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GOETHE JAHRBUCH Im Auftrage des Vorstandes der Goethe-Gesellschaft herausgegeben von Karl-Heinz Hahn EINHUNDERTUNDFUNFTER BAND DER GESAMTFOLGE 1988 Sonderdruck / Im Buchhandel einzeln nicht käufli ch Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger weimar

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GOETHE JAHRBUCH Im Auftrage

des Vorstandes der Goethe-Gesellschaft

herausgegeben

von

Karl-Heinz Hahn

EINHUNDERTUNDFUNFTER BAND DER GESAMTFOLGE

1988 Sonderdruck / Im Buchhandel einzeln nicht käuflich

Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger weimar

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KATHARINA MOMMSEN

Der Wolf und die Frauen im "Divan"-Paradi~J

Seit 1819 der "West-östliche Divan" erstmals erschien, hat man an dem Wolf im Gedicht "Begünstigte Tiere" herumgerätselt. Schon der erste Kommentator, Christi an Wurm, dem es gelang, viele Quellen zum "Divan" aufzuspüren, mußte gestehen, ,,[ ... ] die hier von dem Dichter beigebrachte Legende konnte nicht auf­gefunden werden".1 Über anderthalb Jahrhunderte sind seitdem verstrichen, in ' denen die Kommentatoren viele Lücken der Quellenforschung haben schließen können, aber nach der Legende von der Begegnung Mohammeds mit einem Wolf und dem Gebot des Propheten an das Raubtier, den armen Mann zu schonen und stattdessen das Schaf des Reichen zu holen, hat man vergeblich gesucht.

Ein weiteres Rätsel an dem G edicht "Begünstigte Tiere", mit dem sich die Kom­mentatoren bisher erfolglos beschäftigt haben, bildet die Vierzahl der von Goethe genannten Paradiestiere. Noch in einem der letzten Kommentare zu "Begünstigte Tiere" schrieb Hans Albert Maier : "Die vier in Goethes ,Divan'-Paradies zuge­lassenen Tiere scheint der Dichter selbst zusammengestellt zu haben; so dürfte er mehrere Quellen benutzt haben. [ . .. ] Für die endgültige Darstellung von Goethes Quellen zu dem vorliegenden Gedicht sei .auf das angekündigte Mommsensche Quellenwerk verwiesen. Sollte auch dort keine Quelle geboten werden, wo alle vier Tiere zusammen als Paradies bewohner genannt sind , dann wäre es eine humo­ristisch-ungalante Bosheit Goethes gewesen, ebensoviele Tiere wie Frauen in sein ,Divan'-Paradies zugelassen zu haben."2

Mit dem "angekündigten Mommsenschen Quellenwerk" ist die "Dokumentation zum West-östlichen Divan" gemeint, an der die Arbeit nach wie vor im Gange ist, und die im Verlag Otto Harrassowitz in Wiesbaden erscheinen soll. Doch in der Zwischenzeit möchte ich den Verdacht der Frauenfeindlichkeit nicht länger auf dem "Divan"-Dichter sitzen lassen, als habe er - mit der Vierzahl von "Auserwählten Frauen" und "Begünstigten Tieren" im "Buch des Paradieses" - Frauen und Tiere auf dieselbe Stufe stellen und die Frauen - im Gegensatz zur Männerwelt - herab­setzen wollen.

1 Commentar zu Göthe's west-östlichem Divan bestehend in Materialien und Originalien zum Ver­ständnisse desselben herausgegeben von Ch. Wurm, Nürnberg 1834, S. 271.

2 Goethe, West-östlicher Divan. Kritische Ausgabe der Gedichte mit textgeschichtlichem Kommen­tar von Hans Albert Maier, Tübingen 1965, Kommentar S. 425 ff.

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Um diesen Verdacht gründlich auszuräumen, müssen wir etwas weiter ausholen. Es wird sich dann zeigen, daß Goethe - wie oftmals im Leben - auch im "Divan" als Anwalt der Frauen fungierte. Zunächst haben wir zu untersuchen, wie es zur Konzeption der "Begünstigten Tiere" im "Buch des Paradieses" kam.

Einige Vorstellungen vom islamischen Paradies reichten weit zurück in Goethes Jugendzeit, ehe er sie im "West-östlichen Divan" ausgestaltete. Schon früh war dem Dichter die Vorstellung vertraut, daß man in der Welt des Islam "begünstigte Tiere" kennt, die sich einen Platz im Paradies erworben haben. Informationen dar­über hatte er aus einem seiner Lieblingsbücher erhalten, das er in "Dichtung und Wahrheit" unter dem Kurztitel "Dappers Reisen" wiederholt erwähnt. Dies kompi­latorische Werk des 1690 gestorbenen holländischen Arztes und Geographen Olfert Dapper war nicht nur für Holländer im Zeitalter der bis nach Indien ausgedehnten Handelsbeziehungen interessant. Übersetzungen in andere europäische Sprachen sorgten dafür, daß viele Leser sich an Dappers Beschreibungen der Länder Afrikas und Asiens delektierten, die er aus verschiedenen Quellen auf sehr unterhaltsame Weise zusammengestellt hatte. Goethe erinnerte sich in seiner Autobiographie, daß er aus Dappers Reisen indische Fabeln zuerst kennen lernte, die er mit großer Lust in seinen Märchenvorrat hineinzog.3 Sie gehörten zu seinem Repertoire, wenn er als Erzähler seine Jugendfreunde unterhielt,4 sei es im Frankfurter Zirkel seiner Schwe­ster, im Darmstädter Freundeskreis oder während der Wetzlarer Epoche. Noch in Weimar besaß Goethe den mit seinem Exlibris versehenen, weit über tausend Sei­ten und viele Kupfertafeln umfassenden Band von Dappers Reisen in Großfolio­format. Er hatte ihn sich aus drei verschiedenen Exemplaren des Dapperschen Ge­samtwerks in Schweinsleder zusammenbinden lassen.5 Dieser, vom Dichter sehr

3 "Dichtung und Wahrheit", Teil III, Buch 12 (WA I, 28, S. 144). 4 "Dichtung und Wahrheit", Teil !II, Buch 12 (WA I, 28, S. 168). Ein Nachhall solcher Erzählun­

gen findet sich noch in Goethes übermütigen Versen vom 14. November 1774 für die muntere Gesellschaft im Haus des Juwelenhändlers Ludwig Crespel (Schlußverse von "In das Stammbuch Johann Peter de Reynier's [ . .. ]"). Die Verse spielen an auf die Lieblingsgeschichte seiner Zu­hörer: Dappers Erzählung vom Affen "Hannemann" (WA I, 4, S. 202). - Noch ein halbes Jahr­hundert später nahm Goethe auf diesen Lieblingsstoff aus "Dappers Reisen" in den "Zahmen Xenien" wiederum Bezug (WA I, 3, S. 257), ein Beweis der nachhaltigen Wirkung des Buches.

5 Der Band befindet sich noch heute in Goethes Bibliothek und umfaßt die folgenden Ausgaben: 1.) Asia oder Ausführliche Beschreibung des Reichs des Grossen Mogols und e. gros sen Theils von Indien [ ... ] nebenst e. vollkommenen Vorstellung des Königreichs Persien [ .. . ] Aus [ .. . ] alten u. neuen Land- und Reise-Beschreibungen anfangs in Niederländ. Sprache zusammengetra­gen durch O. Dapper [ ... ] ins Hochteutsche [ . .. ] übers. v. Johann Christoff Beern, Nürnberg: J. Hoffmann 1681, 3 BI., 300 S., 2 BI., 1 Kupfertafel, 30 Kupfertaf. 4° (2°). - 2.) Beschreibung des Königreichs Persien in sich haltend [ ... ] nebenst. e. außführlichen Vorstellung d. benachbarten Länder [ ... ] Aus [ ... ] alten u. neuen Land- und Reisebeschreibungen anfangs in Niederländ. Spra­che zusammengetragen durch O. Dappern [ . .. ] ins Hochteutsche [ . .. ] übers. v. Johann Christoff Beern, Nürnberg: J. Hoffmann 1681, 170 S., 1 BI., 12 Kupfertaf. 4° (2°). - 3.) Umständliche und eigentliche Beschreibung von Asia, in sich haltend die Landschafften Mesopotamien [ ... ] Anatolien [ ... ] nebenst. e. vollkommnen Vorstellung [ .. . ] Arabiens [ ... ] Aus [ ... ] alten u. neuen Land­und Reise-Beschreibungen anfangs in Niederländ. Sprache zusammengebracht durch O. Dapper [ ... ] ins Hochteutsche [ ... ] übers. v. Johann Christoff Beern, Nürnberg: J. Hoffmann 1681, 3 BI., 556 S., 6 BI. 1 Kupferst., 24 Kupfertaf. 4° (2°). - Vgl. Goethes Bibliothek. Katalog, bearb. v. Hans Ruppert, Weimar 1958, S. 586, Ne. 4082-4084.

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geschätzte, voluminöse Band6 enthielt auch eine "Ausführliche Beschreibung der Landschaft Arabien". Dort hatte Goethe früh schon die Behauptung lesen können, der Prophet Mohammed habe den Tieren ebenso wie den Menschen für ihre bösen und guten 'Taten Strafe und Belohnung, Verdammnis oder Auferstehung beim Jüngsten Gericht in Aussicht gestellt, da Tiere auch Verstand und Seele hätten. Dapper berichtet darüber folgendermaßen: 7

"Mahomet füget den Bestien eine verständliche Seele zu.

Mahomet / der sich rühmet alle Wissenschafften in seinem Alkoran begriffen zu haben / schreibet nicht allein den stummen Bestien eine verständliche Seele / und einen Menschengleichen Verstand zu / sondern theilet ihnen auch auf gleiche Weise eine Auferstehung / Belohnung und Straffe / nach ihren Verdiensten und bösen Werken mit; wie er dann im Haubtstuck deß Alkorans von den Bestien also schreibet: Kein Vieh ist auf der Erde / noch kein Vogel flieget in der Lufft / der nicht euch Menschen gleich seye; zumahlen wir nichts in dem Buch (Alko­ran) verworffen noch verachtet haben. Sie werden hernachmahls vom HErrn • auferwecket werden [ ... ]."

Nach dem Tode des Propheten, so berichtet Dapper weiter, seien unter den Ge­setzgebern der islamischen Tradition Meinungsverschiedenheiten darüber entstan­den, ob die Tiere in dasselbe Paradies wie die Menschen oder in ein gesondertes Paradies kommen würden, oder ob die Tiere nicht überhaupt wieder zu Staub und Erde würden: ,, [ ... ] Dieser Meinung deß Mahomets [daß auch die Tiere "aufer­weckt" werden] stimmen Alkassai / Vahb / Kahb / Abbas und andere Mahome­tanische Gesetzlehrer bey; aber hierinnen kommen sie nicht überein / ob nemlich die guten Thiere / und die deßwegen mit Belohnung und Glückseeligkeit zu be­schenken / eben das jenige Paradies der Seeligkeit / so den Menschen versprochen worden / oder ob sie ein anders überkommen werden. Viel unter ihnen sind in der Meinung / es seye vor beyderley nur ein Paradies bereitet. Die aber solches läugnen / haben wieder zweyerley Meinungen. Etliche unter ihnen halten davor / es werden die Thiere einen andern Ort ihrer Belohn = und Vergeltung überkom­men / sie nennen aber zehen derselben / welche sie den Menschen zueignen. Andere behaubten / es werden die Thiere in Erden und Staub verwandelt werden [ ... ]."

Nur über zehn Tiere, denen das Paradies sicher sei, gab es, Dapper zufolge, kei­nen Streit. Dies waren: 1) die Kamelin des Saleh; 2) das Kalb Abrahams; 3) der Widder Ismaels; 4) die Kuh des Moses; 5) der Walfisch des Propheten Jonas; 6) der Esel des Propheten J eremias; 7) die Ameise des Salomon; 8) der Wiedehopf

6 Goetbes Tagebuch verrät uns, daß er das Buch noch seinem Enkel zeigte; siehe die Eintragung vom 19. Oktober 1822: Nach Tische [ .. . ] Mit Walther die Bilder im Dapper durchgesehen, Palä­stina und Syrien (WA III, 8, S. 252) . Gelegentlich diente das Werk auch zur abendlichen Unter­haltung. Vgl. das Tagebuch vom 15. Dezember 1818: Abends Dappers Asien (WA III, 9, S. 272).

7 Der hier zitierte Passus steht auf S. 452 f . der oben in Fußnote 5 an dritter Stelle genannten "Umständlichen und eigentlichen Beschreibung von Asia", Kapitel "Ausführliche Beschreibung der Landschaft Arabien". - Herrn Richard W. Dorn in Wiesbaden und den Mitarbeitern des Goethe­Hauses in Weimar danke ich für freundliche Beschaffung von Kopien dieses Textes.

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der Königin Balkis von Saba8 ; 9) das Kamel des Propheten Mohammed; 10) der Hund der Siebenschläfer von Ephesus.

Auch die Legenden dieser zehn heiligen Tiere, durch die ihre Aufnahme ins Paradies begründet wird, übermittelt Dapper. Zugleich weist er auf eine gewisse Rangordnung hin:

"Unter denen zehen Thieren / welcher halber kein Streit ist / besitzet die Ka­mehlin deß Saleh den ersten Platz / worvon diese Histori erzehlet wird.

Dieser Saleh war / von GOtt / vor Abrahams Zeiten / zu den Thamuditern gesendet / umb dieselben zu einem bessern Leben zu vermahnen. Die Thamu­diter aber begehrten von ihme / zum Zeichen der Bekräfftigung seines Prophe­ten = Ambts / und Sendung von GOtt / er sollte eine Kamehlin aus einem Stein­felsen / den sie ihme gezeiget hatten / hervorbringen. Solches nun brachte er / durch ein eiferiges Gebet / von GOtt in kurzem zu weeg. Diese von ihm hervor­gebrachte Kamehlin weidete deß Tages auf den Bergen, deß Nachts aber kehrte sie wieder nach der Stadt / und schrye mit lauter Stimme: Diejenigen / welche Milch zu haben verlangen / kommen zu mir! und also dienete sie allen Bürgern. Selbige aber / an statt daß sie der Vortrefflichkeit dieses Mirakels und der emp­fangenen Wohltat hätten eingedenk seyn sollen / tödteten die Kamehlin / und jagten den Saleh aus ihrem Gebiet.

Nach der Kamehlin folget Abrahams Kalb / welches das jenige ist / mit dessen Fleisch er die drey Engel bewirthtet und gespeiset. Diesem Kalb deß Vatters folget der Widder seines Sohns Ismael; dann etliche [Araber] setzen vor den [hebräischen Stammvater] Isaak ihren Stamm=Vatter Ismael / in der Opferung Abrahams. Dem Widder deß Ismaels folget deß Mosis Kuhe. [ ... ; es folgt die Legende der Kuh.]

Auf diese Kuhe folget der Wallfisch deß Profeten Jonas. Nach welchem der Esel deß Profeten Jeremias mit gros sem Geschrey in das Paradies tritt. [ ... ; es folgt die Legende des Esels.] Dieser Esel ist eines von den 10 Thieren / welche Mahomets Paradies verdienet haben.

Nach diesem Esel folget die Ameise deß Salomons / von welcher der Alkoran also schreibet: [ ... ; es folgt die Legende der Ameise 1.

Nach der Ameise wird der Widhopf der Balkais / der Königin von Saba / oder dem glücklichen Arabien / ins Paradies geführet / worvon der Alkoran auch eine weitläuffige Fabel erzehlet: Es hat nemlich der Widhopf zwischen Salomon und der Königin Balkais sich als einen Kuppler gebrauchen lassen. Man giebt auch vor / es werde deß Mahomets Kamehl in das Paradies kommen.

Endlich schliesset der Hund der sieben Efesischen Schläfer die Zahl der Thiere deß Paradieses [ ... ; es folgt die Erzählung der Siebenschläferlegende] ."

Schon hier sei vermerkt, daß man im "West-östlichen Divan" die Zahl zehn auf vier reduziert findet, und daß Goethe von allen zehn hier genannten Tieren nur

8 Kenner des "West-östlichen Divans" erinnern sich, daß dieser Wiedehopf Hudhud eine wichtige Funktion als Liebesbote zwischen Hatem und Suleika bzw. Goethe und Marianne von Willemer bekommen sollte. wie noch manche Hudhud-Gedichte aus dem Nachlaß des Dichters und Anspie­lungen in der Korrespondenz zwischen Goethe und den Will emers zeigen.

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den an letzter Stelle erwähnten Siebenschläfer-Hund ins "Buch des Paradieses" auf­nahm.

Außer bei Dapper begegnete Goethe der islamischen Vorstellung von heiligen Tieren im Paradies auch, als er sich mit dem Koran näher befaßte. Vom Spätherbst ' 1771 oder von 1772 stammen die noch erhaltenen Goetheschen Koran-Auszüge aus der während der Herbstmesse 1771 erschienenen Koran-Übersetzung von Megerlin und aus der lateinischen Übersetzung von Maracci. Die Beschäftigung mit dem Koran führte bekanntlich zum Projekt der "Mahomet"-Tragödie, von der noch einige Bruchstücke erhalten geblieben sind.9 In unserm Zusammenhang ist es wich­tig, daß Goethe damals in der kommentierten Koran-Übersetzung des Ludovico Maracci auch der Vorstellung von heiligen Tieren im islamischen Paradies begeg­nete. Bei Maracci findet sich u. a. folgender Hinweis :10 "Isti [Dervisi quidam Aegyptii] ponunt in Paradiso quatuor animalia: Equum S. Georgii, seu Chiderellae: asinum Jesu Christi: camelum Mahumeti; et canem septem Dormientium. Alii addunt, arietem Abrahae."

Hier werden also nur vier Paradies-Tiere: 1) das Pferd des heiligen Georg, 2) Jesus' Esel, 3) Mohammeds Kamel und 4) der Siebenschläfer-Hund genannt; allenfalls an fünfter Stelle: Abrahams Widder. Nur zwei dieser in Maraccis Koran­Kommentar erwähnten heiligen Tiere sind identisch mit denen, die Dapper auf­zählt: das Kamel des Propheten und der Siebenschläfer-Hund. Dieser begegnet später in Goethes "Buch des Paradieses" wieder, wo wir auch den bei Maracci als heiliges Tier erwähnten Esel Christi wiederfinden, den Goethe an die Spitze der Paradiestiere stellt.

Eine allgemeinere Betrachtung Goethes über die Ausdehnung religiöser Spekula­tionen oder Kulte auf Tiere und über geistliche "Begünstigungen" [I] von Tieren findet sich in Rückerinnerungen an Italien, über die Goethe in der "Italienischen Reise" unter dem Datum des 18. Januar 1787 berichtet. Ausgelöst wurden Goethes Gedankengänge durch das Fest des heiligen Antonius, des Patrons der viertüßigen Geschöpte, das Goethe damals in Rom miterlebte. Er beschreibt dieses Fest als saturnalischen Feiertag tür die sonst belasteten Tiere, so wie tür ihre Wärter und Lenker.H Während alle Menschen an diesem Feiertage zu Fuß gehen müssen, wer­den Pferde, Maultiere, Esel und Hornvieh mit bunten Bändern geschmückt und vom Priester mit Weihwasser besprengt. Der Dichter verflicht die Schilderung dieses Erlebnisses mit Worten, die zeigen, daß seine Gedankengänge auch die in der isla­mischen Tradition vorkommende Vorstellung von "begünstigten Tieren" einschlos­sen: Es läßt sich bemerken, daß alle Religionen, die entweder ihren Kultus oder ihre Spekulationen ausdehnten, zuletzt dahin gelangen mußten, daß sie auch die Tiere einigermaßen geistlicher Begünstigungen teilhatt werden ließen.

Während der "Divan"-Epoche fand Goethe bei seinem orientalistischen Gewährs­mann Joseph von Hammer weitere Hinweise auf in der Welt des Islam besonders

9 Vgl. Der junge Goethe, neu bearbeitete Ausgabe in fünf Bänden, hrsg. v. Hanna Fischer-Lamberg, Bd. III, Berlin 1966, S. 125-133.

10 Alcorani textus ex correctioribus Arabum exemplaribus [ ... ] descriptus [ ... ] in latinum trans la­tus; appositis unicuique capiti notes, atque refutatione: His omnibus praemissus est Prodromus [ ... ] auctore Ludovico Maraccio [ ... ] Patavii 1698, IIr. prodr. 79.

11 "Italienische Reise", Rom, 18. Januar 1787 (WA I, 30, S. 255 f.).

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ausgezeichnete Tiere, wobei wiederum eine andere Anzahl angegeben wird. Ham­mer spricht von "sieben berühmtesten Tieren": "Die sie ben berühmtesten Thiere : 1) der Widhopf S al 0 mon s, 2) der Hund der Siebenschläfer, 3) das Kameel S ale h ' s, 4) die Kuh des M 0 ses, 5) der Fisch des J 0 n a s, 6) die Schlange der Eva, 7) der Pfau des Paradieses,"12

Soviel läßt sich mit Sicherheit sagen: Durch alles, was Goethe über einige dem Islam heilige Tiere gelesen hatte, fühlte er sich veranlaßt, auch in sein "Buch des Paradieses" Tiere aufzunehmen. Im Anschluß an divergierende Quellen hätte der "Divan"-Dichter zehn, sieben, sechs, fünf, vier, d . h. beliebig viele, "begünstigte Tiere" im "Buch des Paradieses" auftreten lassen können. Mit Goethes Entschei­dung für nur vier Tiere stimmen die Angaben des Maracci in dessen Koran-Ausgabe einigermaßen überein. Dort wird auch die von Goethe übernommene Vorstel!ung vermittelt, daß es sich um das wirkliche Paradies, nicht um ein Sonderparadies für Tiere handelt. Maracci hatte u. a. berichtet: "Mahumetanis solemne est bestiis non solum sanctitatem, verum etiam Paradisum tribuere: veluti arieti Abrahae, Albo­raco Mahumeti, et cani huic dormientium."13

Hier wird den bisher genannten Paradiestieren also auch noch das Wunderpferd Al Borak hinzugefügt, mit dem der Prophet bei der nächtlichen Auffahrt durch alle Himmel flog . Man sieht, Goethe war generell mit derartigen islamischen Vorstel­lungen von Paradiestieren lange vertraut; die Überlieferung, wie sie sich ihm dar­stellte, schwankte jedoch in Bezug auf Anzahl und Art der Tiere. Das gab auch dem "Divan"-Dichter die Freiheit, in "Begünstigte Tiere" seine eigene Auswahl zu treffen. Für die Vierzahl entschloß Goethe sich vermutlich, weil er fühlte, er könne unmöglich mehr als "Vier Tiere"14 nennen, da die Vierzahl von "Auser­wählten Frauen" durch die islamische Überlieferung festgelegt war. So war gewiß seine Entscheidung für die Vierzahl der Tiere nicht als süffisante Bosheit gegenüber weiblichen Lesern oder zur derben Erheiterung der Männerwelt gedacht, sondern hing vielmehr mit des Dichters Rücksicht auf Frauen zusammen.

Den letzten Anstoß zum Gedicht "Begünstigte Tiere" gab Goethes Studium der "Fundgruben des Orients", das ihn auf eine arabische Version der Siebenschläfer­Legende in englischer Übersetzung stoßen ließ.15 Dort fand er am Ende der lan­gen Nacherzählung den auf Paradiestiere bezüglichen Hinweis: "And it is asserted, that the ass of the prophet Jesus, the wolf of Joseph, and the dog of the companions of the cave, will all be admitted into paradise on the day of resurrection. "16

Der hier an erster Stelle einer Gruppe von Paradies tieren genannte Esel von Jesus war Goethe schon früher bei Maracci begegnet, desgleichen der Hund der

12 [J. v. Hammer], Encyklopädische Übersicht der Wissenschaften des Orients, aus sieben arabi­schen, persischen und türkischen Werken übersetzt, Leipzig 1804, Bd. 1, S. 324.

13 Maracci, a. a. 0 ., S. 427, Fußnote. 14 "Vier Tiere" - so lautete auch die ursprüngliche Benennung im Wiesbadener Register der

"Divan"-Gedichte von Ende Mai 1815, wo das G edicht als Nr. 98 erscheint. 15 Diese Version wurde von dem Araber Wahab ben Monabbeh im "Caab el Akhbar" überliefert

und von J. C. Rieb (Fundgruben des Orients, Bd. IH, Wien 1813, S. 347 ff. ) mitgeteilt unter dem Titel: "The story of the Seven sleepers". Dieser Überlieferung ist bekanntlich das Gedicht "Siebenschläfer" im "Buch des Paradieses" zu verdanken.

16 Ebenda, S. 380. Auf diese Stelle als mögliche Anregung zu "Begünstigte Tiere" weist schon Hans A. Maier, a. a. 0 ., S. 426, hin.

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Siebenschläfer. Doch ein Wolf als Paradiestier war dem "Divan"-Dichter neu. Auch in den "Fundgruben des Orients" wurde der "Wolf des ]oseph" lediglich erwähnt, eine zugehörige Legende jedoch fehlte. Der Leser erfährt nicht einmal, welcher ]oseph gemeint ist; die Bibel aber weiß weder beim alttestamentlichen noch beim neutestamentlichen ]oseph von einem Wolf. So sah Goethe aufgrund der "Fundgruben des Orients" einen "Wolf" ins islamische Paradies gelangen, ohne doch zu wissen, aufgrund welcher Verdienste. Goethes sprichwörtliche Lust zu fabulieren wurde durch diesen Wolf angeregt. So stellte er, mit größter Freiheit gegenüber seinen Quellen, eine eigene Gruppe von Paradiestieren zusammen, als er am 22. Februar 1815 die folgenden Verse dichtete:

Begünstigte Tiere Vier Tieren auch verheißen war, Ins Paradies zu kommen; Dort leben sie das ewge Jahr Mit Heiligen und Frommen.

Den Vortritt hier ein Esel hat, 5 Er kommt mit muntern Schritten: Denn Jesus zur Propheten-Stadt Auf ihm ist eingeritten.

Als gebürtiger Christ läßt der "Divan"-Dichter dem E sel des Herrn den Vor­tritt. Ausgeschlossen bleiben demnach alle früheren, aus alttestamentlicher Über­lieferung stammenden Tiere. Nach ]esus wird in der nächsten Strophe an den Propheten Mohammed erinnert, aber nicht etwa in Verbindung mit seinem Kamel oder mit dem Flügelpferd - neben dem sich ]esus' Esel wohl allzu bescheiden aus­genommen hätte -, sondern in einer von Goethe selbst erfundenen Propheten-Le­gende:

Halb schüchtern kommt ein Wolf sodann, Dem Mahomet befohlen: 10 Laß dieses Schaf dem armen Mann, Dem Reichen magst du' s holen.

Abgesehen davon, daß Mohammed eigentlich gar keinem Wolf begegnet sein konnte, weil es Wölfe in den arabischen Ländern nicht gibt,17 existiert nirgends in den vielen von Goethe während der "Divan"-Epoche gelesenen Werken eine Über­lieferung, nach welcher Mohammed einem Wolf befohlen habe, das Schaf des ar­men Mannes zu schonen. Allerdings kannte Goethe zwei Legenden, die den Pro­pheten mit wolfs ähnlichen Raubtieren in Verbindung bringen, und die eine ent­fernte Ähnlichkeit mit Motiven der Goetheschen Wolf-Strophe haben. Chardin näm-

17 Vgl. Georg Jacob, Altarabisches Beduinenleben nach den Quellen geschildert, Berlin 1897, S. 18: "Unser Wolf kommt in Arabien nicht vor; doch glaubte ich früher, daß d h i ' b den Scha­kal-wolf (Canis lupaster) oder einen nahen Verwandten bezeichne ; auch bei Ebers Cicerone II S. 162 findet man als arabischen d h i 'b den Schakalwolf abgebildet, den Ebers für das in Lykopolis verehrte Tier hält. Ich glaube jedoch, daß Hommel (HS 303) das Wort mit Recht (wenigstens für Arabien) auf den Schakal (Canis aureus) bezieht; alle von mir gesammelten Be­lege passen am besten auf diesen [ ... ]u.

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lieh berichtet innerhalb seiner "Voyage en Perse" von einer religiösen Wunderge­schichte, nach welcher eine Hirschkuh sich vor den Verfolgungen eines "loup" schutz­flehend zu Mohammed flüchtete; der Prophet habe dem Raubtier eine bessere Beute versprochen, falls es von der Hirschkuh ablasse, und aus Dankbarkeit für ihre Ret­tung sei die Hirschkuh dem Propheten lebenslang gefolgt,18 In einer anderen Pro­phetenlegende berichtet Maracci von der Begegnung mit einem "lupus"; dort aber besteht die Pointe gerade darin, daß das Schaf dem Wolf von Gott zur Nahrung bestimmt ist.19

In bei den Legenden kommen der arme Mann und der Reiche der Goetheschen Wolf-Strophe nicht vor. Darin besteht jedoch gerade die soziale Pointe des "Divan"­Dichters.

Die Wahrscheinlichkeit ist außerordentlich groß, daß Goethe die Wolfslegende erfand, um dadurch einem Tier Eingang ins "Divan"-Paradies zu verschaffen, das seinen eigenen Namen trug und bestimmte Verhaltens merkmale seiner selbst zeigte. "Wolf" war ja Goethes Rufname von Kindheit an, was auch eine Identifizierung seiner selbst mit dem bezeichneten Tier mit sich brachte. Dafür seien einige Bei­spiele angeführt. Als Goethe mit Anfang zwanzig unvermutete literarische An-

.griffe gegen Wieland und F. H. Jacobi führte, verglichen ihn die beiden Attackier­ten mit einem "feurigen Wolf" und gaben ihm den Titel "Doktor Werwolf". Ja­cobi schreibt darüber aus der Rückschau an Wieland: "Anfangs sahen wir beide ihn [Goethe] als einen feurigen Wolf, der des Nachts an honetten Leuten hinauf­sprang und sie in den Kot wälzte. Das garstige Tier! riefen wir aus, und ich weit heftiger und lauter, als Sie. Bald darauf erfuhr ich, daß man um ein bißchen Spu­kens willens nicht gleich des Teufels sei, sondern oft nur deswegen umgehe, weil man noch nicht ordentlich begraben sei, oder weil man einen Schatz versteckt habe. Also befand sich's mit Doktor Werwolf [ ... ]".20

Etwa zwei Jahrzehnte später, in einer Zeit der Entfremdung zwischen Goethe und dem Ehepaar Herder, klagt Caroline Herder einem gemeinsamen Freund gegen­über, daß sie sich wie ein "Lamm dort am Bache" vorkäme, das "dem Wolf, der's eben fressen will, eine Lobrede hält." Und sie endigt mit dem dramatischen Aus­ruf: "Ach, er [Goethe] hat eine Wo I f s - N a t u r!" .21 - Weitere zwanzig Jahre

18 G. v. Loeper wies als erster hin auf diese Wundergeschichte aus Chardins "Voyage en Perse", Amsterdam 1735, T. 4, S. 202 (Kapitel "Deseription de la Religion"). .

19 Wurm wies als erster hin auf diese überlieferung im Koran von Maraeei (2. prodr. 32): "Arri­puerat lupus ovem: pastor vero eum inseeutus eripuit ovem ex ore illius. Lupus vero dixit pastori : ,Non ne dmes, ut Deus puniat te, dum eripis a me victum, quem ipse praebuit mihi? Tune pastor apstupuit, quod lupus humana voee loqueretur. Dixit ei lupus : Vis ne referam, ti bi rem admirabiliorem? Mahumetus in Medina, enarrat hominibus historias rerum praeteritarum. Venit autem pastor Medinam, et narravit hoc Mahumeto eoram omni populo: ille vero dixit: ,Vera loeutus est: et juro per eum, in euius manus est anima. Mahumeti , quod non veniet dies supremi Judieii, donec ferae aloquantur homines; et alloquator virum lorum seutieae suae, et corrigia ealcei sui; et annunciet ei femur ipsius, quid novi feeerit familia ejus post diseessum ejus.'"

20 F. H. Jaeobi an Wieland, 22. April 1775 (Goethes Gespräche. Auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann ergänzt u. hrsg. v. Wolfgang Herwig (im folgenden zitiert als Biedermann-Herwig) , Bd. I, Zürich 1965, S. 120, Nr. 200.

21 Carotine v. Herder an C. L. v. Knebel, 19. Oktober 1803 (Biedermann-Herwig, Bd. I, S.894, Nr. 1859). Anlaß zu den Exklamationen gab Goethes Trauerspiel "Die natürliche Tochter", des­sen Verlauf und Bedeutung Caroline Herder damals verkannte.

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später, als die von Goethe verehrte polnische Klaviervirtuosin Maria Szymanowska dem Dichter einen Abschiedsbesuch macht und seinem Enkel Wolf, ihrem beson­deren Liebling, Geschenke bringt, kommt es zu folgendem Dialog zwischen der jungen, schönen Künstlerin und dem vierundsiebzigjährigen Goethe: ",0 daß ich doch schon viel älter wäre und hätte einen Enkel bald zu hoffen, er müßte Wolf heißen, und das erste Wort, das ich ihn stammeln lehrte, wäre Ihr teurer Name.' -,Comment,' erwiderte Goethe, "vos compatriotes ont eu tant de peine a chasser des loups de chez eux, et Vous voulez les y reconduire?' "22

Goethes scherzhafte Erwiderung : "Wieso, Ihre Landsleute haben mit viel Mühe die Wölfe verjagt, und Sie wollen sie wieder hereinlassen?", macht besonders deut­lich, wie geläufig ihm die Identifizierung seiner selbst mit einem "Wolf" gewesen ist.

Betrachtet man die Wolf-Strophe aus "Begünstigte Tiere" auf Gehalt und Moral, so läuft das vom Wolf befolgte Gebot, den Armen zu schonen, auf Goethes eigene Lebenspraxis hinaus . Besonders in seinem Wirken als Staatsmann, als Minister in Sachsen-Weimar, strebte er von Anfang an danach, der armen thüringischen Bevöl­kerung zu helfen, sie nach bestem Vermögen vor Ausbeutung zu schützen. 23 Wenn er je eine "Wolfs natur" besaß, so hat er diese zu bezähmen getrachtet und sich höheren sittlichen Geboten gefügt.

Trifft unsere Vermutung zu, daß sich Goethe selbst hinter dem "Wolf" im "Buch des Paradieses" verbirgt, so erklären sich auch die Anfangsworte Halb schüchtern kommt ein Wolf heran sehr einfach. Halb schüchtern tritt er auf, weil er kein eigent­lich Zugehöriger zum islamischen Paradiese ist. Nur "halb" gehört dieser "Wolf" hierher, doch erhält er Aufenthaltserlaubnis aufgrund seines Wohlverhaltens im Leben, hat er doch ein ausdrückliches Gebot des Propheten befolgt.

Mit seinem Fabulieren schloß Goethe sich der uralten Schwanktradition vom erlisteten Eingang ins Paradies an, die zugleich mit den Wunschtraumgebilden von einem besseren Jenseits bei den meisten Völkern existiert. Aus dem deutsch­sprachigen Bereich sind schon mittelalterliche Schwänke dieser Art und Märchenvom Bruder-Lustig-Typ bekannt. Es ist wohlverbürgt durch Zeugnisse von Goethes Zeitgenossen und auch durch seine autobiographischen Schriften, daß der Dichter sich gern hinter Masken verbarg und es liebte, allerlei unvermutete Rollen zu spie­len. Auch weiß man, daß es ihm besonderes Vergnügen bereitete, heimlich Schnipp­chen in der Tasche zu schlagen, wie er es nannte, womit er Scherze meinte, die er für sich selbst veranstaltete und die von andern nicht so leicht durchschaut werden

22 Überliefert durch den bei diesem Gespräch anwesenden Kanzler F. v. Müller unter dem Datum des 5. November 1823 (Biedermann-Herwig, Bd. III, 1, S. 612, Nr. 5317) .

23 Vgl. Goethe - Warum? Eine repräsentative Ausles~ aus Werken, Briefen und Dokumenten, hrsg. u. mit einem Nachwort versehen v. K. Mommsen, Frankfurt/Main 1984, S. 105 ff., über Goethes staatsmännisches Wirken und soziales Handeln (Klinger, Juni 1776: "Goethe ist geliebt durchaus und des Landes Heil." - J. H. Merck, 1777: "Goethe gilt und dirigiert alles, und jedermann ist mit ihm zufrieden, weil er vielen dient und niemandem schadet. Wer kann der Uneigennützigkeit des Menschen widerstehn?" - J. A. Leisewitz, 1780 : "Von Armen-Anstalten; Goethe hat auf seine Kosten im Weimarischen Versuche gemacht, mit denen er zufrieden war." -D. J . Veit, 1793 : "Goethe ist hier unter vielen Volksklassen [ . .. ] als sehr freundlich, gutmütig bekannt, und hat die allgemeine Achtung und Liebe ; die mittlern Stände nennen ihn den Genius des Orts." - H. Voß, 1804: "Gestern sagte mir eine Frau, Goethe wäre der Segen Weimars, alles brächte er ins Gleis, und er sei der Wohltäter aller Hilfsbedürftigen. " etc).

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konnten.24 Bei der Wolf-Strophe in "Begünstigte Tiere" scheint es sich um einen solchen Fall zu handeln.

Für die folgenden Strophen, die das Siebenschläfer-Hündlein und die Katze von Mohammeds Freund Abuherrira als drittes und viertes der "begünstigten Tier~" nennen, geben die "Divan"-Kommentare hinreichende Erläuterungen. Man könnte allenfalls hinzufügen: Während der Esel die Ehre gehabt hatte, den Herrn zu tra­gen, und der Wolf sich durch Bezähmung seiner Raubgier und Gehorsam Verdienste erworben hatte, zeichnet das Hündlein der Siebenschläfer sich durch die Kardinal­tugend der Treue aus. Alle drei sieht man Leistungen erbringen - Tragen, Ge­horsam und Treue -, die auch in der Menschenwelt als verdienstlich gelten dürf­ten. Das vierte der "begünstigten Tiere" in der Goetheschen Auswahl, Abuherriras Katze, hat dergleicheri Verdienste nicht aufzuweisen. Doch Goethe hatte bei Saadi gelesen, Abuherrira, "der Katzenvater" , sei ein sehr naher Freund des Propheten ge­wesen, den dieser täglich gesehen habe. Den Rest malte Goethe sich selber aus: das ihn umschmeichelnde Kätzchen war vom Propheten gestreichelt worden, - Grund genug für den "Divan"-Dichter, auch dieses Tier, obwohl es keine weiteren Meriten besitzt, als hübsch zu sein und zu gefallen, ins Paradies zu versetzen:

Nun, immer wedelnd, munter, brav, Mit seinem Herrn, dem braven, Das Hündlein, das den Siebenschlaf 15 So treulich mit geschlafen.

Abuherrira's Katze hier Knurrt um den Herrn und schmeichelt: Denn immer ist' s ein heilig Tier Das der Prophet gestreichelt. 20

Für Frauen liegt eine gewisse Härte darin, daß nicht mehr als vier "Auserwählte" von ihnen ins Paradies gelangen - die gleiche Anzahl wie diejenige der "begün­stigten Tiere"! In der Erstausgabe des "Divan" von 1819 war dies besonders spür­bar, denn dort folgte das Gedicht "Begünstigte Tiere" unmittelbar auf "Auser­wählte Frauen". Wir erwähnten bereits, der "Divan"-Dichter reduzierte die höhere Zahl der Paradiestiere, von denen die Überlieferung weiß, vermutlich um zu ver­meiden, daß mehr Tiere als "auserwählte Frauen" im Paradies auftraten. So war keine "humoristisch-ungalante Bosheit Goethes" im Spiel, wenn "ebensoviele Tiere wie Frauen" im "Divan"-Paradies erscheinen.25 In einer Untersuchung über "Goe­thes Auseinandersetzung mit dem Frauenbild des Islam"26 habe ich vor kurzem

24 Ein "Schnippchen schlagen", bedeutet, mit Daumen und Finger knipsen (Paul Fischer, Goethe­Wortschatz, Leipzig 1929). Vgl. "Zahme Xenien" V, V. 1466 f.: Ein Schnippchen schlägst du doch im Sack, / per du so ruhig scheinest, / So sag' doch frank und frei dem Pack, lWie du's mit ihnen meinest.

25 Vgl. Hans Albert Maier, a. a. 0., (siehe Fußnote 2). 26 In : Abhandlungen zum Rahmenthema "Die Rolle der Frau in der deutschen Literatur und

Sprache", hrsg. v. J. Goheen u. K. Mommsen, Siebte Folge; in: Jahrbuch für Internationale Ger­manistik, Jg. XVIII, 1986, H. 1, S. 8-23. - Eine noch gründlichere Darstellung des Themas ent­hält das beim Insel-Verlag Frankfurt/ Main im Druck befindliche Buch von mir "Goethe und die arabische Welt".

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Huri.

Ja, reim' auch du nur unverdrossen, Wie es dir aus der Seele steigt 1 Wir paradiesische Genossen Sind W ort- und Taten reinen Sinns geneigt. 70 Die Tiere, weißt du, sind nicht ausgeschlossen, Die sich gehorsam, die sich treu erzeigt! Ein derbes Wort kann Huri nicht verdrießen; Wir fühlen was vom Herzen spricht, Und was aus frischer Quelle bricht, 75 Das darf im Paradiese {ließen.

Es wird deutlich, daß Goethe jede frauenfeindliche Pointe abbiegen wollte, die sich aus der Zahlengleichheit von Frauen und Tieren im Paradiese ergeben könnte. Er fängt in eigener Person eine solche Deutung ab, dadurch daß der "Divan"-Dich­ter selber mit den Tieren verglichen wird. Dieser Vergleich seiner selbst mit den Tieren, die sich gehorsam [!], die sich treu erzeigt I, macht auch die hier ausgespro­chene Vermutung noch plausibler, Goethe habe sich selber, als "Wolf" verkleidet, Einlaß ins "Divan"-Paradies verschafft. Noch die Charakterisierung, die er dem "Buch des Paradieses" in den "Noten und Abhandlungen" beigab, enthält einen lei­sen Wink in dieser Richtung, wenn Goethe ausdrücklich betont: Auch diese Region des mahometanischen Glaubens hat noch viele wunderschöne Plätze, Paradiese im Paradiese [!], daß man sicb daselbst gern ergehen [!], gern ansiedeln [I] möchte.

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