hartmut lenhard was heißt: kompetenzorientiert ... · „niemand füllt neuen wein in alte...
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Hartmut Lenhard
Was heißt: kompetenzorientiert unterrichten?
Referat vor dem Kollegium des Ratsgymnasiums Bielefeld am 20.2.2008
Es tut sich etwas im Lande. Auslöser waren vielleicht die imposanten
Kopfnoten, die zu einem unüberhörbaren Aufschrei nicht nur der Kollegien
und in seltener Eintracht auch der Schulleiterinnen und –leiter führten,
sondern – man höre und staune – auch der Schüler, Eltern und der Me-
dien. Aber das NRW-Schauspiel, dem man ein rasches Ende herbeiwün-
schen möchte, signalisiert eine Entwicklung, die sich zu einem länderwei-
ten bildungspolitischen Tsunami auswachsen könnte. Erste Anzeichen da-
für zeigten sich bei der Wahl in Hessen, in Hamburg steht zu erwarten,
dass die Bildung vielleicht ausschlaggebend werden könnte, in Nieder-
sachsen kündigte der inzwischen amtsentsetzte Schulminister Busemann
einen eiligen Vorstoß bei der KMK an, selbst die strammen Bayern sind
sich ihrer Vorreiterrolle nicht mehr ganz so sicher. Man muss nicht regel-
mäßiger Bildzeitungsleser sein, aber die Schlagzeile am 4.2. hatte es in
sich: „Wie die Schule unsere Kinder krank macht“. „Kinder als Stopfgänse“
titelte die Süddeutsche einen Tag später Bild 2: „Wer die Schulzeit ver-
kürzt, muss zuerst die Lehrpläne entrümpeln, sonst wird die Schule zur
Qual.“ Ich zitiere:
„Das Stopfen von Gänsen ist in Deutschland verboten, weil es eine
Quälerei ist. Es fügt den Tieren Prellungen zu, sie erleiden Knochen-
brüche, Entzündungen und Organstörungen.
Die Stopfleber ist das Produkt einer Pein. Genauso kann es Kindern
ergehen, denen in großer Eile viel Stoff in die Köpfe gestopft wird.
Auch wenn die Schule Anstrengungen verlangen muss: Ziel der
Schule ist nicht der Stopfkopf. Der Weg zum Abitur darf nicht als
Tortur erlebt werden.“
Es hieße Eulen nach Athen tragen, in diesem Forum anzumerken, dass
auch Lernstandserhebungen, zentrale Prüfungen, Qualitätsanalyse – und
was dergleichen Erfindungen leistungskontrollverliebter Administration
2
sein mögen, den Druck im System bis zu einem Punkt erhöhen können, an
dem schülergerechtes und sachgemäßes Lehren und Lernen zur Farce
werden.
Es fällt nicht schwer, als Ursache allen Übels die hektische Betriebsamkeit
auszumachen, in die die Bildungsbürokratie allerorten verfallen ist, seit die
bekannten wohlfeilen Unheilsbotschaften à la Pisa am Lack der deutschen
Schule heftig gekratzt haben. Ein Paradigmenwechsel sei einzuleiten, so
die Expertise der Klieme-Kommission „Zur Entwicklung nationaler Bi l-
dungsstandards“ Bild 3; es gelte, die Schule und den Unterricht vom En-
de her zu denken und – um mit dem unnachahmlichen Diktum Helmut
Kohls zu sprechen – zu schauen, was hinten rauskommt. Etwas manierli-
cher formuliert: Bildungsstandards formulieren
„Anforderungen an das Lehren und Lernen in der Schule. Sie benen-
nen Ziele für die pädagogische Arbeit, ausgedrückt als erwünschte
Lernergebnisse der Schülerinnen und Schüler und Schüler.“ (Klieme
2003,12)
Die Umsteuerung des gesamten Bildungswesens, die seit 2003 im Gange
ist, verbindet sich seither mit verheißungsvollen Zauberworten wie Bil-
dungsmonitoring, Qualitätssteigerung, Outcome, Schulevaluation, Testver-
fahren etc. Kern dieses Perspektivenwechsels ist der Kompetenzbegriff,
der zusammenfasst, was Schülerinnen und Schüler am Ende eines Bi l-
dungsabschnitts können sollen. Klick
„Bildungsstandards konkretisieren die Ziele in Form von Kompetenz-
anforderungen. Sie legen fest, über welche Kompetenzen ein Schü-
ler, eine Schülerin verfügen muss, wenn wichtige Ziele der Schule
als erreicht gelten sollen.“(Klieme 2003, 21)
Es konnte nicht ausbleiben, dass von der Seite der Praktiker fast reflexar-
tig der Vorwurf zu hören war, das seit doch nichts Neues. Schließlich habe
man die unselige Zeit der Lernzieleuphorie in den 70er Jahren glückli-
cherweise hinter sich. Eine Lernzielorientierung rediviva wiederhole nur
die alten Fehler, aus denen die pädagogischen Heilsbringer offenbar nichts
3
gelernt hätten. Hier werde nur wieder ein neues Mantra1 kreiert in der
Hoffnung, diese Beschwörungsformel könne die Probleme des deutschen
Schulsystems wenn nicht lösen, so doch in einen nomenklatorisch ent-
rückten Zustand überführen, so dass sich die Fakten der Schulwirklichkeit
nicht mehr so hart im Raume stoßen mögen. Haben Politiker und Bil-
dungswissenschaftler – so war zu hören - nichts anderes zu tun, als wie-
der einmal einer mehr oder weniger fetten Sau hinterher zu jagen, die da
durchs pädagogische Dorf getrieben wird? Fazit: Nichts als „alter Wein in
neuen Schläuchen“!
Ich lasse diese oft frustgeborenen Attacken im Augenblick einmal außen
vor. Versuchen wir, uns der Frage, was denn eigentlich Kompetenzen sei-
en, auf andere Weise zu nähern. Vielleicht können wir auf diese Weise der
Kompetenzorientierung auch etwas Positives abgewinnen.
§ Übersicht über das Referat Bild 4
1. Alter Wein in neuen Schläuchen – ein Exempel Stellen wir uns einmal einen Schüler der Jahrgangsstufe 11 vor, der sich
etwa im Fach Deutsch der Lektüre eines Romans oder einer Kurzgeschich-
te zu unterziehen hat oder der sich aus reiner Lust am Lesen an einen di-
cken Wälzer wie etwa Richard Powers „Klang der Zeit“ herangewagt hat.
Nennen wir ihn biblisch bedeutungsschwer Jakob. Der Text bietet keine
besonderen Schwierigkeiten, da stolpert Jakob über eine Passage, in der
der Protagonist ausruft: „Das ist doch alter Wein in neuen Schläuchen!“
Jakob stutzt – wenn er sich denn den Text nicht einfach ‚reinzieht’, son-
dern ihn in seiner sprachlichen Gestaltung wahrnimmt und verstehend
liest. Wein und Schläuche – wie passt das zusammen? Und was soll dieser
Ausruf eigentlich bedeuten? Bild 5 Selbstreguliertes Lernen ist angesagt.
Jakob greift auf die unerlässlichen Hilfsmittel eines Schülers zurück: In
Wikipedia findet er eine erste Auskunft:
„Schon in der Antike wurden Vorräte in flexiblen Behältern aus Leder
oder Tierdärmen aufbewahrt, die als Schläuche bezeichnet wurden.“
1 Oelkers, J. [2004]: Bildungsstandards vor dem Hintergrund der Schulgeschichte. In: ZPT 3/04, S. 195-205 (195).
4
„Als Weinschlauch werden elastische Gebinde bezeichnet, in denen
Wein gehandelt und aus denen Wein abgezapft wird. In der Antike
und im Mittelalter waren Weinschläuche neben Amphoren und
Fässern ein gängiges Transportmittel.“2
Und siehe da: Ohne große Mühe entdeckt unser Schüler eine antike Pla-
stik, die einen Mann mit einem Weinschlauch zeigt. Bild 6
Aber was bedeutet der Ausruf? Sollte dies vielleicht eine Redensart sein?
Im Online-Lexikon für Redensarten3 findet Jakob die Erklärung: Bild 7
„den gleichen Inhalt auf andere Weise präsentieren oder anders be-
nennen; Täuschungsmanöver“.
Und als Beispiele werden u.a. angegeben:
"Mehr als nur alter Wein in neuen Schläuchen? Eine kritische Bilanz
der rot-grünen Sozialpolitik" - "Unter dem Strich bleibt über: Hier
wird mit viel Show alter Wein in neuen Schläuchen präsentiert".
Doch halt! Im Experten-Forum ‚Wer-weiß-was’ stößt Jakob auf eine uner-
wartete Entdeckung:
„Hi Alex
Anfrage zu: "Alter Wein in neuen Schläuchen"
Zitat von Jesus z.B. Mk 2,22.
Gruß
Metapher“4
Er hätte es sich denken können: Wie so oft liegt auch dieser Redensart
eine Bibelstelle zu Grunde. Mk – das kann nur das Markus-Evangelium
sein, Kapitel 2, Vers 22. Bild 8
„Niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche; sonst wird der Wein
die Schläuche zerreißen, und der Wein geht zugrunde samt den
Schläuchen. Sondern neuen Wein [füllt man] in neue Schläuche.“
Merkwürdig, hier ist von neuem Wein in alten Schläuchen die Rede, in
der Redensart von altem Wein und neuen Schläuchen. Die Erklärung
aus dem Online-Wörterbuch passt überhaupt nicht auf das Bibelwort.
2 Wikipedia, Artikel Schlauch und Weinschlauch. 3 http://www.redensarten-index.de/suche.php?suchbegriff=alter+Wein+in+neuen+Schl%E4uchen&bool=relevanz&suchspalte%5B%5D=rart_ou 4 http://www.wer-weiss-was.de/theme143/article1402955.html
5
Reizvoll, ein solcher Widerspruch. Er fordert geradezu zum Nachdenken
heraus.
Unser Schüler braucht nicht lange, um das Bildwort zu entschlüsseln.
Schließlich hat er im Religionsunterricht gelernt, dass es bei biblischen
Bildworten nicht darauf ankommt, Einzelheiten auszudeuten, sondern die
Pointe zu entdecken. Warum wird beim Federweißen der Deckel nicht luft-
dicht aufgeschraubt, sondern nur aufgesetzt? Weil sich der junge Wein
ausdehnt und den Deckel absprengen, vielleicht sogar die Flasche platzen
lassen würde. Also eine auch heute nachvollziehbare Alltagserfahrung, die
nicht anders auch in der Antike jedermann geläufig war. Ein alter Tierfell-
schlauch ist zu unelastisch für Most, der noch nicht ausgegoren ist. Nur
ein neuer Schlauch passt zu neuem Wein.
Neugierig schaut sich Jakob den Kontext des Verses an. Er weiß, dass die
Evangelien erzählerische Kompositionen sind und dass man Einzelverse
nicht isolieren darf, sondern aus dem Zusammenhang erklären muss. Bild
9Klick1-3 In Vers 21 liest er:
„Niemand näht ein Stück ungewalktes Tuch auf ein altes Kleid; sonst
reißt das Flickstück [einen Teil] von ihm ab; das neue von dem al-
ten, und der Riss wird schlimmer.“
Walken – Wikipedia gibt wie immer Auskunft5:
„Bei der Tuchherstellung ist Walken ein Arbeitsvorgang, der mit Filz
vorgenommen wird und den Zweck hat, durch Verfilzung der Fasern
im Gewebe Tuch und tuchartige Stoffe zu erzeugen. Die ursprüngli-
che Methode, insbesondere Wolle zu walken, ist, den Filz in Tücher
einzuschlagen und rollend zu kneten.“
Das „Walken bewirkt ein gegenseitiges Durchdringen der einzelnen
Fasern. Die aufgestellten Schuppen verkeilen sich so stark ineinan-
der, dass sie nicht mehr zu lösen sind. Das Werkstück schrumpft
dabei stark und es ergibt sich ein fester Stoff.“
Jakob braucht nicht viel Vorstellungskraft, um sich auszumalen, was pas-
siert, wenn ein ungewalkter Flicken einen Riss in einem Gewand überde-
5 Stichworte Walken und Filz.
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cken soll. Beim letzten Waschen ist sein gerade erst gekauftes T-Shirt lei-
der auf die Größe seines 10-jährigen Bruders eingelaufen. Und bei einem
Gewand, das ohnehin schon etwas marode zu sein scheint, dürfte der ab-
sehbare Schrumpfprozess in der Katastrophe enden. Also auch hier eine
Alltagserfahrung. Das eine muss zum andern passen – das ist die Poin-
te.
Jakob ahnt, dass der Sinne der beiden Bildworte sich nicht in haushalts-
technischen Plausibilitäten erschöpft. Und richtig: Es geht in der Perikope
um eine religiös relevante Frage: „Warum fasten die Jünger des Johannes
und die Jünger der Pharisäer, die Jesusjünger aber nicht?“ Bild 9 Klick Da
muss unser Schüler schon etwas tiefer einsteigen. Wer ist dieser Johan-
nes? Wer sind seine Jünger, warum fasten sie? Inwiefern verbindet das
Fasten die Johannesjünger mit den Pharisäern? Soviel immerhin ist unse-
rem Schüler nach der Konsultation des einschlägigen Wikipedia-Artikels
klar: Fasten ist ursprünglich ein religiöser Ritus zur Reinigung der Seele,
Abwehr des Bösen, verbunden mit Trauer über das eigene Tun und Bereit-
schaft zur Umkehr. Und dann ergibt der Text einen Sinn Bild 9Klick:
„Da sprach Jesus zu ihnen: Können etwa die Hochzeitsleute fasten,
während der Bräutigam bei ihnen ist?“
Es passt einfach nicht zu einer Hochzeit zu fasten. Da ist Freude und
Schlemmen angesagt, nicht Askese und Trauer. Und deshalb verbietet
sich während der Präsenz Jesu bei seinen Jüngern das Fasten. Die Zeit der
anbrechenden Herrschaft Gottes ist Zeit der Freude, auch wenn die Schat-
ten des Todes bedrohlich in die Gegenwart hineinragen. Die beiden Bild-
worte sind der schlagende Beleg: Das weiß doch jeder, wie es mit dem
Flicken und den alten Schläuchen ist!
Wir verlassen unseren Schüler und begeben uns auf die Metaebene. Eia
wär’n wir da, wird manch einer von Ihnen seufzen. So einen Schüler
möchte ich auch mal haben. In der Tat: ich habe ihnen eine Utopie er-
zählt, wie forschendes, selbstreguliertes Lernen aussehen könnte, so vol-
ler Neugier, Motivation und dem Willen, die Stolpersteine aus dem Weg zu
räumen, das Problem zu knacken, das sich dem Lese- und Verstehenspro-
7
zess unerwartet gestellt hat. Aber träumen wir nicht alle davon, dass un-
ser Unterricht Schüler nicht nur zu einer solchen Grundhaltung ermutigt,
sondern ihnen auch das notwendige Wissen und die erforderlichen Fähig-
keiten mit auf den Weg ihres Lernens und Lebens gibt?
Im Falle unseres Schülers ist das eine ganze Menge: Bild 10
Da ist zunächst einmal die Tatsache, dass der Schüler überhaupt etwas
wahrnimmt und nicht nichts Klick. Es bedarf eines geschulten Augen-
merks auf Divergenzen, Unstimmigkeiten, Unerwartetes und Unbekann-
tes, auf Anstößiges und Widerborstiges, um nicht über Frag-würdigkeiten
jeder Art im Tiefflug hinwegzugleiten. Und es bedarf einer motivationa-
len Prioritätensetzung, zur Aufklärung solcher Phänomene Zeit zu in-
vestieren und sich in ein Problem zu verbeißen.
Dann braucht unser Schüler Instrumente und Hilfsmittel, die er metho-
disch sachgemäß verwenden muss Klick. Es genügt nicht, einfach wahl-
los vor sich hin zu googeln, die Perle im Misthaufen des Internets findet
ein Schüler in den seltensten Fällen! Aber es braucht auch nicht immer
und unbedingt das Fachkompendium. Wichtiger ist, dass unser Schüler
gezielt in validen Datenbanken sucht und die Fähigkeit besitzt, aus der
Vielzahl der Informationen genau die herauszuklauben, die seine Fragen
treffsicher beantworten.
An dritter Stelle lässt sich beobachten, dass unser Schüler gekonnt den
Sinn einer Redewendung deutet Klick und damit zeigt, dass er ein elabo-
riertes Textverständnis erreicht hat, das sich nicht einfach mit dem Wort-
laut zufrieden gibt. All dies könnte er in einem guten Deutschunterricht
gelernt haben. Aber jetzt beginnt es für den Religionsunterricht interes-
sant zu werden.
Schon bei der einfachen Auflösung der biblischen Abkürzungen scheitert
manch ein Oberstufenschüler, ganz zu schweigen davon, die richtige Stelle
im Alten oder Neuen Testament nun auch in überschaubarer Zeit aufzu-
schlagen: Verfügung über biblisches Elementarwissen, das bei der Be-
arbeitung konkreter Aufgaben aktualisiert werden kann, ist gefragt! An-
spruchsvoller sind grundlegende Kenntnisse über die Komposition von
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Evangelien, die unser Schüler benötigt, um einen biblischen Text in sei-
nem Kontext zu verstehen. Schließlich muss er wissen, worauf es bei der
Interpretation von Bildworten und Gleichnissen ankommt, dieses Wissen
auf ein ihm unbekanntes Bildwort anwenden und es in Zusammenhang
bringen mit der Botschaft von der anbrechenden Herrschaft Gottes – eine
durchaus oberstufengemäße Aufgabe des Religionsunterrichts!
Unser virtueller Schüler ist also – das können wir beglückt feststellen – in
mancher Hinsicht kompetent – hoffen wir, dass er diese Kompetenzen
durch unseren Unterricht und nicht trotz des Unterrichts erworben hat!
2. Ein Quäntchen Theorie: Der Kompetenzbegriff
Befassen wir uns etwas genauer mit dem Kompetenzbegriff, der in der
gegenwärtigen Debatte eine so große Rolle spielt.
Kehren wir zunächst zurück zu unserem Beispiel: Zerlegt man das Vorge-
hen des Schülers in einzelne Operationen (wie geht er vor?) und ver-
steht man diese als Indikatoren für dahinter liegendes Wissen, für Fä-
higkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen, dann gelangt man zu einer De-
finition dessen, was mit Kompetenzen gemeint ist: Bild 11
Kompetenzen sind Dispositionen, die dazu befähigen, unterschiedl i-
che konkrete Anforderungssituationen in einem bestimmten Lern-
oder Handlungsbereich erfolgreich zu bewältigen. Sie stellen die Ver-
bindung zwischen Wissen und Können her und werden daher als er-
lernbare kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie als damit ver-
bundene motivationale, volitionale (also: den Willen betreffende)
und soziale Bereitschaft und Fähigkeit aufgefasst.6
Dazu einige Anmerkungen:
1. Zunächst fällt auf, dass der Kompetenzbegriff vorrangig auf kognitive
Leistungen bezogen ist. Gemeint ist ein systematisch aufgebautes Wis-
sen, dessen Elemente miteinander vernetzt und in unterschiedlichen Kon-
texten verfügbar sind, das also auch die Prozeduren einschließt, wie mit
6 Vgl. Lenhard, H./Obst, G. [2006]: Kompetenzen und Standards. Was zeichnet einen kompetenz- und stan-dardorientierten Evangelischen Religionsunterricht aus? Thesen zu einem notwendigen Perspektivenwechsel. In: entwurf 2.2006, 55-58 (55).
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Wissen umgegangen werden muss. Der Kompetenzbegriff fasst daher un-
terschiedliche kognitive Leistungen zusammen, ist also als integraler Be-
griff zu verstehen.
2. ist der Kompetenzbegriff auf konkrete Anforderungssituationen be-
zogen, die einer Bearbeitung oder Lösung bedürfen. Dahinter steht die
Vorstellung, dass jeder von uns mit einer unüberschaubaren Menge von
situativ zu bewältigenden Aufgaben, Problemen, Fragen und Herausforde-
rungen zu tun hat, denen er nur gewachsen ist, wenn er über ein adäqua-
tes Wissen und Können verfügt. Kompetenzen sind also nicht einfach als
‚Problemlösefähigkeit’ zu beschreiben, sondern als flexibles Antworten auf
vielfältige Anforderungen, die das Leben – das persönliche, das soziale,
das berufliche, das gesellschaftlich-politische - stellt.
3. gehören zu den kognitiven Kompetenzen auch bestimmte Einstellun-
gen, die meine individuellen Interessenlagen, meinen Willen, aber auch
meine Bereitschaft und Fähigkeit betreffen, mit anderen zusammen zu ar-
beiten oder auch Aufgaben allein anzugehen. Ohne diese grundlegenden
Einstellungen, die stärker in emotionale Bereiche hineinreichen, hingen die
kognitiven Fähigkeiten in der Luft, weil ihnen sowohl Antriebskraft als
auch Richtung fehlten.
4. sind Kompetenzen überdauernde Dispositionen, die durch einen nach-
haltig wirkenden Lernprozess aufgebaut werden. Gehirnphysiologisch ge-
sprochen werden durch kumulatives und einübendes Lernen stabile neu-
ronale Vernetzungen aufgebaut, so dass Wissen im Langzeitgedächtnis
abgespeichert und flexibel verfügbar ist.
5. Schließlich – und das ist für unseren Zusammenhang entscheidend –
sind Kompetenzen domänenspezifisch, d.h. auf bestimmte Lern- und
Handlungsbereiche bezogen. Wissenserwerb geschieht nämlich nicht ein-
fach in austauschbaren unspezifischen Situationen, sondern ist gebunden
an konkrete Kontexte und Inhalte. Es ist – um das nebenbei zu bemerken
– eine groteske Fehleinschätzung, dass ein Schüler, der gelernt hat, in ei-
nem Sachtext über das Leben der Maulwürfe Schlüsselwörter anzustrei-
chen, dies auch in einem Gryphius-Gedicht können sollte. Soviel zum
10
Thema Klippert. Die Stärke des Kompetenzbegriffs liegt daher darin, dass
er das fachspezifische Lernen betont.
Deshalb trifft der Vorwurf auch nicht zu, wer Kompetenzen als Ziel des
Unterrichts einführe, entwerte die Sache. Im Gegenteil: Der Kompetenz-
begriffs richtet sich wohl gegen die Anhäufung rein deklarativen, trägen
Wissens, besteht aber darauf, dass fachliches Wissens verfügbar sein
muss, aber so, dass seine Funktion bei der Lösung von Aufgaben, Proble-
men, Fragen und Anforderungen zur Geltung gebracht wird.
Die Klieme-Expertise verzichtet deshalb nicht auf curriculare Festlegun-
gen. Zwar ist nicht jeder Unterrichtsgegenstand für den Erwerb von Kom-
petenzen geeignet. Und nicht jeder Sachverhalt, der in der Systematik der
Fachwissenschaft durchaus einen gewichtigen Stellenwert hat, muss auch
mit Schülerinnen und Schülern durchgehechelt werden. Schon gar nicht,
da es keinen „verbindlichen Bildungskanon in der Gegenwart mehr gibt“
(Klieme 2003, 97). Deshalb setzt die Klieme-Kommission nicht mehr auf
Lehrpläne traditionellen Zuschnitts, die minutiös das Lehren und Lernen
reglementieren, sondern auf Kerncurricula Bild12:
„Kerncurricula bezeichnen nicht das Totum, sondern allein das un-
entbehrliche Minimum der Themen, Inhalte und Lehrformen der
Schule.“ (Klieme 2003, 97)
Wenn diese Botschaft doch in der Schuladministration angekommen wäre!
Dann nämlich hätten die einzelnen Schulen genügend Freiräume für eine
fachliche Profilbildung, könnten selbst entscheiden, wie ein schulspezifi-
sches Curriculum, wie fachspezifische Bildungsgänge aussehen, die Kom-
petenzen der Schülerinnen und Schüler nachhaltig fördern. Aber Lehrpläne
haben halt ihr Eigenleben. Sie haben kein Verfallsdatum, sondern sind in
der Regel Abschriften von Abschriften von Abschriften. Sie neigen dazu,
bei jeder Revision opulenter auszufallen, da jeder Lehrplanexperte davon
überzeugt ist, dass seine Spezialgebiete unausweichlich in einem neu zu
formulierenden Plan vertreten sein müssen. Vor allem hat das von Klafki
schon 1958 publizierte Prinzip des Exemplarischen so gut wie keinen Ein-
gang in die Lehrpläne gefunden. So kommt es auch nicht von ungefähr,
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dass in manchen aktuellen G8-Kerncurriula eine Regelungswut Platz ge-
griffen hat, die ein Verständnis für den Charakter von Kerncurricula und
von Kompetenzen vermissen lässt. Im Fach Deutsch beispielsweise sollen
die Schüler im Laufe der Sekundarstufe I nicht weniger als 81 fachliche
und 28 methodische Kompetenzen erwerben, insgesamt also 109. Der
Verdacht liegt nahe, dass die Autoren sich damit begnügt haben, die bis-
heriger Inhaltskataloge in Verbalformulierungen zu transformieren. We-
sentlich plausibler ist der Ansatz im Fach Mathematik, bei dem 8 Kern-
kompetenzen vorgegeben sind. Einleuchtend erscheint mir auch das Kon-
zept des Kerncurriculums Englisch, das von 3 Kernkompetenzen ausgeht,
denen jeweils zwischen 5 und 7 inhaltsbezogene Teilkompetenzen zuge-
ordnet sind. Übrigens sind die Kernkompetenzen stringent auf konkrete
alltägliche Anforderungssituationen bezogen.
Nach den einschlägigen Zeitungsmeldungen der letzten Wochen hat es
den Anschein, als gewönne die Einsicht Raum, dass diese Kerncurricula
noch nicht das letzte Wort zur Sache sein können.
3 Was heißt: kompetenzorientiert unterrichten?
Was hat das alles mit der alltäglichen Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern
zu tun? Schüler haben auch bisher gelernt, wir haben sie mit einer Vielfalt
von Themen und Gegenständen konfrontiert und vertraut gemacht, wir
haben sie in ihrer individuellen Entwicklung beobachten und begleiten
können und schließlich haben wir ihnen bescheinigt, dass sie die Anforde-
rungen des Abiturs erfüllt haben. Was also sollte sich ändern, wenn nun
von Kompetenzen, Standards und Kerncurricula die Rede ist?
Ich möchte Ihren Blick jetzt nicht auf die bekannten Tests und Erhebun-
gen richten, mit denen überprüft werden soll, ob die vorgegebenen Stan-
dards auch erreicht sind. Manche Kolleginnen und Kollegen starren auf de-
rartige Überprüfungsformen wie das Kaninchen auf die Schlange. Da wird
dann gelegentlich das Gespenst des „Teaching to the test“ ebenso be-
schworen wie die Gefahr, dass statt Kompetenzen nur Testlösungsfähig-
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keiten eingeübt werden7. Allerdings sind wir von den gängigen Praktiken
einer Testeritis wie in den USA oder auch in England noch weit entfernt
und müssen vermutlich aufgrund unserer völlig andersartigen Bildungs-
tradition nicht befürchten, dass eine solche überhand nehmen wird. Ich
empfehle also eine gewisse Portion Gelassenheit, selbst wenn der verord-
nete Arbeitsaufwand im Verhältnis zum Ertrag eher bescheiden sein dürf-
te.
Stattdessen geht es mir um den Unterricht.
Kompetenzen entwickeln sich nicht von heute auf morgen. Sie müssen
angebahnt und allmählich eingeübt, bewusst gemacht und ausdifferenziert
werden. Schüler können verschiedene Kompetenzniveaus erreichen, sie
können Mindeststandards erfüllen, Regelstandards, aber auch Exzellenz-
standards. Wie aber kommen sie dahin?
1. Kompetenzorientiertes Unterrichten unterscheidet sich von herkömmli-
chem Unterricht durch den konsequenten Blick auf das, was Schülerinnen
und Schüler am Ende ihrer Lernzeit wissen und können sollen und wozu
sie bereit sind. Kompetenzen können daher nur langfristig aufgebaut wer-
den. Deshalb ist für den kompetenzorientierten Unterricht das Prinzip der
Nachhaltigkeit essentiell. Wissen, Fähigkeiten und Einstellungen sollen
nicht nur punktuell und aktuell – etwa für Zwecke einer Klausur - abrufbar
sein, sondern müssen langfristig verankert werden. Eine solche Veranke-
rung erzielt der Unterricht nur dann, wenn er in einen sequentiellen Bi l-
dungsgang integriert ist, dessen Elemente auf den dauerhaften Kompe-
tenzerwerb ausgerichtet sind. Es gilt also, vor Ort einen in sich stimmigen
Lehr- und Lernprozess über den gesamten Zeitraum hin zu konzipieren, in
dessen Verlauf die erforderlichen Kompetenzen sukzessive und mit wach-
sendem Ausprägungsgrad erworben werden können. Ein solcher Prozess
muss im Sinne kumulativen Lernens spiralförmig und sequentiell ange-
legt werden, der insbesondere auf eine konstant einübende und wie-
derholende Vernetzung von Wissen setzt. Dabei kommt es weniger
7 Vgl. dazu Fischer, D. [2004]: Bildungsstandards und Kompetenzen. In: ZPT 3/2004, 205-212 (210).
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auf Quantität an, als auf die Durchdringungstiefe, die Verfügbarkeit des
Gelernten und dessen Transferfähigkeit. Lernen im Unterricht braucht
Zeit und Nachdenklichkeit.
Dies ist zunächst eine Aufgabe für die Fachkonferenzen Bild13. Sie erhal-
ten durch das Kompetenz-Konzept eine Schlüsselfunktion. Denn sie ver-
mitteln zwischen Standards und Kompetenzen auf der einen Seite und
Kerncurricula auf der anderen. Die Kolleginnen und Kollegen müssen sich
darüber abstimmen, wie sie fachliche Lernprozesse in den einzelnen Jahr-
gangsstufen so aufeinander aufbauend konzipieren können, dass Schüle-
rinnen und Schüler am Ende über ausdifferenzierte Kompetenzen verfü-
gen. Dies ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die nur gelöst werden kann,
wenn der Wille zur Zusammenarbeit vorhanden ist, verbindliche Abspra-
chen getroffen und eine verlässliche Praxis etabliert werden.
2. Aber nicht nur die konzeptuelle Ebene ist zu bedenken. Kompetenzen
dienen dazu, „konkrete Anforderungssituationen eines bestimmten Typs“
(Klieme 2003, 72) zu bewältigen. Derartige Anforderungssituationen sind
dadurch qualifiziert, dass sie letztlich der „Initiation in die für das Leben
notwendigen Modi der Welterschließung“ (Klieme 2003, 97) dienen. Wenn
also Schülerinnen und Schüler sich ihre Welt in einer differenzierten Weise
aneignen und sich in ihr zurechtfinden sollen, dann müssen solche pro-
blemhaltigen Situationen auch zum didaktischen Ausgangspunkt des
Lehrens und Lernen im Unterricht selbst werden. Dies sind alltägliche oder
herausgehobene Konstellationen, Fälle, Lagen und Momente, in denen der
Einzelne sich zu konkreten Herausforderungen verhalten oder in denen er
selbst handeln muss. In solchen Situationen können sich z. B. Fragen stel-
len, die geklärt, beantwortet oder beurteilt werden sollen, Aufgaben, die
zu bewältigen sind, oder Probleme, die gelöst werden müssen. Kompeten-
zen können sich dann entwickeln, wenn die Schüler sich mit Lernkontex-
ten konfrontiert sehen, die selbst einen wirklichkeitserschließenden ‚Ernst-
fallcharakter’ haben. Das zu erwerbende fachliche Wissen sollte also von
vornherein in konkreten Anforderungssituationen erworben und auf An-
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wendungssituationen bezogen wird, in denen die Kompetenzen zugleich
entwickelt, erprobt und nachgewiesen werden können:
„Die Verknüpfung von Wissen und Können darf also nicht auf Situa-
tionen ‚jenseits der Schule’ verschoben werden. Vielmehr ist bereits
beim Wissenserwerb die Vielfalt möglicher Anwendungs-Situationen
mit zu bedenken.“ (Klieme 2003, 79)
Was heißt das? Ich versuche, diese Überlegung an einem Beispiel aus dem
Religionsunterricht zu verdeutlichen Bild14.
3. Im Februar 2006 wurde die islamische Welt durch eine Welle der Empö-
rung über Karikaturen erschüttert, die in einer dänischen Zeitung im Sep-
tember 2005 abgedruckt worden waren und den Propheten Mohammed
mit terroristischer Gewalttätigkeit islamistischer Kreise in Verbindung
brachten. Dass die geschilderte Situation in bedrückender Weise den ak-
tuellen Konflikt zwischen westlicher und islamischer Zivilisation spiegelt,
liegt auf der Hand. In ihr bündeln sich wie in einem Brennglas eine Viel-
zahl von Fragen und Problemen, deren Reichweite sich auf unterschiedl i-
che Segmente des gesellschaftlichen Lebens erstrecken. Auch wenn nicht
verkannt werden darf, dass die politische Funktionalisierung religiöser An-
schauungen in diesem Fall alle anderen Aspekte überlagert und das ag-
gressive Potential der öffentlichen Proteste ausmacht, tangiert der Konflikt
doch religiöse Vorstellungen, die zum Kernbestand des Islam, aber auch
des Christentums und Judentums gehören. Der Konflikt hat daher keines-
wegs nur eine punktuelle Bedeutung, steht stellvertretend für wider-
sprüchliche Grundeinstellungen, die jederzeit wieder in anderen Konstella-
tionen, Situationen und Problemlagen aufbrechen können. Insofern ist er
auch für den Religionsunterricht von exemplarischer Bedeutung. Welche
Schritte sind hier im Sinne einer kompetenzorientierten Anlage des Unter-
richts zu gehen?
1. Die Vielzahl der Fragen und Probleme, die mit dieser politisch-religiösen
Situation zusammenhängen, stellen die Schülerinnen und Schüler vor die
Herausforderung, wie sie sich angesichts der zunehmenden Brisanz der
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kulturellen Antagonismen verhalten und positionieren wollen. Auf den ein-
zelnen Stufen des Bildungsgangs können diese Fragen in unterschiedl i-
chem Komplexitätsgrad aufgenommen und bearbeitet werden. So könnte
die Leitfrage etwa in einer Jahrgangsstufe 11 lauten: Wie kommt es,
dass sich Muslime durch die karikaturistische Darstellung Mohammeds in
schwerwiegender Weise in ihrem Glauben beleidigt fühlen, und welche
Konsequenzen hat dies für das Zusammenleben und den Umgang mit
Muslimen?
2. Die politische, religiöse und kulturelle Tragweite und Bedeutung die-
ser weltweit artikulierten Empörung ist noch unübersehbar. Ihre Analyse
wird unterschiedliche Ebenen, Dimensionen und Deutungsmuster einbe-
ziehen müssen. Im Religionsunterricht ist zunächst einmal das unmittelba-
re Zusammenleben mit muslimischen Mitschülerinnen und Mitschülern be-
rührt, dessen religiöse Implikationen erschlossen werden müssen, um an-
gemessene Verhaltensweisen zu ermöglichen. Darüber hinaus geht es um
grundlegende Probleme des Selbstverständnisses, des Stellenwertes und
der Funktion der Religionen in der modernen, von Widersprüchen und Un-
gleichzeitigkeiten geprägten Welt. Die gegenwärtigen und wohl auch künf-
tigen religiös bedingten Konflikte können Schülerinnen und Schüler nur
verstehen, wenn Sie über das Oberflächenphänomen des konkreten Ver-
haltens zu Muslimen hinaus zu Sinn und Bedeutung religiöser Grundüber-
zeugungen vordringen und ihre eigenen Einstellungen dazu klären.
3. Bei der Bearbeitung dieser Situation dürften Einstellungen der Schüler
ins Spiel kommen, die von Gleichgültigkeit gegenüber religiösen Überzeu-
gungen und der Grundanschauung geprägt sind, jeder könne im religiösen
Bereich vertreten, was er wolle. Auch mit tief greifenden Vorurteilen und
Missverständnissen ist zu rechnen; genauere Kenntnisse über den
Glaubenshintergrund fehlen vermutlich.
4. Damit Schüler mit dieser Situation sachgemäß umgehen können, brau-
chen sie Wissen über die absolute Bildlosigkeit Allahs und deren zentrale
Stellung im Islam sowie über die von ihr ausgehenden Vorbehalte gegen-
über der bildlichen Darstellung der Geschöpfe. Außerdem müssen die
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Schüler verstehen, warum insbesondere Mohammed durch das Bilderver-
bot vor vergötternder Anbetung geschützt wird. Die Besonderheit des
moslemischen Bilderverbots wird erst im Vergleich zur biblischen Überlie-
ferung und zur jüdischen und christlichen Tradition und Geschichte des
Bilderverbots erkennbar. In der Aufarbeitung dieser Wissensbereiche er-
werben die Schüler die Fähigkeit, die Empörung der Moslems zu verste-
hen und vor dem Hintergrund moslemischer Glaubensgrundlagen zu deu-
ten, aber auch die Fähigkeit und Bereitschaft, mit moslemischen Mitschü-
lern darüber zu kommunizieren und deren Anschauung zu respektie-
ren. Zugleich eignen sich die Schülerinnen und Schüler die Fähigkeit an,
den differenzierten Umgang mit Bildern in der christlichen Kirche als theo-
logischen Reflex der Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen und der Mensch-
werdung Gottes zu verstehen und ein reflektiertes Verhältnis dazu zu ge-
winnen.
Darüber hinaus zeigt die Verletzung religiöser Überzeugungen in der kon-
kreten Situation die Ungleichzeitigkeit der Tragweite und Bedeutung der
Religion im globalen Maßstab. In einer Welt, die global vernetzt ist, ist es
für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher religiöser Prä-
gung überlebensnotwendig, eine Haltung von Respekt und Behutsam-
keit mit religiösen Traditionen und Glaubensinhalten zu entwickeln. Unbe-
schadet der Grundwerte einer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft
bedarf es einer Rückbesinnung darauf, die religiöse Integrität des Anderen
zu achten, gleichermaßen aber auch, sich die spezifisch christlichen Im-
pulse zu vergegenwärtigen, die unser Gemeinwesen mitgeprägt haben,
und sich - sofern vorhanden - an die Essentials der eigenen Glaubens-
überzeugungen und Lebenspraxis zu erinnern. Diese Grundhaltungen sind
als reziprok zu verstehen und einzufordern.
5. Die Lehr- und Lernprozesse, die zur Aufarbeitung der konkreten Si-
tuation notwendig sind, sind vielfältig. Sie reichen von der projektartigen
Sammlung von Materialien aus den Medien bis hin zu Interviews mit Mus-
limen, von der Bearbeitung von Texten zum Bilderverbot in Koran und Bi-
bel bis hin zur Auseinandersetzung mit der Person Mohammeds, vom for-
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schenden Lernen bei einem Moschee-Besuch bis zur Untersuchung der In-
nenraumgestaltung einer katholischen Kirche.
6. Die Überprüfung von Lernergebnissen ist der letzte Schritt. In der
Regel sind Lehrerinnen und Lehrer darauf angewiesen, mit selbst erstell-
ten Materialien, denen eine möglichst hohe professionelle Plausibilität eig-
net, den Erfolg ihres Unterrichts zu überprüfen. Dabei können auch
Selbsteinschätzungen der Schülerinnen und Schüler sowie alternative
Formen der Lernerfolgsüberprüfung herangezogen werden. Der Fokus ei-
ner solchen Überprüfung liegt auf der Frage: In welchem Maße hat der
Unterricht zur Entwicklung und Ausdifferenzierung von Kompetenzen bei-
getragen?
In unserem Beispiel könnten Schülerinnen und Schüler auf der Ebene der
Kompetenz „Wahrnehmungs- und Darstellungsfähigkeit“ den Kern des
Konfliktes darlegen und die grundlegenden Referenzstellen für die Bildlo-
sigkeit Gottes, aber auch für die Gottebenbildlichkeit des Menschen dazu
in Beziehung setzen. Auf der Ebene der Kompetenz „Deutungsfähigkeit“
sollten Schüler erläutern können, warum sich die Bildlosigkeit Allahs auch
auf den Propheten Mohammed erstreckt und warum umgekehrt Christus
in der christlichen Ikonografie bildhaft dargestellt werden kann. Dabei
geht es zentral um die Gottesvorstellung im Islam und im Christentum. Im
Blick auf die Kompetenz „Dialogfähigkeit“ sollten Schülerinnen und Schüler
ansatzweise erörtern können, welche Konsequenzen sich aus den Grund-
rechten Religionsfreiheit (Art. 4 GG) und Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) für
das Miteinander-Leben von Angehörigen verschiedener Religionen erge-
ben.
Das didaktische Grundmodell eines kompetenzorientierten Unterrichts legt
einen Sechsschritt für die Planung von Lehr- und Lernprozessen nahe:
Bild15
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Die Planung in einem kompetenzorientierten Unterricht
klärt 1. die in den Situationen aufscheinenden Herausforderungen, Fragen,
Aufgaben und Probleme,
zeigt 2. deren Sinn, Bedeutung und Tragweite für die Lebens- und Lernge-
schichte der Schülerinnen und Schüler auf,
stellt 3. Bezüge zu eigenen Erfahrungen, eigenen Kenntnissen, Fähigkei-
ten und Einstellungen der Schülerinnen und Schüler her,
bestimmt 4., über welches Wissen, über welche Fähigkeiten und welche
Einstellungen Schülerinnen und Schüler zur Bewältigung der Handlungssi-
tuationen verfügen müssen,
baut 5. die notwendigen Kompetenzen in einem inhaltsbezogenen Lehr-
und Lernprozess auf und
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überprüft 6. den Lernertrag des Unterrichts im Blick auf die Entwicklung
und Ausdifferenzierung von fachspezifischen Kompetenzen.
Sie werden unschwer entdecken können, dass dieses Modell ohne weiteres
auch auf andere Fächer übertragbar ist.
Der Perspektivwechsel, der mit der Kompetenzorientierung verbunden ist,
eröffnet eine Reihe von Chancen. Wenn die langfristigen Ziele des Unter-
richts verbindlich vorgegeben sind, sind die Wege dahin variabel und kön-
nen den Bildungsgängen der Schüler vor Ort angepasst werden. Dies un-
terscheidet Kompetenzorientierung von der früher üblichen Lernzielorien-
tierung Bild16. In den 70er Jahren war mit den klassischen Lernzielen
eine eher lineare kleinschrittige, bis in die einzelnen Unterrichtsphasen
hinein reglementierte Unterrichtskonzeption verbunden, die von der An-
nahme ausging, je präzise man die Feinziele formulierte und dem Lernpro-
zess zuordnete, desto größer der Lernertrag. Das Ergebnis waren stark
lehrerdominierte instruktionale Lehr- und Lernformen. Kompetenzorientie-
rung dagegen öffnet den Unterricht für eine Vielfalt an Lehr- und Lernpro-
zessen, Unterrichtsformen, Medien, Verfahren und Lernwegen, die eine
neue Dynamik des Lehrens und Lernens auslösen können. Dazu gehört
auch eine ausreichende Breite von Lernkontexten, Aufgabenstellun-
gen und Transfersituationen. Letztlich setzt ein kompetenzorientierter
Unterricht auf die pädagogische und didaktische Professionalität der
Lehrkräfte, die am besten wissen, wie ergiebige Lernprozesse inszeniert,
motivierende Lernarrangements entwickelt und Lernergebnisse gesichert
und überprüft werden können.
5. Kompetenzen sind nicht alles
Man kann darüber streiten, ob das Wichtigste und Beste am Unterricht,
aber auch an der Schule sich überhaupt in Kompetenzen oder Standards
ausdrücken lässt. Für ihr Aufwachsen brauchen Kinder und Jugendliche
Erfahrungen und Begegnungen, Einsichten und Anstöße, die sich nicht
operationalisieren oder messen lassen. Die Klieme-Kommission hat sich in
dieser Hinsicht eine weise Selbstbeschränkung auferlegt. Die als ‚Bi l-
dungsstandards’ ausgewiesenen Kompetenzen „decken erklärtermaßen
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nicht das gesamte Curriculum ab, sondern nur einen Kern in zentralen
Domänen des Lernens“ (Klieme 2003, 48). Und der Haupt-Verfasser des
Gutachtens, Eckhard Klieme, führt an anderer Stelle aus:
„Es gibt Bildungsziele im weiteren Sinne, die nicht empirisch über-
prüfbar sind. Z.B. die Idee von Mündigkeit, von Kreativität, von
Entwicklung individueller Persönlichkeit. Das sind sehr wichtige Bi l-
dungsziele, aber Standards sollen ja nicht die gesamte Breite der
Bildungsziele abdecken. Die Standards sollen sich lediglich auf einen
zentralen Kern schulischer Bildung beziehen. Darüber hinaus gehört
natürlich viel mehr zur Schule.“8
Wer also für eine Kompetenzorientierung des Unterrichts eintritt, der
weiß, dass Kompetenzen und Standards weder den Unterricht insgesamt
abbilden noch seinen Bildungsauftrag erschöpfend beschreiben, sondern
sich auf das beschränken, was im Unterricht lehrbar, lernbar und über-
prüfbar ist. Sie haben eine wichtige, aber begrenzte pragmatische Funkti-
on. Gleichwohl gilt: Wer auf dem unplanbaren ‚Mehr’ des Unterrichts insis-
tiert, muss sich umso eingehender dem didaktisch Planbaren und Über-
prüfbaren stellen.
Wie wird es mit der Kompetenzorientierung weitergehen?
Wird dieses Projekt konterkariert durch die üblichen Hinweise auf perma-
nente Überlastung, unterlaufen durch Strategien des Einfach-so-
Weitermachens-wie-bisher, angepasst an die gängigen Praktiken, bis
nichts mehr an innovativer Potenz von ihm übrig bleibt? Oder gelingt es,
Kolleginnen und Kollegen davon zu überzeugen, dass dieses Projekt mehr
Chancen als Risiken enthält, dass es ihnen mehr an Gestaltungsfreiheit
und Professionalität zumutet, dass es ihnen aber auch gemeinsame, von
den Mitglieder der Fachkonferenzen getragene Entwicklungsarbeit abver-
langt? Ich setze einstweilen darauf, dass der Unterricht noch nicht am En-
de seiner Möglichkeiten angekommen ist und Sie, als Kolleginnen und Kol-
legen, trotz aller Belastungen für ein neues pädagogisches Denken aufge-
schlossen sind, das dem Lernen der Schülerinnen und Schüler einen neuen 8 Klieme, E. [2003]: Interview am 11.3.2003 mit E&W, Zeitschrift der GEW Heft 3/2003, zit. bei Willert, A. [2004]: Output-Orientierung im Religionsunterricht? ZPT 3/2004, 241-250 (248).
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Impuls verleiht. Und dieser Impuls lässt sich mit de Worten des eingangs
zitierten Kommentars der Süddeutschen Zeitung so ausdrücken Bild17:
„Die Schüler sollen nicht nur auf den Wellen des Wissens surfen,
sondern einen Anker auswerfen und lernen, den Dingen auf den
Grund zu gehen. Die Ungeduld, mit der Menschen Tiere mästen,
kann kein Vorbild für die Schulen sein. Nicht nur weil die Kinder dar-
unter leiden. Die Bildung verliert auch an Substanz.“
Bild18, 19, 20
Bild21