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2014. 220 S., mit 11 Abbildungen ISBN 978-3-406-66346-8 Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/13837372 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Aleida Assmann Gesichte im Gedächtnis Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung

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Page 1: Gesichte im Gedächtnis - beckassets.blob.core.windows.net

2014. 220 S., mit 11 Abbildungen ISBN 978-3-406-66346-8 Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/13837372

Unverkäufliche Leseprobe

© Verlag C.H.Beck oHG, München

Aleida Assmann Gesichte im Gedächtnis Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung

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AleidaAssmannGeschichteimGedächtnis

Kolumnentitel �

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Kolumnentitel �

AleidaAssmann

GeschichteimGedächtnis

VonderindividuellenErfahrungzuröffentlichenInszenierung

VerlagC.H.Beck

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Krupp-Vorlesungen zu Politik und Geschichte am Kulturwissenschaftlichen Institut im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen.Gefördert von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung.Herausgeber: Prof. Dr. Jörn Rüsen

Band 6

2. Auflage. 2014Unveränderter Nachdruck

© Verlag C. H. Beck oHG, München 2007Satz: ottomedien, DarmstadtDruck und Bindung: Beltz Druckpartner, HemsbachUmschlag: Thomas MayfriedUmschlagbild: Endrik Lerch AsconaGedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Papier(hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff )Printed in Germanyisbn 978 3 406 66346 8

www.beck.de

4 Kolumnentitel

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Kolumnentitel 5

Inhalt

7 Vorwort 9 Einleitung

15 Auftakt: WiekurzoderlangistdiedeutscheGeschichte?

2� GeschichtealsFortschritt–GeschichtealsGedächtnis

2� BohrersIdealeinerneuennationalenGeschichte

25 DreiDimensionenderErinnerungskultur

31 VerkörperteGeschichte–zurDynamikderGenerationen

�2 DieGeneration–ein‹Wasserbackstein› �6 Die45er 40 SchelskysPorträtder‹skeptischenGeneration› 4� ZurVerzahnungvonskeptischerund

68erGeneration 46 AbschiedvonderKriegs-Generation:

ÖffentlicheGeschichtsstunden 52 Abschiedvonden68ern:Generationsidentitäten

undEpochenumbrüche 58 KleinesGenerationenbrevier:Überblicküber

siebenGenerationendes20.Jahrhunderts 67 Zusammenfassung

70 GeschichteimFamiliengedächtnis:PrivateZugängezurWeltgeschichte

70 AnfangundEnde,BruchundKontinuität 72 VonderVäterliteraturzudenFamilienromanen 76 DagmarLeupold:NachdenKriegen 8� StephanWackwitz:EinunsichtbaresLand 90 Zusammenfassung

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96 GeschichteimöffentlichenRaum:ArchitekturalsErinnerungsträger

�00 WiederaufbauundNeueHeimat �08 Bonn–dieMusealisierungeinesProvisoriums ��� Berlin–dieStadtalsPalimpsest ��6 Der Kampf um die neue Mitte ��7 Wiederaufbau und Rekonstruktion �2� Preußen als nationales Symbol �2� Die Debatte um das Berliner Stadtschloss ��2 Zusammenfassung

136 InszenierteGeschichte:MuseenundMedien

��7 AusstellungenundMuseen ��7 Die Wiederkehr der (regionalen) Geschichte: Baden-

Württemberg im Banne der Staufer �42 Von der regionalen zur europäischen Geschichte:

Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation �45 Nationale Geschichte im europäischen Rahmen:

Flucht und Vertreibung �49 DreiGrundformenhistorischerPräsentation:

Erzählen,Ausstellen,Inszenieren �54 DieMagiederDinge �54 Zum Status von Exponaten �58 Retrokultur und Nostalgiewellen �6� Geschichtsinszenierungen �62 DeutscheGeschichteim(Hollywood-)Kino �67 BühnenderGeschichte:ZurInszenierung

historischerOrte

180 Ausblick:DieWiedererfindungderNation

�95 Anmerkungen 207 Literaturverzeichnis 2�5 Personenregister 220 Bildnachweis

� Kolumnentitel

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Vorwort

AusheiteremHimmelerreichtemich imNovember2005einAnrufvonJörnRüsen,DirektordesKulturwissen-schaftlichenInstitutsinEssen,mitderAnfrage,obichmirvorstellen könne, die «Krupp-Vorlesungen zu Politik undGeschichte» im Winter 2006/2007 zu halten. Nach kurzerBedenkzeitnahmichdasehrenvolleAngebotanunddankeHerrn Rüsen, dass er bei mir nicht nur angefragt, sondernmichzudieserHerausforderungauchüberredethat.DieZu-sagemachtemichdannaberdochetwasbeklommen,alsichineinemSchreibendiekonkretenWünschezulesenbekam,diesichandie thematischeAusgestaltunghefteten.Eswarda die Rede von einem überfälligen neuenVerständnis derdeutschenGeschichte,vonderHistorisierungdesdeutschenVerhältnisseszumNationalsozialismusunddemWandelderdeutschenGedächtnis-undGeschichtskulturineinemeuro-päischenKontext.Manwünschtesichnichtmehrundnichtweniger als den Entwurf zu einem «halbwegs konsistentenBildeinerdeutschenhistorischenIdentität,indasdiegroßenTraditionsbestände der deutschen Geschichte vom Mittel-alterüberdieFrüheNeuzeitbisins�8.und�9.Jahrhunderteingegangensind».Diese Frage stellen, heißt sie nicht beantworten. Die Frageselbst hat es mir jedoch angetan und mich empfänglich ge-macht für die verfestigte und begrabene, die ephemere undunberechenbare,diebeschwerendeundumkämpfte,dieüber-raschendeunderregendePräsenzvonGeschichteimGedächt-nis.ObwohlmirdieThematikdesGedächtnissesnichtganzneuist,hatmichdieArbeitandiesenVorlesungenzuStreif-zügeninmirbislangverschlosseneRegionenangestiftet.Ich danke Jörn Rüsen für den Anstoß zu dieserVorlesungund der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung

Kolumnentitel 7

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fürdendafürbereitgestelltenglanzvollenRahmen.IchdankeauchmeinenZuhörernundZuhörerinnen inEssen fürdielebhaftenDiskussionenunddieanschließendenGespräche.Ein besonderer Dank geht an Andreas Günther, der dasTreffenmitSchülerinnenundSchülernderOberstufeinderBMVSchuleorganisierte.BrittaWebervomKWIinEssenundKarinSchunkvonderUniversitätKonstanzhattendieTerminplanungunddieReisenunterihrerkompetentenundumsichtigen Kontrolle, Jan Assmann hat die Powerpoint-PräsentationenaufHochglanzgebracht.DenMonatJuni,inderletztenPhasederAusarbeitungdesManuskripts,durfteichinderanregendenAtmosphäredesIFKinWienverbrin-gen,wofürichmichbeiHansBelting,ViolaEichbergerundPetraRadeczkibedanke.FürsachlichenRatimArchitektur-kapitelund technischeUnterstützungbeiderAufbereitungderBildvorlagendankeichJohannaBornkammundValerieAssmann.SusanneJunghatmich inKonstanzbeiderAb-schlussarbeitamManuskripttatkräftigunterstützt.StefanieHölscherwar imBeckVerlageinewohltuendeund sichereStütze, unddieklugenArgusaugen vonAndreasWirthen-sohn haben mir und den Lesern viele Fehler und Pannenerspart.

TraunkirchenimAugust2007

� Vorwort

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Einleitung

«Solangeetwasist»,heißtesimerstenSatzeinesau-tobiographischen Romans von MartinWalser, «ist es nichtdas,wasesgewesenseinwird.»(Walser�998,9)Aufetwas,das ist,hatdieErinnerungkeinAnrecht.Wasuns imPrä-sens umgibt und begegnet, darauf reagieren die Sinne, diedenGrundlegenzurWahrnehmungundzumErleben.ErstwenndiesePräsenzvorbei,abgebrochenoderabgeschlossenist, kann die Erinnerung auf den Plan treten. Diese aller-dings hat, wieWalser suggeriert, einen neuen Gegenstand:er ist nicht das, was einmal war, sondern das, was es ausderPerspektivederGegenwartwirdundmöglicherweiseaufeineimmerwiederneueWeisewird.DieneuenGegenwar-tenentscheiden,richtenüberdieVergangenheit,dieniemalsidentisch sein kann mit der einstigen Gegenwart. SolangedieVergangenheitnochGegenwartwar,warsiedurchwirktvonZukunftserwartungen.DieseZukunftder vergangenenGegenwart aber ist das erste, das vergeht.DieZukunft je-nerVergangenheitistjazurGegenwartgeworden:wirselbstsindnundieRichterüberderenErrungenschaftenundLeis-tungen wie über Illusionen,Täuschungen und mörderischeUtopien. Die ehemalige Gegenwart ohne ihre einstmaligeZukunft wirkt fremd, sie ist kaum noch zu erkennen; dasmachtdieriesigeDiskrepanzzwischeneinerGegenwartmitZukunftsperspektive und einer Gegenwart in der Vergan-genheitsperspektiveaus.Menschen können auf Erinnerungen nicht verzichten, mitdenen sie ihren Zeitradius über die jeweilige GegenwarthinausaufAbwesendesausdehnen.SieverfügenüberErin-nerungalseineFormunsinnlicherWahrnehmung.Dieerin-nerteVergangenheitmageinebloßeKonstruktion,eineVer-fälschung,eineIllusionsein,abersieisteineWahrnehmung,

Kolumnentitel 9

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die intuitiv und subjektiv für wahr genommen wird. Nochwichtiger als die Wahrheit der Erinnerung ist die Bedeu-tung des Erinnerten: «DasVergangene wird bedeutsam imgegenwärtigenErinnern.Das,waseinmalwar,istjetztinderSprachedesErzählens.[…]Erinnernheißt:demAbgelaufe-nengegenwärtigenSinngeben.»(Treichel�984,�7�f.)Durchdie Erinnerung dehnt der Mensch nicht nur seinen Zeit-horizontaus,eswächstihmaucheineentscheidendereflexiveDimensionhinzu.«WersichmitderVergangenheitbeschäf-tigt,wirdmitsichselbstkonfrontiert.»(Koselleck�970,�6�)DieVergangenheitisteinSpiegel,indemwirunsüberdenAugenblickhinauswahrnehmenunddas,waswirdasSelbstnennen,inimmerneuenAnläufenzusammensetzen.DieserSpiegelkannheroisierenundeinemdaseigeneBildindop-pelterGrößezurückwerfen,erkannaberauchnegativeundbeschämendeZügehervorheben.ObwohldieVergangenheitkeinenautonomenontologischenStatushatundaufunsereHinwendungzuihrangewiesenist,istsieweitmehralseineabhängigeVariableunsererBedürfnisseundNeigungen.SieübersteigtindividuelleundkollektiveZugriffe;siekannnichtmonopolisiert,nichtabschließendbewertet,nichtdauerhaftverleugnetundvorallem:niegänzlichzerstörtwerden.DievielenVersuche,siezumonopolisieren,abschließendzube-werten, zu verleugnen oder zu zerstören, haben ebendiesnachdrücklich unter Beweis gestellt. Die VergangenheitselbstfordertAnerkennungundwillimmerwiederinsAugegefasstwerden.1Geschichte im Gedächtnis ist hochgradig instabil. Walserhat das so ausgedrückt: «In jedem Jahrzehnt gibt es einenanderen zeitgeistempfohlenen, zeitgeistkonformen Umgangmit der deutschen Vergangenheit. In den Sechzigern hatniemand das [er meint den Holocaust] zur Kenntnis neh-menwollen,weilesnichtdranwar.JedesJahrzehntistdannempfindlicher und anspruchsvoller geworden.»2 In WalsersBegriff des ‹Zeitgeistes› schwingt Kritik an den Massen-medienundderenMeinungsführernmit;ersuggeriert,dass

10 Einleitung

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dieAutoren,dieetwastaugen,sichimmertreubleibenundstetsgegendenZeitgeistanschreiben.Dabeiverschweigter,dass diese ihr Verhältnis zur Vergangenheit zumTeil aucherheblichändernundselbstnichtunwesentlichzudenÄn-derungen des Zeitgeistes beitragen, wie es Grass 2002 mitseiner Novelle Im Krebsgang tat. Während ein Autor wieGrassnochimmermitInbrunstvonder«tiefstenAdenauer-Zeit»sprichtundsuggeriert,dassdieseZeitfastschlimmergewesenseialsdieNS-Zeit,bewunderteinAutorwieEn-zensberger inzwischen unverhohlen die Größe und Staturdieses Staatsmannes. Geschichte im Gedächtnis ist so be-weglichwiedieMenschensind,diesichniemalsfeststellenlassenmitihrenWerten,MeinungenundErinnerungen.AusderPerspektivederGeschichtswissenschaftgesehenmagun-serBildvonderGeschichte ineinemallmählichenProzessimmerzuverlässigerundvollständigerwerden,ausderPer-spektive von Individuen, Generationen, Massenmedien undöffentlichenDarstellungendagegenpräsentiertsiesichalseinpermanenterRevisionsprozess.Undwirkönnenhinzufügen,dassesebendieserModusist,indemsie‹lebendig›bleibt.Solche noch lebendige oder auch lebendig gehaltene Erin-nerung istderGegenstanddiesesBuches.Waswissenwir–jenseits von spezialisierter Forschung – heute noch (oderwieder) von unserer kollektiven Vergangenheit? Die For-mel ‹Geschichte im Gedächtnis› ist unterschiedlich lesbar.Sie kann auf das abzielen, was jeweils im Bewusstsein derBevölkerungwirklichpräsentist.IndieserBedeutungeinerempirischverifizierbarenSedimentierungvonGeschichteimGedächtniswirdheuteoftderBegriff‹kollektivesGedächt-nis› benutzt. Er bezieht sich dann auf den gemeinsamenNenner eines imallgemeinenBewusstsein verankertenundaktuellgeteiltenWissens.Das ist jedochnichtderhierge-wählte Zugang. Ebensowenig sind normative Fragen derBildungspolitik,derLehrpläneundGeschichtskompetenzenmeinThema.DiebeidenFragen:woransollensichdieDeut-schenerinnern?und:was istvonderdeutschenGeschichte

Einleitung 11

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tatsächlich im Gedächtnis und Alltagsbewusstsein präsent?könnenhiernichtbeantwortetwerden.FürdieeinesinddieKonstrukteurederLehrpläne,fürdieanderesindSpezialis-ten für Umfragen zuständig. Meine Frage lautet vielmehr:WiebegegnetunsGeschichte?WiewirdsieaußerhalbderGeschichtswissenschaft angesprochen, thematisiert, darge-stellt?GeschichteimGedächtniswirdsichindiesemBuchaufdasbeziehen,wasgeradeoderimmernochanwesendist,waspräsentgehaltenwirdoderwaswiedervergegenwärtigtund damit erneut ins Bewusstsein gehoben wird. Es gehtalsowenigerumdasindenKöpfenmessbareoderinihnenzuverankerndeWissenvonGeschichtealsumdassichwan-delndeInteresseanihr,umdieunterschiedlichenFormenderHinwendungsowieumErlebnisangebotevonHistorischemunddenKonsumvonGeschichte.3DerFokusdiesesBuchesistdamiteineherethnographischer.GegenstandderUnter-suchung sind neben persönlicher historischer Erfahrung inGenerationen, Familien und Stadtbildern auch öffentlicheGeschichtsdebatten und die vielgestaltigen Produkte einesflorierenden Geschichtsmarkts mit einer deutlichen Beto-nungderJahre2006und2007.EinKapitelwirddasThemaGenerationenaufgreifen. JedeGenerationteiltgewisseGrunderfahrungen,Deutungsmus-terundObsessionen,sieverkörpertdamiteinenjeweilsan-derenBlickaufdieGeschichte.AktuelleWertkonflikteundkonträre Denkstile in der Gesellschaft sollen entlang derBruchlinienvonGenerationenverfolgtwerden.EinweiteresKapitelwirdsichmitdemFamiliengedächtnisbefassen.Wirerleben derzeit eine Konjunktur von Romanen, in denenAutorinnenundAutoren sicheinenZugangzurdeutschenGeschichte über ihre Familiengeschichte hindurch bahnen,wobeisieüberzwei,dreiundzumTeilauchnochsehrvielmehrGenerationenzurückblicken.FernerwirdesumgebauteGeschichtegehen,umArchitekturunddamitumStädtealshistorische Schauplätze, indenenwir uns täglichbewegen.Abschließend soll auf ‹Geschichtsbilder› eingegangen wer-

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den,wiesieinAusstellungenpräsentiertundMassenmedieninszeniertwerden. IndieserAbfolge schreitenwirvonver-körperter zu materiell und schließlich medial vermittelterGeschichtefort.DieimfolgendenKapitelzuuntersuchendeFrage nach Kürze oder Länge der deutschen GeschichtestelltsichdabeiaufeineneueWeise.JedehistorischeGene-rationistzwareingesperrtinbestimmteJahrgänge,denensienichtentkommenkann;dieseexistentiellenGrenzenwerdenallerdingsdadurchüberschritten,dassunterschiedlicheGe-nerationen synchron aufeinander einwirken, wodurch sichdiePerspektivenverschränken.DasselbegiltfürdenErinne-rungs-RahmenderFamilie,indemsichdiekurzeZeitstre-ckedeseigenenLebens ineinen längerenhistorischenZu-sammenhangvonErfahrungenundWirkungeneingliedert.WennwirvonderbiographischverkörpertenGeschichtezurmaterialisierten und medialisierten Geschichte übergehen,öffnetundweitet sichderZeitrauminRichtungFernhori-zont.AberdieseszeitlichFerneistzugleichauchzumGrei-fennah,seiesdurchseineräumlichePräsenzoderdurchdenaktuellenBrennpunktmedialerInszenierungen.MitseinembrillantenEingangssatzhatWalserdiequalitativeRe-KonstruktionderVergangenheitdurchden retrospekti-venErinnerungsakthervorgehoben.Wasjedochnichtunter-schlagenwerdendarfundwassichebenfallszuuntersuchenlohnt,sindÜbergängezwischendenabsolutenPolenderfürimmer verlorenen Vergangenheit und ihrer UmdeutungendurchdieGegenwart.Zwischenbeidenliegt,wieichzeigenmöchte, ein breites Spektrum paradoxer Noch-Gegenwartvon Vergehendem und Vergangenem. Die in einer Gesell-schaftkoexistierendenGenerationenverkörpernnebeneinan-derVergangenheit,GegenwartundZukunft;diehistorischeArchitekturunsererStädtestelltunsdieGegenwartvergan-generEpochenvorAugen.ÄhnlichesgiltfürdiehistorischenRelikte, die in Museen ausgestellt, auf Antiquitätsmessenfeilgeboten und auf Flohmärkten verscherbelt werden. DieGegenwartistimmerschonangereichertmitVergangenheit;

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wirsindallseitsumgebenvonVergangenheitinleibhaftiger,inmateriellerundindinglicherForm.ZurdieserNoch-Ge-genwartdesVergangenenkommendieZeichenundBilderhinzu, dieVergangenheit vergegenwärtigen, ohne sie selbstzuverkörpern.EsgibteinenbruchlosenÜbergangvonden‹leibhaften› Zeitzeugen und ‹authentischen› Relikten hinzu ihrer Einbindung in Videos, Filme, Ausstellungen undandere mediale Inszenierungen. Die Noch-Gegenwart derVergangenheit geht in ihre Mediatisierung über und stellteine quasi-sinnliche Präsenz des Abwesenden wieder her.Die den folgenden Seiten zugrunde liegenden Fragen lau-tendeshalb:WievielAbwesendesistnochpräsent,wievielVergangenheit ist nochbewusst oderunbewusst gegenwär-tig?Undweiter:InwelchenFormennimmtdasunsinnlicheNicht-Mehr sinnlichgreifbareFormenan?Wie verschrän-kensichVergangenheitundGegenwart,FernesundNahes,EntlegenesundAktuelles?

1� Einleitung

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Auftakt:WiekurzoderlangistdiedeutscheGeschichte?

Ende August 2006, mitten im Sommerloch, ereilteunsdieNachrichtvomComing-outvonGünterGrass.Seit-her wissen wir, dass die beiden letzten Buchstaben seinesNamenseinenauchfürseineBiographiesymbolischenWertbesitzen.InseinerAutobiographie,indieerdiesesGeständ-nisgekleidethat,setztersichmitseinem«gedoppeltenIch»auseinander,daser«inBüchersperrteundderartgebändigtzuMarkte trug». (Grass2006, �5)SeineAutobiographie isteineArtMetaromanundSchlussstein für sein literarischesŒuvre geworden. Sie ist gleichzeitig auch die ‹Umkleide-kabine› fürdie verschiedenenRollen,die sichder von frühan zu Heldentum, Abenteuer und Verstellung neigende«grimassierende Junge» angezogenhat.Grass berichtet unsauchvomerstenliterarischenProjektdiesesKnaben,einemEposüberdieKaschuben.IndieserZeitwarer«zeitabwärtsunterwegs,unstillbarhungrignachdenbluttriefendenInne-reienderGeschichteundvernarrtinsstockfinstreMittelalteroder indiebarockeZeitweileinesdreißigJahrewährendenKrieges.» «Ich bewegte mich», so fährt er fort, «im Heer-wurm der Kreuzfahrer in Richtung Jerusalem, war KnappedesKaisersBarbarossa,schlugaufPruzzenjagdalsOrdens-ritterummich,wurdevomPapst exkommuniziert, gehörteKonradins Gefolge an und ging klaglos mit dem letztenStauferunter.»(�8)Als ihn im Jahre �942 sein literarischer Geschichtsentwurfins ��. Jahrhundert entführte, war Grass, wie er nachträg-lich feststellt, blind für zeitgenössische Ereignisse wie «dasalltäglich werdende Unrecht im nahen Umfeld der Stadt»,dasanwachsendeKonzentrationslagerStutthofunddie«De-portationrestlicherDanzigerJudenausdemGhettoMause-

Kolumnentitel �5

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gasse in das KonzentrationslagerTheresienstadt» (�9). Diemit Sehnsucht nach Heldentum aufgepumpte Faszinationdurch die große und lange deutsche Geschichte verstellteihm, wie er nachträglich feststellt, den Blick auf das Un-recht der Gegenwart. Fragen zu dieser Gegenwart wurdenvonihmnichtgestellt;dasWort‹warum?›,dasjaeigentlichdieKindervokabelparexcellence ist,kamihmnicht indenSinn(2�,25).VierJahrzehntenachEndedesZweitenWeltkriegshattesichder Fokus des Geschichtsinteresses radikal verschoben. Inden80erJahrenwardielangeundfernedeutscheGeschichteverblasst,undindenVordergrundimmerdringlicherdieGe-schichtedesNationalsozialismusunddesHolocaustgetreten,zusammen mit den fordernden Fragen nach dem ‹Warum?›und dem ‹Wer?›. Diese historische Umorientierung ist zurSignatur der 68er Generation geworden. Sie blickte zurückim Zorn und klagte ihre Väter-Generation an, während siezugleichdieLeidensgeschichtender jüdischenOpfer insall-gemeineBewusstseinhob.AufdieseSituationwiederumrea-giertederBielefelderLiterarhistorikerKarlHeinzBohrerum2000ineinigenEssaysmitseinerThesevonderradikalver-kürztendeutschenGeschichte.4DieDeutschenlitten,soseineDiagnose, an einemdramatischenGeschichtsverlust,den sieaber nicht wahrnehmen könnten, weil sie sich gleichzeitigeinergeradezuobsessivenGeschichtserinnerungbefleißigten.Diese Geschichtserinnerung leuchte jedoch nicht die WeiteundTiefederVergangenheitaus,sondernseigänzlichaufdenHolocaustfixiert.DamitseidielangedeutscheGeschichteaufdiekurzeSpannederZeitgeschichtegeschrumpft.DiezwölfJahre der Hitlerdiktatur seien zum Dreh- und Angelpunktder gesamtendeutschenGeschichte geworden, auf den allesVorangehendeteleologischzulaufeundderallesFolgendezurNachgeschichte reduziere. Bohrer will von diesem trauma-tischenTiefpunktdeutscherGeschichtserfahrungkeineswegsabsehen, er ist jedoch bemüht, ihn in die longue durée einernationalenGeschichts-Erzählungeinzugliedern.

1� Auftakt

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WennBohrervonGeschichtespricht,meinterdamit ‹Ge-schichteimGedächtnis›alsTeildesöffentlichenLebensundBewusstseins, als gemeinsamen emotionalen BezugspunktfürdieNation.DieseNationalgeschichteseidenDeutschengänzlichabhandengekommen.MitderAuszehrungdesNa-tionalenhättendiesezugleichdenSinn für ihrhistorisches‹Über-Ich›verloren,wieBohrerdiekollektiveDimensiondesNationalennennt (Bohrer200�a).ErwirftderGeschichts-wissenschaft vor, selbst zur Abschaffung der Nationalge-schichtebeigetragenzuhaben,indemsieihrenGegenstandauf soziale undökonomischeStrukturen verengte.Auch inEuropa-UtopienundVerfassungspatriotismuserkenntBoh-rerdieselbeAbsageansNationaleunddiagnostiziertsolcheHaltungenalsFluchtenausderGeschichte.AlswichtigstenGrundfürdiedeutscheErinnerungslosigkeitführtBohrerdie‹Holocaust-Symbolik›an.DurchdieEng-führungderdeutschenErinnerung aufNationalsozialismusund Holocaust als «deutsch verantwortetes, historisch-mo-ralischesMegaproblem»(Kocka2005,7�)seidiehistorischeTiefe abgeschnitten.5 Seitdem, so Bohrer, herrsche «Normüber Geschichte»: die drei Jahrhunderte der frühen Neu-zeit zwischen Reformation und Französischer Revolution,sostellterfest,fändenimdeutschenGeschichtsdenkenseitlängeremfastnichtmehrstatt.DasMittelalterseivölligent-rückt, es seikeinePflichtepochemehr inderLehrerausbil-dung,dieGeschichteseigeschrumpftaufdieZeitgeschichtederBRD.BohrersThese von der deutschen Erinnerungsstörung undderverkürztenGeschichteließesichauchanAussagenjün-gerer Generationen belegen; allerdings machen die Jünge-rengeltend,dassdieseErinnerungsstörungselbstSymptomeineshistorischenTraumasist.DerAutorMichaelKleebergzum Beispiel schreibt in einem Roman: «Wenn man unsDeutschegelassenhätte,hättenwiralleErinnerungzerstört,alleKontinuitätkurzgeschlossen.Damanunsgestoppthat,istesletztlichnurunsereeigeneKontinuität,diegekapptist

Wie kurz oder lang ist die deutsche Geschichte? 17

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undniemehrexistierenwird,unsereeigeneErinnerung,dienichtmehrrichtigfunktioniert.»(Kleeberg�998,28f.)Boh-rermachtfürdieAuslöschungderGeschichtedie68erGe-nerationverantwortlich,diemitdemErinnerndesEinendasVergessendesVielenbewirkthabe.6Beidiesem ‹VergessendurchErinnern›handeleessichnichtnurumeinenNeben-effekt,sondernumeinentieferenWunschjenerGenerationnachAuslöschungundNeuentstehung.DerenAntwortaufden Zivilisationsbruch sei der absolute Bruch mit der Ge-schichtegewesen,verbundenmitderSehnsucht,«durcheinereinigendeSelbstvernichtungwiederneuerstehenzukönnen».Bohrer sieht inderAuslöschungderdeutschenGeschichteauch ein unbewusstes Sühneopfer für die Auslöschung desjüdischenVolks.Der«negativeGründungsmythos»habediedeutsche Nationalgeschichte gelöscht; «von der Geschichtebleibtnichtsalsdieseeinzige,sieauslöschendeGedächtnis-quelle».(Bohrer200�a,�998,7)InderTatbildetdieAuseinandersetzungmitderNS-Vergan-genheitseitJahrzehnten,wiederZeithistorikerHansGünterHockerts bestätigt, «eines der beherrschenden Themen imdeutschen politischen Diskurs; so sehr, dass unter ‹Vergan-genheit›,wennnichteigensandersvermerkt,nahezuautoma-tischdieNS-Vergangenheitverstandenwird.»DieErfahrung,dass der Holocaust von deutschen Bürgern und deutschemBoden ausging, «ist nicht ein Ereignis unter anderen in derdeutschen Geschichte; sie bildet den negativen Gründungs-mythos,unddasheißt:denPrüfstein fürdiepolitischeKul-turdiesesLandes.»(Hockerts2002,5�;vgl.meineReplikaufBohrer200�)DiesesnegativeErbekannnichtausgeschlagenwerden; nur durch seine Annahme besteht die Möglichkeit,sichdistanzierendvon ihmzubefreienundmitdenOpfernzuverbünden.OhneandiesenGrundlagenzurütteln,könnenwirunsheutederFragevonBohrerneustellen.Dazumüssenwirjedochzuerstprüfen,obsieüberhauptstimmt.Hermann Lübbe belehrte uns Anfang der 80er Jahre, dassnochnieeineGegenwartsovergangenheitsseliggewesensei

1� Auftakt

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wiedieunsere.ErbeschriebundbelegtedierapidewachsendeZuwendungzurVergangenheitmitderwachsendenMuse-umsdichte. «Wir leben», so betonte er, «in einem Zeitalterhistorisch singulärer Expansion der Kulturmusealisierung.»(Lübbe �982,2und �98�)DieserMusealisierungsprozess, soLübbeweiter,erstreckesichdabeiaufimmerweitereLebens-bereiche.BeidiesemPhänomenhandeleessichkeineswegsumeineoberflächlicheErscheinung,esbezeugevielmehreingenuines,affektivesVerhältniszuvergangenenRelikten,dieman mit hohem Aufwand und Kosten vor der Zerstörungbewahre, um sie als Zeugen einer irreversibel vergangenenEpochevorAugenstellenzukönnen.InderFüllederneuenMuseen zeige sich ein gesteigertes Verhältnis zu und Bin-dunganunterschiedlichstevergangeneLebensbereiche,Re-gionenundEpochen.DiesezuerstvonLübbebeschriebeneTendenz istanschlie-ßend von vielen bestätigt worden. Ende der 80er JahreschriebGottfriedKorff,unsereZeitseiso«museumsfreudigund vor allem museumsgründungsfreudig» wie keine zuvor(Korff �989, 67). Das Interesse an Vergangenheit war auchstatistisch messbar: Die Besucherzahlen stiegen kontinu-ierlich und bestätigten den neuen Status von Museen alszentraler Teil unserer Freizeit- und Erlebnisgesellschaft.DasFazitdieserEntwicklunghatHockertsfolgendermaßenzusammengefasst:Wir lebenineinerZeit«durchgreifenderHistorisierung»;unsereGegenwartist«vonVergangenheits-bezügenregelrechtüberflutet»(Hockerts200�,60).Wie verhält sichLübbesThese eines ‹expansivenHistoris-mus› zu BohrersThese eines radikalen Vergangenheitsver-lusts?DiesenmanifestenWiderspruchzwischendenThesenkönnen wir auflösen, wenn wir erkennen, dass hier jeweilsein ganz anderer Begriff von Geschichte zugrunde gelegtwird. Lübbe bezieht sich auf die Geschichte der Zivilisa-tionimSinnedeswissenschaftlich-technischenFortschritts,weshalberdenBegriff‹Geschichte›gerndurchBegriffewie‹Evolution› oder ‹Prozess› ersetzt. Seine These steht fest

Wie kurz oder lang ist die deutsche Geschichte? 19

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aufdemBodenderModernisierungstheorie,die fürPhilo-sophen,Soziologen,HistorikerundLiteraturwissenschaftlerder70erund80erJahredieschlechthinverbindlicheOrien-tierungwar.NachdieserTheorieerobertdieModernedurchInnovationen stetig Zukunft, während sie gleichzeitig alseinenotwendigeNebenwirkungVergangenheitvonsichab-spaltet. IneinemdialektischenProzessvonInnovationund‹Antiquation› produziert Modernisierung Vergangenheit,indemsiedieGegenwartimmerschnellerhintersichlässt.7UnterdieserVoraussetzungeinerbeschleunigtenkulturellenEvolution wurde das Museum zum gesellschaftlichen Ort,an dem Vergangenheit gesammelt, bewahrt und besichtigtwird.MotorderkulturellenEvolution istderwissenschaft-liche Fortschritt, der den steten Wandel der technischenLebensweltantreibt.IndiesemProzesswirdpermanentdasAlte,genauer:dasVeraltete,zugunstendesNeuenausgemus-tert.Veralten,ObsoleszenzistdiestrukturelleNebenwirkungtechnischer Innovation, die sich im sozialen und globalenWandelniederschlägt.Das im Prozess der Modernisierung Ausgemusterte wirdzum Gegenstand historischer Neugier und Nostalgie.Große Gefühle kommen dabei nicht auf. Im Spiegel dervon Lübbe erwähnten Museen erkennt die MenschheitihrenFortschrittimGutenwieimBösen(daseinschlägigsteBeispiel ist für ihn das Waffen-Museum). Diese Museensind eine Art Fundbüro für das irreversibel Verlorene, dasunssozusagendurchInnovationoderVernachlässigungausderHandgefallenist.SiestrahlendieZuversichtaus,dasses,obwohlausdemVerkehrgezogen, irgendwodochnocheinensicherenPlatzhatundsichinbesterObhutbefindet.Dies ist die Kompensationsfunktion der Museen. LübbesSchlussfolgerung lautet daher im O-Ton: «Durch die pro-gressive Musealisierung kompensieren wir die belastendenErfahrungen eines änderungstempobedingten kulturellenVertrautheitsschwundes.»8 Geschichte bedeutet für Lübbealsonichtmehrundnichtwenigerals:‹Vergangensein›.Be-

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liebigeGegenständegewinnendadurchanBedeutung,dasssie einen historischen Stand von Erfindungen und Pro-duktserien repräsentieren. Dieser Typ von Vergangenheitistnichtbesonders«belastend»,weshalbLübbesStudie imUntertitel auch lautet: «Über den Grund unseres Vergnü-gensanhistorischenGegenständen».GeschichtealsbloßesVergangenseinistetwasanderesalsGeschichte,dieLoyali-tätbegründet,Verpflichtungmobilisiert,Erfahrungenprägtund unter Umständen langfristige Nachwirkungen auslöst.Während das historische Relikt nostalgische Bedeutunggewinnt, weil es nicht mehr ist, gewinnt das historischeEreignisdadurchanBedeutung,dasseseinmalwarundinirgendeinerWeiseimmernochist.

GeschichtealsFortschritt–GeschichtealsGedächtnis

Lübbe und Bohrer schreiben offensichtlich überzwei sehr unterschiedliche Formen des Vergangenheitsbe-zugs. Bohrer geht es um Nationalgeschichte, Lübbe umkulturelle Evolution. Das Subjekt von Lübbes kulturellerEvolution ist die Menschheit; Bohrers kollektives Subjekt,das sich erzählend, erinnernd und gedenkend Geschichtezurechnet und aneignet, ist die Nation. An den Orientie-rungen beider Autoren können wir in der vergleichendenRückschauselbstetwasHistorischeswahrnehmen,nämlicheinen folgenreichen Wandel der Diskurs- und Deutungsrah-men im Umgang mit der Vergangenheit. Lübbe denkt imParadigma der Modernisierungstheorie der 70er und 80erJahre9,Bohrer imParadigmaeinerkulturellenGedächtnis-theorie,diesich inden90erJahrendurchzusetzenbegann.Im Rahmen der Modernisierungstheorie gibt es Prozesse,Funktionen, Strukturen und ein universalistisches Subjekt:den Fortschritt bzw. die Menschheit. Geschichtswissen-schaft etablierte sich seit der Aufklärung «als GegenpolzurErinnerungvonIndividuenundKollektiven,diesieim

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Zweifelsfall als trügerisch einstufte». Von Gedächtnis undErinnerung isthiernichtdieRede.DemgegenübergibtesimRahmenderGedächtnistheorieEreignisse,Erzählungen,Erinnern und Vergessen, Gefühle, Gedenken, Traumata,immerbezogenaufindividuelleundkollektiveSubjekte.Inder Konstellation von Lübbe und Bohrer stehen sich dieForschungsparadigmenvon‹GeschichtealsFortschritt›und‹Geschichte alsGedächtnis› sozusagen idealtypischgegen-über.10NeuamGedächtnis-ParadigmaistvorallemderBegriffder‹Identität›, der in der Modernisierungstheorie keinen Platzhatte.ErgewanninPublikationenseitEndeder80erJahrekontinuierlichanBedeutung.11Von‹Identität›istbeiLübbebezeichnenderweisenurinBezugaufmaterielleSubstanzdieRede, also nur dort, wo es um Objekte, nicht aber, wo esumSubjektegeht.DenkmalgeschützteZonen imStadtbildzumBeispiel sinddemSogderVeränderungentzogenundhaben die Funktion, im sich rapide verändernden Bild derStadtarchitektur «Elemente der Wiedererkennbarkeit, Ele-mente der Identität zu sichern». Die andere, auf Subjekteanzuwendende Bedeutung von Identität deutet Lübbe nuram Rande an, wenn er in seinem Fazit etwas unvermitteltfesthält:«DashistorischeBewusstseinhältdiefremdgewor-deneVergangenheitalseigeneVergangenheitaneignungsfä-hig.»(Lübbe�982,�8)Allerdingswirdvonihmnichtnähererläutert,worinderAneignungswert inderMusealisierungvon Windmühlen über Ackergerät bis zu Hosenknöpfenbestehen soll. Der Identitätsdiskurs war der marxistischenGeschichtsdeutung übrigens ebenso wesensfremd wie derModernisierungstheorie. Meine These ist, dass die neue(nicht nur in Deutschland, sondern weltweit zu beobach-tende)KonjunkturderThemenGedächtnisundIdentitätet-wasmitderErfahrungundAnerkennungvontraumatischenBrüchenzu tunhat.12Gedächtnisund Identitätwurden indem Maße zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung,wiediehistorischenFolgenextremerGewaltmitVerspätung

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insBewusstseindrangen.DieGeschichtstraumata,dieheuteden Gedächtnis- und Identitätsdiskurs antreiben, liegenzumTeilmehralseinhalbesJahrhundertundweiterzurück;nebendemHolocaust spielendabeidieErfahrungderKo-lonialisierung eingeborener Bevölkerungen und die MiddlePassage, die Deportation von Afrikanern in die Sklaverei,eine besondere Rolle.Während die Erfahrung der Moder-nisierungundWandlungsbeschleunigungihrenAusdruckinder Kompensationstheorie fand, brachte die Erfahrung desZivilisationsbruchs und anderer historischer Traumata dieBeschäftigung mit kollektiven Gedächtnis- und Identitäts-konstruktionenhervor.

BohrersIdealeinerneuennationalenGeschichte

BohrerknüpftaneineTriasvonBegriffenan,dieimRahmendesModernisierungsdiskurses–besondersinWest-deutschland–alseinfüralleMalüberwundengalt:Nation,Geschichte und Identität. Über die Absage ans Nationalebestandunter Intellektuellen inderdeutschenNachkriegs-zeit ein stabiler Konsens, der verschiedene Formen ange-nommen hat: als militärische Westbindung, als transnatio-naleEuropa-Utopie, als abstrakterVerfassungspatriotismus,alskommunistischeInternationale.DerAutorW.G.Sebalderklärte in einem Gespräch mitVolker Hage: «Die Legiti-mierung einer Nation ist ihr Selbstbewusstsein, das, woranman zurückdenkt, wovon man sich herschreibt. Das fehltunsvollkommen,unsereGeschichteisteineGeschichtederSchande.» (Hage200�,44)Es istdieseverbreiteteHaltungder68er, gegendieBohrer anschreibt.13DieFrage,diewirunsheute zu stellenhaben, lautet deshalb:Wie lassen sichNah-undFernerinnerung,MoralundGeschichte,NegationundAffirmationmiteinandervereinbaren?Zunächstjedochistzufragen:WiestelltsichBohrernationaleGeschichtevor?FürihnspielendabeizweiMerkmaleeinebe-

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sondereRolle.Sieisterstensidentitätsbildend.Durchgemein-samehistorischeBezugspunktekannsichderEinzelnealsTeileines Ganzen erfahren. Das individuelle Ich gewinnt damitein‹Über-Ich›,wieBohrerdasnationaleKollektivnennt,mitdemerbzw. sieüberdieprivateExistenzhinausragt.DiesesÜber-Ich ist keinmoralischesGewissen sondern ein öffent-lichesSelbst,dasfürdenEinzelnenfühlbarseinmuss(Bohrer�998,6;Bohrer200�a).NationaleGeschichteistdeshalbnichtnureinGegenstandderNeugierde,ErkenntnisundReflexion,sondernvorallemaucheineSachederGefühleundderIden-tifikation,fürderenExtremformichhiernocheinmalandie«GlanzbilderdeutscherGeschichte»desjungenGünterGrasserinnern möchte: «ich […] war Knappe des Kaisers Barba-rossa,schlugaufPruzzenjagdalsOrdensritterummich,wurdevom Papst exkommuniziert, gehörte Konradins Gefolge anundgingklaglosmitdemletztenStauferunter.»Damit die Geschichte solche Formen der Identifikationmobilisieren kann, muss sie zweitens erzählbar sein; sie be-darf der packenden Versinnlichung in Bildern, Gestalten,Geschichten. Bohrer spricht auch von kollektiven RitenderFreudeundderTrauer.MitdemEndederNationalge-schichtefälltfürBohrerdasEndederTrauerüberdieTotenderKriegezusammen.PathosisteinLieblingswortBohrers,woruntererkeinindividuelles,sonderneinrituelldarstellba-res,überGenerationenhinwegvermitteltesGefühlversteht.NationaleGeschichtedefinierteralsein«NetzvonBildern,Identifikationen,Verknüpfungen,Träumen»(Bohrer�998,4).SoziologennennendiesesFundamentgemeinsamerAffekte,Vorstellungen, Assoziationen, Bindungen und Bilder heuteimmerseltener‹Ideologie›,sondernsprechenliebervon‹sozi-alemImaginaire›(C.Castoriades)oder‹nationalemGedächt-nis›.EinnationalesGedächtnis imSinneBohrersbildetdiekollektivespirituelleundmoralischeBasiseinerGesellschaftüber Generationen, Zäsuren, Epochen hinweg und ist derSpiegel,indemdieseimWandelderZeitvonsichRechen-schaftgibtundsichihrerIdentitätversichert.

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DreiDimensionenderErinnerungskultur

Haben wir nun zuviel oder zuwenig Geschichte?Diese Frage bedarf weiterer Differenzierung. AusgehendvonLübbeundBohrerkönnenwirunterschiedlicheBezügezurVergangenheitausmachen,diejeweilsvoneinemanderenImpulsgetragensind:

�.EinersterImpulsistNeugier.AufdieseNeugierant-worten historische Bücher, Museen, Ausstellungenund Filme sowie architektonische Denkmäler undhistorischeLandschaften.AngebotezuZeitreisen indieVergangenheit,seiesinFormeinesDokudramas,seiesinFormeinesThemenparks,habenhohenUn-terhaltungswertundnehmen imKulturbudgeteinenimmer größeren Raum ein. Kultur – und in dieserSpartebesondersdieGeschichte–verkauftsichgut.Das Interesse an Geschichtlichem verbindet sichernicht alle Altergruppen; während sich die Jüngerenmöglicherweise lieber imCyberspace tummeln, lässtsichdieZielgruppederErwachsenenundÄlterenindievirtuellenWeltenderVergangenheitentführen.

2.EinzweiterImpulsentsprichteinemBedürfnisnachIdentitätsvergewisserung.Esgehtdabeinichtnurumallgemeine Neugier und den Wunsch nach einemhohenInformations-oderUnterhaltungswert,sondernumdieeigeneGeschichte.IndividuelleodernationaleIdentität, das war die Einsicht des �9. Jahrhunderts,istnurüberGeschichtezugänglich.14Deshalbgehö-renErinnerungen,wieDroyseneseinmalformulierthat,«zumeigenstenWesenundBedürfnisdesMen-schen». Ein Individuum oder eine Gruppe «hat inihremGewordensein,ihrerGeschichtedasBildihresgewordenenSeins,gleichsamdieErklärungundBe-

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