlicheren Wendungen aufgefangen zu werden. Beim 3. Satz handelt es sich um eine weit vorangetriebene Verschmelzung von Rondo- und Sonatenform. Entsprechend ist das 2. Zwischenspiel wie eine ausführliche Durchführung des Rondo-Themas gestaltet.

Ein geheimnisvolles „Opus ultimum“ – Peter Tschaikowskys „Pathétique“

Am 6. November 1893 fand in St. Petersburg ein Konzert im Andenken an Tschaikowsky statt, der am 25. Oktober verstorben war. Auf dem Programm: Seine Sechste Sinfonie, die er selbst gerade noch zwei Wochen zuvor, am 16. Okto-ber, zur Uraufführung gebracht hatte. „Ihr letz-ter Satz erschien wie das letzte ‚Lebewohl’ des unvergessenen Komponisten“ – so berichtete ein Rezensent von diesem Gedenkkonzert, das einen tiefen Eindruck auf die Hörer machte. Es schien, als ob Tschaikowsky seinen Tod in dieser Sinfonie bereits vorausgeahnt habe,

Handzettel für Mozarts Burgtheater-Akademie am 10. März1785, wo das Klavierkonzert C-Dur KV 467 erstmals erklang

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von A. N. Apuchtin „nahe verwandt“ sei. Um all dem Ausdruck zu verleihen, griff Tschaikowsky nun sogar zu einem nie vorher da gewesenen Mittel: Die übliche Satzfolge einer Sinfonie stellte er zu Gunsten eines langsamen Schluss-satzes um und begründete damit eine Traditi-on, die insbesondere Gustav Mahler wirkungs-mächtig aufgreifen sollte. Um was es freilich genau in dieser „pathetischen“ Sinfonie geht – ein Beiname, den Tschaikowsky erst nach der Uraufführung auf den Vorschlag seines Bruders Modest zufügte – bleibt bis heute ein Rätsel.

„Wir werden das alle einmal durchleben, was Peter Iljitsch hier so erschütternd zum Ausdruck bringt“, lautet der in seiner unkonkreten Be-stimmtheit nur allzu bezeichnende Kommentar des Tschaikowsky-Biographen Richard H. Stein.

Gleich die Einleitung zum 1. Satz verbindet die beiden symbolträchtigen Leitgedanken der Sinfonie: das Motiv der fallenden Sekunde und den absteigenden „Lamento“-Bass. Ihr schwer-mütiges Motiv wird zum Kopf des wie vom Schicksal getrieben wirkenden Hauptthemas

gleichsam sein eigenes „Requiem“ geschrieben habe. Nun sind solche Spekulationen bei letz-ten Werken großer Künstler keine Seltenheit und tragen stets ungemein zur Popularität des betreffenden „Opus ultimum“ bei. Es entbehrt dabei nicht einer gewissen Komik, wenn man über dieselbe Sinfonie in der Kritik der wenige Wochen zuvor stattgefundenen Uraufführung in derselben Zeitung von „einigen Längen“ und einem Mangel an Inspiration lesen kann. Nach dem Tod des Komponisten nun meinte man aber, den Sinn dieser letzten Sinfonie erst so recht verstanden zu haben, denn es konnte

doch wirklich kein Zufall sein, dass sie derart resigniert endet?!

Tschaikowsky hatte bereits 1889 nach der Vollendung seiner Fünften Sinfonie „eine gran-diose Symphonie, welche den Schlussstein meines ganzen Schaffens bilden soll“ ange-kündigt und gehofft, nicht zu sterben, ohne diese Absicht „vollbracht zu haben“. Entwürfe zu einer Es-Dur-Sinfonie, die er später zum 3. Klavierkonzert umarbeitete, stellten ihn nicht zufrieden. Trotz aller Schaffenskrisen blieb das Ziel einer Sinfonie „mit einem geheimen Programm“ jedoch aktuell. Endlich dann im Februar 1893 ging die Arbeit schnell voran und Tschaikowsky konnte seinem Neffen von einer Sinfonie mitteilen, die „mehr denn je von Subjektivität durchdrungen“ sei, dass er in Gedanken daran „nicht selten sehr geweint“ habe. Dem schnellen Kompositionsprozess folgten erneut Selbstzweifel, insbesondere bei der Instrumentation tat sich Tschaikowsky schwer und glaubte schon, man werde „diese Sinfonie schelten oder wenig schätzen“. Dennoch war er sich selbst diesmal so sicher wie nie, „die beste und aufrichtigste“ aller sei-ner Sachen geschaffen zu haben. Irgendetwas zutiefst Persönliches hatte es also doch mit diesem Werk auf sich. Auch die 4. und 5. Sinfo-nie hatte Tschaikowsky ja hinterher schon mit Auslegungen versehen, die seine stets wieder-kehrenden Themen „Leben, Schicksal, Liebe und Tod“ berührten. Diesmal aber leitete ihn von Anfang an jenes „geheime Programm“ und eine Stimmung, die derjenigen einer ihm zur Vertonung angebotenen Requiem-Dichtung

Peter Tschaikowsky, Gemälde von Nikolai Dimitrijewitsch Kusnezow (1893)

Das Tschaikowsky-Haus in Klin, der letzte Wohnsitz des Komponisten, wo er u. a. auch an der „Pathétique“ arbeitete

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Ein Tamtam-Schlag, seit jeher Symbol des Todes, leitet einen Blechbläserchoral ein, der abermals religiöse Bezüge herstellt. Danach senkt sich der Orchestersatz unaufhaltsam in die tiefsten Tiefen herab: „Noch niemand hat sich entschlossen, eine Sinfonie mit einem solchen Schluchzen über dem Grabe enden zu lassen“ (N. Kaškin, 1893).

Julius Heile

im folgenden Sonatensatz. Das gesangliche Seitenthema, von typischen Hornsynkopen be-gleitet, entfaltet sich in fl ehenden Steigerungen und verklingt in einer einsamen Klarinette. Schockartig setzt die wild-dramatische Durch-führung ein, in der die Blechbläser einen Choral des orthodoxen Totenoffi ziums zitieren. Alles steuert auf die Katastrophe mit ihren mächtigen Posaunensignalen zu, vollends in die Tiefe herabsinkend. Danach wirkt das anstelle der Reprise einsetzende Seitenthema wie eine Erlösung aus schweren Seelenqualen. Tatsäch-

lich klingt der Satz mit berührenden Abschieds-gesten aus, die wie befreit in eine hoffnungs-vollere Welt hinüberzuführen scheinen.

Entsprechend ist der 2. Satz ein warmherziger Walzer, der doch kein wirklicher Walzer ist: Erstaunlich, dass die Stilisierung jenes Tanzes so weit gehen kann, dass man ihn hier selbst im unregelmäßigen 5/4-Takt wieder zu erken-nen meint! Der Mittelteil knüpft über ständigem Pochen der Pauke an die absteigende Sekund-motivik des 1. Satzes an.

Auch der 3. Satz schlägt gänzlich andere Töne als diejenigen der Schwermut an: Die fl irrend-Mendelssohnsche Scherzo-Atmosphäre wird hier mit dem Herannahen eines Marsches ge-nial verquickt, der sich durchzusetzen versucht, in voller Gestalt jedoch erst sehr spät (in der Klarinette) erklingt. Zum Ende hin wird allmäh-lich ein großer Triumph ebendieses Marsches vorbereitet, der den Satz mit Blechbläser- und Schlagzeugklängen zu einem Abschluss bringt, wie er sonst nur in Tschaikowskys Finalsätzen anzutreffen ist.

Der 4. Satz jedoch verwehrt sich solcher Tri-umphe: Sogleich setzt er mit klagender Geste ein, die bei ihrer Wiederkehr später jeweils aus der Tiefe aufersteht, um wieder traurig nach unten zu sinken. Ein Mittelteil mit lang gezo-gener Melodie steigert sich sehnsüchtig, bis Tschaikowsky-typische Blechbläsereinwürfe diesem Gefühlsausbruch Einhalt gebieten. Der erste Teil kehrt seufzend wieder und mündet in eine ähnliche Katastrophe wie im 1. Satz.

Tschaikowsky-Haus Klin, Arbeits-und Empfangszimmer mit dem Flügel Tschaikowskys

Peter Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 6 h-Moll „Pathétique“. Skizzen zu den Takten 88 bis 96 und 152 bis 163 des zweiten Satzes (eigenhändige Notenhandschrift)

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NDR SINFONIEORCHESTER

NDR SINFONIEORCHESTER

C2 | Do, 01.12.2011 | 20 UhrD2 | Fr, 02.12.2011 | 20 UhrHamburg, LaeiszhalleAlan Gilbert DirigentYefi m Bronfman KlavierRobert Schumann„Manfred“-Ouvertüre op. 115Witold LutosławskiKonzert für OrchesterJohannes BrahmsKlavierkonzert Nr. 2 B-Dur op. 83

01.12.2011 | 19 Uhr02.12.2011 | 19 UhrEinführungsveranstaltungen

B4 | Do, 15.12.2011 | 20 UhrA4 | So, 18.12.2011 | 11 UhrHamburg, LaeiszhalleL3 | Fr, 16.12.2011 | 19.30 UhrLübeck, Musik- und KongresshalleThomas Hengelbrock DirigentLeonidas Kavakos ViolineJoseph JoachimOuvertüre „In Memoriam Heinrich von Kleist“ op. 13Johannes BrahmsViolinkonzert D-Dur op. 77Joseph HaydnSinfonie D-Dur Hob. I: 104„Londoner“

15.12.2011 | 19 Uhr18.12.2011 | 10 UhrEinführungsveranstaltungen mit Thomas Hengelbrock

Konzertvorschau

Alan Gilbert

Leonidas Kavakos

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JAZZ

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enStars der ZukunftFR 30.09.2011 | 20 UHR | LAEISZHALLENDR SINFONIEORCHESTERDIRIGENT MIHKEL KÜTSONNAREH ARGHAMANYAN KLAVIERTINE THING HELSETH TROMPETELOÏC SCHNEIDER FLÖTEWERKE VON BIZET, IBERT, LISZT

SaxophonesFR 25.11.2011 | 20 UHRROLF-LIEBERMANN-STUDIONDR BIGBAND | LEITUNG JÖRG ACHIM KELLERAMSTEL QUARTETWERKE VON J.S. BACH, RAVEL, NYMAN

BelcantoSO 29.01.2012 | 20 UHRROLF-LIEBERMANN-STUDIONDR RADIOPHILHARMONIE | DIRIGENT LAWRENCE RENESEKATERINA ISACHENKO SOPRANANTONIO POLI TENOR | GORAN JURIC BASSWERKE VON PUCCINI, DVORAK, GOUNOD

Strings & SingingMI 21.03.2012 | 20 UHRROLF-LIEBERMANN-STUDIOWISHFUL SINGING | QUATUOR HERMÈSWERKE VON DEBUSSY, VIRTAPERKO, CALDARA, HAYDN

PianoPianoFR 11.05.2012 | 20 UHRROLF-LIEBERMANN-STUDIONDR CHOR | DIRIGENT PHILIPP AHMANN CHRISTINA UND MICHELLE NAUGHTON KLAVIER-DUOWERKE VON GERSHWIN, BRAHMS, CARTER

9905_pdj_saison_az 1 29.08.11 17:06

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D3 | Fr, 23.12.2011 | 20 UhrHamburg, LaeiszhalleChristoph Eschenbach DirigentChristian Tetzlaff ViolinePaul HindemithKonzertmusik für Streicherund Blechbläser op. 50„Bostoner Sinfonie“Édouard LaloViolinkonzert Nr. 2 d-Moll op. 21„Symphonie espagnole“Antonín DvořákSinfonie Nr. 8 G-Dur op. 88

19 Uhr: Einführungsveranstaltung

Karten im NDR Ticketshop im Levantehaus, Tel. 0180 – 1 78 79 80 (bundesweit zum Ortstarif, maximal 42 Cent pro Minute aus dem Mobilfunknetz), online unter ndrticketshop.de

KAMMERKONZERT

Di, 22.11.2011 | 20 UhrHamburg, Rolf-Liebermann-StudioQUINTETT! fabergé-quintettRodrigo Reichel ViolineFrauke Kuhlmann ViolineGerhard Sibbing ViolaSven Forsberg VioloncelloPeter Schmidt KontrabassYoko Kikuchi KlavierAntonín DvořákStreichquintett G-Dur op. 77Torsten EnckeStreichquintettRalph Vaughan WilliamsKlavierquintett c-Moll

NDR CHOR

Abo-Konzert 2Fr, 18.11.2011 | 20 UhrHamburg, Kulturkirche AltonaIN TEMPORE BELLIPhilipp Ahmann DirigentChristian Schmitt OrgelWerke vonMax RegerFelix Mendelssohn BartholdyHanns EislerZoltán KodályToshio Hosokawa

Christoph Eschenbach

„Die Abenteuer des Prinzen Achmed“Das NDR Sinfonieorchester auf Kampnagel

Nach dem großen Erfolg von „Metropolis“ in der letzten Saison präsentiert sich das NDR Sinfonieorchester im November auf Kampnagel erneut als großes Stummfi lmorchester – wie in den Lichtspielhäusern der 1920er Jahre. Diesmal sind „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ zu erleben, der erste abendfüllende Scherenschnitt-Animationsfi lm der Kinoge-schichte. Mit insgesamt 96.000 abgefi lmten Einzelbildern bannten die Regisseurin Lotte Reiniger und ihr Team das von den Geschichten aus „1001 Nacht“ inspirierte Märchen vom Prinzen Achmed, der gegen Zauberer, Dämonen und Hexen kämpft, auf die Leinwand. Für jede Bewegung schuf die Pionierin des Trickfi lms zahllose fi ligran ausgeführte Scherenschnitte, die sie im Stop-Motion-Verfahren zum Leben erweckte. „Dieser Silhouettenfi lm verwirklicht endlich wieder einmal die wunderbaren und phantastischen Möglichkeiten des Films. Aus den irrealsten Gebilden, aus ganz entstoffl ich-tem Material entsteht über die Traum- und Märchenwelt dieser Bilder hinaus eine zweite, gesteigerte und verwandelte Wirklichkeit“, be-geisterte sich nach der Deutschland-Premiere 1926 der Berliner Börsen-Courier.

Die sinfonische, spätromantische Filmmusik, die das Geschehen auf der Leinwand mit viel märchenhaft-orientalischem Kolorit simultan untermalt, stammt vom bedeutenden deut-schen Filmkomponisten Wolfgang Zeller. Am Dirigentenpult steht Stefan Geiger, der neben seiner Position als Erster Solo-Posaunist des NDR Sinfonieorchesters seit Jahren auch als Dirigent erfolgreich ist.

KA1a | Fr, 25.11.2011 | 20 UhrKA1b | Sa, 26.11.2011 | 20 UhrHamburg, Kampnagel, Jarrestraße 20Stefan Geiger Dirigent„Die Abenteuer des Prinzen Achmed“(1926)Silhouettenfi lm von Lotte Reinigermit der Originalmusik für großesOrchester von Wolfgang Zeller

Szenenbild aus „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“

Herausgegeben vomNORDDEUTSCHEN RUNDFUNKPROGRAMMDIREKTION HÖRFUNKBEREICH ORCHESTER UND CHORLeitung: Rolf Beck

Redaktion Sinfonieorchester: Achim Dobschall

Redaktion des Programmheftes: Julius Heile

Der Einführungstext von Julius Heile ist ein Originalbeitrag für den NDR.

Fotos: Jason Cohn (S. 4)Alexander Basta (S. 5)culture-image | Lebrecht (S. 7)akg-images (S. 9, S. 12, S. 13)akg-images (S. 10)akg-images | RIA Nowosti (S. 11)Mats Lundquist (S. 15 links)Yannis Bournias (S. 15 rechts)Eric Brissaud (S. 16)Deutsches Filminstitut Dif. e. V. (S. 17)

NDR | MarkendesignGestaltung: Klasse 3b, HamburgLitho: Otterbach MedienDruck: Nehr & Co. GmbH

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des NDR gestattet.

ImpressumSaison 2011 / 2012

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Die Konzerte des NDR Sinfonieorchesters hören Sie auf NDR Kultur

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