gottvertrauen und selbstbehauptung · 2014. 2. 12. · kirchengeschichte mecklenburgs erzählen und...

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G ottvertrauen und S elbstbehauptung G eschichte der S chweriner G emeinde S t. Anna und ihrer Kirche Georg M. Diederich Heinrich-Theissing-Institut Schwerin

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Page 1: Gottvertrauen und Selbstbehauptung · 2014. 2. 12. · Kirchengeschichte Mecklenburgs erzählen und uns zu den Anfängen christlichen Glaubenslebens an der süd-lichen Ostseeküste

GottvertrauenundSelbstbehauptung�Geschichte derSchweriner Gemeinde St.Annaund ihrer Kirche�Georg M. Diederich

Heinrich-Theissing-Institut Schwerin

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IMPRESSUM

© 2013VERLAG

Heinrich-Theissing-Institut SchwerinREDAKTION

Ursula KnauffRECHERCHE

Uta Biskup, Bärbel Müller GESTALTERISCHES KONZEPT UND LAYOUT

Detlef RingerUMSCHLAG

Detlef Ringer, Wolfgang SpulerBILDBEARBEITUNG

Wolfgang SpulerDRUCK

Turo Medien Druck GmbH SchwerinISBN 978-3-9814985-1-6

BILDNACHWEIS UMSCHLAG UND HAUPTTITEL

Fensterbilder in der Kirche St. Anna zu Schwerin (AEAS)

VERZEICHNIS DER IM TEXT

NICHT ERLÄUTERTEN ABKÜRZUNGEN

Archiv des Erzbischöflichen Amtes SchwerinArchiv Erzbistum HamburgArchiv der Hansestadt RostockBistumsarchiv Osnabrück, jetzt DiözesanarchivBundesbeauftragte(r) für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDRCodex Juris Canonici (Codex des kanonischen Rechts)Deutsche Demokratische RepublikDeutsches Rotes KreuzFreier Deutscher GewerkschaftsbundHauptauftraggeber (hier: beim Rat der Stadt Rostock)Historisches Archiv der Stadt KölnLandeshauptarchiv SchwerinNationalsozialistische Deutsche ArbeiterparteiNationalsozialistische VolkswohlfahrtPfarrarchivSowjetische BesatzungszoneSozialistische Einheitspartei DeutschlandsSowjetische Militäradministration (in Deutschland)Stadtarchiv Schwerin

AEASAEHAHR

BAOSBStU

CICDDRDRK

FDGBHAGHAK

LHASNSDAP

NSVPA

SBZSED

SMA(D)StA

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Geleitwort

Kleine Kirche an der Schlossstraße

Eine Kirchenführung

Neubaupläne und Abrissdrohung – Die Geschichte der Kirche St.Anna zu Schwerin

DER WEG BIS ZUM KIRCHBAU (1663 –1790)

13 ✦ Auftakt in der Schlosskirche

16 ✦ Kapelle über dem Pferdestall

19 ✦ Die Kapelle an der Wasserstraße

VON DER GRUNDSTEINLEGUNG

BIS ZU ERSTEN NEUBAUPLÄNEN (1791–1895)

24 ✦ Kirchenneubau an der Burgstraße

29 ✦ Zierde der Stadt und Sorge der Gemeinde

32 ✦ Zweiter Schulneubau und neue Kirchbaupläne

34 ✦ Gemeindefriedhof und Baulotterie

38 ✦ Neues Dilemma: Schule oder Kirche?

VERSCHOBENER NEUBAU, NEUE AUSMALUNG

UND VERHINDERTES GESCHENK (1896 –1932)

40 ✦ Entscheidung für den Schulbau

46 ✦ Nachbarschaftsklage und Zwangsrenovierung

in den Jahren 1906 bis 1908

50 ✦ Neue Risse – neue Chancen

KIRCHE UNTER DIKTATUREN –

ABRISSDROHUNGEN UND NEUBAUPLÄNE (1933 –1960)

53 ✦ Die Zeit des Hakenkreuzes

57 ✦ Kirchbaupläne unterm Sowjetstern

DRITTE AUSMALUNG, ERNEUTE ABRISSDROHUNG

UND PROVISORISCHE KATHEDRALE (1961–1988)

Neugestaltung des Kircheninneren ✦ 61

Die Kirche muss weg – sozialistische Stadtzentrumspläne ✦ 70

Unerwartete Wendung:

Erweiterungsbau und provisorische Kathedrale ✦ 73

Kathedrale oder Propsteikirche? ✦ 86

AUFBRUCH IN EINE NEUE ZEIT (1989 – 2009)

Gestalten der norddeutschen Kirchengeschichte –Die Fensterbilder in St.Anna

Zeittafel zur Gemeindegeschichte von 1663 bis 1961

Literatur- und Bildnachweis

Die Geistlichen in der katholischen Gemeinde zu Schwerin von 1666 bis 2013

Die Organisten von 1741 bis 2013

Die Lehrer, Küster und Organisten in der katholischen Gemeinde zu Schwerin von 1694 bis 1939

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INHALT

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GELEITWORT

Liebe Leserin und lieber Leser!

Jedes Haus atmet seine Geschichte, erst recht jede Kirche.Auch unsere St.Anna-Kirche atmet sie.Mancher weiß, wann sie gebaut und geweiht worden ist.Doch nur wenige kennen die gesellschaftlichen Bedin-gungen und Ereignisse, die im Laufe von drei Jahrhun-derten das Leben der Gemeinde geprägt haben.Auch dieNamen der Geistlichen, die hier in vergangenen ZeitenVerantwortung getragen, die Namen der Ordensschwes -tern und vieler anderer, die als Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter auf den verschiedenen Feldern der Gemeinde ge-wirkt haben, sind heute kaum noch bekannt. Sogar die-jenigen, die sich maßgeblich für den Bau und den Erhaltder Kirche engagiert haben, sind weitgehend vergessen.Unser Blick ist von der Erfahrung des eigenen Lebens ge-prägt und reicht nur Jahrzehnte zurück. Mehr und mehrMenschen bemühen sich, in der eigenen Familie nach denWurzeln ihrer Herkunft zu suchen. Auch im Leben unserer Gemeinden können wir vieles nurerahnen.

Wer waren sie, die über die Stufen von der Schlossstraßeoder vom Pfarrhof her die Kirche betreten haben? Wievielen ist diese Kirche ein Zuhause geworden? Wie oftsind Menschen mit all ihren Lebenswunden hierher gekommen und haben Heilung erfahren? Welche Lie -der sind hier erklungen in so unterschiedlichen Zeiten?Welche Gefahren haben dieses Haus des Glaubens be-droht, welche Feste der Freude durften hier gefeiert werden?Unsere St.Anna-Kirche atmet bis heute Geschichte, Glau-bensgeschichte, Gemeindegeschichte – und immer auchGottes Geschichte mit uns Menschen hier in Schwerinund in ganz Mecklenburg.Das vorliegende Buch will uns in Wort und Bild in dieseGeschichte hineinführen. Möge denen, die diesen Band indie Hände nehmen und darin lesen, das Herz wach wer-den für unsere St.-Anna-Kirche, für die sen Ort des Segens,des Gebetes, des Schweigens und Verweilens.

Horst Eberlein,PropstSchwerin, im November 2013

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KLEINE KIRCHE AN DER SCHLOSSSTRASSE

M itten in der Fußgängerzone der LandeshauptstadtSchwerin, zwischen Marienplatz und Märchenschloss,liegt die katholische Propsteikirche St. Anna. Man mussschon ein Stück zurücktreten, um das in die Häuserzeileder Schlossstraße eingefügte Gebäude mit spätbarockerFassade als Kirche zu erkennen. Wenn man dann den klei-nen Turm auf dem holländischen Dach entdeckt hat, sind alle Zweifel am Sinn und Zweck dieses Hauses zerstreut. Ein Schild neben dem Eingangsportal verkündet, dass die stabilen Mauern mit den hohen Fenstern einen katholischen Gottesdienstraum bergen.

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Unter herzog lichem Schutz kamen auch wieder Katholi-ken ins lutherische Mecklenburg. Die erste katholische Gemeinde des Landes nach der Re-formation wurde in Schwerin gegründet. Im Jahre 2009konnte sie das dreihundertjährige Jubiläum ihres Beste-hens feiern. Aus welchen Wurzeln sie entstand, wie sie sichentwickelte, wie sie zu ihrer Kirche St. Anna kam, wie katholischer Glaube sich von Schwerin aus wieder überdas ganze Land verbreiten konnte und wie es heute umSt.Anna, um die Gemeinde und ihre kleine Kirche an derSchlossstraße bestellt ist – das alles will das vorliegendeBuch erzählen. Bevor aber der Blick zurück geht auf die Anfänge vor dreiJahrhunderten, soll erst der Kirchenraum in seiner heuti-gen Gestalt vorgestellt werden.

Abb.S.5:Kirche St.Anna zu Schwerin,

Straßenseite,Blick nach Osten

Abb. links:Kirche St.Anna zu Schwerin,

Straßenseite,Blick nach Westen

Abb. rechts:Blick vom Dach

der Kirche St.Annaauf den Schweriner

Dom

Abb.S.8, oben:Relief zum Lebensweg

von Niels Stensen

unten:Kanzel in der Kirche

St.Anna

Abb.S.9,Mitte, oben:

›Maria mit dem Kind‹Spätgotische Holzfigur

Mitte, unten:Taufbecken aus Granitauf schmiedeeisernem

Ständer

rechts:›Anna selbdritt‹

Mittelalterliche Figurengruppe im Sandsteinschrein

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Auch eilige Besucher Schwerins schauen jetzt unwillkür-lich zur gegenüberliegenden Seite. Am Ende der Schus -terstraße, die hier in die Schlossstraße mündet, trifft derBlick auf den hochaufragenden Chor des Domes. DieserZeuge aus einer fast 400 Jahre währenden katholischenEpoche ist seit der Reformation ein lutherisches Gottes-

haus. Damals erlosch katholisches Leben in Mecklen-burg und in den benachbarten norddeutschen Län-

dern. Neue Kirchenordnungen im Rang von Landesgesetzen verboten die Ausübung

des alten Glaubens. Erst nach dem Dreißigjährigen Krieg ergaben

sich neue Möglichkeiten für die Glaubensfreiheit von

Minderheiten.

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ruht. Links vor den Altarstufen steht – aus Stein undBronze gefügt – der Ambo. Der Berliner Künstler PaulBrandenburg schuf dieses Ensemble im Jahre 1985. Vor derWucht des Eindrucks, den es vermittelt, treten alle wei -teren Elemente in der Ausstattung des Kirchenraumes zu-nächst zurück.Auch 1795, als die Kirche nach vierjähriger Bauzeit ge-weiht wurde, zog der Altarraum sofort die Aufmerk -samkeit der Eintretenden auf sich. Damals schmückte ein Fresko des böhmischen Malers Cajetan Bartsch die öst -liche Giebelwand. In bewegten Szenen zeigte es Ölberg-

Wer die Klinke der schweren Eingangstür von St. Annaan der Schlossstraße herunterdrückt, der gelangt über einen kleinen Vorraum sogleich in das Innere der Kirche.Die meisten Besucher sind erstaunt über die freundlich-helle Atmosphäre, die sie empfängt. Die schlichte Aus -malung des klassizistischen Saalbaues in leicht getöntenWandfarben wirkt dabei eher nüchtern und kühl. EineDoppelreihe gläserner Lampen führt den Blick sofort aufdas bronzene Kruzifix, das über dem Altar aus Sandsteinschwebt. Im Hintergrund leuchtet matt ein goldverklei-deter Tabernakel, der in einem steinernen Strahlenkranz

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EINE KIRCHENFÜHRUNG

Innenansicht der Kirche St.Anna,

Blick in Richtung Apsis

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stunde, Kreuzigung, und Auferstehung Christi. An denSeitenwänden befanden sich Gemälde mit weiteren bib -lischen Darstellungen. Altar und Kommunionbank, diemit vielen barocken Verzierungen versehene Kanzel, dieBeichtstühle und auch die Brüstung der Orgelempore waren aus dunklem Holz gefertigt. Die Entwürfe dazustammten von Carl Theodor Severin, der später das her-zogliche Seebad Heiligendamm erbaute.Von der gewölb-ten hohen Decke des einschiffigen Kirchenraumes hingenschwere Leuchter, auf denen während des GottesdienstesKerzen brannten. Tagsüber war es allerdings sehr hell indieser Kirche. So hell, dass man später sogar Jalousien vorden Fenstern angebracht hatte.Damals gab es die bunten Glasfenster noch nicht. Einigewurden 1914 eingebaut, andere kamen erst 1985 dazu. DieBilder darin zeigen große Gestalten, die über die früheKirchengeschichte Mecklenburgs erzählen und uns zuden Anfängen christlichen Glaubenslebens an der süd-lichen Ostseeküste führen. Hier findet man den heiligenAnsgar, der im 9. Jahrhundert das Erzbistum Hamburg-Bremen begründete. Hier sieht man St. Ansverus undSt. Gottschalk, die beide im 11. Jahrhundert den Mär -tyrertod starben. Die heiligen BischöfeVicelin und Berno

standen am Anfang der Bistümer Oldenburg und Schwe-rin. Leben und Wirken dieser Glaubenszeugen des Nor-dens wird in einem gesonderten Kapitel zu den Fenster-bildern dargestellt.Auch zu den weiteren Kirchenfenstern von St. Anna fol-gen dort nähere Erläuterungen. Mit dem Bild des heiligenVitus stellt sich sofort die Frage, was diesen frühchrist-lichen Märtyrer wohl mit Mecklenburg verbinden mag.Ebenso erklärungsbedürftig ist es, wie das Fensterbild derheiligen Elisabeth von Thüringen in eine norddeutscheDiaspora-Kirche kam. Und nur wenige der zufälligen Kir-chenbesucher werden den dänischen Naturforscher undBischof Niels Stensen kennen, der 1686 in Schwerin starb. Aber zu Niels Stensen birgt der Kirchenraum von St. Annanoch ein weiteres, ein erklärendes Bildnis. Die meisten Be-sucher entdecken das bronzene Relief, das unterhalb derEmpore die westliche Giebelwand des Kirchenraumesschmückt, erst beim Hinausgehen. Es zeigt die Lebenssta-tionen Stensens, der 1638 in Kopenhagen geboren wordenwar. Man sieht dort den berühmten Anatomen, der an denUniversitäten in Amsterdam, Leiden und Paris – und spä-ter auch in seiner Vaterstadt – den Aufbau und die Schön-heit des menschlichen Körpers erklärte. Der Betrachter

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wird auf den Spuren des genialen Naturforschers nachFlorenz geführt, wo Stensen das Werden der Erde ent -deckte und so zum Begründer der Geologie wurde. Überdie Konversion zum katholischen Bekenntnis findet Sten-sen zur Nachfolge Christi, die er mit Karriereverzicht undPriesterweihe besiegelt. Den späteren Bischof und Apos -tolischen Vikar Niels Stensen begleitet man über Hanno-ver, Münster und Hamburg bis nach Schwerin, wo sein irdisches Leben in Armut und Krankheit scheinbar erfolg -los zu Ende ging.Es mag verwundern, dass gerade zu Niels Stensen zweiBilder in der katholischen Kirche an der SchwerinerSchlossstraße zu sehen sind. Zwei Bilder von St.Anna dagegen scheinen eher eine Selbstverständlichkeit in einerKirche, die der Mutter Anna geweiht ist. Da ist zum einendas Kirchenfenster, in dem die heilige Anna zusammenmit ihrer Tochter, der Gottesmutter Maria, und dem Jesuskind abgebildet sind. Die Mutter Mariens steht indieser Darstellung allerdings mehr am Rande, ist ebendie gütige Großmutter Jesu. Viel stärker zeigt sich die Mut-terrolle Annas in der kleinen mittelalterlichen Figuren-gruppe ›Anna selbdritt‹, dem kunsthistorischen Kleinodder Schwe riner Propsteikirche. Die wunderbar bemalteHolzschnitzerei im goldenen Strahlenkranz befindet sichin einem Sandsteinschrein auf der linken Seite der Altar-wand. Rechts vom Altar sieht man eine bemalte Mut -tergottesstatue, die ebenfalls aus vorreformatorischer Zeitstammt. Wesentlich jünger ist das Taufbecken aus Granit,eine Arbeit aus der Schweriner Schleifmühle, die der Her-zog 1795 zur Einweihung der Kirche schenkte. Der acht-eckige Stein ruht auf einem schmiedeeisernen Ständer,den damals der Schweriner Schlossermeister Berger an-fertigte.Über der Empore an der Rückwand des Kirchenraumeserblickt man die Orgel. Bereits 1792 wurde ein erstes Instrument aus Orgelteilen, die aus dem Dom stammten,hier errichtet. Die Firma Rudolf Böhm aus Gotha baute1987 die inzwischen vierte Orgel in St. Anna. Der Orgel-prospekt, der wohl ebenfalls aus dem Schweriner Dom

hierher kam, wurde schon vor dem Bau von St. Anna ge-fertigt. Man hat ihn – ebenso wie die noch aus alter Zeiterhaltenen Beichtstühle, die Kanzel und die Brüstung derOrgelempore – bei einer Grundrenovierung 1960 mit hellen Farben übermalt. Im selben Jahr entstand auch derin Gold und kräftigen Farben gehaltene Kreuzweg vonGeorg Nawroth.Von diesem Künstler stammte ebenfallsein hochaufragendes Bildnis des auferstandenen Christus,das als Mosaik direkt auf der damaligen Altarwand aufge-bracht war, allerdings bei der Erweiterung des Kirchen-raumes 1984 nicht erhalten werden konnte. Damals stellteBischof Heinrich Theissing seine Kathedra in der Props -teikirche auf – und so wurde die Propsteikirche St. Annavorübergehend zu einer provisorischen Kathedrale.Bei diesem letzten Umbau entstand auch die kleineUnter kirche, zu der zwischen Kanzel und Altarraum eineTreppe hinunterführt. Dem aufmerksamen Besucher wer-den die beiden Grundsteine nicht entgehen, die hier in

Abbildungsvermerkesiehe S.6.

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der Kirchenwand die Jahreszahlen 1791 und 1984 zeigen.Die Krypta selbst ist als Werktagskapelle mit zwei Bank-reihen eingerichtet. Der Altarraum wird durch das fortge-setzte Halbrund der oberen Kirchenapsis bestimmt. Indessen Mitte steht der ehemalige Kirchenaltar – in der ursprünglichen Ausführung aus Holz, aber etwas verklei-nert. Direkt hinter dem Altar zeigt ein barockes Gemäldeden leidenden Jesus am Kreuz. Links davon erblickt man

eine mittelalterliche Pieta, geschnitzt und bemalt von einem unbekannten Meister, rechts ein Ensemble ausbron zenem Ambo und in die Wand eingelassenem Reli-qienschrein – beides aus den Händen des schon genann-ten Künstlers Paul Brandenburg.Die kostbaren Reliquare enthalten sterbliche Überrestedes heiligen Ansgar und des seligen Niels Stensen. DieseHeiligengräber im Kirchenraum, durch die sich die Gläu-

Innenansicht der KircheSt.Anna,

Blick in Richtung Orgelempore

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bigen in der Communio Sactorum – der Gemeinschaftder Heiligen – zu Hause wissen, führen wieder zurück zuden Zäsuren katholischer Kirchengeschichte im Norden.Zwischen den Lebenszeiten von Ansgar und Stensen lagenfast achthundert Jahre. Vom Geschehen nach weiterendreihundert Jahren zeugen die beiden Bischofswappen,die auf der Rückwand der Unterkirche zu sehen sind. Essind die Wappen der Bischöfe Heinrich Theissing undTheodor Hubrich, die im zwanzigsten Jahrhundert alsApostolische Administratoren die katholische Kirche inMecklenburg leiteten. Wie davor schon WeihbischofBernhard Schräder, an den eine schmiedeeiserne Gedenk -platte im Eingangsbereich vom Pfarrhof aus erinnert, hat-ten sie ihren Sitz in Schwerin. Für sie alle war die kleineKirche St. Anna zu einer Zeit, als Deutschland noch gespalten war, die heimliche, die inoffizielle katholischeBischofskirche im Norden.Wer jetzt aus der niedrigen Krypta wieder die gewundeneTreppe emporsteigt, dem wird die kleine Propsteikirchezu Schwerin auf einmal groß und weit vorkommen. Jetztfällt der Blick zuerst auf die Fensterbilder der südlichenKirchenwand, an deren Anfang St. Anna steht. Die nach-reformatorische Geschichte der Katholiken in Mecklen-burg ist eng mit ihrer Mutterkirche St. Anna verbunden.

Aber am Anfang dieser Entwicklung stand nicht die Ver-ehrung der heiligen Mutter Anna. Der Neubeginn ka -tholischen Glaubenslebens im Herzogtum Mecklenburg-Schwerin ist mit zwei anderen Namen verknüpft, mit demdes umstrittenen Herzogs Christian I. Louis und dem desunbestechlichen Forschers und Bischofs Niels Stensen.Beide waren Konvertiten, kamen im Laufe ihres Lebensvom evangelischen zum katholischen Bekenntnis. Der

Abb. links:Reliquienschrein

in der Krypta von St.Anna

Abb. rechts:Barockes Gemälde

mit der Kreuzigung Christi

PietaSpätmittelalter

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eine legte als Herrscher die Grundlage dafür, dass katho-lisches Glaubensleben im lutherischen Mecklenburg wie-der einen geduldeten Platz fand. Der andere kam als weitsichtiger Seelsorger hierher, um der haltsuchendenGemeinde eine dauerhafte Existenz zu sichern. Mit diesen beiden Namen beginnt die nachreformato -rische Geschichte der katholischen Gemeinde von Schwe -rin. Es war eine typische Diaspora-Geschichte, in der esstets darum ging, sich selbst und das eigene Bekenntnis ineiner andersdenkenden Welt zu behaupten. Die Kraft fürdiese Anstrengung nahm man aus einer Quelle, die sich im

Geschenk des Glaubens, in Gebet und Gottesdienst eröff-nete; aus einem Gottvertrauen, das auch heute noch anhältund gefragt ist. Am deutlichsten wird dieses Wechselspielvon Gottvertrauen und Selbstbehauptung in der Ge-schichte des Gotteshauses, das diese Gemeinde ersehnthatte und nach einhundert Jahren vergeblichen Wartensendlich hatte bauen dürfen, das bald baufällig und vielzu klein war, das mehrmals in seinem Bestand bedroht,zum Abriss freigegeben und schließlich bis zum heutigenTag immer wieder erneuert, erweitert und umgebautwurde.

Kirche St.Anna zu Schwerin,Hofseite

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NEUBAUPLÄNE UND ABRISSDROHUNG –DIE GESCHICHTE DER KIRCHE ST. ANNA ZU SCHWERIN

DER WEG BIS ZUM KIRCHBAU (1663 – 1790)

Auftakt in der Schlosskirche

Der Mittelpunkt des Glaubenslebens einer christlichenGemeinde ist dort, wo sie ihre Gottesdienste feiert. Daskann ein Ort unter freiem Himmel sein, ein Zimmer ineinem privaten Haus, eine stillgelegte Fabrikhalle oderein angemieteter Tanzsaal. Für die hier genannten un -gewöhnlichen Gottesdiensträume gibt es reale Beispieleaus der Geschichte katholischer Diasporagemeinden. Stetsaber war es das ersehnte Ziel, ein würdiges Gotteshaus,eine richtige Kirche zu bauen. Das galt auch für die katho -lischen Christen, die gut einhundert Jahre nach derRefor mation wieder nach Mecklenburg kamen und hierihren Glauben leben wollten.Doch im lutherischen Mecklenburg war die Aus übungkatholischer Religion zu dieser Zeit noch verboten.Ledig lich der Landesherr konnte Ausnahmen von denRege lungen landeskirchlicher Gesetze zulassen. Alleinvon seiner Gnade war das Wohl oder Wehe konfessio nel -ler Minderheiten im Lande abhängig. Die Herzöge in derZeit der Reformation und unmittelbar danach warenstrenge Verfechter der lutherischen Lehre und duldetenkeine abweichenden Glaubensäußerungen. Aber zu Be-ginn des 17. Jahrhunderts trat mit Johann Albrecht II.von Mecklenburg-Güstrow ein Landesherr zu einer ande -ren reformatorischen Lehre, zum Calvinismus, über. AlsReichsstand beanspruchte er das Recht, in seiner Güs -trower Schlosskapelle reformierten Gottesdienst halten zulassen. Damit hatte erstmals ein Bekenntnis, das außerhalbder staatskirchlichen Ordnung stand, einen anerkanntenGottesdienstort im nachreformatorischen Mecklenburggefunden. Als der Herzog dann noch den Güstrower Domfür seine abweichende Religionsübung haben wollte, er -regte das erheblichen Protest bei den mecklenburgischen

Landständen. In sogenannten Landesreversalen verspra-chen die mecklenburgischen Herzöge den Verbleib ihrerUntertanen bei der lutherischen Konfession, unabhän -gig davon, welches Bekenntnis sie selbst annehmen soll-ten. /1/

Auch die nächsten mecklenburgischen Herzöge mit ab-weichender Konfession nahmen das ihnen zustehendeRecht, das Glaubensbekenntnis ihrer Untertanen zu be-stimmen, nicht in Anspruch. Für sich aber verlangten sieeinen würdigen Gottesdienstort, an dem sie ihre Religionöffentlich ausüben konnten. Das galt für Fürst Albrechtvon Wallenstein, der von 1628 bis 1631 Herzog von Meck -lenburg war und in den Schlosskapellen der ResidenzenGüstrow und Schwerin katholischen Gottesdienst haltenließ. /2/ Das galt ebenso für Herzog Christian I. Louis vonMecklenburg-Schwerin, der 1663 konvertierte und dessenHofkapläne mit Billigung des Reichstages ab 1665 in derSchweriner Schlosskirche die heilige Messe feierten. /3/

Als die meist zugereisten Katholiken nach dem Willendes Landesherren die Schlosskirche übernahmen, war dasfür die mecklenburgische Landeskirche ein besonderes

/1/ Vgl. Schröter,Katholische Religionsausübung,

S.11–13.

/2/ Vgl. Lisch, Wallensteins Kirchen- und Schulregierung,

S.5ff.; vgl. auch Diederich, Katholischer Neu beginn, S.95f.

/3/ Vgl. Diederich/Bleyen -berg/Ringer, Kapelle, S.7 –17.

Das Schweriner Schloss um 1650

Ausschnitt aus dem Kupferstichvon Matthäus Merian

(siehe S.14)

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Ärgernis. Denn der im Schloss integrierte Kirchbau warerst wenige Jahre nach Einführung der Reformation errichtet worden. Zudem entsprach das nach denVorstel-lungen Martin Luthers gebaute Gotteshaus keinesfalls denVorgaben für den katholischen Gottesdienst. Die Kanzelim Mittelpunkt und der Altar mehr am Rande – das

konnte der römischen Liturgie kaum gerecht werden. Wieman sich zunächst behalf, ist nicht bekannt. 1669 endlichbrachte der erste ApostolischeVikar der Nordischen Mis-sionen, Valerio Macchioni, aus Hannover einen tragbarenReisealtar. Außerdem firmte er in Schwerin und weihtehier Kelche für die Feier des Messopfers. /4/

Stadtansicht Schwerin um 1650

Kupferstich von M. Merian

/4/ Vgl. Diederich/Bleyen -berg/Ringer, Kapelle, S.13;

vgl. auch Diederich, Katholischer Neubeginn, S.97 f.

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Es sieht nicht so aus, als hätte sich die kleine katholischeHofgemeinde auf einen ständigenVerbleib in der Schwe-riner Schlosskirche eingerichtet. Anfangs bestand zwarnoch Hoffnung, auch in fernerer Zukunft unter demSchutz eines Nachkommen des jetzigen Landesherrn zustehen. Aber Herzog Christian I. Louis, der die über -wiegende Zeit vom Ausland aus regierte, blieb auch inzweiter Ehe kinderlos. Was würde geschehen, wenn der katholische Herzog starb? In seinem Testament hatte erverfügt, dass sechs Wochen nach seinem Tod der katho -lische Gottesdienst in der Schlosskirche zu beenden sei. So wurde die Sorge der mecklenburgischen Katholikenum einen künftigen Gottesdienstort immer drängender.In ihrer Not wandten sie sich an den neuen ApostolischenVikar Niels Stensen, der erstmals im Mai 1685 zu einer Visitation in Schwerin war. Bischof Stensen nahm sich der

Abb. oben:Inneres der SchwerinerSchlosskirche um 1650

Ausschnitt aus einem Gemäldevon 1839

Abb. rechts:Herzog Christian I. Louis

(*1627 †1692)

Abb. links:Herzogswappen

Mecklenburg-SchwerinStickerei auf Messgewand,1683

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Sache an und bat den in Paris weilenden Landesherrn,in Schwerin ein Haus für den katholischen Gottesdienst erwerben zu dürfen. Der Herzog sagte Stensen zwar Auf-enthaltsrecht in seiner mecklenburgischen Residenzstadtzu, die heilige Messe aber sollte er in der Schlosskirchefeiern. Stensen war enttäuscht, zog im Dezember1685 aberdoch nach Schwerin und wirkte hier als einfacher Pries -ter für die Hofgemeinde. Mehrfach mahnte er den Her-zog, seinem Antrag nachzukommen und das Fortbestehenkatholischer Religionsübung im Land zu sichern. Dochder Landesherr versagte weiterhin den beantragten Kauf

eines Hauses, in dem – unabhängig vom Geschehen beiHofe – die Feier katholischen Gottesdienstes künftig ge-stattet sein sollte. Niels Stensen starb im November 1686,ohne die Zusicherung des gewünschten Privilegs zur katholischen Religionsübung in Schwerin erreicht zu haben. /5/ Von Stensens Bitte um ein eigenes Gotteshaus,von diesem eigentlich ersten Bauantrag bis zur Weihe einer neuerbauten katholischen Kirche in Schwerin soll-ten mehr als einhundert Jahre vergehen.

Kapelle über dem Pferdestall

Wenige Jahre nach dem Tod von Niels Stensen verstarbauch Herzog Christian I. Louis. Die katholische Hof -gemeinde musste im Sommer 1692 die Schlosskirche räumen. Frühere Berichte zur Gemeindegeschichte vonSt. Anna gingen von der Annahme aus, dass die mecklen-burgischen Katholiken zunächst keinen ständigen Gottes-

Abb. links:Bischof Niels Stensen

(*1638 †1686)

Abb. rechts:Abdruck des Siegelsvon Niels Stensen

Bischofswappen

/5/ Scherz, Niels Stensen, S.258–261.

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dienstort in Schwerin fanden. Diese Annahme hat sich inzwischen als falsch erwiesen. /6/

Der letzte katholische Hofkaplan, der BenediktinerpaterErnst Borckloo aus Hildesheim, blieb als Missionar bei sei-ner kleinen Gemeinde. Die Sakramente feierte man jetzt– mit Duldung des neuen lutherischen Landesherrn Fried -rich Wilhelm – im sogenannten ›Sacello‹, im ›KleinenHeiligtum‹. So wurde die erste provisorische Kapelle ge-nannt, für deren Einrichtung die Familie von Bibow den

Heuboden ihres Pferdestalles zur Verfügung gestellt hatte.Dieser Pferdestall stand an der Wasserstraße, der heutigenSchweriner Klosterstraße. /7/

Der Oberstallmeister Bernhard von Bibow war einer derranghöchsten Beamten am herzoglichen Hof. Der tole-rante Lutheraner hatte eine französische Katholikin zurFrau. Gabrielle von Bibow, geborene Flavigny de Beau,war 1672 im Gefolge der Herzogin Isabelle Angélique deMontmorency nach Schwerin gekommen. Warum sie inder mecklenburgischen Residenzstadt blieb, obwohl dieHerzogin bald wieder nach Paris zurückreiste, ist nicht bekannt. Aus ihrer 1677 geschlossenen Ehe mit Bernhardvon Bibow gingen vier Kinder hervor, die alle katholischerzogen wurden. Schon bevor Gabrielle von Bibow ab1696 die einflussreiche Stellung einer Hofmeisterin be-kleidete, galt sie als wichtige Stütze der katholischen Hof-gemeinde. /8/

Frau von Bibow war es wohl auch, die ihren Mann davonüberzeugt hatte, der katholischen Minderheit in SchwerinGastrecht zu gewähren.Was aber sollte werden, wenn diealternde Oberhofmeisterin das Zeitliche segnen würde?Der Gedanke, auch diesen Gottesdienstort bald aufgebenzu müssen, bewog die Gemeinde und ihre prominenten

Erstes Kirchenbuchder Gemeinde St.Anna.

Sterbeeintrag Herzog Christian I. Louis

Anmerkungen siehe S.18.

Trauungsmatrikel im erstenKirchenbuch der Gemeinde

Die Trauungen, wie auch anderesakramentale Handlungen,

wurden ›in sacello‹, oder ›in cubi-culo privato‹ vorgenommen.

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Fürsprecher immer wieder, den jeweiligen Herzog umeine eigene Kirche zu bitten. Im Jahre 1695, zehn Jahrenach dem ersten Antrag auf ein eigenes Gotteshaus durchNiels Stensen, trug der kaiserliche Gesandte, Graf von Eck,den herzoglichen Räten dieses Anliegen erneut vor. Da-

mals ging es um Verhandlungen zur Neuaufteilung desLandes Mecklenburg. Der Kaiser wäre, so der Gesandte,durchaus zu Zugeständnissen an den Herzog von Meck -lenburg-Schwerin bereit, wenn dafür den Katholiken inder Residenzstadt ein Ort freier Religionsausübung zu-gestanden würde. Man einigte sich schließlich darauf, allesso zu be lassen wie es war. Das bedeutete lediglich einestillschweigende Duldung katholischen Glaubenslebensauf dem Bibowschen Hof und in den Häusern weitererkatholischer Hofbeamter. /9/

Als Leiter der kleinen mecklenburgischen Gemeinde griffPater Borckloo zwanzig Jahre nach dem Tode Stensensdessen Anliegen erneut auf./10/ Er wandte sich 1706 an denersten Hofbeamten des Herzogs, den 1697 zum katholi-schen Glauben konvertierten Geheimratspräsidenten Grafvon Horn, und schlug diesem den Bau eines Hauses in derSchweriner Neustadt (Schelfe) vor, in dem man die hei-lige Messe feiern undWohnungen für katholische Priestereinrichten könnte. Die erhoffte freie Religionsausübungauf der Schelfe wurde allerdings nie gestattet. /11/

Im Jahre 1711 schien dann der Traum vom eigenen neu-erbauten Gotteshaus zum Greifen nahe. Zwei Jahre zuvorhatten Jesuiten die Schweriner Gemeinde übernommenund in Schwerin eine Missionsstation gegründet. ErsterSchweriner Missionspfarrer war der Jesuitenpater GerardDumont. In seiner Amtszeit versuchte der neue kaiser licheGesandte, Graf von Schönborn, beim mecklenbur gischenHerzog die Genehmigung für einen katholischen Kirch-bau in Schwerin zu erreichen. Der Graf hatte ein solchesPrivileg bereits für die Katholiken in Hannover und inBraunschweig bei deren Landesherrn erwirkt. Doch derVersuch in Schwerin blieb erneut erfolglos. Die in Aus-sicht gestellte Genehmigung zum Grundstückserwerbund Kirchbau wurde nicht erteilt. /12/

1724 verstarb im Alter von 81 Jahren OberhofmeisterBern hard von Bibow. Das Anwesen der Bibows war hochverschuldet, so dass seine kranke und ebenfalls betagteWitwe ihren Hausstand aufgeben musste. Um den Kapel-lenstandort für die Gemeinde zu erhalten, mietete Pater

Sakrale Gefäße ausder Anfangszeit der Gemeinde

Abb.oben:Kännchen

(Punze unter Standfläche:800er Silber, Handarbeit.

H:65mm)Abb.Mitte:Ölgefäß

in Form eines Türmchens(Silber, innen vergoldet.H:100mm, Dm:34mm.

Gravur außen: ›A. J.‹,Punze unter Standfläche:

›CALLFS‹)Abb.unten:Ciborium

(Silber, innen vergoldet.H, mit Deckel:47mm,

Dm:40mm.Punze unter Standfläche: Halbmond, Krone, Löwe)

/6/ Vgl. Diederich, KatholischerNeubeginn, S. 106 –112.

/7/ Vgl. Diederich/Bleyen -berg/Ringer, Kapelle, S.34.

/8/ Vgl. Scherz, Niels Stensen, Bd.II, S.263; vgl. auch Diede-

rich/Bleyenberg/Ringer, Kapelle, S.21–23.

/9/ Vgl. LHAS, 2.12-3/4, Nr.1695-4; vgl. auch

Diederich/Bleyenberg/Ringer,Kapelle, S.34 f.

/10/ Vgl. LHAS, 2.12-3/4, Nr.1451. Bereits im März 1692

hatte der herzogliche Rat von Bünsow das ursprünglicheAnliegen Stensens dem Herzogerneut vorgetragen. Ganz kon-kret nannte er für den Kauf vonHausgrundstück oder Bauplatzdie Schweriner Schelfe. Damalsfeierte man aber noch in derSchweriner Schlosskirche dieheilige Messe, weswegen der katholische Herzog wohl nur

ausweichend antwortete. Vgl. LHAS, 2.12-3/4,Nr.1393.

/11/ Vgl. Diederich/Bleyen -berg/Ringer, Kapelle, S.37 f.

/12/ Vgl. LHAS, 2.12-3/4, Nr.1444; vgl. auch Diederich,

Katholischer Neubeginn, S.113 f.

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Dumont das Wohnhaus für jährlich 70 Taler, was damalsmehr als die Hälfte der Gemeindeeinkünfte ausmachte.Allerdings konnte aus dieser Summe weder die Schul -denlast bedient noch die dringend notwendige Instand-setzung des Hauses vorgenommen werden. Als dann Gabrielle von Bibow am letzten Tag des Jahres 1725 ver-starb, begannen die Gläubiger auf einen Verkauf des Anwesens zu drängen. /13/

Die Kapelle an der Wasserstraße

Es war ein Glück für die Gemeinde, dass sich lange keinKäufer fand. Das lag zum einen an der wirtschaftlich undpolitisch katastrophalen Lage in Mecklenburg, die durchlangjährige Fehden zwischen dem mit kaiserlicher Exe-kution belegten Herzog Leopold und den Landständenverursacht war. Die dauernde Anwesenheit der Exeku-tionstruppen verschlimmerte die Situation für die Bevöl-kerung noch. Handel und Wandel kamen weitgehend zumErliegen. /14/ Zum anderen waren alle Gebäude auf demsonst günstig gelegenen Bibowschen Grundstück an derSchweriner Burgstraße in einem so maroden Zustand, dassein möglicher Käufer mit einer Komplettsanierung rech-nen musste. /15/

Im Juni 1734 gelang es dann P. Karl von Stöcken SJ, dendauerhaften Verbleib der Gemeinde auf dem BibowschenAnwesen zu sichern. Der junge Jesuitenpater, der im offi-ziellen Schriftverkehr mit dem Pseudonym ›Carolus Bur-chardins‹ unterzeichnete, war1730 nach Schwerin gekom -men und hatte den kranken Gerard Dumont zwei Jahrespäter als Missionspfarrer in Schwerin abgelöst. Er begannsofort, einen Plan für den Erwerb des Grundstückes zuschmieden, auf dem die Kapelle stand. Die Gläubigerbrachte er dazu, auf einen beträchtlichen Teil ihrer For -derungen zu verzichten. Aus Erbschaften und Spendenvermögender Gemeindeglieder hatte er bald ein Drittelder Kaufsumme von 1800Talern zusammen. Für den Restwollte er einen Kredit aufnehmen, der aus erwarte tenMieteinnahmen des Bibowschen Wohnhauses getilgt wer -den sollte. Nun war ein Kauf des Anwesens durch die nur geduldetekatholische Gemeinde oder gar durch den Jesu itenpaterim lutherischen Mecklenburg aus rechtlichen Gründennicht möglich. Pater von Stöcken fand auch hier einenAusweg: Er bat die Witwe Dorothea von Baroldt, ge -borene von Fineck (Fineke), als offizielle Käuferin desGrund stückes aufzutreten. Frau von Baroldt, die Jahre zu-vor katholisch geworden war, stimmte dem Vorhaben zu.

/13/ Vgl. Diederich/Bleyen-berg/Ringer, Kapelle, S.88 f.;

vgl. auch Jahresbericht der Jesuiten von 1725, in: Bleyen-

berg/Enselein/Neufeld/Seegrün(Übers.), Kapelle Bd.II, Jahresberichte, S.28–30.

/14/ Vgl. Bleyenberg/Enselein/Neufeld/Seegrün (Übers.),

Kapelle Bd.II, Jahresberichte, S.20 –37.

/15/ PA St. Anna Schwerin, 3.095-1. Generalinventur des

Bibowschen Anwesens durch denkaiserlich bestellten Notar Caspar

Heinrich Ölcker von 1730.

Anmerkungen zur S.20:

/16/ Vgl. Diederich/Bleyen -berg/Ringer, Kapelle, S.86 – 91.

/17/ Ebd.S.91; Vgl. auch Bleyen-berg/Enselein/Neufeld/

Seegrün (Übers.), Kapelle Bd.II,Jahresberichte, S. 45 – 54.

/18/ PA St.Anna Schwerin,3.095,Nr.6; vgl. auch Diederich/

Bleyenberg/Ringer, Kapelle, S.92.

Kelch, Silber vergoldet,1725(H:230mm, Dm Kuppa:87mm)Geschenk des kaiserlichen Statt-halters in Böhmen, Graf Franz

Anton von Sporck (*1662 †1738),dessen Mutter eine geborene

von Fineke (mecklenburgischerAdel) war.

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Nachdem der umtriebige Pater die Billigung seiner Obe-ren aus Lübeck und Hamburg eingeholt hatte, schloss erim Juni 1734 im Namen und im Auftrag der Frau von Baroldt den notariellen Kaufvertrag. Um diesen Vertragauch gegen politisch motivierte Einwände zu sichern,holte er eine umfängliche schriftliche Bestätigung durchdie herzoglichen Kanzlei ein. /16/

Im selben Jahr begann man mit der baulichen Erneuerungder Kapelle an der Wasserstraße. Als bei der SanierungTeile des Stalles abgerissen werden mussten, gab es Pro -test bei Hofe. Nach vorübergehend verhängtem Baustoppkonnte der Herzog aber überzeugt werden, dass die vor-gesehene innere Überholung der Kapelle ohne äußere Instandsetzung nicht zu machen war. Schon zu Weih -nachten 1734 feierten über 400 Katholiken ihren erstenGottesdienst in dem renovierten und wesentlich erwei -terten Gottesdienstraum. Im Jahr darauf bekam der ehe-malige Stall ein neues Dach, nach und nach entstandenWohnungen für den Missionspfarrer und ebenso für denLehrer an der 1735 gegründeten katholischen Schule.Auch die Sanierung des Wohnhauses wurde in Angriff genommen, so dass bald Mieteinkünfte zur Tilgung desKaufkredites hereinkamen. /17/

Wie dünn allerdings der tragende Grund für diese Bau-maßnahmen war, zeigte sich spätestens beim Ableben derWitwe Baroldt, die offiziell Eigentümerin des ehemals Bibowschen Besitzes war. Zum Glück konnte sie 1741noch auf ihrem Sterbebett einen Kaufvertrag mit demReichsgrafen Erasmus von Küssow schließen. In diesemVertrag stimmte der konvertierte Reichsgraf aus Pom-mern zu, das von ihm erworbene Anwesen weiterhin zubeständigem Nutzen und Gebrauch der Mission zu über-lassen. /18/

Doch brachten Umbau und Sanierung der bestehendenGebäude immer nur provisorische Lösungen für diewachsende Gemeinde. Das betraf sowohl den Gottes-dienstort als auch die katholische Gemeindeschule. Dar -über hinaus gab es inzwischen noch ein Vorseminar, andem begabte Jugendliche aus ganz Nordeuropa für ein

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weiterführendes Studium im österreichischen Linz aus -gebildet wurden. Jetzt brauchte man Unterrichtsräume,eine Biblio thek sowie Platz für ein kleines Internat. Nebendem Missionspfarrer wohnte ab 1739 noch ein zweiterGeistlicher in Schwerin, der das Vorseminar leitete und daneben auch Dienste in der Gemeinde versah. /19/

So reichten 1748 die beiden Jesuitenpatres Zuhorn undHenseler erneut ein Gesuch beim toleranten HerzogChristian Ludwig II. ein, in dem sie um Genehmigung für

den Neubau einer Kirche in der Schweriner Schelfstadtbaten. Die Kirche sollte einen oder mehrere Türme haben,dazu wollte man gern nochWohnungen für die Patres undweiteres Personal bauen. Offenbar hatte der Herzog zu-nächst die Absicht, dem Wunsch der Patres zu folgen. Erließ sie einen geeigneten Bauplatz am damaligen Seeuferaussuchen, erklärte ihnen aber später, dass er die beabsich-tigte Schenkung des Grundstückes und die Genehmigungzum Bau »wegen der Wirren im Vaterlande« nicht vollzie-hen könnte./20/ Tatsächlicher Grund für den herzoglichenRückzieher war jedoch ein Gutachten seiner eigenenHofbeamten, in dem das Ersuchen der katholischen Geist-lichen mit Bezug auf landeskirchliche Gesetze abgelehntwurde. /21/

Um wenigstens den zusätzlichen Platzbedarf für das Vor-seminar zu befriedigen, ließen die Patres 1750 ›heim -lich‹ ein neues zweistöckiges Haus auf dem BibowschenGrund stück errichten. Dieses Gebäude hatte mit zwei-

Abb. S.20:Seite aus dem Kaufvertrag für

das Bibowsche Grundstück

/19/ Vgl. Krüger, Linzer Vorseminar, S.56 ff.

/20/ Vgl. Diederich/Bleyen -berg/Ringer, Kapelle,

S. 122 – 125, Vgl. auch Bleyen-berg/Enselein/Neufeld/

Seegrün, Kapelle Bd.II, Jahres -berichte, S.90.

/21/ LHAS 2,12-3/4, Nr.1447.

Anmerkungen zu den S.22,23:

/22/ Vgl. Bleyenberg/Ense -lein/Neufeld/Seegrün (Übers.),

Jahresberichte, S.93 f.

/23/ Vgl. Diederich/Bleyen -berg/Ringer, Kapelle, S.128.

/24/ Vgl. Diederich, KatholischerNeubeginn, S.147; vgl. auch

Bleyenberg/Enselein/Neufeld/Seegrün (Übers.), Kapelle Bd.II,

S.119 –135.

/25/ PA St.Anna Schwerin,4.092;vgl. auch Diederich/Bleyen -berg/Ringer, Kapelle, S.128.

/26/ Vgl.Archiv der deutschenProvinz der Jesuiten, München,

Sammlung Metzler, Jahres -berichte der Schweriner Jesuiten

von 1771/72.

Abb. links:Kasel,1. Hälfte 18. Jh.

Historisches Messgewand mit Wappenstickerei

aus der Schatzkammer der Gemeinde St. Anna

Abb. rechts:Gesticktes Wappen

der meck lenburgischen Adels-familie von Fineck (Fineke)

auf der Kasel.Die Kasel ist vermutlich um 1735

der Gemeinde St. Anna von der Frau des Hamburger Reichs -

hofrates von Kurtzrock, die eine Gebürtige von Fineck war,

geschenkt worden.

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