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Auszug aus dem Buch Häusliche Pflege (Kapitel 3, Seite 69 ff) ist trotz Pflegereform eine Aufgabe mit Risiken und Nebenwirkungen Aktualisierte Neuauflage BOD-Verlag 2016, ISBN Nr. 978-3-8423-7221-4, Gudrun Born, www.pflegebalance.de Seite 1 von 12 Private Pflege ist mit Risiken verbunden Der tragende Pfeiler des deutschen Pflegesystems sind Privatpersonen (überwiegend Frauen), die sich um hilfe- und pflegebedürftige An- gehörige oder Freunde kümmern oft über Jahre. „Die Pflege durch nahestehende Menschen ist ein tragender Pfeiler der sozialen Pflegeversicherung. Rund 70 Prozent aller Betroffenen werden durch Angehörige, Lebensgefährten, Freunde und Nachbarn zu Hause gepflegt […]. Legte man […] für deren durchschnittlichen Zeitaufwand den Mindestlohn zugrunde, so käme man auf eine Ar- beitsleistung von rund 29 Milliarden Euro jährlich; die Ausgaben der gesamten Pflegeversicherung umfassen aktuell rund 25 Milliarden Euro.1 Nach einer anderen Studie leisten pflegende Angehörige jährlich ca. 4,9 Mrd. Stunden Pflege, das entspricht 3,2 Mrd. Vollzeitarbeitsplätzen und volkswirtschaftlich einem „Wert“ von ca. 44 Mrd. €. 2 Die Inanspruchnahme der sozialen Pflegeversicherung (SPV) ist beträchtlich. Die Einnahmen stiegen seit Gründung (1995) von 8,41 Mrd. € auf 25,91 Mrd. € (2014). 3 Mit Einführung von Pflegestärkungsgesetz I (PSG I) im Jahr 2015 wur- den die Beitragssätze auf 2,35 % angehoben (Kinderlose 2,6 %), mit Einführung von PSG II im Jahr 2017 liegen sie bei 2,55 % (Kinderlose 2,8 %). 2035-2050 geht die „Babyboomer-Generation“ in Rente; um die dann anfallenden Kosten abzufedern, werden bereits jetzt jährlich 0,1 % des Beitragsaufkommens zurückgelegt, das sind pro Jahr 1,2 Mrd. €. Die Verbesserungen oder Erweiterungen der Leistungen der Pflegeversicherung waren und sind demnach keine steuerfinanzierten Wohltaten des Staates, für die Pflegebedürftige und Pflegende dankbar zu sein ha- ben, denn sie werden weitgehend solidarisch aus Mitgliedsbeiträgen im Umlageverfahren finanziert. Und was meinen die Versicherten dazu? „Repräsentative Umfragen zeigen: Die Leistungsausweitungen in der Pflege stoßen in der Bevölkerung auf große Akzeptanz. Gleiches gilt sogar für die damit verbundenen Kosten und den Anstieg der Beiträge zur sozialen Pflege- versicherung. Die meisten Menschen in Deutschland begrüßen es, dass in Zeiten des demografischen Wandels mehr Geld genutzt wird, um die Pflege zu verbessern.“ 4 Die Pflegeversicherung bietet nur Teilleistungsschutz. Offiziell heißt das Pflegegesetz SGB XI § 1 (1): „Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit“. Sie übernimmt also nicht die Gesamtkosten, sondern nur die „soziale Absicherung des Risikos“. Das ist eine juristische und taktisch geschickte Formulierung, doch kein Normalbürger weiß, was darunter genau zu verstehen ist, umgangs- sprachlich sagt man „Teilkasko“. Aber wie viel Prozent der zu erwartenden Kosten sind das? Die Hauptursache des stetig steigenden Pflegebedarfs ist die demografisch bedingte Zunahme alter und hochbetagter Menschen, die alle im „Rentenalter“ sind. „Rasanter Anstieg von Armut bei Rentnern. Einen sozial- und steuerpolitischen Kurswechsel, um Armut zu bekämp- fen und eine Verringerung der sozialen Ungleichheit zu erreichen, das forderten acht deutsche Sozialverbände bei der Vorstellung des diesjährigen Armutsberichtes in Berlin. Die Armut in Deutschland sei anhaltend hoch, Hauptrisi- 1 http://www.aok-bv.de/presse/medienservice/politik/index_13380.html beim Dt. Pflegetag 2015 2 Backes, Gertrud M.: Wenn die Töchter nicht mehr pflegen … Geschlechtergerechtigkeit in der Pflege. In: WISO Diskurs, Friedric h- Ebert-Stiftung (Hrsg.), Mainz, September 2009, S. 12ff. 3 Barmer GEK Pflegereport 2015, a.a.O., S. 116 4 BMG Das Pflegestärkungsgesetz II, a.a.O., S. 11

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Auszug aus dem Buch Häusliche Pflege (Kapitel 3, Seite 69 ff) ist trotz Pflegereform eine Aufgabe mit Risiken und Nebenwirkungen Aktualisierte Neuauflage

BOD-Verlag 2016, ISBN Nr. 978-3-8423-7221-4, Gudrun Born, www.pflegebalance.de

Seite 1 von 12

Private Pflege ist mit Risiken verbunden

Der tragende Pfeiler …

… des deutschen Pflegesystems sind Privatpersonen (überwiegend Frauen), die sich um hilfe- und pflegebedürftige An-

gehörige oder Freunde kümmern – oft über Jahre.

„Die Pflege durch nahestehende Menschen ist ein tragender Pfeiler der sozialen Pflegeversicherung. Rund

70 Prozent aller Betroffenen werden durch Angehörige, Lebensgefährten, Freunde und Nachbarn zu Hause gepflegt

[…]. Legte man […] für deren durchschnittlichen Zeitaufwand den Mindestlohn zugrunde, so käme man auf eine Ar-

beitsleistung von rund 29 Milliarden Euro jährlich; die Ausgaben der gesamten Pflegeversicherung umfassen aktuell

rund 25 Milliarden Euro.“ 1

Nach einer anderen Studie leisten pflegende Angehörige jährlich ca. 4,9 Mrd. Stunden Pflege, das entspricht 3,2 Mrd.

Vollzeitarbeitsplätzen und volkswirtschaftlich einem „Wert“ von ca. 44 Mrd. €.2

Die Inanspruchnahme der sozialen Pflegeversicherung (SPV) ist beträchtlich. Die Einnahmen stiegen seit Gründung

(1995) von 8,41 Mrd. € auf 25,91 Mrd. € (2014).3 Mit Einführung von Pflegestärkungsgesetz I (PSG I) im Jahr 2015 wur-

den die Beitragssätze auf 2,35 % angehoben (Kinderlose 2,6 %), mit Einführung von PSG II im Jahr 2017 liegen sie bei

2,55 % (Kinderlose 2,8 %).

2035-2050 geht die „Babyboomer-Generation“ in Rente; um die dann anfallenden Kosten abzufedern, werden bereits

jetzt jährlich 0,1 % des Beitragsaufkommens zurückgelegt, das sind pro Jahr 1,2 Mrd. €.

Die Verbesserungen oder Erweiterungen der Leistungen der Pflegeversicherung waren und sind demnach

keine steuerfinanzierten Wohltaten des Staates, für die Pflegebedürftige und Pflegende dankbar zu sein ha-

ben, denn sie werden weitgehend solidarisch aus Mitgliedsbeiträgen im Umlageverfahren finanziert.

Und was meinen die Versicherten dazu?

„Repräsentative Umfragen zeigen: Die Leistungsausweitungen in der Pflege stoßen in der Bevölkerung auf große

Akzeptanz. Gleiches gilt sogar für die damit verbundenen Kosten und den Anstieg der Beiträge zur sozialen Pflege-

versicherung. Die meisten Menschen in Deutschland begrüßen es, dass in Zeiten des demografischen Wandels

mehr Geld genutzt wird, um die Pflege zu verbessern.“4

Die Pflegeversicherung bietet nur „Teilleistungsschutz“.

Offiziell heißt das Pflegegesetz SGB XI § 1 (1): „Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit“.

Sie übernimmt also nicht die Gesamtkosten, sondern nur die „soziale Absicherung des Risikos“. Das ist eine juristische

und taktisch geschickte Formulierung, doch kein Normalbürger weiß, was darunter genau zu verstehen ist, umgangs-

sprachlich sagt man „Teilkasko“. Aber wie viel Prozent der zu erwartenden Kosten sind das?

Die Hauptursache des stetig steigenden Pflegebedarfs ist die demografisch bedingte Zunahme alter und hochbetagter

Menschen, die alle im „Rentenalter“ sind.

„Rasanter Anstieg von Armut bei Rentnern. Einen sozial- und steuerpolitischen Kurswechsel, um Armut zu bekämp-

fen und eine Verringerung der sozialen Ungleichheit zu erreichen, das forderten acht deutsche Sozialverbände bei

der Vorstellung des diesjährigen Armutsberichtes in Berlin. Die Armut in Deutschland sei anhaltend hoch, Hauptrisi-

1 http://www.aok-bv.de/presse/medienservice/politik/index_13380.html beim Dt. Pflegetag 2015

2 Backes, Gertrud M.: Wenn die Töchter nicht mehr pflegen … Geschlechtergerechtigkeit in der Pflege. In: WISO Diskurs, Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Mainz, September 2009, S. 12ff. 3 Barmer GEK Pflegereport 2015, a.a.O., S. 116 4 BMG Das Pflegestärkungsgesetz II, a.a.O., S. 11

(Auszug Kapitel 3) Häusliche Pflege ist trotz Pflegereform …

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kogruppen seien Alleinerziehende, Arbeitslose und Rentner, kritisiert die federführende Organisation, der Deutsche

Paritätische Wohlfahrtsverband. Das gute Wirtschaftsjahr 2014 habe zu keinem nennenswerten Rückgang der Ar-

mutsquote in Deutschland geführt, hieß es. Sie verharre mit 15,4 % auf hohem Niveau. ‚Alarmierend‘ sei die Entwick-

lung besonders bei Rentnerhaushalten. Erstmalig seien sie mit 15,6 % überdurchschnittlich von Armut betroffen. Die

Quote der Armutsrentner sei seit 2005 um 46 % und damit so stark angewachsen wie bei keiner anderen Bevölke-

rungsgruppe. […].“5

Ein Beispiel: Frau K. (74) bezieht Grundsicherung. Nach einem Schlaganfall braucht sie Hilfe, das Gutachten des MDK

billigt ihr Pflegestufe I zu. Die berufstätige, alleinerziehende Tochter (48) erklärt sich zur Pflegeübernahme bereit und

leistet die nötigen Hilfen.

Nach einem weiteren Schlaganfall (mit einseitiger Lähmung) erhält Frau K. Pflegestufe II, die Tochter will weiter für sie

sorgen. Aber weil in ihrer Firma Heim- oder Teilzeitarbeit nicht möglich ist, gibt sie (im Vertrauen auf ihre eigenen Er-

sparnisse) ihre Stelle auf, um ihrer Mutter beizustehen. Doch die Pflege zieht sich viel länger hin, als sie gedacht hatte,

und als ihre eigenen Rücklagen zur Neige gehen, muss sie Arbeitslosengeld beantragen.

Wäre Frau K. mit Pflegestufe II in ein Heim gezogen, hätte die PV den Zuschuss für die vollstationäre Pflege gezahlt.

Wegen ihrer geringen Rente hätte sie beim Sozialamt „Hilfe zur Pflege“ beantragen müssen, das Einkommen und die

Rücklagen der Tochter wären überprüft worden, sie hätte einen Anteil für die Mutter zu zahlen gehabt, die Restkosten

hätte das Sozialamt übernommen.

Sie hätte ihre Stelle, ihr Gehalt und ihre Ersparnisse behalten, dazu einkommensgemäße Rentenbeiträge. Doch sie ent-

schied sich für die Pflege und muss – wegen der einseitigen Lähmung der Mutter – die Hilfe eines Pflegedienstes voll in

Anspruch nehmen – dadurch entfällt das Pflegegeld.

Nun gilt sie als arbeitslos (obwohl sie reichlich zu tun hat) und muss (samt ihrem Sohn) alle finanziellen Benachteiligun-

gen, die ihr aus der Pflegeübernahme entstehen, in Kauf nehmen – weit über die Pflegedauer hinaus!

Der Grundsatz „ambulant vor stationär“…

… soll nach offizieller Darstellung dazu beitragen, dass Pflegebedürftige möglichst lang in häuslicher Umgebung leben

können, und tatsächlich äußern viele Menschen diesen Wunsch. Aber die meisten Angehörigen, (die noch in berufsfähi-

gem Alter sind) können bei Übernahme einer häuslichen Pflege nicht mal annähernd einschätzen, auf welche finanziel-

len Risiken sie sich damit einlassen, denn Politiker und offizielle Broschüren heben vor allem die großzügige Förderung

und Entlastung dieser Arbeit hervor.

Schaut man aber genau hin, zeigt sich, dass nicht die Pflegenden (die die Arbeit leisten) unterstützt werden, sondern ge-

fördert wird nur das, was die Verweildauer der Pflegebedürftigen in häuslicher Umgebung ermöglicht, verlängert, erleich-

tert und damit fördert. Beispiele:

Pflegegeld wird nur gezahlt, wenn eine unter 30 Stunden berufstätige und „nicht erwerbsmäßig pflegende“ Person

die Übernahme der erforderlichen Hilfeleistungen zusichert. Dass das ordnungsgemäß geschieht, wird von

autorisierten Fachkräften halb- bzw. vierteljährlich in „Beratungsgesprächen“ kontrolliert. Werden sie verweigert, wird

das Pflegegeld gekürzt oder notfalls gestrichen.

Wie der Pflegebedürftige den nicht finanzierten Teil der Pflege („Teilkasko“) bewältigt und wie die Pflegeperson bei

Berufsaufgabe ihren eigenen Lebensunterhalt sicherstellt, das interessiert zunächst niemand.

Krankenkassen bieten Kurse für pflegende Angehörige und inzwischen auch für ehrenamtlich Tätige an, um Laien

für häusliche Pflege zu qualifizieren.

Wohnungsanpassungen werden bezuschusst, damit Pflegebedürftige möglichst lang in häuslicher Umgebung blei-

ben können.

Tagespflege wird angeboten, um Heimeintritte zu vermeiden oder zumindest hinauszuzögern.

Nach Zuerkennung eines Pflegegrades für den Pflegebedürftigen wird die pflegende Bezugsperson gegen pflegebe-

dingte Unfälle oder Infektionen versichert, denn ihre Arbeitskraft ist wichtig. Aber was der Versicherungsschutz ge-

nau umfasst und was bei einem Unfall termingerecht zu beachten ist, darüber wird nur sehr mangelhaft informiert.

5 Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands (Kfz) Bundesverband e. V. (Hrsg.): Frau und Mutter, Nr. 04/16, S. 18

(Auszug Kapitel 3) Häusliche Pflege ist trotz Pflegereform …

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Mit Einführung von PSG II sind nur noch die Privatpersonen gesetzlich unfallversichert, die mindestens 10 Stunden

pro Woche (verteilt auf 2 Tage) Hilfe leisten. Nachbarn, Verwandte oder Freunde, die Pflegende kurzfristig stunden-

weise entlasten, gehören nicht dazu.6

Die Sachleistung soll dazu beitragen, dass Kranke auch bei fachlichem Pflegebedarf in häuslicher Umgebung blei-

ben können. Nutzt der/die Pflegebedürftige diese Möglichkeit, wird das Pflegegeld gesenkt oder bei voller Ausschöp-

fung gestrichen, egal wie gering die eigene Rente des Pflegebedürftigen und die finanzielle Situation der pflegenden

Bezugsperson ist.

Pflegenden im erwerbsfähigen Alter werden Rentenbeiträge zugesichert, wenn sie häusliche Pflege übernehmen.

Viele tun das im Glauben, die Pflichtbeiträge aus Pflege würden ihre beruflichen Rentenverluste ausgleichen – ein

Irrtum mit schwerwiegenden Folgen!

Die gesetzlichen Angebote zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege werden kaum genutzt, weil die damit verknüpften

Einkommensabschläge für viele nicht verkraftbar sind und zeitlich befristete Kredite (auch wenn sie zinslos sind) nur

in wenigen Fällen weiterhelfen.

Die Kombinationsmöglichkeiten der Kurzzeit- und Verhinderungspflege wurden mit PSG I verbessert (denn die Pfle-

gebedürftigen werden danach weiter zu Hause gepflegt), aber wer die sogenannten „Hotelkosten“ nicht bezahlen

kann, muss zum Sozialamt gehen.

Die Statistik veranschaulicht die Gründe für die „großzügige“ Förderung häuslicher Pflege (Stand 2014):

71 % aller Pflegebedürftigen werden in häuslicher Umgebung versorgt,

25 % des jährlichen SPV-Beitragsaufkommens fließen in die Pflegegeldzahlungen,

15 % in die Sachleistungen,

42 % in vollstationäre Leistungen (mit sinkender Tendenz).7

Fazit: Nichts spart den Pflegekassen (und damit der Allgemeinheit) mehr Geld als die von Angehörigen erbrachte Pfle-

gearbeit – zum Nulltarif!

„Die Pflegenden pflegen“…

… so heißt eines der ersten Bücher zum Thema häusliche Pflege8. Ich möchte den Titel in eine Frage umwandeln: Be-

rücksichtigt das deutsche Pflegegesetz auch die Pflegenden? Behandelt es sie pfleglich und wertschätzend? Haben die

Verantwortlichen diese unersetzlichen Aktiven auch als Menschen im Blick oder nur die Kosteneinsparung, die deren

Leistung einbringt?

Die Pflegereform enthält einige positive Veränderungen, aber konkrete Verbesserungen für die „Hauptakteure“ des

deutschen Pflegesystems, die pflegenden Angehörigen, bringt sie allenfalls punktuell.

Seit Jahren fordern nicht nur Betroffene und deren Interessenvertretungen, sondern auch Wohlfahrts- und Sozialver-

bände notwendige Kurskorrekturen – vergeblich!

Ja, es gibt Pflegehaushalte ohne Probleme. Pflegebedürftige, die finanziell gut abgesichert sind, können die Arbeit ihrer

Pflegeperson mit allen erforderlichen Hilfen ergänzen: Hausarbeit, Fahr- und Begleitdienste, Kurzzeit-, Verhinderungs-

oder Tagespflege, bei Bedarf auch Nachtwachen. Und wenn ihr Sachleistungsbudget ausgeschöpft ist und das Pflege-

geld ganz gestrichen wird, ist auch das kein Problem. Bezahlte Pflegehilfen sind überall erhältlich.

Wer für solch einen Angehörigen Pflegeverantwortung übernimmt, kann (im Rahmen der 30 Stunden-Regelung) dem ei-

genen Beruf nachgehen. Und falls die Doppelbelastung irgendwann doch zu hoch wird und die Erwerbstätigkeit einge-

schränkt oder ganz aufgegeben werden muss, ist die finanzielle Einbuße (aufgrund der guten Vermögenslage des Pfle-

gebedürftigen) nicht existenzbedrohend.

Im Bürgerlichen Gesetzbuch § 2057a sind für den Todesfall des Gepflegten die „Ausgleichspflichten bei besonderen

Leistungen eines Abkömmlings“ geregelt, dazu zählen auch diejenigen, die einen Erblasser längere Zeit unentgeltlich

6 Carekonkret, Ausgabe 6, Mai 2016, S. 11 7 Barmer GEK Pflegereport 2015, a.a.O., S. 117 8 Hedtke-Becker, Astrid: Die Pflegenden pflegen, Lambertus Verlag, Freiburg 1990

(Auszug Kapitel 3) Häusliche Pflege ist trotz Pflegereform …

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gepflegt haben. Im gleichen Gesetz steht, dass die Überlassung des Pflegegeldes an die Pflegenden weder steuerpflich-

tig noch ein angemessener Ausgleich für ihre Pflegeleistung ist. Aber wenn nichts zu überlassen oder vererben ist, ent-

fällt der Ausgleich - trotz Pflegeleistung! Häusliche Pflegearbeit hat also lt. Bürgerlichem Gesetzbuch (BGB) einen mate-

riellen Wert, während sie im Sozialgesetzbuch (SGB) XI generell zum Nulltarif gefordert wird.

Aber es gibt eben auch ungezählte Pflegehaushalte, in denen weder der Pflegebedürftige noch die pflegende Bezugs-

person über ein reichliches Einkommen oder ausreichendes Vermögen verfügt (siehe der Anstieg von Armut bei Rent-

nern). Und weil das Pflegegeld nicht alle pflegebedingten Kosten abdeckt, gerät jeder dieser Haushalte fast unausweich-

lich in Geldnot, die Verantwortlichen wissen das genau, aber sie ignorieren es einfach.

Viele, die bei Pflegeübernahme bereits nahe am Rentenalter sind, lösen das Einkommensproblem, indem sie vorzeitig

ihre Rente beantragen. Das ist ab dem 63. Lebensjahr möglich (unter im Einzelfall zu klärenden Umständen), allerdings

sind damit immer deutliche Rentenabschläge verbunden – lebenslang.9

Andere willigen in eine unbezahlte berufliche Auszeit ein, in der Hoffnung, dass ihre Rücklagen ausreichen (siehe Bei-

spiel Seite 2). Aber die durchschnittliche Pflegedauer liegt inzwischen bei 9 Jahren, eine Zeitspanne, die für viele kaum

vorstellbar ist.

Ohne eigenes Einkommen schrumpfen private Rücklagen rasch, denn zum Lebensunterhalt gehören nicht nur Essen

und Trinken, sondern auch Kosten für Versicherungen, Kleidung, Miete der eigenen Wohnung, Hin- und Herfahrten (die

häufig ohne eigenes Auto kaum zu bewältigen sind). 2012 lebten nur 23 % der erwerbsfähigen Pflegenden mit den Pfle-

gebedürftigen zusammen.10

Fazit: Mit Einwilligung in eine häusliche Pflege übernehmen viele Pflegende erhebliche …

Risiken und Nebenwirkungen

Risiko 1: Armut durch Pflege

Alle Pflegenden, die ihren Lebensunterhalt aus dem eigenen Verdienst sichern müssen, riskieren, bei Aufgabe oder Re-

duzierung ihrer beruflichen Arbeit in die Armutsspirale zu geraten.

„Die bekommen doch Pflegegeld“, behaupten viele. NEIN, das Pflegegeld geht immer an die Pflegebedürftigen und die

meisten brauchen es zur Bezahlung der pflegebedingten Zusatzausgaben. Es darf zwar steuerfrei an die Pflegenden

weitergegeben werden, aber auch dann sichert es auf keinen Fall deren Unterhalt. Und ehe jemand vom Staat Hilfe zum

Lebensunterhalt erhält, wird er/sie gezwungen, die eigenen Rücklagen bis auf das zulässige Schonvermögen aufzu-

brauchen.11

Diese kurzsichtige gesetzliche Vorgabe hat zur Folge: Die Geldnot der pflegenden Angehörigen von heute mündet für

sie in fehlende Altersrücklagen und eine niedrige Rente. Und für den Staat bedeutet sie eine Zunahme der Altersarmut

und steigende Sozialausgaben, z. B. für Grundsicherung und Sozialhilfe.

Pflegenden Angehörigen ohne eigenes Einkommen billigt man „Arbeitslosenunterstützung“ zu, obwohl sie (während der

Pflegedauer) weder arbeitslos sind noch Arbeit suchen. Zumindest diejenigen, die für Kranke der Pflegegrade 3, 4 oder

5 sorgen, sind voll beschäftigt. Aber seit Einführung der Hartz-IV-Gesetze werden sämtliche Einkommensnotlagen gleich

behandelt. Das ist einfach, aber nicht systemkonform, denn was haben Pflegende mit Arbeitssuchenden gemeinsam?

Nichts, außer dem Geldmangel!

„ALG-II-Empfänger sollen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und selbst zur Beendigung oder Reduzierung ih-

rer eigenen Hilfebedürftigkeit beitragen.“12

Von diesem Grundsatz kann unter anderem abgewichen werden, wenn die Arbeit mit der Pflege eines Angehörigen

nicht vereinbar ist und die Pflege nicht anders organisiert werden kann.13

9 www.einfach-rente.de/finanzmagazin/rente-vor-67.php 10 Barmer GEK Pflegereport 2015, a.a.O., S. 193 11

Hartz IV, Vermögen – Schonvermögen – Freibetrag. http://www.hartziv.org/was-zaehlt-als-vermoegen.html 12 IAG-Kurzbericht 5/2015, Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, S. 2 § 2 Abs. I SGB II

(Auszug Kapitel 3) Häusliche Pflege ist trotz Pflegereform …

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Die Jobcenter können pflegende Leistungsbezieher unterstützen, indem sie auf kommunale Leistungen hinweisen.14

So kann Pflegenden bei der Suche nach Betreuungspersonal und damit bei der Integration in den Arbeitsmarkt ge-

holfen werden.“

Im Klartext bedeutet das: Wenn ein Angehöriger (wegen Übernahme einer Pflege) Sozialleistungen beziehen muss, gilt

das Grundrecht des Pflegebedürftigen auf Selbstbestimmung und freie Wahl der Pflegeperson nicht, denn dann ist plötz-

lich die Versorgung durch fremdes Betreuungspersonal wichtiger als durch Angehörige! Wenn diese Hilfe zum Lebens-

unterhalt brauchen, sind sie (für den Gesetzgeber) trotz ihrer Pflegeleistung nur ein möglichst bald zu überwindender

Kostenfaktor!

Bisher sind alle Versuche, das Problem der Pflegenden mit zu geringem Einkommen zu lösen, gescheitert.

Vor Jahren haben Betroffene beim Bundesverfassungsgericht geklagt, das Pflegegeld auf die Höhe der Sachleistung

anzuheben - genau besehen ging es nur um die Differenzbeträge:

Tabelle 1

Stand 2015 Stufe I Stufe II Stufe III

Sachleistung 468 € 1.144 € 1.612 €

minus Geldleistung 244 € 458 € 728 €

darum ging es 224 € 686 € 884 €

Aber die Klage wurde im März 2014 abschlägig beschieden, mit der Begründung, das Pflegegeld solle die Selbstbe-

stimmung der Pflegebedürftigen stärken. 15

Im Übrigen liege dem Gesetz der Gedanke zugrunde, dass familiäre Pflege unentgeltlich erbracht werde. Es weise hin

auf die gegenseitige Beistandspflicht von Ehegatten untereinander sowie zwischen Eltern und Kindern. Das gelte auch

für Pflege, die nicht nur als sittliche, sondern auch als rechtliche Pflicht ausgestaltet sei.16

In Anbetracht des steigenden Hilfebedarfs ist dringend zu klären: Kann der Gesetzgeber von Angehörigen wirklich

eine zeitlich unbegrenzte Pflegeleistung bis zur eigenen Erkrankung und Verarmung fordern?

Dieses Gesetz stammt aus einer Zeit, in der Frauenerwerbstätigkeit die Ausnahme war, Familien mehrere Kinder hatten

und das durchschnittliche Sterbealter bei 47 Jahren lag.

Zum Vergleich: Bei der Beschäftigung von Pflegekräften aus Osteuropa verbietet der Gesetzgeber eine 24-h-Verfüg-

barkeit und Niedriglöhne als „mit dem deutschen Arbeitsschutzgesetz unvereinbar“, Arbeitszeiten und Urlaubsansprüche

sind klar zu regeln.

Aber pflegenden Angehörigen mutet man genau das zu, indem man Pflege und die 24-stündige Bereitstellung von Be-

treuungssicherheit für den Notfall 17 pauschal als „rechtliche und sittliche Beistandspflicht“ definiert und häusliche Hilfe

und Pflege von unbegrenzter Dauer zum Nulltarif fordert.

Zumindest die rd. 7 % aller pflegenden Angehörigen (hochgerechnet ca. 284.000 Personen18), die in Arbeitslo-

sigkeit „abgerutscht“ sind, brauchen einen ihrer Pflegeleistung angemessenen Unterhaltssatz über dem

Existenzminimum, denn erfahrungsgemäß müssen sie - infolge der Teilkasko-Regelung - davon neben ihrem

eigenen Lebensunterhalt auch pflegebedingte Ausgaben finanzieren (z.B. Fahrt- und Vertretungskosten).

Fest steht schon heute: Dass sich der Hilfe- und Pflegebedarf, demografisch bedingt, in den nächsten Jahrzehnten um

80 % erhöhen wird. Unklar ist aber, wer diese gigantische Zusatzleistung (bei rückläufigen Erwerbstätigenzahlen) erbrin-

13 § 10 Abs. 1 Satz 4 SGB II 14

§ 16a Abs. 1 SGB II 15 http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2014/03/rk20140326_1bvr113312.html 16 BGB §§ 1353 und 1618a BGB 17 Vergleiche: Neue Caritas, Heft 5/2016, Gesundheitsrisiken der Pflegeperson, S. 24 18 IAG-Kurzbericht 5/2015, Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, S. 2

(Auszug Kapitel 3) Häusliche Pflege ist trotz Pflegereform …

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gen soll? Es werden zwar vorsorglich Rücklagen bei der Pflegeversicherung gebildet, aber damit hat man noch nicht die

Menschen, die die nötigen Leistungen erbringen (zu den bisher geltenden Bedingungen).

Seit einiger Zeit greifen Journalisten das Thema häusliche Pflege auf. Ehemals oder noch Pflegende berichten in Rund-

funk- und Fernsehinterviews, auf Facebook und Twitter, in Zeitschriften und Büchern über ihre Erfahrungen und die

Pflegeauswirkungen auf ihr eigenes Leben. Viele leiden unter den Folgen langjähriger Pflege und sagen offen: „Angehö-

rige ohne ausreichendes Finanzpolster können sich häusliche Pflege eigentlich nicht leisten“.

Aber wer einen Menschen liebt, entscheidet meist nicht vernunftgemäß, sondern mit dem Herzen“– und dieses gefühls-

mäßige Zugehörigkeitsgefühl kalkulieren die Verantwortlichen ein.

Doch häusliche Pflege ist eine freiwillige Leistung, zu der niemand gezwungen werden kann!

Wenn die Bedingungen dieser Aufgabe nicht bald auf dem Verhandlungsweg zu verbessern sind, dann werden

die rückläufige Pflegebereitschaft jüngerer Menschen,

die dadurch ausgelöste Kostenlawine (bei besorgniserregendem Fachkräftemangel),

die veränderte Einstellung von Millionen älteren Menschen (die aufgrund eigener Pflegeerfahrungen) ihren Kindern

häusliche Pflege niemals zumuten wollen,

die Erkenntnis erzwingen, dass auch „die Pflegenden künftig besser gepflegt werden müssen“ (z. B. indem man pflege-

bedingte finanzielle Notlagen ganz selbstverständlich individuell berücksichtigt).

Risiko 2: Renteneinbußen

Mit „Ihr Einsatz lohnt sich“19 wirbt die Deutsche Rentenversicherung um Pflegeübernahme durch erwerbsfähige Angehö-

rige. Gegenfrage: Für wen lohnt er sich?

Er lohnt sich für die Gepflegten, die dank der Hilfsbereitschaft von Privatpersonen in vertrauter Umgebung bleiben

und versorgt werden können.

Er lohnt sich für die Pflegekassen und die Solidargemeinschaft der Versicherten, weil das Engagement der Angehö-

rigen die billigste (aber nicht die einzig mögliche und beste) aller Lösungen ist. Trotz der Zunahme von Pflegebedürf-

tigkeit und trotz der Zunahme demenzieller Erkrankungen werden bisher rd. ⅔ der Pflegebedürftigen privat versorgt

– noch!

Auch für die Rentenkassen lohnt er sich, denn mit der Zunahme der hochbetagten Menschen steigt auch die Zahl

der Pflegenden, die selbst bereits Rente beziehen und für die deshalb keine Rentenbeiträge mehr zu zahlen sind.

Fachliche Pflegeunterstützung.

Die meisten Angehörigen pflegen auf Wunsch der Kranken. Die Sachleistung, so wird ihnen versichert, ermögliche häus-

liche Pflege, auch wenn fachlicher Pflegebedarf besteht.

„Und wie viele Hilfestunden umfasst die dafür vorgesehen Sachleistung“, wollen die Pflegenden wissen, schließlich geht

es um ihre eigene Entlastung. Aber konkrete Zahlen werden kaum genannt, man rechnet in Pflegemodulen.

Ein Anhaltspunkt: Der für Pflegekräfte übliche Satz liegt (incl. aller Wege- und Nebenkosten) bei ca. 30-40 € pro Stunde,

je nach Region und Anbieter. Teilt man die Sachleistungssumme des bewilligten Pflegegrades durch den entsprechen-

den Stundensatz und diesen dann durch 25 Werktage, hat man einen Schätzwert, wie viele Hilfestunden bei voller Inan-

spruchnahme der Sachleistung pro Werktag zur Verfügung stehen. Wenn auch sonn- und feiertags gepflegt werden

muss (das ist teurer), verringern sich die aus dem Sachleistungsbudget finanzierbaren Stunden entsprechend.

Ärztlich verordnete Behandlungspflege wird von den Krankenkassen bezahlt, sie darf nicht als Sachleistung angerech-

net werden. Aber wie können Betroffene das kontrollieren, wenn dieselbe Person beide Arbeiten ausführt? Die Pflegen-

den unterschreiben zwar die Dokumentation und Leistungsnachweise bereitwillig, aber verstehen sie auch, was sie da

unterschreiben?

Eventuell können aus einem ungenutzten Kontingent für Kurzzeit- oder Verhinderungspflege häusliche Pflegeleistungen

erhöht werden. Aber wer blickt da überhaupt durch? Wegen dieser verwirrenden Gesetzgebung bleiben beträchtliche

Summen, die eigentlich den Versicherten zustehen würden, ungenutzt.

19 Deutsche Rentenversicherung (Hrsg.): Rente für Pflegepersonen: Ihr Einsatz lohnt sich, Broschüre, Nr. 403/6/2015

(Auszug Kapitel 3) Häusliche Pflege ist trotz Pflegereform …

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Warum die verschiedenen Kurzzeit-, Verhinderungs-, Zusatz- und niederschwelligen Leistungen (mit Einfüh-

rung der Pflegereform) nicht endlich in einem einzigen, für Laien leicht verständlichen Entlastungsbeitrag

zusammengefasst wurden, versteht niemand.

Der „Bezuschussungsdschungel“ bleibt also allen Betroffenen auch weiter erhalten!

Und wie hoch sind die Renten aus häuslicher Pflege?

Die Bundesregierung legt in Zusammenarbeit mit der Dt. Rentenversicherung jährlich die geltende Bezugsgröße (BG) al-

ler Renten fest. Da pflegende Angehörige kein Gehalt beziehen, werden für ihre Arbeitsleistung – je nach Pflegegrad

des zu Pflegenden – fiktive Einnahmen zugrunde gelegt …20

Daraus werden die Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung der pflegenden Angehörigen berechnet. (Bezugsgröße

2016/2017 = 2.905 € x genannte Prozentzahl = monatliches fiktives Einkommen).

Fiktive Einnahmen der pflegenden Angehörigen21 Tabelle 2

Pfl. Grad bei Bezug von Pflegegeld bei Bezug der Kombileistung bei Bezug der Sachleistung

1 --- --- ---

2 26,7 % der Bezugsgröße 22,7 % der Bezugsgröße (= - 4,0%) 18,7 % der Bezugsgröße ( = - 8,0%)

3 38,0 % der Bezugsgröße 32,3 % der Bezugsgröße (= - 5,7%) 26,6 % der Bezugsgröße ( = - 11,4%)

4 66,0 % der Bezugsgröße 56.1 % der Bezugsgröße (= - 9,9%) 46,2 % der Bezugsgröße ( = - 19,8%

5 100,00 % der Bezugsgröße 85,0 % der Bezugsgröße (= - 15,0%) 70,0 % der Bezugsgröße ( = - 30,0%)

Aber die erreichbaren Renten sind keineswegs so beruhigend (und „lohnend“), wie die Rentenbroschüre verheißt.

Rentenanwartschaft für ein Jahr Pflegeleistung Tabelle 3

(Stand 2016/2017)

West

Ost

In Stufe I monatlich maximal 7,49 € 6,90 €

in Stufe II monatlich maximal 14,97 € 13,91 €

in Stufe III monatlich maximal 22,46 € 20,71 €

Aber das sind nur die Höchstsätze, denn immer, wenn das Pflegegeld der Pflegebedürftigen gekürzt oder ganz gestri-

chen wird (z. B. bei Nutzung der Kombinations- oder vollen Sachleistung), wird auch der Prozentsatz der Bezugsgröße

gesenkt (siehe Tabelle 2). Dass bei Inanspruchnahme fachlicher Hilfe die Geldleistung an die Pflegebedürftigen gekürzt

oder gestrichen wird, ist einzusehen, obwohl das in Pflegehaushalten mit geringem Einkommen zu einer erheblichen Be-

lastung führt.

Aber eine Kürzung der Rentenpflichtbeiträge der aktiv Pflegenden? Sie haben beim Besuch einer Fachkraft nicht frei,

sondern arbeiten in der Regel, zumindest in höheren Pflegegraden, mit (z. B. beim Heben, Duschen oder Umbetten der

Patienten).

Darüber hinaus leisten sie (neben den wenigen Stunden fachlicher Entlastung) a l l e s, was in der jeweiligen Pflegestufe

wann, wofür und wie oft nötig ist, ohne zeitliches Limit – auch nachts, an Wochenenden und feiertags!

Rentenbeiträge sind die einzige finanzielle Anerkennung häuslicher Pflegearbeit. Mit den Beitragskürzungen

nimmt der Gesetzgeber billigend in Kauf, dass Tausende pflegende Angehörige (trotz ihrer Arbeitsleistung) in

Armut geraten und im eigenen Alter von Minirenten oder Grundsicherung leben müssen.

Vor diesem Hintergrund klingt der Satz: „Die Leistung dieser Menschen lässt sich nicht hoch genug ein-

schätzen“ wie Hohn! 22

20 Rente aus häuslicher Pflege - wer bekommt sie wirklich? Gudrun Born, www.pflegebalance.de 21 www.kv-media.de/pflegereform-2016-2017.php 22 Broschüre des BMG Das Pflegestärkungsgesetz II, S. 18

(Auszug Kapitel 3) Häusliche Pflege ist trotz Pflegereform …

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Übrigens ist vorgeschrieben, dass sowohl dem/der Gepflegten als auch der Pflegeperson regelmäßig die Höhe der ein-

gezahlten Pflichtbeiträge schriftlich mitgeteilt wird. Aber diese Mitteilungen sind teilweise so dürftig, dass die Überprü-

fung von Beitragskürzungen schwerfällt. Trotzdem sollten die Versicherten die Abrechnungen mit ihren eigenen Notizen

vergleichen und bei Fragen oder Unstimmigkeiten reklamieren. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist sicherer!

Wichtig ist außerdem: Eigentlich werden für Bezieher von Arbeitslosenunterstützung grundsätzlich keine Rentenbeiträge

eingezahlt, für pflegende Angehörige wurde eine (erfreuliche) Ausnahmeregelung geschaffen. Aber alle Pflegenden, die

Arbeitslosengeld beziehen, sollten unbedingt mit der für sie zuständigen Rentenstelle Kontakt aufnehmen und prüfen

lassen, ob auf ihrem Rentenkonto Beiträge aus der Pflege eingehen!? Wer das nicht tut, läuft Gefahr, dass die Kasse

des Pflegebedürftigen (sie ist zuständig) irrtümlich keine Rentenpflichtbeiträge einzahlt.

Und dass Jobcenter, Beratungsstellen und Pflegestützpunkte die von ALG II Betroffenen von sich aus auf den Zusam-

menhang zwischen Arbeitslosengeld und Rentenpflichtbeiträgen aufmerksam machen, ist eher unwahrscheinlich!

Risiko 3: Pflege ohne Auszeiten macht krank

„Zu wenig Aufmerksamkeit wird der Tatsache gewidmet, dass Pflegepersonen durch die Pflege einem hohen ge-

sundheitlichen Risiko ausgesetzt sind. Über zwei Drittel aller Pflegebedürftigen werden zu Hause gepflegt, rechnete

der Deutsche Bundestag im Jahr 2014. Das impliziert eine stetige Leistung. Zur eigentlichen körperlichen Leistung

kommt noch die 24-stündige Bereitstellung von Betreuungssicherheit für den Notfall dazu.

Die Mehrzahl der Pflegepersonen ist berufstätig, und nicht wenige haben auch noch eigene, nicht volljährige Kinder

zu Hause. Pflegearbeit setzt Pflegepersonen über lange Zeit erheblichen körperlichen und psychischen Belastungen

aus, und im Verlauf ihrer in der Regel jahrelangen Betreuung können ihre gesundheitserhaltenden Ressourcen lang-

sam schwinden.“23

„Dass pflegende Angehörige einer stärkeren Belastung ausgesetzt sind als die Normalbevölkerung und deshalb ein

großer Bedarf an Gesundheitsförderung und Prävention besteht, steht schon seit einiger Zeit nicht mehr in Frage.“24

„Die dauerhafte Ausübung von Pflegetätigkeiten kann zu einer starken Belastung werden. Seit mehr als 20 Jahren

gibt es nun Befunde zu den spezifischen Belastungen pflegender Angehöriger […]. Diese Belastungen können zum

einen körperlicher, zum anderen aber auch mentaler Natur sein […]. Pflegende Angehörige haben öfter einen herab-

gesetzten Immunstatus, drei Viertel aller pflegenden Frauen leiden unter mindestens einer Krankheit. Dabei handelt

es sich öfter um Rückenschmerzen oder um Krankheiten des Herz-Kreislauf- oder Muskel-Skelett-Systems. Darüber

hinaus berichten viele Pflegepersonen von allgemeiner Erschöpfung, Magenbeschwerden oder Gliederschmerzen.

Psychosomatische Beschwerden, unter denen pflegende Angehörige häufiger leiden, sind unter anderem Schlafstö-

rungen, Nervosität, Kopfschmerzen und depressive Verstimmung […]. Generell beschreiben Angehörige mit hohem

Betreuungsumfang […] im Vergleich zu Nicht-Pflegenden ihren allgemeinen Gesundheitszustand als nicht gut.“25

Als Entlastungsangebote werden genannt: Pflegekurse, Pflegeberatung, eine zehntägige berufliche Auszeit, Einführung

der Kurzeit-, Nacht- und Verhinderungspflege oder niederschwellige Entlastungshilfen.

„Zur Entlastung pflegender Angehöriger gibt es vielfältige Angebote. Untersuchungen zeigen jedoch, dass deren In-

anspruchnahme gering ist […]. Als Gründe dafür werden beispielsweise angeführt, dass die individuellen Bedürfnis-

se der Angehörigen nicht ausreichend Berücksichtigung finden, generell kein Bedarf für Unterstützung gesehen wird

oder die Angebotsstruktur als unübersichtlich und bürokratisch empfunden wird.“ 26

Erfahrene Pflegende wundert das nicht, denn jeder zusätzliche Antrag bedeutet für sie Zeitaufwand. Außerdem kostet

die Umorganisation der Pflege/Betreuung zusätzlich Geld (z. B. für Fahrtkosten und die Bezahlung der notwendigen Ver-

tretungsperson), Geld, das viele einfach nicht haben. Die meisten offiziellen Angebote werden geplant, ohne die Bedürf-

nisse der Betroffenen zu berücksichtigen.

23 Neue Caritas, Gesundheitsrisiken …, a.a.O., S. 24 24 Barmer GEK Pflegereport 2015, a.a.O., S. 189 25 Barmer GEK Pflegereport 2015, a.a.O., S. 194ff. 26 Neue Caritas, Gesundheitsrisiken …, a.a.O., S. 24

(Auszug Kapitel 3) Häusliche Pflege ist trotz Pflegereform …

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Zum Vergleich: Arbeitnehmern unseres Landes wird ganz selbstverständlich jährlich eine 4-wöchige Erholungspause

(bei weiterlaufendem Gehalt) zugestanden, nicht weil sie krank sind, sondern damit sie nicht krank werden. Und sie ent-

scheiden selbst, was sie im Urlaub machen.

Und den pflegenden Angehörigen? Man bietet hochbelasteten, ausgepowerten Menschen Fortbildungskurse und Pfle-

geberatung an (damit sie noch kompetenter pflegen können). Aber eine Erholung, die sie nach ihren eigenen Bedürfnis-

sen oder Wünschen auswählen können, (einfach zum Erhalt ihrer eigenen Gesundheit), ist nicht vorgesehen.

Man verbesserte die Kombination von Kurzzeit- und Verhinderungspflege für die Pflegebedürftigen, aber die dafür zu er-

bringenden Zusatzkosten (ca. 50%) müssen (bei fehlenden eigenen Mitteln) extra beim Sozialamt beantragt werden –

noch ein Antrag mehr mit ungewissem Ausgang!

Außerdem: Erholungsbedarf (das heißt eine konkrete Krankheit) muss mit ärztlichem Attest nachgewiesen werden. Wer

(noch) nicht „richtig krank ist“, hat kaum eine Chance, sich erholen zu dürfen.

Und was ist mit den Angehörigen, deren Einkommen nicht gerade auf Sozialhilfeniveau, sondern knapp darüber liegt?

Sie fallen durch jedes Raster.

Trotz nachgewiesener Gesundheitsrisiken aufgrund langjähriger Pflegebelastung gibt es für pflegende An-

gehörige keinen Rechtsanspruch auf eine bezahlte Erholung, nicht mal für diejenigen, die selbst schon im

Rentenalter und trotzdem noch voll im Einsatz sind.

Auch bei der großen Pflegereform trat wieder kein Verantwortlicher energisch für diejenigen ein, „denen man

nicht dankbar genug sein kann“. Die „Pflege der Pflegenden“ ist kein Thema!

Erholungsmöglichkeiten: Erfreulich ist, dass inzwischen einige Organisationen spezielle Erholungsangebote für pflegen-

de Angehörige im Programm haben, z. B. das Müttergenesungswerk.27

Es bietet mancherorts Freizeiten für Pflegende und Pflegebedürftige gemeinsam an. Gerade Angehörige von desorien-

tierten Kranken akzeptieren diese Urlaubsform eher, weil sie frühzeitig gegensteuern können, wenn ein Kranker mit der

fremden Umgebung nicht zurechtkommt.

Gleichzeitig finden sie selbst – während die Kranken beschäftigt oder betreut werden – genügend Freiräume und kön-

nen allein oder gemeinsam mit anderen etwas unternehmen. Aber auch für solche Auszeiten entstehen Kosten, deren

Aufbringung vielen schwerfällt oder unmöglich ist. Deshalb auch dazu ein Tipp:

Finanziell bedürftigen Pflegepersonen aller Altersstufen (z. B. ALG-II-Bezug oder Grundsicherung) bietet die Dr. med.

Heide Paul-Toebelmann-Stiftung (HPT) Unterstützung für Kuren und Erholungsmaßnahmen (auch bis zu 6 Monate nach

dem Tod des/der Gepflegten). Ein Rechtsanspruch auf Gewährung von Stiftungsleistungen besteht nicht.

Nähere Information zur Stiftung: hpt-stiftung.weebly.com/

Risiko 4: Soziale Isolation hat Folgen

Langjährige häusliche Pflege ist eine wertvolle, auch innerlich bereichernde, aber trotzdem belastende Aufgabe.

Es ist anstrengend, täglich die Leiden und den Kräfteabbau eines nahestehenden Angehörigen mit ansehen zu müssen

und das richtige Maß zwischen Ermutigen, Fördern und die Hinnahme unabänderlicher Verschlechterungen zu finden.

Besonders mühsam ist die Sorge für Menschen mit demenziellen, psychischen oder geistigen Einschränkungen. Ihr

Verhalten ist oft schwer zu ertragen – und wenn dann vertraute Angehörige wie Fremde beargwöhnt oder abgewehrt

werden – geraten Pflegende leicht an die Grenze ihrer eigenen Belastbarkeit.

Die nervliche Anspannung durch eine Pflege, verstärkt durch nächtliche Schlafunterbrechungen, macht dünnhäutig,

reizbar und schließlich unzufrieden. Die Dauerbelastung fördert Ungeduld und manchmal auch Neid auf die, die „normal“

leben können. Da sind Resignation, Bitterkeit, Aggression oder Depression nicht weit, und es besteht die Gefahr, selbst

krank zu werden. Und dann?

27 Kontakt: Elly-Heuss-Knapp-Stiftung (Müttergenesungswerk), 10115 Berlin, Bergstr. 63, Tel.: 030/33 00 29-0

(Auszug Kapitel 3) Häusliche Pflege ist trotz Pflegereform …

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Die meisten Pflegenden versuchen lange, sich „zusammenzunehmen“. Sie überspielen ihre eigene Erschöpfung, be-

kämpfen Kopf- oder Rückenschmerzen mit selbst ausgewählten Medikamenten, denn selbst Arztbesuche sind (ohne ei-

ne geeignete Vertretungskraft für die Kranken) oft unmöglich. Viele haben „nah am Wasser gebaut“, weinen aber nur

heimlich, nachts, wenn es niemand merkt!

Der nie endende Kampf für oder gegen irgendetwas zermürbt: Um zeitnahe Arzttermine, gegen fehlerhafte Abrechnun-

gen, um die Anhebung der Pflegeeinstufung, gegen unbrauchbare Billig-Hilfsmittel, um baldige Reparatur des Rollstuhls

oder Rollators. Hinzu kommen Auseinandersetzungen mit unfreundlichen (und manchmal selbst überforderten) Pflege-

kräften oder Kassenmitarbeitern, Anrufe bei Behörden, die nur über endlose Telefonwarteschleifen erreichbar sind. Es

ist unglaublich, was Pflegende an Zeit und Kraft investieren müssen, nur um die notwendigen Hilfsmittel oder Erleichte-

rungen für ihre schwierige, ohnehin belastende Arbeit zu erreichen. Ein Beispiel:

„Endlich nach zwei Jahren, 38 Schreiben hin und her und vielen Kosten konnte ich mit meinen Mann einen Behinder-

tenparkplatz in Anspruch nehmen. Ich habe nicht nur für uns gekämpft und nicht aufgegeben, ich habe mit meiner

Hartnäckigkeit ein klein wenig auch für andere Betroffene erreicht. Durch die gesundheitlichen Einschränkungen un-

serer Erkrankten haben wir pflegende Angehörige genug Sorgen und nicht die Kraft, uns darüber hinaus auch noch

über Jahre mit den zuständigen Behörden auseinanderzusetzen.“28

Die Bezieher von Arbeitslosengeld haben in regelmäßigen Abständen über Eingliederungsvereinbarungen (in den Ar-

beitsmarkt) zu verhandeln. Sie sollen Termine, die ohne Absprache festgesetzt wurden, einhalten, längst besprochene

Sachverhalte immer wieder erläutern, für Zuzahlungen in Vorlage treten (mit Geld, das ihnen fehlt) – das sind alles ab-

schreckende, unzumutbare Belastungen für Menschen, die ohnehin fast am Ende ihrer Kraft sind.

Viele müssen Repressalien der Jobcenter hinnehmen, immer in Angst vor weiteren Sanktionen. Ständig sind neue Vor-

schriften umzusetzen, was wem zusteht, unter welchen Bedingungen, bis zu welcher Höhe und dass Ansprüche verfal-

len, wenn … Und danach sind dann wieder nur mit einer Lupe lesbare ellenlange Beipackzettel zu entziffern, weil die

notwendigen Medikamente ständig wechseln, je nach Kassenvorschrift.

Eigentlich wäre zum Abarbeiten der ganzen Pflegebürokratie Ruhe nötig, aber die finden Pflegende allenfalls abends,

wenn der Kranke schläft – und dann sind sie selbst so erschöpft, dass ihnen die nötige Konzentration fehlt.

Und gleichzeitig müssen sie gegenüber dem Kranken unermüdlich Optimismus und Zuversicht ausstrahlen. „Du darfst

nicht weinen“, sagte ein Schwerkranker flehend, „wenn du weinst, ist für mich alles ganz dunkel.“

Wie lange hält man es aus, geduldig jede demütigende Verdächtigung hinzunehmen („Sie wollen nicht arbeiten“), ohne

auszurasten? Wie viele Jahre kann man ohne eigene Erholung funktionieren? Sämtliche Anforderungen sind pünktlich

und lückenlos zu erfüllen, wobei die der Pflege ja keineswegs die einzigen sind, denn es gibt auch noch den normalen

Alltag mit all seinen Anforderungen. Ungezählte Beziehungen und Ehen sind an einer Dauerpflege, die über Jahre das

gesamte Leben bestimmte, gescheitert.

Verlust der Privatsphäre: Die Bedürfnisse des Kranken gehen allem vor. Die Pflegesituation beherrscht die gesamte

Wohnung, überall Pflegeutensilien, es gibt kaum Rückzugsmöglichkeiten oder tagsüber Zeit, nächtliche Schlafunterbre-

chungen durch Ruhezeiten auszugleichen. Aber eines Tages wird der Pflegeperson bewusst: Ich muss abschalten,

durchatmen – einfach zur inneren Neujustierung, sonst drehe ich durch!

„Pflegende Angehörige haben zwar viele Pflichten, aber kaum klar definierte Rechte, etwa bezüglich Arbeits- und

Freizeit, Urlaub und Pflegedauer. Niemand ist verpflichtet, ihnen zu helfen oder sich konkret an der Bewältigung der

Pflegeanforderungen zu beteiligen, nicht einmal andere Verwandte. Einen geregelten Feierabend gibt es für pflegen-

de Angehörige nicht.“29

Mit der Bewilligung eines Pflegegrades kalkuliert der Gesetzgeber die Arbeitskraft der Pflegenden einfach als „natur-

wüchsige Ressource“ ein, ohne für sie selbst irgendwelche Rechte zu definieren – nur der Nulltarif ist ihnen sicher, als

„sittliche und rechtliche Fürsorgepflicht“!

28 Marquardt, Erika: Tabu Thema Demenz, BOD-Verlag, Norderstedt 2014 29 Born, Gudrun: Balanceakt, Pflegende Angehörige zwischen Liebe, Pflichtgefühl und Selbstschutz, BOD-Verlag, Norderstedt 2010

(Auszug Kapitel 3) Häusliche Pflege ist trotz Pflegereform …

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Pflegende müssen selbst darauf achten sich nicht zu überfordern, dazu gehört auch, dass sie nicht alle persönlichen

Kontakte aufgeben. Solange sich der Pflegebedarf in niedrigen Pflegegraden bewegt, lässt sich das notwendige Hilfear-

rangement relativ gut organisieren. Und solange die Pflegeperson einem Beruf nachgehen kann, nimmt sie (sozusagen

automatisch) am normalen Leben teil, ihr Einkommen verbessert ihren finanziellen Rückhalt, die Pflege ist nur ein Teil

ihres Lebens. Es ist statistisch erwiesen, dass die Lebenszufriedenheit von Pflegenden mit Beruf höher ist als die von

„Nur-Pflegenden“.30 Wenn aber aus einer zunächst leichten eine Schwer- oder Schwerstpflege mit ständiger Anwesen-

heitspflicht wird, kommt unweigerlich der Rat:

„Du musst dich ab und zu vertreten lassen“, das sagt sich so leicht hin, aber es ist schwer, geeignete Vertretungskräfte

zu finden. Im Laufe der Zeit erlöschen nicht nur viele Beziehungen der Kranken, sondern auch die der gesunden Be-

zugspersonen – das sogar ist verständlich. Schließlich beruhen die meisten mitmenschlichen Kontakte auf gemeinsa-

men Aktivitäten: Beruf, Sport, Reisen, Freizeit, Hobbys, Mitarbeit in Gruppen, Vereinen oder Gemeinden.

Wer aber wegen einer häuslichen Pflege an fast jeder Teilnahme an Treffen gehindert ist, dessen Name wird von Einla-dungslisten bald gestrichen - so einfach ist das

Pflegende brauchen zum Erhalt ihrer eigenen Mobilität und seelischen Gesundheit nicht nur EINE Vertretungskraft (die

ebenfalls Termine und eigene Verpflichtungen hat), sondern ein breites Hilfenetz, das im Laufe langjähriger Pflege im-

mer wieder zu ergänzen oder zu erneuern ist. Jede Pflegesituation bleibt – solange sie dauert – ein nie endender Balan-

ceakt zwischen Liebe, Pflichtgefühl und Selbstschutz.

Bezahlte Kräfte sind die einfachste Lösung und wer finanziell einigermaßen abgesichert ist, kann sich (neben fachlicher

Pflege) Vertretungen gegen stundenweise Bezahlung suchen. Ihnen kann man ohne Umschweife sagen, wann, wie oft,

wie lang und wobei Hilfe nötig ist. Geben und Nehmen halten sich die Waage, man ist den Helfenden nicht zu besonde-

rem Dank verpflichtet, sondern bezahlt ihre Arbeit – fertig.

Aber Pflegende mit geringem oder zumindest eng begrenztem Einkommen können sich solche Entlastungen nur selten

oder gar nicht leisten. Ihnen bleibt nur die Möglichkeit, Verwandte, Nachbarn, Freunde, Bekannte oder „hilfsbereite Mit-

menschen“ um gelegentliche kostenlose Vertretung zu bitten. Es gibt solche Menschen – gottlob!

Doch bei der Suche nach Vertretungen gibt es auch herbe Enttäuschungen, weil sogar Menschen, auf deren Unterstüt-

zung man gebaut oder zumindest gehofft hatte, sich zurückziehen. Diese (mit Enttäuschung verbundenen Erfahrungen)

schmerzen besonders.

Vor allem die Betreuung desorientierter oder geistig behinderter Menschen ist schwierig. Für sie findet man kaum Vertre-

tungen, denn nur wenige Privatpersonen wagen den Kontakt zu ihnen, und nicht alle, die man nach vieler Mühe gefun-

den hat, werden von den Pflegebedürftigen auch akzeptiert.

Die offiziellen Angebote für die Betreuung solcher Kranker sind (vor allem im ländlichen Raum) äußerst unzureichend.

Was nutzt die gesetzliche Zusage von Ansprüchen auf niederschwellige Entlastungshilfen, wenn die dazu erforderlichen

Fach- oder Laienkräfte fehlen? Gerade die Pflege demenzkranker Angehöriger macht einsam.

Doch je komplizierter die Anforderungen sind, desto wichtiger ist es für die Pflegenden, wenigstens ab und zu die Enge

ihrer häuslichen Situation verlassen und am ganz normalen Leben teilnehmen zu können: Vielleicht Sport zum Aus-

gleich, Singen in einem Chor, Austausch mit anderen Pflegenden, der Besuch bei einer Freundin? Oder die Übernahme

einer berufsnahen oder freiwilligen Tätigkeit?

Wird die letztgenannte Möglichkeit anvisiert, kommt unweigerlich die irritierte Rückfrage: „Wieso – hast du nicht genug

Arbeit?“

Es ist schwer, Menschen ohne eigene Pflegeerfahrung zu erklären, dass es nicht um weniger Arbeit, sondern darum

geht, endlich mal wieder das tun zu können, was dem eigenen Alter, den eigenen körperlichen und geistigen Fähigkei-

ten oder Interessen entspricht, nicht trotz, sondern wegen der Pflege.

30 Barmer GEK Pflegereport 2015, a.a.O., S. 195

(Auszug Kapitel 3) Häusliche Pflege ist trotz Pflegereform …

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Pflegende brauchen „ein Tor zum normalen Leben“. Es tut ihnen gut, für ein paar Stunden nicht von den Pflegeanforde-

rungen fremdbestimmt zu werden; sich bewegen zu können, ohne auf einen schwerbehinderten Menschen Rücksicht

nehmen zu müssen; ohne die empörten Blicke anderer zu spüren, wenn ein geistig behindertes Kind unartikulierte Laute

ausstößt oder ein verwirrter Patient ohne erkennbaren Grund laut vor sich hin weint.

Bei der Suche nach Entlastungen müssen Pflegende lernen, immer und immer wieder zu bitten und Absagen niemals

persönlich zu nehmen. Diese „Bittstellerrolle“ ist schwer zu erlernen und zu akzeptieren, denn die dafür notwendige Ge-

duld und Gelassenheit hängen von der eigenen Tagesform ab. Spätestens wenn auf eine Bitte um stundenweise Vertre-

tung mehrere Absagen hintereinander kommen (wovon die Angefragten nichts ahnen), lauert die Versuchung, das Tele-

fon hinzuknallen und zu sagen oder zu denken: „Lasst mir alle meine Ruhe, ich schaffe das auch alleine!“

Aber weder Wut noch Resignation helfen weiter, denn niemand weiß, wie weit die eigenen Kräfte reichen müssen.

[…] „Mit zunehmender Pflegezeit bricht bei vielen Pflegepersonen die Unterstützung aus den eigenen sozialen

Netzwerken weg, weil zu wenig Zeit vorhanden ist, diese aufrechtzuerhalten, oder weil sich die persönlichen Netz-

werke vor allem bei älteren Pflegepersonen langsam durch Todes- und Krankheitsfälle auflösen.

Durch das Auseinanderklaffen von Belastungen und Ressourcen kommen Pflegende häufig an ihre Grenzen. Nicht

selten leiden sie unter Schmerzen oder psychischen Störungen, die durch die Pflegearbeit verursacht oder ver-

schlimmert werden.“31

Mit zu den schwierigsten Erfahrungen gehört, dass pflegende Angehörige über Jahre mit der Frage leben müssen:

Reicht meine Kraft für die steigenden Anforderungen? Wann wird der Patient sterben? Und wie? Werde ich vielleicht ge-

rade nicht zu Hause sein? Darf ich gelegentliche Abwesenheit überhaupt riskieren? Werde ich am Ende das Richtige

tun? Und was ist, wenn ich selbst richtig krank werde?

Eines Tages endet die Pflegeaufgabe ...

… meist durch den Tod des/der Gepflegten. Dann ist zunächst lückenlos weiter zu funktionieren, denn sämtliche Forma-

litäten (Beerdigung, Nachlassabwicklung, Wohnungsauflösung), alles verbunden mit den entsprechenden Kosten, sind

zu bewältigen. Zeit zum Trauern, zum Weinen, zum Erholen oder zur Selbstfindung bleibt kaum.

Empfänger von Sozialeinkommen sind verpflichtet, sich umgehend einen Arbeitsplatz zu suchen (die Rentenbeiträge

werden sofort eingestellt).. Wer ihn bis zum 63. Lebensjahr nicht gefunden hat, wird gezwungen, vorzeitig die eigene

Rente zu beantragen – trotz der damit verbundenen Rentenabschläge. Drohende Altersarmut macht Angst!

Viele ehemals Pflegende erreichen nur Grundsicherung, infolgedessen wird ihnen die Mütterrente (die ihnen pro Kind

zusteht) einfach auf den Grundsicherungsbetrag angerechnet. „Schließlich erhalten Sie Sozialeinkommen“, erklärt die

zuständige Beraterin, „das müssen Sie doch einsehen!“

„Aber wieso?“, fragen von dieser Kürzung Betroffene, „warum sehen die Verantwortlichen nicht ein, dass diese Rege-

lung (gerade für Frauen) eine diskriminierende Zumutung ist? Schließlich haben auch sie nachweislich 18 Jahre Erzie-

hungsleistung pro Kind erbracht – wie wohlhabende Mütter auch! Und für viele vormals pflegende Angehörige ist die

Enttäuschung noch größer, wenn sie merken, dass sie sich ihre miserable Alterssicherung mit der jahrelang erbrachten

Pflegeleistung „selbst eingehandelt“ haben. Viele arbeiteten lange am eigenen Limit, fühlten sich von zuständigen Be-

hörden, Freunden und Verwandten allein gelassen; nun finden sie nur mühsam in ein normales Leben zurück.

Wem es nicht gelang, sich während der Pflegezeit wenigstens einige Außenkontakte und persönliche Interessen zu be-

wahren, der gerät mit dem Ende der Pflegeaufgabe leicht in das gefürchtete und berüchtigte „schwarze Loch“.

An der Grenze zwischen Dauerpflege und Rückkehr ins normale Leben lauern Erschöpfung, Einsamkeit, Bitterkeit bis

hin zu einer Depression. Aber auch dafür sind vom Gesetzgeber kaum Gesprächs-, Therapie- oder Erholungsangebote

vorgesehen!

„Ihr Einsatz lohnt sich“ – Wirklich?

Viele Pflegende erleben genau das Gegenteil!

31 Neue Caritas, Gesundheitsrisiken …, a.a.O., S. 24