gustav meyrink - wach sein ist alles

7
WACH SEIN IST ALLES! -ALSO SPRACH GUSTAV MEYRINK- Der Anfang ist es, der dem Menschen fehlt. Nicht, daß es so schwer wäre, ihn zu finden - nur die Einbildung, ihn suchen zu müssen, ist das Hemmnis. Das Leben ist gnädig; jeden Augenblick schenkt es uns einen Anfang. Jede Sekunde drängt sich uns die Frage auf: Wer bin ich? - wir stellen sie nicht; das ist der Grund, weshalb wir den Anfang nicht finden. Wenn wir sie aber einmal im Ernste stellen, dann bricht auch schon der Tag an, dessen Abendrot für jene Gedanken den Tod bedeutet, die in den Herrschersaal eingedrungen sind und an der Tafel unserer Seele schmarotzen. Das Korallenriff, daß sie sich mit infusorienhaftem Fleiß im Lauf der Jahrtausende aufgebaut haben und das wir "unseren Körper" nennen, ist ihr Werk und ihre Brut- und Heimstätte; wir müssen in dieses Riff aus Kalk und Leim zuerst eine Bresche legen und es dann wiederum in den Geist auflösen, der es von Anbeginn war, wenn wir freies Meer gewinnen wollen. Wer nicht auf Erden das >Sehen< lernt, drüeben lernt er's gewiss nicht. Ein Jahrtausend und länger noch haben die Menschen gelernt, das Gesetz der Natur zu durchschauen und sie sich dienstbar zu machen. Wohl denen, die den Sinn dieser Arbeit erfaßt und begriffen haben, daß das Gesetz des Innern dasselbe wie das des Äußern ist, nur um eine Oktave höher: sie sind zur Ernte berufen, - die andern bleiben ackernde Knechte, das Antlitz zur Erde gebeugt. Der Schlüssel zur Macht über die innere Natur ist verrostet seit der Sintflut. Er heißt: WACH SEIN! Wach sein ist alles. Von nichts ist der Mensch so fest überzeugt wie davon, daß er wach sei; dennoch ist er in Wirklichkeit in einem Netz gefangen, daß er sich selbst aus Schlaf und Traum gewebt hat. Je dichter dieses Netz, desto mächtiger herrscht der Schlaf; die darin verstrickt sind, sind die Schlafenden, die durchs Leben gehen wie Herdenvieh zur Schlachtbank, stumpf, gleichgültig und gedankenlos. Die Träumenden unter ihnen sehen durch die Maschen eine vergitterte Welt, - sie erblicken nur irreführende Ausschnitte, richten ihr Handeln darnach ein und wissen nicht, daß diese Bilder bloß sinnloses Stückwerk eines gewaltigen Ganzen sind. Diese »Träumer« sind nicht, wie du vielleicht glaubst, die Phantasten und Dichter - es sind die Regsamen, die Fleißigen, Ruhelosen der Erde, die vom Wahn des Tun's Zerfressenen; sie gleichen emsigen, häßlichen Käfern, die ein glattes Rohr emporklimmen, um von oben - hineinzufallen.Sie wähnen wach zu sein, aber das, was sie zu erleben glauben, ist in Wahrheit nur Traum, - genau vorausbestimmt im kleinsten Punkt und unbeeinflußbar von ihrem Willen. Wach sein ist alles. Der erste Schritt dazu ist so einfach, daß jedes Kind ihn tun kann; nur der Verbildete hat das Gehen verlernt und bleibt lahm auf beiden Füßen, weil er die Krücken nicht missen will, die er von seinen Vorfahren geerbt hat.

Upload: pentakosiomedimni

Post on 26-Jul-2015

170 views

Category:

Documents


5 download

TRANSCRIPT

Page 1: Gustav Meyrink - Wach Sein Ist Alles

WACH SEIN IST ALLES!-ALSO SPRACH GUSTAV MEYRINK-

Der Anfang ist es, der dem Menschen fehlt.Nicht, daß es so schwer wäre, ihn zu finden - nur die Einbildung , ihn suchen zumüssen, ist das Hemmnis.

Das Leben ist gnädig; jeden Augenblick sc henkt es uns einen Anfang. Jede Sekund edrängt sich un s die Frage auf: Wer bin ich? - wir stellen sie nicht; das ist der Grund,weshalb wir den Anfang n icht f inden.

Wenn wir sie aber einmal im Ernste stellen, dann b richt auch schon d er Tag an,dessen Abendrot für jene Gedanken den Tod b edeutet, die in den Herrschersaaleingedrung en sind und an der Tafel unserer Seele schmarotzen.

Das Korallenriff, daß sie sich mit infusorienhaftem Fleiß im Lauf der Jahrtausendeaufgebaut haben un d das wir "unseren Körper" nennen, ist ihr Werk und ihre Brut-und Heimstätte; wir müssen in dieses Riff aus Kalk und Leim zuerst eine Breschelegen un d es dann wiederum in den Geist auflösen, der es von Anbeginn war, wennwir freies Meer gewinnen wollen.

Wer nicht auf Erden das >Sehen< lernt, drüeben lernt er's gewiss nicht.Ein Jahrtausend un d länger noch haben die Menschen gelernt, das Gesetz der Naturzu du rchschauen und sie sich dienstbar zu machen. Wohl denen, die den Sinn dieserArbeit erfaßt und b egriffen haben, daß das Gesetz des Innern dasselbe wie das desÄußern ist, nur um eine Oktave höh er: sie sind zur Ernte berufen, - die andern bleibenackernde Knechte, das Antli tz zur Erde gebeugt.Der Schlüssel zur Macht über die innere Natur ist verrostet seit der Sintflut. Er heißt:WACH SEIN!

Wach sein ist alles.

Von n ichts ist der Mensch so fest überzeugt wie davon, daß er wach sei; denno ch ister in Wirklichkeit in einem Netz gefangen, daß er sich selbst aus Schlaf und Traumgewebt hat. Je dichter dieses Netz, desto mächtiger herrscht der Schlaf; die darinverstrick t sind, sind die Schlafenden, die durchs Leben gehen wie Herdenvieh zurSchlachtbank, stumpf, gleichgü ltig und g edankenlos. Die Träumenden unter ihnensehen du rch die Maschen eine vergitterte Welt, - sie erblicken nur irreführendeAussc hnitte, richten ihr Handeln darnach ein und wissen nicht, daß diese Bilder bloßsinnloses Stückwerk eines gewaltigen Ganzen sind. Diese »Träumer« sind nicht, wiedu vielleicht glaubst, die Phantasten un d Dichter - es sind die Regsamen, dieFleißigen, Ruhelosen der Erde, die vom Wahn des Tun's Zerfressenen; sie gleichenemsigen, häßlichen Käfern, die ein glattes Rohr emporklimmen, um von ob en -hineinzufallen.Sie wähnen wach zu sein, aber das, was sie zu erleben glauben, ist inWahrheit nur Traum, - genau vorausbestimmt im kleinsten Punkt und unb eeinflußbarvon ihrem Wil len.

Wach sein ist alles.

Der erste Schritt dazu ist so einfach, daß jedes Kind ihn tun kann; nur der Verbildetehat das Gehen verlernt und bleibt lahm auf beiden Füßen, weil er die Krücken nichtmissen wil l, die er von seinen Vorfahren geerbt hat.

Page 2: Gustav Meyrink - Wach Sein Ist Alles

Sei wach bei allem was Du tust! Glaub nicht, daß Du's schon bist. Nein, Du schläfstund träumst.

Stell Dich fest hin, raff Dich zusammen un d zwing Dich einen einzugen Augenblick nurzu dem körperdurchrieselnden Gefühl: "JETZT BIN ICH WACH!"

Gelingt es Dir, das zu empfinden, so erkennst Du auch sogleich, daß der Zustand, indem Du Dich eben no ch befund en hast, daneben wie Betäubun g undSchlaftrunkenheit erscheint.

Da ist der erste zögernde Schritt zu einer langen, langen Wanderung von Knechttumzu Allmacht.

Auf diese Art geh vorwärts von Aufwachen zu Aufwachen.Es gibt keinen qu älenden Gedanken, den Du damit nicht bannen könn test; er bleibtzurück und kann nicht mehr zu Dir empor; Du reckst Dich üb er ihn, so wie die Kroneeines Baumes über die dürren Äste hinauswächst.

Die Schmerzen fallen von Dir ab wie welkes Laub, wenn Du einmal so weit bist, daßjenes Wachsein auch Deinen Körper ergreift.

Die eiskalten Tauchbäder der Juden un d Brahmanen, die Nachtwachen der Jüng erBuddh as und d er christli chen Asketen, die Foltern der ind ischen Fakire, um nichteinzuschlafen - sie alle sind nichts anderes als erstarrte äußerliche Riten, die wieSäulentrümmer dem Suchenden verraten: Hier hat in Vorzeit ein geheimnisvollerTempel des Erwachenwollens gestanden.

Lies die heiligen Schriften der Völker der Erde: Durch alles zieht sich wie ein roterFaden d ie verborgene Lehre vom Wachsein - es ist die Himmelsleiter Jakobs, der mitdem Engel des Herrn die ganze "Nacht" gerung en hat, bis es "Tag" wurde und er denSieg gewann.

Von einer Sprosse immer hellern und h ellern Wachseins zur anderen mußt Du steigen,wenn Du den Tod üb erwinden wil lst, dessen Rüstzeug Schlaf, Traum und Betäubun gsind.

Schon d ie unterste Sprosse dieser Himmelsleiter heißt: Genie; wie erst sollen wir diehöh eren Stufen benennen! Sie bleiben der Menge unb ekannt und werden fürLegenden gehalten.

Auf dem Wege zum Erwachen wird der erste Feind, der sich Dir entgegenstellt, Deineigener Körper sein. Bis zum ersten Hahnenschrei wird er mit Dir kämpfen; erblickstDu aber den Tag des ewigen Wachseins, der Dich fernrückt von d en Nachtwandlern,die da glauben, sie seinen Menschen, und nicht wissen, daß sie schlafende Göttersind, dann verschwindet für Dich auch der Schlaf des Körpers, und das Weltall i st Diruntertan.

Dann kannst Du Wund er tun, wenn Du will st, und mußt nicht wie ein wimmernderSklave demütig harren, bis es einem grausamen Götzen gefällig ist, Dich zubeschenken od er - Dir den Kopf abzuschlagen.

Freilich, das Glück des treuen, wedelnden Hund es, einen Herrn über sich zu kennen,dem er dienen darf - dieses Glück wird für Dich zerschellen; aber frag Dich selbst,würdest Du als der Mensch, der Du jetzt noch bist, mit Deinem Hund e tauschen?

� � �

Page 3: Gustav Meyrink - Wach Sein Ist Alles

Jeder, der die Erde als ein Gefängnis empfindet, jeder Fromme, der nach Erlösung ruft- sie alle beschwören unb ewußt die Welt der Gespenster.Tu Du es auch. Aber: bewußt!

Ob es für jene, die es unb ewußt tun, eine unsichtbare Hand gibt, die die Sümpfe, in diesie geraten müssen, in Eilande verzaubern kann? Ich weiß es nicht. Ich will nichtstreiten, - aber ich glaub's nicht.

Wenn Du auf dem Wege des Erwachens das Reich der Gespenster durchqu erst, wirstDu allmählich erkennen, daß es nur Gedanken sind, die Du plötzli ch mit den Augensehen kannst. Das ist der Grund , weshalb sie Dir fremd und wie Wesen erscheinen;denn d ie Sprache der Formen ist anders als die Sprache des Gehirns.

Dann ist der Zeitpun kt gekommen, wo sich die seltsamste Wandlung vollzieht, die Dirgeschehen kann: aus den Menschen, die Dich umgeben, werden - Gespenster werden.Alle, die Dir lieb gewesen, werden plötzli ch Larven sein - auch Dein eigener Leib.Es ist die furchtbarste Einsamkeit, die sich ausdenken läßt - ein Pilgern durch dieWüste, und wer die Quelle des Lebens in ihr nicht f indet, verdurstet.

...Es ist das Kennzeichen - das Stigma - aller derer, die von d er "Schlange desgeistigen Reiches" gebissen sind. Es scheint fast, als müßten in uns zwei Lebenaufeinandergepfropft werden, wie ein Edelreis auf den wilden Baum, ehe das Wund erder Erweckung g eschehen kann; - was sonst durch den Tod g etrennt wird, geschiehthier durch Erlöschen der Erinnerung - manchmal nur durch eine plötzli che innereUmkehr.

Alle Menschen könn ten das, wenn sie den Schlüssel hätten. Und der Schlüssel l iegteinzig und allein darin, daß man sich in seiner " Ich-Gestalt" , sozusagen seiner Haut,im Schlaf bewußt wird - die schmale Ritze findet, durch die sich das Bewußtseinzwängt, zu Wachsein und tiefem Schlaf.

Das Ringen nach der Unsterblichkeit ist ein Kampf um das Zepter gegen die unsinnewohn enden Klänge und Gespenster; und d as Warten auf das Königwerden deseigenen " Ichs" ist das Warten auf den Messias.

Alles, was ich Dir hier gesagt habe, steht auch in den Büchern der Frommen jedesVolkes: Das Kommen eines neuen Reiches, das Wachen, die Überwindung d esKörpers und die Einsamkeit. - Und doch trennt uns von d iesen Frommen eineunüb erbrückbare Kluft: Sie glauben, daß ein Tag naht, an dem die Guten in dasParadies eingehen und die Bösen in den Höllenpfuhl geworfen werden - wir wissen,daß eine Zeit kommt, wo viele Erwachen und von d en Schlafenden getrennt seinwerden, wie die Herren von den Sklaven, weil die Schlafenden die Wachen nichtbegreifen könn en - wir wissen, daß es kein Böse und kein Gut gibt, sond ern nur ein"Falsch" und ein "Richtig" ; - sie glauben, daß "Wachen" ein Offenhalten der Sinne undAugen und ein Aufbleiben des Körpers während der Nacht sei, damit der MenschGebete verr ichten könn e - wir wissen, daß das "Wachen" ein Aufwachen desunsterblichen Ichs bedeutet und die Schlummerlosigkeit des Leibes eine natürlicheFolge davon ist; - sie glauben, der Körper müsse vernachlässigt und verachtetwerden, weil er sündig sei - wir wissen: Es gibt keine Sünd e, der Körper ist derAnfang, mit dem wir zu beginnen haben, und wir sind auf die Erde herabgestiegen, umihn in Geist zu verwandeln; - sie glauben, man solle mit dem Leib in die Einsamkeitgehen, um den Geist zu läutern - wir wissen, daß zuerst unser Geist in die Einsamkeitgehen muß, um den Leib zu verklären.

Page 4: Gustav Meyrink - Wach Sein Ist Alles

Bei Dir allein steht es, Deinen Weg zu wählen - ob unsern oder jenen. Es soll Deinfreier Wille sein.

� � �

Ich habe Dir gesagt, der Anfang d es Weges ist der eigene Körper; wer das weiß, kannjeden Augenblick die Wandlung b eginnen.

Ich will Dich jetzt die ersten Schritte lehren:

Du mußt Dich vom Leibe trennen, aber nicht, als wolltest Du ihn verlassen: Du mußtDich von ihm lösen wie jemand, der Licht von Wärme scheidet.Schon h ier lauert der erste Feind.

Wer sich vom Körper losreißt, um durch den Raum zu fliegen, der geht den Weg derHexen, die nur einen gespenstischen Leib aus dem großen irdischen herausgezogenhaben und auf ihm wie auf einem Besen zur Walpurgisnacht reiten.

Die Hexen glauben, auf dem Sabbat des Teufels zu sein, und in Wirklichkeit liegt ihrKörper bewußtlos und starr in der Kammer. Sie vertauschen b los die irdischeWahrnehmung gegen eine geitsige - sie verlieren das Bessere, um das Schlechtere zugewinnen - es ist ein Ärmerwerden statt ein ein Reichersein.

Schon d araus siehst Du, daß es nicht der Weg des Erwachens sein kann. - Um zubegreifen, daß Du nicht Dein Körper bist - wie die Menschen von sich wähnen -, mußtDu erkennen, mit welchen Waffen er kämpft, um die Herrschaft über sich zubehaupten. - Jetzt stehst Du freil ich no ch so tief in seiner Gewalt, daß Dein Lebenerlischt, wenn sein Herz aufhört zu schlagen, und Du in Nacht versinkst, sobald er dieAugen schließt. Du glaubst, Du könn test ihn b ewegen - es ist eine Täuschung : Nein, erbewegt sich und nimmt nur Deinen Willen zu Hilfe. Du glaubst, Du schaffst Gedanken:Nein, er schickt sie Dir, damit Du meinst, sie kämen von Dir, und alles tust, was er wil l.Setz Dich aufrecht hin und nimm Dir vor, kein Glied zu rühren, mit keiner Wimper zuzucken und regung slos zu bleiben wie eine Bildsäule, und Du wirst sehen, daß erhassentbrannt augenblicklich über Dich herfäll t und Dich zwingen wil l, ihm wiederUntertan zu sein. - Mit tausend Waffen wird er auf Dich losstürzen, bis Du ihm wiedererlaubst, sich zu bewegen. - An seiner grimmigen Wut und der überstürztenKampfesweise, mit der er Pfeil auf Pfeil auf Dich abschießt, kannst Du ersehen, wennDu schlau bist, wie bange ihm um seine Herrschaft sein muß und wie groß DeineMacht sein kann, daß er sich vor Dir so fürchtet.

Deinen Körper zu bändigen ist nicht der Zweck, den Du verfolgst. Wenn Du ihmverbietest, sich zu bewegen, so sollst Du es nur deshalb tun, damit Du d ie Kräftekennenlernst, über die er gebietet. Es sind Heerscharen, fast unüb erwindlich durchihre Zahl. Er wird sie gegen Dich in den Kampf schicken, eine nach der andern, wennDu nicht nachläßt mit dem so einfach scheinenden Mittel des Still sitzens: zuerst dierohe Gewalt der Muskeln, die beben und zittern wollen, das Sieden des Blutes, daß Dirden Schweiß ins Gesicht treibt - das Hämmern des Herzens - das Frösteln der Haut,bis Dein Haar sich sträubt - das Schwanken des Leibes, daß Dich durchfährt, als habedie Schwerkraft die Achse verändert - sie alle kannst Du besiegen - scheinbar durchden Willen - denno ch ist es nicht der Wille allein: Es ist die Wahrheit bereits einhöh eres Wachsein, daß unsichtbar hinter ihm steht in der Tarnkappe.

Auch d ieser Sieg ist wertlos; selbst wenn Du Herr würdest über Atmung undHerzschlag, wärest Du nur ein Fakir - ein "Armer" auf Deutsch.Ein "Armer" ! - das sagt genug . -

Page 5: Gustav Meyrink - Wach Sein Ist Alles

Die nächsten Kämpfer, die Dir Dein Körper stellt, sind die ungreifbarenFliegenschwärme der Gedanken.Gegen sie hilft das Schwert des Willens nicht mehr. Je wilder Du nach ihnen schlägst,desto wütender umschwirren sie Dich, und glückt es Dir nur einen Augenblick , sie zuverscheuchen, so fällst Du in Schlummer und bist in anderer Form der Besiegte.Ihnen Stillhalten zu gebieten, ist vergebens; nur ein einziges Mittel gibt es, ihnen zuentrinnen: die Flucht in ein höh eres Wachsein.

Wie Du das zu beginnen hast, mußt Du allein lernen.

Es ist ein vorsichtiges, immerwährendes Tasten mit dem Gefühl und ein einsernerEntschluß zugleich.

Das ist alles, was ich Dir darüber sagen kann. Jeder Rat, den Dir für dieses qualvolleRingen jemand gibt, ist Gift. Hier liegt eine Klippe, über die Dir kein anderer weghelfenkann als Du selbst.

Es braucht Dir nicht zu gelingen, die Gedanken für immer zu bannen - der Kampf mitihnen dient nur dem einen Zweck: den Zustand höh eren Wachseins zu erklimmen.Hast Du diesen Zustand erlangt, naht das Reich der Gespenster, von d em ich Dirbereits gesprochen habe.

Gestalten, schreckhafte und solche in Strahlenglanz, werden Dir erscheinen und Dichglauben machen wollen, sie seien Wesen aus einer anderen Welt. - Es sind nu rGedanken in sichtbarer Form, über die Du noch nicht völli g Macht besitzest!Je erhabender sie sich gebärden, desto verderblicher sind sie, das merke Dir!So mancher Irrglaube hat sich auf solchen Erscheinung en aufgebaut und dieMenschheit in die Finsternis zurückgerissen. Trotzdem steckt hinter jedem dieserPhantome ein tiefer Sinn; sie sind nicht blos Bilder, sie sind für Dich - gleichgü ltig, obDu ihre symbolische Sprache verstehst oder nicht - die Merkmale der geistigenEntwick lung sstufen, auf denen Du Dich befindest.

Findest Du aber den " tiefen Sinn" , der in jedem dieser Menschenschemen verborgenliegt, so siehst Du mit dem Auge des Geistes nicht nur ihren lebendigen Kern, sond ernauch Deinen. Dann wird Dir alles, was Dir genommen worden, tausendfachzurückgegeben wie dem Hiobn; dann bist Du - wieder da, wo Du warst, wie dieTörichten so gerne höhn en; sie wissen nicht, daß es ein anderes ist, wiederheimzukehren, wenn man lang in der Fremde war, als immer zu Hause geblieben zusein.

Ob Dir, wenn Du soweit vorgedrung en bist, jene Wund erkräfte, die die Proph eten desAltertums besesse n haben, zuteil werden od er Du statt dessen in den ewigen Friedeneingehen darfst, das weiß niemand.

Unser Weg führt blos zur Stufe der Reife - bist Du zu ihr gelangt, so bist Du auchwürdig, jenes Geschenk zu erhalten.

Ein Phön ix aber wirst Du geworden sein - so oder so; dies zu erzwingen, steht inDeiner Hand.

� � �

In Wahrheit unsterblich ist nur der erwachte Mensch; Sonn en un d Götter vergehen - erallein bleibt und kann alles vollbringen, was er will . Über ihm ist kein Gott.

Page 6: Gustav Meyrink - Wach Sein Ist Alles

Nicht umsonst heißt unser Weg ein heidnischer Weg. Was der Fromme für Gott hält,ist nur ein Zustand, den er erreichen könnte, wenn er fähig wäre, an sich selbst zuglauben. - So aber zieht er sich in unh eilbarer Blindh eit eine Schranke, die er nicht zuüberspringen wagt - er schafft sich ein Bild, um es anzubeten, anstatt sich darin zuverwandeln.

Willst Du beten, so bete zu Deinem unsichtbaren Selbst; es ist der einzige Gott, derGebete erhört: Die anderen Götter reichen Dir Steine statt Brot.

Wenn Dein unsichtbares Selbst als Wesenheit in Dir erscheint, so kannst Du es daranerkennen, daß es einen Schatten wirft: ich wußte auch nicht f rüher, wer ich bin, bis ichmeinen eigenen Körper als Schatten sah.

Aus den Werken "Das Grüne Gesicht" und "Der Golem".

VON DER FREUDEvon Gustav Meyrink

WER ICH BIN?Hat es je, seit die Erde steht, einen Menschen gegeben,der auf diese Frage die richtige Antwort wüßte?ICH BIN DIE UNSICHTBARE NACHTIGALL, DIE IN DEM KÄFIG SITZT UND SINGT.WIE OFT HABE ICH DIR EIN LIED ANGESTIMMT, DASS DU MICH HÖREN MÖCHTEST,aber du warst taub dein Leben lang.NICHTS IM GANZEN WELTENRAUM WAR DIR STETS SO NAH UND EIGEN WIE ICH,UND JETZT FRÄGST DU MICH, WER ICH BIN? MEIN LIED KANNST DU NUR HÖREN, WENN DU ES MITSINGST.Ein Missetäter ist der, der das Lied seiner Seele nicht hört -ein Missetäter am Leben, an anderen und an sich selbst.MEIN LIED IST EINE EWIGE MELODIE DER FREUDE.Wer die Freude nicht kennt - DIE REINE GRUNDLOSE FREUDIGE GEWISSHEIT,DIE URSACHLOSE: ICH BIN, DER ICH BIN, DER ICH WAR UND IMMER SEIN WERDE -der ist ein Sünd er am heiligen Geist.VOR DEM GLANZ DER FREUDE, DIE IN DER BRUST STRAHLTWIE EINE SONNE AM INNEREN HIMMEL,WEICHEN DIE GESPENSTER DER DUNKELHEIT, DIE DEM MENSCHEN ALS DIESCHEMEN BEGANGENER UND VERGESSENER VERBRECHEN FRÜHERER LEBENBEGLEITEN UND DIE FÄDEN SEINES SCHICKSALS VERSTRICKEN.WER DIES LIED DER FREUDE HÖRT UND SINGT,DER VERNICHTET DIE FOLGEN JEGLICHER SCHULD DARAUF.WER SICH NICHT FREUEN KANN, IN DEM IST DIE SONNE GESTORBEN,wie könn te ein solcher Licht verbreiten?DU FRÄGST, WER ICH BIN?DIE FREUDE UND DAS ICH SIND DASSELBE.WER DIE FREUDE NICHT KENNT, DER KENNT AUCH SEIN ICH NICHT.WER DAS LIED DER NACHTIGALL NICHT HÖRT UND SINGT, DER HAT KEIN ICH;er ist ein toter Spiegel geworden,in dem fremde Dämonen kommen un d gehen.VERSUCH´S NUR UND FREUE DICH! DIE FREUDE BRAUCHT KEINEN GRUND,SIE WÄCHST AUS SICH SELBST WIE GOTT.Freude, die einen Anlaß braucht, ist nicht Freude, sond ern Vergnüg en.So mancher will Freude empfinden und kann nicht -dann g ibt er der Welt und d em Schicksa l die Schuld.

Page 7: Gustav Meyrink - Wach Sein Ist Alles

Er bedenkt nicht: EINE SONNE, DIE DAS LEUCHTEN FAST VERGESSEN HAT,WIE KÖNNTE DIE MIT IHREM ERSTEN SCHWACHEN DÄMMERSCHEINSCHON DIE GESPENSTERSCHAR EINER TAUSENDJÄHRIGEN NACHT VERJAGEN?Was einer sein ganzes Leben hindurch verbrochen hat,läßt sich nicht gutmachen in einem einzigen Augenblick .DOCH IN WEM EINMAL DIE URSACHLOSE FREUDE EINGEZOGEN IST,DER HAT HINFORT DAS EWIGE LEBEN.DENN ER IST VEREINT MIT DEM " ICH" , DAS DEN TOD NICHT KENNT -DER IST IMMERDAR FREUDE. ABER DIE FREUDE WILL GELERNT SEIN -sie will ersehnt sein, aber was die Menschen ersehnen,ist nicht die Freude, sond ern - der Anlaß zur Freude.Nach ihm gieren sie und nicht nach der Freude.

Aus: „ Walpurgisnacht“

Meyrink, Gustav (eigentl. G. Meyer), * 19. 1. 1868Wien, gest. 4. 12. 1932 Starnberger See, Erzähler,Dramatiker, Übersetzer. 1889-1902 Bankier in Prag,1902 unschuldig unter Betrugsverdacht, 1905Übersiedlung n ach München und Tätigkeit als freierSchriftsteller; lebte ab 1911 in Starnberg. Bereitsfrüh Mitglied der Theosophischen Gesellschaft ,sowie mehrerer okkulter Gruppen. Der"Bürgerschreck v on Prag", wandte sich demOkkulten und Antibürgerlichen zu und g ilt mitseinen bekannten Romanen "Der Golem" (1915),"Das grüne Gesicht" (1917), "Walpurgisnacht"(1917) und "Der weiße Dominikaner" (1921) alsKlass iker der phantast. Literatur. In sein Werkgingen mystische, kabbalistische und indischeGeisteselemente ein. Er selbst konvertierte 1927zum Mahajana-Budd hismus. Auf seinem Grabsteinfindet sich ein Monogramm „ VIVO“ (=“ Ich lebe!“ ).