gerechtigkeit: die wahrheit der demokratie

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Zusammenfassung: Es leuchtet ein, wenn Badiou erklärt, es müsse möglich sein, im Univer- sum einen Fixpunkt zu finden, von dem aus sich Demokratie und soziale Gerechtigkeit in einer Weise begründen ließen, dass für sie Wahrheit in Anspruch genommen werden könne. Denn jener Fixpunkt kann nirgends anders als in der humanen Lebensform gelegen sein. Und die stellt zunächst einmal ein Faktum dar. Und für Fakten wird Wahrheit inAnspruch genommen. Von der Wahrheit der humanen Lebensform leitet sich ein weiterer Wahrheitssatz her: die Konstruktivität der gesellschaftlichen Organisationsformen. Und der zieht einen dritten nach sich: das Postulat der demokratischen Verfasstheit der Gesellschaft und deren Gerechtigkeit. Dass sich ein norma- tives Postulat der menschlichen Lebensführung aus einem Faktum soll herleiten lassen, ist für ein philosophisches Denken unter den Denkvorgaben der Vergangenheit undenkbar, unter den Denkvorgaben einer säkular gewordenen Welt aber unabweisbar. Schlüsselwörter: Gerechtigkeit · Demokratie · Wahrheit · Sozialstaat Justice: the truth of democracy Abstract: It seems reasonable, that Badiou declares, it should be possible to find a fixed point in the universe, from which democracy and social justice could be justified in away to which truth could be attributed. For, the point of departure can only be found in the human life-form. And the human life-form must be understood as a fact. For facts, however, we claim truth. From the truth of the human life-form a second statement of truth can be derived: the constructivity of the social order. This, finally, leads to the postulate of the democratic order of society and its justice. For philosophers it might seem unthinkable to derive a normative postulate from a fact. However, in an epistemological refined thinking in a world that has become secular the procedure is not unavoidable. Furthermore it makes good sense to declare that the human life-form (a fact) demands democracy (a normative postulate). Keywords: Justice · Democracy · Truth · Welfare-State Österreich Z Soziol (2012) 37:23–45 DOI 10.1007/s11614-012-0034-6 Gerechtigkeit: Die Wahrheit der Demokratie Günter Dux © VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012 Prof. Dr. em. G. Dux () Erlenweg 8, 79822 Titisee-Neustadt, Deutschland E-Mail: [email protected]

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Page 1: Gerechtigkeit: Die Wahrheit der Demokratie

Zusammenfassung:  Es  leuchtet  ein, wenn Badiou  erklärt,  es müsse möglich  sein,  im Univer-sum einen Fixpunkt zu finden, von dem aus sich Demokratie und soziale Gerechtigkeit  in einer Weise  begründen  ließen,  dass  für  sie  Wahrheit  in  Anspruch  genommen  werden  könne.  Denn jener Fixpunkt kann nirgends anders als in der humanen Lebensform gelegen sein. Und die stellt zunächst einmal ein Faktum dar. Und für Fakten wird Wahrheit in Anspruch genommen. Von der Wahrheit der humanen Lebensform leitet sich ein weiterer Wahrheitssatz her: die Konstruktivität der  gesellschaftlichen Organisationsformen. Und  der  zieht  einen  dritten  nach  sich:  das Postulat der demokratischen Verfasstheit der Gesellschaft und deren Gerechtigkeit. Dass sich ein norma-tives  Postulat  der menschlichen  Lebensführung  aus  einem  Faktum  soll  herleiten  lassen,  ist  für ein  philosophisches  Denken  unter  den  Denkvorgaben  der  Vergangenheit  undenkbar,  unter  den Denkvorgaben einer säkular gewordenen Welt aber unabweisbar.

Schlüsselwörter:  Gerechtigkeit · Demokratie · Wahrheit · Sozialstaat

Justice: the truth of democracy

Abstract:  It  seems  reasonable,  that Badiou declares,  it  should be possible  to find a fixed point in  the  universe,  from which  democracy  and  social  justice  could  be  justified  in  away  to which truth could be attributed. For,  the point of departure can only be  found  in  the human  life-form. And the human life-form must be understood as a fact. For facts, however, we claim truth. From the  truth  of  the  human  life-form  a  second  statement  of  truth  can  be  derived:  the  constructivity of the social order. This, finally, leads to the postulate of the democratic order of society and its justice. For philosophers  it might seem unthinkable  to derive a normative postulate from a fact. However, in an epistemological refined thinking in a world that has become secular the procedure is not unavoidable. Furthermore it makes good sense to declare that the human life-form (a fact) demands democracy (a normative postulate).

Keywords:  Justice · Democracy · Truth · Welfare-State

Österreich Z Soziol (2012) 37:23–45DOI 10.1007/s11614-012-0034-6

Gerechtigkeit: Die Wahrheit der Demokratie

Günter Dux

© VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012

Prof. Dr. em. G. Dux ()Erlenweg 8, 79822 Titisee-Neustadt, DeutschlandE-Mail: [email protected]

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1   Gerechtigkeit in einer säkular gewordenen Welt

Die Neuzeit ist in den Meditationen Descartes mit einem philosophischen Vermächtnis eingeleitet worden, das bis heute seiner Einlösung harrt: Omnia semel in vita esse ever-tenda – alles einmal im Leben umzustoßen (Descartes 1959, I, S. 1). Descartes hatte eine Vorstellung davon, dass  sich, was hier  als  biographisches Postulat  formuliert war,  auf das Verständnis der Welt und der Daseinsform des Menschen in der Welt richtete. Ein-zulösen in dieser Dimensionierung vermochte er es nicht. Zu tief war er in die Logik des hinter  ihm liegenden Denkens verstrickt. Zu  tief war er dem Denken  im Ausgang von einem Grunde als Geist verhaftet. Erst in den Jahrhunderten nach ihm ist die Welt eine andere geworden, eine säkular gewordene Welt. Erst in den Jahrhunderten nach ihm ist der Umbruch in der Logik des Weltverständnisses thematisch geworden. Und erst durch das Bewusstsein vom Umbruch der Logik im Verständnis der Welt  lässt sich einlösen, was Descartes angedacht hatte: den Menschen anders zu verstehen, als er eine Geschichte lang verstanden wurde. Heute stellt sich die Aufgabe, die Lebensformen des Menschen aus einer säkular gewordenen Welt neu zu verstehen. Das gilt  in besonderer Weise für dessen normativ verfasste Lebensformen, – es gilt für Moral und eben auch für Gerech-tigkeit. Um die letztere geht es in den beiden von mir zuletzt angestellten Studien (Dux 2004, 2008, 2009a).

Präzisieren wir zunächst, was unter einer säkular gewordenen Welt verstandenen wer-den muss. Sie  ist  eine Welt,  in  der  alles  einem  immanenten,  systemisch verstandenen Bedingungszusammenhang verhaftet ist. Was immer in der Welt vorgefunden wird und geschieht, muss seither aus dem Bedingungszusammenhang, dem es in der Welt verhaf-tet ist, verstanden werden. Ersichtlich ist in der säkular gewordenen Welt an die Stelle einer grundhaft-subjektivischen eine funktional-systemische Logik getreten. Die vormals intentional-sinnhafte Prozessualität  ist aus dem physischen wie biotischen Stratum eli-miniert. Mit ihr ist aber auch alle Geistigkeit aus dem Universum eliminiert. Denn die beruhte auf der intentional-sinnhaften Prozessualität. Es ist diese in ihrer innersten Ver-fasstheit  säkular gewordene Welt,  aus der  fürderhin auch die Lebensformen des Men-schen verstanden werden müssen. Das gilt für seine biologische Verfassung, und es gilt eben auch für seine geistige Verfassung. Denn daran kann kein Zweifel sein: Menschen führen ihr Leben in geistigen, intentional-sinnhaften Lebensformen.

Die Frage, die einer Beantwortung harrt, ist, wie sie in die Welt gekommen sind, wenn sie doch im naturalen Stratum des Universums nicht länger verortet werden können. Sie lässt sich nur auf eine einzige Weise beantworten: Die geistigen Lebensformen des Men-schen müssen als von ihm selbst über Denken und Sprache geschaffene Lebensformen verstanden werden, ohne schon in dessen biologischer Verfassung angelegt zu sein. Kant war, wenn man will, auf halbem Wege zu einem konstruktiven Verständnis der Erkennt-nisformen als Grundlage der menschlichen Lebensformen. Seine Reflexion in der Kritik der  reinen Vernunft zielte, wenn man so will,  auf einen „transzendentalen Konstrukti-vismus“ (Kant 1923, S. 185–251). Das mag hier dahinstehen. Ich habe den Bildungspro-zess des Geistes in einer prozessualen Logik über Denken und Sprache an anderer Stelle erörtert. Darauf kann hier verwiesen werden (Dux 2000). Im gegenwärtigen Kontext geht es einzig um eines: um das Verständnis der sozialen Gerechtigkeit. Nicht anders als für die Moral  gilt  für  sie,  dass  ihr Verständnis  von Grund  auf  umgestoßen werden muss. 

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Denn wie für die Moral gilt für ihre normative Dimensionierung: das Sollen, dass für sie im Universum kein Anhalt gefunden werden kann. Es macht  länger auch keinen Sinn, die Lebensformen des Menschen auf absolut verstandene Werte gründen zu wollen, von deren Geltung man  sagt,  sie gälten „um  ihrer  selbst willen.“ Es macht eben  so wenig Sinn, sie mit der Moral oder neben ihr transzendental zu verstehen und sie in ihrer nicht weniger absoluten Geltungsdimension a priori im Subjekt mitzuführen. In einer säkular gewordenen Welt lässt sich kein Absolutes denken, nicht als Wert, nicht als apriorische Moral, nicht als soziale Gerechtigkeit.

In einer säkular gewordenen Welt gibt es nur eine einzige Möglichkeit, Moral wie Gerechtigkeit zu begründen: indem man sie als vom Menschen selbst geschaffene Lebensformen versteht. Dazu aber ist es notwendig, ihren Bildungsprozess aus den Bedingungen, aus denen heraus er möglich wurde, zu rekonstruieren.

Tut man  das,  nehmen  sich  die Theorien  der Normativität,  der Moral  nicht  anders  als der sozialen Gerechtigkeit, von Kant bis Habermas alt aus. Denn die insistieren darauf, sie zwar nicht in ihren konkreten Gehalten, wohl aber in deren Geltungsdimension dem Subjekt mit dessen Lebensform vorgegeben sein zu lassen. Sie sollen, wie zuletzt Haber-mas sich noch einmal hat verlauten lassen, jeder empirischen Beimengung entsetzt sein (Habermas 1981). Just das ist in einer säkular gewordenen Welt nicht länger zu denken. In der ist der einzige Referenzpunkt der Normativität die menschliche Lebensform. Und die stellt ein Faktum dar. Von der menschlichen Lebensform gehen die Anforderungen an deren Gestaltung in der Praxis der Lebensführung aus. In der Neuzeit müssen sie poli-tisch umgesetzt werden. Darauf zielt die demokratische Verfasstheit der Gesellschaft. Es hat mich deshalb geradezu elektrisiert, dass in der Diskussion um die Grundlegung von Gerechtigkeit und Demokratie in der französischen Philosophie Badiou für beide Wahr-heit verlangt. Es ist mir nicht entgangen, dass Badious Philosophie weit entfernt von der Aufarbeitung der Neuzeit gelegen ist, wie ich sie versuche. Um einen Einklang mit ihr herzustellen, ist es mir nicht zu tun. Es geht mir einzig um eines:

Die humane Lebensform stellt ein Faktum dar, das Wahrheit für sich in Anspruch nehmen kann. Von ihr gehen die Anforderungen an die Normativität der Lebensfüh-rung aus. Und auch für die kann deshalb Wahrheit in Anspruch genommen werden.

Das suche ich darzutun.

2   Der Grund von Politik, Demokratie, Gerechtigkeit

2.1   Die zwei Politiken

In der Philosophie Frankreichs wird seit geraumer Zeit ein Verständnis von Politik und Demokratie  erörtert,  das  darauf  abzielt,  sie  dem Grund  verbunden  zu  halten,  der  ihre erkenntniskritische Absicherung  stützt. Es  sind,  so  sagt man,  zwei Politiken  zu unter-scheiden, die Politik im gemeinen Sinn der Konkurrenz um die Macht und „das Politi-sche“, das der Gesellschaft zugrunde liegt und sie zusammenhält. Ganz ebenso sind zwei 

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Demokratien zu unterscheiden, eine, die gemeinhin als formale Demokratie verstanden und von der Konkurrenz um Macht bestimmt wird, und eine andere, deren Zielvorgabe auf das Postulat der Gleichheit gerichtet ist. Oliver Marchart, der die Reflexion dieser Dif-ferenz zusammengefasst hat, sieht ihre zweite Form, das Politische, dadurch bestimmt, dass man sich in dessen Verständnis der Inanspruchnahme eines letzten Grundes enthal-ten müsse, ohne sich überhaupt der Inanspruchnahme eines Grundes enthalten zu können (Marchart 2010). Die Einsicht in den Grund von Politik und Demokratie soll durch den „unendlichen Aufschub eines letzten Grundes“ allererst möglich geworden sein. In diese Diskussion hat sich Alain Badiou mit einem Beitrag über „Das Begehren und die Philo-sophie“ eingebracht, in dem er erklärt: „Ich bin zutiefst überzeugt, dass die gegenwärtige Phase der Philosophie sich um die ausschlaggebende Entgegensetzung von Wahrheit und Sinnfrage organisiert“ (Badiou 2010, S. 18). Mit beiden, der Bestimmung von Wahrheit und Sinn, sucht Badiou einen Ausweg aus der Irritation, die von zwei einander wider-streitenden Einsichten bewirkt wird. Beiden weiß er sich verpflichtet.

Wahrheit, wie sie in der Vergangenheit der Philosophie zum Kristallisationspunkt des Denkens  gereichte,  ist  verloren  gegangen. Das  ist  die  eine  der Einsichten. Mit  ihr  ist dem philosophischen Denken auch ein Subjekt verloren gegangen, das sich in eins mit der Wahrheit in der Welt zu verorten wusste. Wahrheit kann oder darf aber nicht verlo-ren gehen, so Badiou. wenn anders nicht auch das Verständnis des Subjekts und seiner Daseinsform in der Welt verloren gehen soll. Das ist die andere Einsicht. Verloren gehen dann  nämlich  auch  die  Bestimmungen,  die  im  Fluchtpunkt  der  Politik  gelegen  sind: Demokratie und Gerechtigkeit. Wir brauchen, so seine Überzeugung, einen „unbedingten Endpunkt“, wenn der Mensch sich vor dem Andrängen des Unmenschlichen in der Welt behaupten soll. Behaupten kann er sich aber nur, wenn es ihm gelingt, sich der Sinndi-mension menschlichen Daseins  zu vergewissern. Die  aber  ist  der Wahrheitsdimension verhaftet. Man wird Badiou einräumen wollen: Der Befund des Verlustes der Wahrheit kann irritieren. Verstärkt wird die Irritation dadurch, dass, wie Badiou feststellt, die Phi-losophie der Moderne sich auf breiter Front einer Sprachphilosophie verschrieben hat, die sich außerstande sieht, an den doch schlechterdings unverzichtbaren Dimensionen der humanen Lebensform: Wahrheit und Sinn, festzuhalten.

Es ist nicht meine Absicht, mich in die philosophische Diskussion, wie sie in Frank-reich en vogue ist, einzuklinken. Es will mir aber für ein über den Umbruch des Welt-bildes in der Zeitenwende der Neuzeit aufgeklärtes Denken bedeutsam erscheinen, dass in der politischen Philosophie das Verständnis von Politik und Demokratie deshalb zum Problem geworden ist, weil auch die Philosophie wahrnimmt, dass Politik und Demokra-tie mit der Wahrheit im tradierten Verständnis der Philosophie der Grund für die Zielv-orgabe von Politik und Demokratie weggebrochen ist. Zumindest die Problemlage, mit dem sich diese Philosophie konfrontiert sieht, schließt an die Problemlage an, wie wir sie zuvor durch den Umbruch des Weltbildes in der Zeitenwende der Neuzeit als Umbruch der Logik im Verständnis der Welt bestimmt haben. Denn auch im Verständnis einer säku-lar gewordenen Welt und einem daran anschließenden historisch-genetischen Verständ-nis der Gesellschaft müssen Politik und Demokratie anders verstanden werden, als sie gemeinhin in Philosophie und Soziologie verstanden werden. Gemeinhin nämlich werden sie transzendental, als auf nicht hintergehbare Werte gegründet verstanden. Auch ein tran-szendentallogisches Verständnis der Demokratie wird jedoch noch von dem Restbestand 

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27Gerechtigkeit: Die Wahrheit der Demokratie

einer absolutistischen Logik bestimmt, in der für eine Wertigkeit zehn andere bereit ste-hen, um ebenfalls für sich zu reklamieren, unhintergehbar zu sein.

Wenn man den Umbruch des Weltbildes versteht, wie wir ihn verstanden haben, als Umbruch einer Logik des Weltverstehens, wenn man überdies Gesellschaft und Politik in einer säkular verstandenen Welt zu verorten weiß, stellt sich die Problemlage anders dar als in der Philosophie. In einer säkular gewordenen Welt, wie sie hier verstanden wird, gewinnt  auch  die  Suche  nach  einem  neu  und  anders  verstandenen Grund  von  Politik und Demokratie eine Bodenhaftung, durch die auch das Subjekt, das Politik und Demo-kratie bestimmt, neu verstanden werden muss. So berechtigt es deshalb  ist,  für Politik und Demokratie einen Punkt finden zu wollen, von dem man für  ihre Zielbestimmung soll ausgehen können (Badiou 2010, S. 23), unbedingt und Endpunkt im strikten Sinne kann dieser Punkt nicht sein. Denn in einer säkular verstandenen Welt steht alles unter Bedingungen und muss aus dem Kontext der Bedingungen heraus verstanden werden. So berechtigt es deshalb ist, die Polemik gegen die bestehende Demokratie und ihr formales Verständnis zu richten (Badiou 2007), auch für die verkehrte Form der Politik und Demo-kratie kann ein Verständnis nur gewonnen werden, wenn sie einer säkular gewordenen Welt und dem Verständnis einer humanen Lebensform in einer säkular gewordenen Welt verbunden gehalten werden.

Die Kritik der Demokratie muss, das ist die These, die ich verfolge, deshalb in den Fokus der Kritik einer politischen Theorie rücken, weil Demokratie, so wie sie von den politischen Gewalten verstanden und genutzt wird, sich der Verpflichtung auf die humane Lebensform entzieht. Die Verpflichtung auf die humane Lebensform macht aber die Wahrheit der Demokratie aus. Sie findet, darin gehe ich mit Badiou einig, ihre Manifestation in der Gerechtigkeit.

2.2   Die Kritiken

Ich nehme deshalb die Frage nach der Wahrheit der Demokratie auf, wie Badiou sie ange-stoßen hat. Entziehen kann man sich ihr nicht. Denn auch wenn man für die Demokratie in der humanen Lebensform Grund gelegt  sieht, wird uns vom ersten bis  zum  letzten Satz der Erörterung ein Widerspruch begleiten. Er ist als Frage formuliert, führt aber die Antwort schon in der Frage mit: Muss man denn Demokratie, so die Frage, verstehen, wie sie hier verstanden wird, als eine Verfassungsform, deren Zielvorgabe darauf gerichtet ist, eine selbstbestimmte Lebensführung für alle zu ermöglichen? Kann man sich nicht daran  genüge  sein  lassen, Demokratie  so  zu  verstehen, wie  sie  gemeinhin  verstanden wird: als an formale prozessuale Verfahrensvorgaben der Meinungs- und Willensbildung gebunden, abgestützt durch Rechte einer Minderheit? Wer sagt denn, dass Gerechtigkeit im Fluchtpunkt der Demokratie liegt? Wenn nicht schon die humane Lebensform Zweifel an ihrer Wahrheit bewirkt, so doch das aus ihr hergeleitete Theorem der Gerechtigkeit. Es zieht geradezu erbitterten Widerstand auf sich. Gerechtigkeit wird nicht nur von denen in Frage gestellt, die auf die Logik des ökonomischen Systems abonniert haben. Gerechtig-keit wird auch von denen in Frage gestellt, die sich einem als philosophisch deklarierten Verständnis von Freiheit verschrieben haben. Das aber ist ein Verständnis von Freiheit, das einer überholten Logik des Denkens im Verständnis des Subjekts verhaftet ist. Es sind 

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insbesondere Liberale der philosophischen Rechten, die sich durch den Irredentismus der Demokratie haben verleiten  lassen,  ihre formalen Prozessualitäten schon selbst  für die Demokratie zu halten, die gegen das Postulat der Gerechtigkeit Front machen (Kersting 1996, S. 243–265). So unabweisbar es jedoch ist, dass die Demokratie ihre Wahrheit in der humanen Lebensform findet, so unabweisbar ist es, dass, wenn man der Demokratie die humane Lebensform zugrunde legt, sie in eins mit der Demokratie ihre Manifestation in  der Gerechtigkeit  finden muss. Die  alles  entscheidende  Frage  ist  deshalb, was  uns berechtigt, für das Verständnis der humanen Lebensform mit allen daran haftenden Wei-terungen Wahrheit in Anspruch nehmen kann.

So  bedeutsam  es  mir  nach  allem  scheinen  will,  dass  Badiou  für  die  Grundlegung der Demokratie und damit doch wohl auch für die Demokratie selbst Wahrheit will  in Anspruch nehmen können, die Frage ist, wie sie sich unter den Erkenntnisvorgaben eines über die säkular gewordene Welt aufgeklärten Denkens darstellt. In dem aber findet die Kritik eine andere Grundlage als in der Philosophie Badious (2005) oder, um einen ande-ren Denker der politischen Philosophie  in Frankreich zu nennen, Rancière  (2008).  Ihr Aufweis muss, wenn denn an der eingangs erörterten Zeitenwende irgendetwas Richtiges ist, als ein Problem der Struktur des Denkens verstanden werden (Dux 2000, S. 29 ff.). In ihr ist, das hat sich gezeigt, eine Logik des Weltverstehens umgebrochen worden. Die grundhafte Logik einer zweidimensionalen Begründungsstruktur ist gegen eine relatio-nale oder systemische Logik ausgewechselt worden. Es ist dieser Umbruch, der das Ver-ständnis der Wahrheit ebenfalls hat umbrechen lassen. Wenn man aber die Zeitenwende am Beginn der Neuzeit als Umbruch der Logik im Verständnis der Welt versteht, macht es keinen Sinn, länger noch nach Wahrheit im Verständnis eines Absoluten der vorneuzeit-lichen Logik zu suchen. Was Wahrheit heißt, muss anders verstanden werden als in aller Vergangenheit. Das gilt auch für die Wahrheit der Demokratie.

Der Umbruch  der Logik  im Verständnis  der Welt  umschließt  auch  das Verständnis des  Subjekts.  Es  ist  seither  einer  säkular  gewordenen Welt  verhaftet,  eingebunden  in das biologische Stratum wie in die dichten sozialen Bezüge der Gesellschaft, die eben-falls säkular verstanden werden muss. Im Kontext unsrer Erörterung sind vor allem die letzteren  von Bedeutung. Wenn Alain Badiou  das  neuzeitliche Subjekt  dem  „Andrän-gen des Unmenschlichen“ ausgesetzt sieht, so ist auch außerhalb eines philosophischen Diskurses  verständlich, was  gemeint  ist. Es macht  jedoch  in  einem über  die Erkennt-nisvorgaben der säkular gewordenen Welt aufgeklärten Denken schlechterdings keinen Sinn, das „Unmenschliche“ realiter dem Tierischen im Menschen zuschreiben zu wollen (Badiou 2007, S. 45). Dann nämlich verfehlt man den Punkt der Kritik,  auf den  es  in der Kritik der Gesellschaft ankommt: Das Unmenschliche ist gerade das, was allererst durch die Lebensform des Menschen möglich geworden ist (Plessner 1983, S. 328–337). Der Sturm, der dem Engel ins Gesicht bläst, der den Blick auf das vor ihm sich aus der Geschichte auftürmende Elend richtet, kommt nicht aus dem Paradies, sondern aus der Geschichte  selbst. Er  ist  von Menschen gemacht  (zu dem Bild Klees: Benjamin 1991 [1940], S. 691–704). Die ungezählten Millionen, die unter der Verfasstheit der Gesell-schaft als Herrschaft umgekommen sind, sie sind Opfer der von Menschen geschaffenen Organisationsform von Herrschaft und Staat. Auch das Bedrängende der gegenwärtigen Verfasstheit der Gesellschaft, ihre Fixierung auf eine Logik der Kapitalakkumulation, hat seinen Grund in Bedingungen einer Konstruktivität, an deren Grunde Macht gelegen ist. 

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29Gerechtigkeit: Die Wahrheit der Demokratie

Eine in die Verfassung der Marktgesellschaft integrierte Form der Macht stellt auch das Problem dar, mit dem wir uns heute konfrontiert sehen. Wenn es deshalb auch richtig ist, dass die Kritik des Kapitalismus wohlfeil geworden ist (Žižek 2002, S. 100), Marx irrte, wenn er meinte, man brauche dem Kapitalismus nur seine eigene Melodie vorzuspielen, dann fange er an zu tanzen (Marx 1963, S. 378 ff.). Es bedarf einer Kritik, die seine Orga-nisationsform auf dem Grunde konstruktiver Bedingungen der Gattungsgeschichte der Menschheit verortet.

Zugegeben,  es  ist  ungewöhnlich,  für  eine  gesellschaftliche Verfassung,  die  Demo-kratie,  nach Wahrheit  zu  fragen  und  eben  nicht  nur  nach Richtigkeit  oder  normativer Begründbarkeit oder mit beiden nach Gerechtigkeit. Allein, wenn ihr denn das Verständ-nis  der  humanen Lebensform  zugrunde  gelegt werden  soll,  dann wird man  für  dieses Verständnis nicht nur Wahrheit in Anspruch nehmen können, sondern müssen. Dann aber wird die Kritik der Wahrheit in ihrem tradierten philosophischen Verständnis unumgäng-lich. So bedeutsam nach allem die Stoßrichtung der Kritik, die von der Philosophie der Politik und Demokratie in Frankreich angestoßen wurde, auch für ein aufgeklärtes sozio-logisches Verständnis der Moderne ist:0   die Kritik der Wahrheit, um die Wahrheit der Demokratie zu Wort zu bringen,0   die Kritik des Subjekts,  um die humane Lebensform als  eine  auf Sinn verwiesene 

Lebensform auszuweisen,0   die Kritik der Sprach- und Kommunikationsphilosophie, um nicht Wahrheit und Sinn 

von ihr verdecken zu lassen,

wir müssen jede der Kritiken den erkenntniskritischen Verständnisvorgaben einer säku-lar gewordenen Welt unterwerfen, wenn Wahrheit und Sinn in ihrer Bedeutsamkeit für das Verständnis der Demokratie einsichtig gemacht werden sollen. Mit diesen drei Kri-tiken sind wir zunächst befasst. Für jede der Kritiken haben wir eingangs in einer Erör-terung der Zeitenwende Grund gelegt. Ich komme hier nur soweit darauf zurück, um die Wahrheit der Demokratie erkenntniskritisch zu untermauern. Sie  ist der Grund  für die Insistenz, die Demokratie darauf gerichtet zu sehen, die gesellschaftlichen Bedingungen für eine von Sinn bestimmte Lebensführung der Subjekte zu schaffen. Der Fluchtpunkt dieses Verständnisses der Demokratie schließt das Postulat der Gerechtigkeit ein.

Wenn ich die Wahrheit der Demokratie durch die humane Lebensform begründet sehe und die humane Lebensform als eine von Sinn bestimmte Lebensform, so mit dem erkenntniskritischen Interesse, im Fokus dieser Lebensform mit der demokra-tischen Verfassung Gerechtigkeit gelegen zu sehen. Darum geht es.

3   Kritik der Wahrheit

Im konstruktiven Verständnis der humanen Lebensform in der Neuzeit ist auch das Den-ken an Strukturen gebunden, die vom Menschen erst selbst geschaffen wurden. Unter der Ägide der vorneuzeitlichen Grundstruktur des Wissens, der Handlungsstruktur, erfuhr die Wahrheit des Wissens eine höchst eigenartige Ausprägung: Ganz ebenso wie das Handeln des Subjekts in dessen grundhaft-substanzieller Verfasstheit verortet wurde, wurde alles, 

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was in der Welt vorgefunden wurde und geschah, in einem Absoluten der Welt an ihrem Grunde verortet. Es ist keine Frage, auch in den vorneuzeitlichen Gesellschaften wurde das Wissen gewonnen, wie man es in jeder Ontogenese beobachten kann: in der Inter-aktion mit den Objekten und Ereignissen des kindlichen Umfeldes, des sozialen wie des naturalen. Auch  in den vorneuzeitlichen Gesellschaften wurde der Erwerbsprozess des Wissens von der Strategie eines konstruktiven Realismus bestimmt (Dux 2000, S. 208 ff.). Die Wahrheit dieses Wissens erfuhr aber dadurch, dass die Welt von ihrem Grunde ver-standen wurde (Gott oder dem Sein), eine signifikante Konfirmation: Sie wurde so abso-lut verstanden wie der Ursprung am Grunde der Welt, auf den das Wissen konvergierte. Denn zum einen wurde in der Frühzeit der menschlichen Geschichte die Welt als ganze von der gleichen Logik bestimmt wie das einzelne Objekt und Geschehen in  ihr. Zum andern ließ sich Denken des Ganzen der Welt und der Objekte und Ereignisse in ihr von der Materialität der Welt und der Objekte und Ereignisse in ihr nicht wirklich trennen.1 Das Wissen kam von der Welt und den Objekten und Ereignissen in der Welt her, war ihnen gleichsam aufgeschrieben. Mit dem Objekt erfuhr deshalb auch das Wissen seine Konfirmation durch das Absolute des Grundes. Als die antike Philosophie sich des Wis-sens reflexiv zu vergewissern suchte, fiel zwar zwischen Welt und Wissen der Welt der Schatten der Differenz, das Wissen stellte sich aber selbst als ein „etwas“ in der Welt dar, das am Grunde der Welt verortet war  (Descartes 1959). Es musste deshalb als wahres Wissen verstanden werden. Eben weil alles von einem absoluten Ursprung herkam und vom ihm bestimmt wurde, hatte das Wissen teil an der Substanzialität des Absoluten und dessen Wahrheit. Wahrheit galt allemal als absolute Wahrheit.

Es ist diese Form der Wahrheit, die im Umbruch des Weltbildes am Beginn der Neuzeit verloren gegangen ist. Den Grund, der sie hat verloren gehen lassen, können wir prägnant benennen: Die Logik, von der dieses Verständnis der Wahrheit bestimmt wurde, ist der Kritik verfallen. Ihre Genese ist der Handlungslogik verhaftet, wie sie sich in der frühen Ontogenese eines jeden Gattungsmitgliedes ausbildet. In der aber nahm das Handeln im Subjekt nicht nur seinen Anfang, es fand im Subjekt seinen Ursprung. Ursprung ist das, was durch sich selbst seinen Anfang hat, unbedingt durch anderes. Unter der Ägide dieser Logik wurde deshalb alles und jedes aus der absolut verstandenen Potenz eines absolu-ten Ursprungs im Subjekt herausgesetzt verstanden. Es ist diese Logik, die das Denken zwingt, auch  im Verständnis der Welt als ganzer auf deren Ursprung  in einem absolut verstandenen Subjekt, Gott oder Sein, zurückzugehen. Wenn man die Genese der Logik rekonstruiert, erhellt, dass sie sich empirischen Bedingungen in einer säkular verstande-nen Welt verdankt. Aus der empirischen Genese in einer säkular verstandenen Welt lässt sich  aber  kein Absolutes  begründen. Das Wissen um die  säkulare Genese desavouiert das Denken eines Absoluten. In dieser Welt ist alles und jedes einem relationalen Bedin-gungszusammenhang verhaftet. Das gilt für das Handeln, wie es für die Normativität gilt, der das Handeln unterworfen ist. Es gilt, wie wir gesehen haben, selbst für die Genese der Logik des Denkens. Halten wir nach allem fest:

1  Noch  im  Lehrgedicht  „Über  die  Natur“  Parmenides’  kann man  lesen:  Denn Dasselbe  kann gedacht werden und sein (Parmenides 1969; Dux 1998, S. 286 ff.).

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31Gerechtigkeit: Die Wahrheit der Demokratie

Die Philosophie der Politik und Demokratie tut recht daran, sich der Wahrheit als einer absoluten Wahrheit zu versagen. Das Problem, das die Philosophie mit der Wahrheit hat, beruht  jedoch darauf, dass  sie den Grund nicht  reflektiert, der den Verlust der absoluten Wahrheit bewirkt hat: den Verfall der absolutistischen Logik.

Würde sie ihn reflektieren, könnte sie unmöglich die Philosophie der Politik und Demo-kratie auf die Philosophie des Seins des späten Heidegger einzuschwören suchen (Mar-chart  2010,  S. 18 ff.).  Denn  der  unterliegt  immer  noch  die  absolutistische  Logik  als Struktur des Denkens.

4   Kritik des Subjekts

4.1   Zur Dekonstruktion des absolutistischen Subjekts

Die Kritik einer absolut verstandenen Wahrheit ist auch die Kritik eines absolut verstan-denen Subjekts. Das ist nicht nur deshalb so, weil das Subjekt der Welt zugehört, es folgt unabweislich aus der Kritik der Handlungslogik als Grund der absolutistisch verstande-nen Logik. Es war, wie die Kritik der Wahrheit gezeigt hat, die absolutistisch verstandene Handlungslogik, die die absolutistische Logik als Struktur des Weltverstehens bewirkt hat. Da aber gar nicht fraglich sein kann, außer für Luhmann (Luhmann 1984), dass das Handeln vom Subjekt bewirkt wird, stellte sich mit dem Handeln auch das Subjekt selbst als  absolut dar.  Interpretativ kam dem Subjekt  im  frühen Denken das Absolute  seines Daseins von Gott zu, da es wie alles in der Welt von ihm geschaffen war, strukturlogisch ging es aus der Genese der Logik im Verständnis des Handelns hervor. Die dem Handeln eigene Reflexivität verwies das Subjekt an sich selbst als Grund und Ursprung des Han-delns zurück. Das führte zu einem eigenartigen, kaum einmal artikulierten Verständnis des Subjekts in der Welt. Es wurde als Subjekt nicht nur selbst als absolut verstanden, bewirkte vielmehr, dass auch die Welt auf ein absolutes Subjekt konvergierte, Gott. Da es aber in der Welt nicht zwei Absoluta geben kann, mussten beide als einander identisch verstanden werden. Das Subjekt wurde in seinem Ursprung dem gleichen Ursprung ver-haftet verstanden, der auch die Absolutheit Gottes kennzeichnete.

Wenn man den Grund kennt, der das Subjekt sich in aller Vergangenheit als ein absolut verstandenes Subjekt darstellen ließ, wird verständlich, dass dieses Subjekt in der Zeiten-wende zur Neuzeit verloren gehen musste. Es verfiel der Dekonstruktion. In einer säku-lar gewordenen Welt lässt sich kein absolutes Subjekt denken, kein menschliches, aber eben auch kein göttliches. Wer es gleichwohl versucht, gibt dadurch zu erkennen, dass er nicht verstanden hat, was eigentlich mit dem Umbruch des Denkens in der Zeitenwende und dem Verständnis einer säkular gewordenen Welt geschehen ist.2 Wenn man aber den Grund kennt,  der das Subjekt  sich  in  aller Vergangenheit  als  ein  absolut  verstandenes 

2  Manch einem Erdenbürger kann man dem Vorwurf  nicht  ersparen. Vgl.  die Sozialenzyklika Benedikt  XVI  „Caritas  in  veritate“  (dazu:  Dux  2009b,  S. 87–104).  Man  kann  schwerlich behaupten, dass in der Disputation Habermas mit dem Papst der erkenntnistheoretische Kern-punkt des Problems erfasst worden wäre (Habermas und Ratzinger 2005).

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Subjekt  darstellen  ließ, will  es  als  aberwitzig  erscheinen,  sich  nicht  nur  des  Subjekts als eines absolut verstandenen Subjekts entledigen zu wollen, sondern des Subjekts als Organisationsform des Menschen überhaupt (Luhmann 1984). Verloren gegangen in der Zeitenwende ist nicht das Subjekt, verloren gegangen ist das absolutistisch verstandene Subjekt. Dagegen rückt das empirische Subjekt durch die Zeitenwende erst recht in den Blick. Denn dessen Bildungsprozess lässt sich in einer säkular gewordenen Welt rekons-truieren (Stern 1998). Eine soziologisch brisante Frage ist dann allerdings, wie sich Sub-jekt und Gesellschaft verbunden gedacht werden müssen. Die Frage stellt sich nicht erst seit gestern und heute; sie zieht sich durch die Geschichte der Soziologie. An seiner Klä-rung scheiden sich die Geister. Ich habe die Frage andern Orts erörtert, darauf kann hier verwiesen werden (Dux 2003, S. 233–267).

Subjekte müssen, so habe ich dort gesagt, als in der Grenze der Gesellschaft ver-ortet verstanden werden. Sie sind nicht die Gesellschaft, gehören ihr aber mit den Handlungen und Kommunikationen zu. In den Handlungen und Kommunikationen integrieren sie sich in sie.

Mit dieser Bestimmung des Verhältnisses von Subjekt und Gesellschaft tragen wir auch dem empirischen Befund Rechnung, in dem sich das Verhältnis von Subjekt und Gesell-schaft darstellt. Zwar wird jedes nachkommende Gattungsmitglied in eine Gesellschaft hineingeboren, aber doch so, dass es zunächst  lediglich eine Grenzposition  in  ihr ein-nimmt.  Es muss  sich  erst  selbst  in  seinen  Handlungen  und  Kommunikationen  in  die Gesellschaft integrieren. Das nun gilt in besonderer Weise für das Subjekt der Marktge-sellschaft. Das Subjekt ist, um sich in die Gesellschaft integrieren zu können, an Bedin-gungen gebunden, die in der Gesellschaft selbst gelegen sind. Eben weil das so ist, sieht sich eine demokratisch verfasste Politik verpflichtet, die Bedingungen zu schaffen und sicherzustellen, unter denen es dem Subjekt möglich ist, sich so in die Gesellschaft zu integrieren, dass eine selbstbestimmte Lebensführung möglich wird. Der Irredentismus der Demokratie besteht darin, dieser Zielvorgabe nicht gerecht zu werden. Das deutlich zu machen, ist die Absicht unserer Erörterung.

5   Kritik der postmodernen Sprach- und Kommunikationstheorie

5.1   Die Hintergehbarkeit der Welt

Für das neuzeitliche Verständnis der Welt ist es schlechterdings grundlegend, die Formen des Wissens, das von der Welt gewonnen wird und durch die sich die Praxisformen der Lebensführung ausprägen, als konstruktiv geschaffene Formen zu verstehen. Konstruktiv geschaffen werden konnten und können sie aber nur in der medialen Prozessualität des Denkens wie der Sprache. Medien sind Denken und Sprache insofern, als durch sie die Formen ausgebildet werden, durch die die Formen des Weltverstehens geschaffen wer-

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den können. Ihr eigener Formbildungsprozess ist mit anderen Worten die Causa für den Formbildungsprozess im Verständnis der Welt.3 Halten wir deshalb fest:

Dass die Welt sich konstruktiv in Formen ausbilden lässt, die auf ebenfalls konst-ruktiv geschaffenen medialen Formen von Denken und Sprache beruhen, das ist das Geheimnis des Konstruktivismus der humanen Lebensform.

Die Doppelung der konstruktiv geschaffenen Formen, das Verständnis der Medien als Formen, die einen Formbildungsprozess möglich machen, ist für den Weltaufbau schlech-terdings konstitutiv.

So  unabweisbar  es  nach  allem  für  das  neuzeitliche  Verständnis  der Welt  und  der Lebensführung des Subjekts in der Welt ist, sie als medial geschaffen zu verstehen, die mediale Verfasstheit ist ihrerseits eingebunden in einen säkularen Bedingungszusammen-hang, von dem sie bestimmt wird. Eine säkular verstandene Welt muss, wie wir gesagt haben, als eine Welt verstanden werden, die sich in allem in relationalen Bezügen her-stellt. Sie muss eben deshalb auch aus ihren relationalen Bezügen verstanden werden. Die mediale Konstruktivität ist kein Erstes und Unbedingtes. Das ist der Punkt des erkenntnis-kritischen Interesses, um den es geht. Wenn postmoderne Philosophie und soziologische Kommunikationstheorie darauf verweisen, dass jede relationale Verortung der medialen Konstruktivität wiederum nur ein Konstrukt sei, so ist das zwar richtig, verschlägt aber nur dann, wenn man dem Restbestand einer grundhaften Logik verhaftet bleibt. Denn nur dann gilt, dass man hinter das Konstrukt nicht zurückgehen kann, weil es sich im Grunde wiederfindet. Und nur dann kann man Sprache und Kommunikation als ein Erstes ver-stehen.  Es  ist mir  verwehrt,  im  gegenwärtigen Kontext  postmoderne  Philosophie  und die Kommunikationstheorie Luhmannscher Observanz einer Kritik zu unterziehen.  Im Kontext unserer Erörterung geht es um eines:

Wenn Sprache und Kommunikation als ein Erstes verstanden werden, werden Spra-che und Wirklichkeit in einer Weise zur Deckung gebracht, dass Wahrheit verloren geht. Mit der Wahrheit geht dann aber auch die Bestimmung von Sinn als integrales Moment der Lebensführung des Subjekts verloren. Mit beiden, Wahrheit und Sinn, geht schließ-lich auch der normative Ausweis der Demokratie ebenso verloren wie das Postulat der Gerechtigkeit. Das ist es, was Badiou an der modernen Philosophie irritiert. Denn Wahr-heit wie Sinn und mit beiden Gerechtigkeit lassen sich nur denken und bestimmen, wenn die Differenz  zwischen  Sprache  und Wirklichkeit  festgehalten wird,  und  das,  obwohl sich, was Wirklichkeit  ausmacht,  immer  nur wieder  in Sprache  fassen  lässt. Wahrheit ist nicht einfach das, was in einem Satz gesagt ist; jedenfalls kann es bei dieser Feststel-lung nicht sein Bewenden haben. Wenn sich die Wirklichkeit als Konstrukt dadurch aus-zeichnet, dass sie sich als Konstrukt immer gegen eine andere konstruktive Möglichkeit darstellt, so doch als ein Konstrukt, das an der eigenständigen Verfasstheit der Wirklich-keit einen Halt und eine zumindest vorläufige Verifikation sucht und eben dadurch Kritik ermöglicht. Das gleiche gilt für Sinn.

3  Medien sind keineswegs der unstrukturierte Stoff, der den Formen des Weltverstehens unter-liegt. So will Luhmann Medien verstanden wissen (1998, S. 165 ff.). Medien sind die Formen einer konstruktiven Prozessualität, vermöge derer sich die Formen des Weltverstehens und der Praxisformen bilden lassen.

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Das  Problem  postmodernen  Denkens  besteht  darin,  unvermögend  zur  Kritik  zu sein. Dadurch,  dass Wirklichkeit mit  dem gleich gesetzt worden  ist, was  sich  in einem Sprachspiel als Wirklichkeit darstellt,  ist der Kritik der Maßstab abhanden gekommen, dieses Sprachspiel zu kritisieren.

5.2   Die durchsichtig gewordene Moderne

Die Aporien der philosophischen Sprachphilosophie wie der soziologischen Kommuni-kationstheorie resultieren, das will mir nicht zweifelhaft erscheinen, daraus, dass die eine wie die andere den Umbruch des Denkens zu einer säkular verstandenen Welt nicht wirk-lich vollzogen hat. Die spekulativen Begründungen der Philosophie, sich in der Bestim-mung des Grundes von Demokratie und Gerechtigkeit im Schatten der Unbestimmbarkeit eines letzten Grundes halten zu müssen, belegen es (Marchart 2010, S. 18 ff.). Man muss Schritt halten mit den Erkenntnisvorgaben, die sich mit dem säkularen Verständnis der Welt gebildet haben. Sonst bleibt man auf den Aporien sitzen. Was im Verständnis einer säkular gewordenen Welt Grund meint,  ist  etwas anderes,  als das, was vordem Grund meinte. Grund ist im säkularen Verständnis der relationale Verbund, dem etwas in der Welt verhaftet ist. Das gilt auch für die mediale Konstruktion im Bildungsprozess der Gesell-schaft. Ich habe andern Orts eingehend darzulegen gesucht, dass wir im Verständnis der Sozialwelt im Ausgang von der Natur denken und den Bildungsprozess der Gesellschaft an die evolutive Entwicklung der Gattung anschließen müssen (Dux 2000, S. 177 ff.). In ihrer Rekonstruktion vermöge einer prozessualen Logik gewinnen wir ebenso verläss-liches Wissen darüber, warum er sich hat bilden können als auch darüber, warum in den Formen, in denen wir ihn in den frühen Gesellschaften vorfinden. In der Rekonstruktion einer prozessualen Logik gewinnen wir schließlich auch verlässliches Wissen darüber, warum sich die Gesellschaft in der Geschichte in der Vielzahl der Formen gebildet hat, die wir vorfinden. Wenn man sich darauf einlässt, vom Boden einer säkular gewordenen Welt zu denken und deren mediale Konstruktion  in  sie einzubeziehen, findet auch die Frage nach der Wahrheit von Gesellschaft und Demokratie eine an der Welt ausweisbare Antwort.

6   Die Wahrheit der Demokratie. Der dreifache Wahrheitssatz

6.1   Die Frage nach der Wahrheit von Gesellschaft und Demokratie

Die Frage nach der Wahrheit von Gesellschaft und Demokratie kann Unterschiedliches meinen. Sie kann zum einen meinen, ob das Wissen, das wir für eine historisch konkrete Gesellschaft und historisch konkrete Demokratie in Anspruch nehmen, wahr ist. Gemeint ist dann, ob ihre Darstellung den Strukturen und materialen Prozessen dieser Gesellschaft entspricht. Diese Form der Wahrheit wird außerhalb der postmodernen Sprach- und Kom-munikationstheorie  für  jede  historische  und  soziologische  Beschreibung  in Anspruch genommen. Anders machte sie keinen Sinn. Gegen postmoderne Sprachphilosophie und sich postmodern gerierende Kommunikationstheorie habe ich zuvor noch einmal deutlich 

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zu machen gesucht, dass es möglich ist, durch die Strategie der Rekonstruktion auf dem Grunde einer prozessualen Logik verlässliches Wissen von der Gesellschaft zu gewinnen, verlässliches Wissen auch von der demokratisch verfassten Gesellschaft der Gegenwart.

Die  Frage  nach  der Wahrheit  von Gesellschaft  und Demokratie  kann  zum  anderen meinen, wissen zu wollen, ob Gesellschaft und Demokratie selbst, und zwar so, wie sie uns im Denken der Neuzeit in ihren Strukturen und Prozessen zugänglich sind, Wahrheit für sich in Anspruch nehmen können. Von dieser Frage ist nicht ohne weiteres auszuma-chen, was sie meint, noch ob sie überhaupt Sinn macht. Unter der vorneuzeitlichen Logik im Verständnis der Welt war die Frage so gewöhnlich wie ihre Antwort selbstverständ-lich: Wie für alles  in der Welt war es möglich, auch für die gesellschaftliche Ordnung sich des Grundes zu vergewissern. In den archaischen Gesellschaften galt sie als Stiftung der Götter (Dux 2009a, S. 86–123). So wurde sie auch noch in der der archaischen Zeit des antiken Griechenland verstanden (Heinimann 1965; Dihle 2001, S. 157–174). Als die Philosophie sich der Frage bemächtigte, galt es, sich des im Grunde der Welt gelegenen absolut  verstandenen Seins  in  den  Ideen  zu  vergewissern.4 Erkenntniskritisch war  der Rekurs der Erkenntnis auf ein Absolutes, wie immer er ausgelegt wurde, deshalb tauto-logisch, weil aus einem Absoluten keine Erkenntnis zu gewinnen ist. Erkenntnis konnte auch damals  schon nur  aus der Welt gewonnen und dann dem Absoluten zugerechnet werden. Wollte man dagegen die Frage so verstehen, wie sich Gesellschaft und Demo-kratie im Verständnis der postmodernen Sprachphilosophie und der sich kaum weniger postmodern gerierenden Kommunikationstheorie der Systemtheorie darstellen, als eine große Erzählung, die ankommt aus Sprache oder Kommunikation (Lyotard 1999), wäre schlechterdings nicht ersichtlich, welcher Sinn mit der Frage nach ihrer Wahrheit verbun-den sein sollte. Denn in beider Verständnis sind die Konstrukte der Sozialwelt das, was sie sind. Über sie gibt es eine Erzählung, mit ihr hat es aber auch sein Bewenden.

Auch in anderen Philosophien als der postmodernen Sprachphilosophie und in anderen soziologischen Theorien als der Kommunikationstheorie der Systemtheorie Luhmanns will die Frage nach der Wahrheit der Gesellschaft keinen  rechten Sinn machen. Wenn annäherungsweise in den Blick rückt, was mit  ihr gemeint  ist, wird sie als Frage nach dem Sollwert einer Gesellschaft verstanden und ihre Beantwortung in transzendentalen Wertvorgaben gesucht. Für die aber gibt es keine Begründung, von der man sagen könnte, dass sie Wahrheit für sich in Anspruch nehmen könnte. Kurz, auch heute, Jahrhunderte nach der Zeitenwende, lässt sich die Geltungsdimension der Gesellschaft, aber eben auch der Demokratie nur tautologisch bestimmen: Man unterlegt der Gesellschaft dieses oder jenes Verfahren, diese oder jene Werte als Sollvorgaben, weil man überzeugt ist, anders lasse sich eine Gesellschaft gar nicht begründen, jedenfalls keine gute. Um eine herme-neutische Zirkularität der Begründung, sagt man, ist noch keine Begründung der Norma-tivität der Gesellschaft herum gekommen.

Auf  dem  Boden  einer  säkular  verstandenen  Welt  und  einer  säkular  verstandenen humanen Lebensform und also auch einer säkular verstandenen Gesellschaft und Demo-kratie gewinnt die Frage einen Sinn und eine Bedeutung, die vorher nicht mit ihr verbun-den werden konnte. Auf dem Boden einer säkular gewordenen Welt und einer säkular verstandenen humanen Lebensform zielt die Frage auf eine Begründung von Gesellschaft 

4  So wollte Platon (Politeia) sie verstanden wissen (Dux 2009a, S. 86–123).

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und Demokratie, die  sich nicht damit  zufrieden geben will,  einem normativen Apriori angelastet zu werden. Sie zielt auf einen Fixpunkt in der Welt, nach dem auch Badiou verlangt. Den aber finden wir ihn in einer humanen Lebensform, von der wir schon gesagt haben, dass sie Wahrheit für sich in Anspruch nehmen könne. Eben diese Wahrheit lässt sich dann allerdings auch für die Demokratie in Anspruch nehmen, wenn denn von ihr gesagt werden  kann, was wir  oben  von  ihr  gesagt  haben,  dass  sie  in  unserer Zeit  die historische Manifestation dieser Lebensform darstelle. Wir können die Inanspruchnahme der Wahrheit für die Demokratie präzisieren. Wir können und müssen für die Demokra-tie einen dreifach verstandenen Wahrheitssatz in Anspruch nehmen. Und wie von jeder Wahrheit werden wir von jedem der Wahrheitssätze sagen, dass durch ihn die Demokratie als historischer Manifestation der humanen Lebensform unabweisbar werde.

6.2   Die Wahrheit der humanen Lebensform. Der erste Wahrheitssatz der Demokratie

Im Verständnis einer säkular gewordenen Welt stellen sich, so haben wir gesagt, Gesell-schaften als die Vernetzung der Handlungen und Kommunikationen der Lebenspraxis der Subjekte dar. Die haben sich konstruktiv im Anschluss an eine evolutive Naturgeschichte ausgebildet. Dass wir die Welt und also doch auch die Gesellschaft nicht länger im Aus-gang von einem Absoluten als Geist verstehen, führt dazu, dass wir auch die Gesellschaft im Ausgang von der Natur zu verstehen suchen müssen. Darauf habe ich zuvor deshalb eigens noch einmal hingewiesen, weil sie in einer Vielzahl von philosophischen Reflexio-nen so wenig verstanden wird wie in manchen der soziologischen Theorien. Vor der Frage nach der Wahrheit der Demokratie liegt deshalb die Begründung der Wahrheit, die wir für die humane Lebensform in einer säkular verstandenen Welt in Anspruch genommen haben. Und die findet eine erste Antwort durch den Verweis auf seine biologische Ver-fassung, wie sie sich in einer langen Evolution des Lebens gebildet hat.

Die humane Lebensform auf ein Faktum der Natur gründen zu wollen, wird niemand in Abrede stellen wollen. Wenn die Antwort philosophisch gleichwohl irritiert, so deshalb, weil auch die humane Lebensform als geistige Lebensform darauf gegründet werden soll. Denn  philosophisch  gesehen  soll  gelten, was Kant  von  der Moral  als  der Grundform aller Normativität der Philosophie ins Konzept geschrieben hat: dass sie auf ein Faktum nicht solle gegründet werden können (Kant 1968). Denn, so die Begründung, es gelte ja gerade, erst noch zu bestimmen, wie das Faktum beschaffen sein solle, um der Normativi-tät gerecht zu werden. Sein und Sollen müssen danach absolut unterschiedenen Straten der Welt  und  also  auch  des Daseins  des Menschen  zugerechnet werden.  Ich will  hier den Nachweis, dass diese Form der Trennung strukturlogisch (!) dem Restbestand einer grundhaften, dem Denken eines Absoluten verpflichteten Logik zuzurechnen  ist, nicht noch einmal  führen (Dux 2004, S. 47 ff.). An einer Einsicht aber  führt  in der Moderne kein Weg vorbei: Wenn man den Menschen unter den Erkenntnisvorgaben einer säkular gewordenen Welt zu verstehen sucht, dann muss man den Ausgang im Denken von der Natur nehmen. Und dann muss man am Ausgang seiner Lebensform ein Faktum gelegen sehen: das Faktum seiner biologischen Verfasstheit. Mit dem kann es allerdings nicht sein Bewenden haben. Denn auch in einem historisch-genetischen Verständnis geht es um die Begründung der geistigen, durch Denken und Sprache begründeten Lebensformen. Um die zu finden, ist es notwendig, das habe ich eingangs deutlich gemacht, von dem schieren 

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Faktum der  biologischen Verfasstheit  der  humanen Lebensform  zu  einem Verständnis ihrer Geistigkeit zu kommen, ohne sie schon in dem biologischen Stratum selbst gelegen zu sehen. Denn das kennt keine Geistigkeit. Die Geistigkeit der humanen Lebensform wird erst durch Denken und Sprache zu dem, was sie darstellt. Wenn man die biologische Verfassung vorgibt, kann sie sich erst prozessual gebildet haben, ohne schon in der bio-logischen Verfassung gelegen zu sein.

Ein  historisch-genetisches Verständnis  der  Lebensform  des Menschen weiß  sich einem Umbruch der Logik am Beginn der Neuzeit verpflichtet, der mit der relatio-nalen Verfasstheit des Bedingungszusammenhangs eine prozessuale Logik im Bil-dungsprozess der humanen Lebensformen hat bewusst werden lassen (Dux 2000, S. 167 ff.).

Dass sich die menschlichen Lebensformen prozessual über Denken und Sprache haben ausbilden können, das ist es, was – metaphorisch gesprochen – den eigentlichen Genie-streich der Evolution ausmacht. Das Faktum der humanen Lebensform muss deshalb als ein Faktum verstanden werden, dem die biologische Verfassung des Menschen zugrunde liegt, das aber als biologische Verfasstheit lediglich die Bedingung der Möglichkeit dar-stellt, die Geistigkeit der menschlichen Lebensführung vermöge der Medien von Denken und Sprache selbst schaffen zu können. Die eigentlich anthropologische Verfassung wird von dieser doppelschichtigen Verfasstheit von Natur und Geist gebildet.5 Das sind keine absolut geschiedene Straten, wie bei Kant. Es sind Straten, in denen das eine, das geistige, sich prozessual aus dem andern heraus zu bilden vermag.

Es ist dieser Befund, den ich als ersten Wahrheitssatz der Demokratie verstehe. Denn auf ihm baut sie auf. An ihn schließen überdies die beiden anderen Wahrheitssätze an.

Die Grundlage des ersten Wahrheitssatzes der Demokratie stellt nach allem die humane Lebensform dar. Deren Wahrheit lässt sich ausweisen. Eines der stärksten Verfahren, sie auszuweisen,  liegt,  will  mir  scheinen,  in  der  Rekonstruktion  ihres  Bildungsprozesses aus den Bedingungen, unter denen sie sich bildet. Gewiss, in der Rekonstruktion dieses Bildungsprozesses bestehen zwischen Biologen, Ethologen und Gehirnphysiologen auf der  einen und Soziologen und Entwicklungspsychologen auf der  anderen Seite  erheb-liche  Differenzen  darüber,  wie  die  Rekonstruktion  auszusehen  hat.  Die  ersteren  sind zumeist willens, die menschlichen Lebensformen in eben den Formen, in denen sie in der Erwachsenenwelt der Subjekte das Leben bestimmen, bereits  im biologischen Stratum zu verorten und ihre Entwicklung als Reifeprozess zu verstehen. Man kann jedoch nicht entschieden genug darauf verweisen, dass sich im biotischen Stratum keine sinnhaft-in-tentionalen Formen verorten lassen, auch nicht ihrer Anlage nach. Jede Wissenschaft ist für ihre erkenntniskritische Solidität selbst verantwortlich. Wenn man aber die Erkennt-nisvorgaben der Moderne zugrunde legt, ist es unabweisbar, die Lebensformen des Men-schen dahin zu verstehen, dass sie sich erst prozessual und konstruktiv in der Interaktion mit  einer Außenwelt bilden. Diese Einsicht  sollte der Biologie und Gehirnphysiologie keine Schwierigkeiten bereiten. Auch die Gehirnphysiologen sagen, das Gehirn  ist ein 

5  Ich weiß mich Helmut Fahrenbach verpflichtet, der auf diese Differenz auch in seinen Arbei-ten  zur  philosophischen  Anthropologie  nachdrücklich  hingewiesen  hat  (Fahrenbach  1992, S. 92–115).

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sich selbst organisierendes Organ (Edelman 1992, S. 48). Es organisiert sich in der frühen Ontogenese der Gattungsmitglieder.

Widerspruch findet das Theorem der konstruktiven Genese der menschlichen Lebens-formen auch in der Philosophie. Die stellt den konstruktiven Bildungsprozess der Lebens-formen  zwar  nicht  grundsätzlich  in  Frage, will  jedoch  einen Vorbehalt  just  für  deren Verfasstheit anerkannt wissen, auf die es entscheidend ankommt: die normative. Sie hält daran fest, dass man zwischen Genese und Geltung unterscheiden müsse. Man versteht jedoch  die  humane Lebensform  als  eine  in  einer  säkular  gewordenen Welt  verorteten Lebensform schlecht, wenn man meint, der Konstruktivität ihrer normativen Praxisfor-men die Geltungsdimension vorenthalten zu können. Als konstruktiv geschaffene Praxis-formen der Lebensführung können Handlungen und Kommunikationen in Interaktionen gar nicht anders, als über normative Erwartungen strukturiert und als Handlungen auch eingefordert werden. Anders lassen sie sich unter der Bedingung eines in einer Soziali-tät  geführten Lebens  nicht  realisieren  und  sichern.  Es  sind  die  an  den  anderen  adres-sierten Erwartungen, den  Interessen der Handelnden Rechnung zu  tragen, die sich zur Ordnung einer Gesellschaft vernetzen und Geltung verlangen. Sie machen das Sollen und mit dem Sollen die normative Verfasstheit der Gesellschaft aus. Die Geltungsdimension der normativen Verfasstheit der Gesellschaft ist deshalb nichts, das zu ihrer tatsächlichen Verfasstheit noch hinzukäme, sie  ist Strukturmoment der Gesellschaft. So sehr Gesell-schaften deshalb über Macht verfasste Gesellschaften darstellen, – in aller Vergangenheit nicht anders als heute – ihre über Macht verfasste Ordnung ist allemal eine normativ ein-geforderte Ordnung.

Das Verständnis der Normativität als einer an die Strukturform der sozialen Beziehung gebundene Daseinsform lässt jede ihrer Ausprägungen als eine de-ontische Daseinsform erscheinen. De-ontisch will im historisch-genetischen Verständnis ihres Bildungsprozes-ses  sagen: Die Normativität  der  normativen Verfasstheit  der Gesellschaft  ist  nicht  im Stratum des Seins, sondern des Bewusstseins der Subjekte verortet. Dort allerdings bildet sie sich erst in jeder Ontogenese neu aus. Das gilt insbesondere für die Moral. Deren Gel-tungsdimension beruht darauf, dass bestimmte Formen des Handelns und Unterlassens von anderen als verpflichtet eingefordert werden und von den Adressaten auch als ver-pflichtend verstanden und ihrem Handeln unterlegt werden. Auch der Geltungsdimension der Normativität der Gesellschaft unterliegt ein empirisches Stratum: das Bewusstsein der Subjekte. Subjekte wissen  sich anderen Gesellschaftsmitgliedern verpflichtet. Und sie wissen sich ihnen deshalb verpflichtet, weil sich das Selbst ontogenetisch schon als ein  anderen  verbundenes  und  verpflichtetes  Selbst  entwickelt  hat. Mit  der Einsicht  in die Bindung an den anderen entwickelt sich das Bewusstsein der Verpflichtung. Es  ist Ausdruck einer praktischen Vernunft (im nicht-kantischen Sinne) als einer Form prakti-scher Rationalität. Das ist der Grund der Moral (Dux 2004). Nachdrücklich sei deshalb gegen das durch Habermas (1981) neu belebte philosophische Verständnis der Normati-vität festgehalten: Praktische Vernunft und normative Vernunft sind zwei Formen einer umfassenden praktischen Vernunft. Jenseits ihrer, im Begegnungsverkehr unter Fremden in der Gesellschaft, wird die Verpflichtung von dem Bewusstsein unterbaut, Bedingung der Möglichkeit zu sein, überhaupt in Gesellschaft zu leben. Wie wenig nachhaltig dieses Bewusstsein zu sein vermag, weiß jeder, der die Verhältnisse in der Gesellschaft realis-tisch wahrnimmt.

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6.3   Der zweite Wahrheitssatz der Demokratie

Wenn der erste Wahrheitssatz der Demokratie auf der humanen Lebensform beruht, so der zweite darauf, dass diese Lebensform nach einer konstruktiven Gestaltung verlangt, durch die die Bedingungen einer  selbstbestimmten Lebensführung allererst geschaffen werden müssen. Es ist diese Anforderung, die sich als Zielvorgabe der Demokratie aus-bildet. Die Demokratie ist schlecht verstanden, wenn man sie als Anspruch versteht, der nicht mehr besagt, als alle an der politischen Meinungs- und Willensbildung beteiligen zu müssen und dafür in einem Rechtsstaat die Grundlage geschaffen zu sehen. Auch darauf habe ich schon hingewiesen. Die formale Prozessualität ist selbstredend bedeutsam. Die Beteiligung an der politischen Meinungs- und Willensbildung ist der erste Akt der Selbst-bestimmung. Aber die Pointe an  ihm wird erst  in einer erkenntniskritischen Reflexion offenbar, die sich des Grundes der formalen Beteiligung vergewissert:

Wenn die Lebensführung des Subjekts gerade nicht schon von natural geformten Praxisformen bestimmt wird, wenn die Praxisformen der Lebensführung vielmehr erst konstruktiv bestimmt werden müssen, dann heißt das, dass für eine konstruk-tive, selbstbestimmte Lebensführung zwar nicht die Bedingungen der Konstruktivi-tät, wohl aber deren Umsetzung ebenfalls konstruktiv geschaffen werden müssen.

Das aber heißt  im Klartext: Die gesellschaftlichen Ordnungsformen müssen konstruk-tiv so geschaffen werden, dass auf ihrer Grundlage eine selbstbestimmte Lebensführung möglich wird.  Erst  vermöge  der Umsetzung  der  evolutiv möglich  gewordenen Kons-truktivität  durch die Ausgestaltung der gesellschaftlichen Verfassung wird  eine  selbst-bestimmte Lebensführung überhaupt lebbar. Eben das ist die Zielvorgabe, die im Fokus der Demokratie gelegen ist. Sie hat den 2. Wahrheitssatz der Demokratie zur Grundlage. Er liegt in der Konsequenz des ersten. Denn wenn es wahr ist, das die humane Lebens-form den Menschen auf eine selbstbestimmte Lebensführung verweist, dann ist es auch wahr, dass dafür in der Ausbildung der Gesellschaft erst die Grundlage geschaffen wer-den muss. Es ist diese Einsicht, die auch historisch mit dem Umbruch des Weltbildes in der Zeitenwende am Beginn der Neuzeit das Postulat einer demokratischen Verfassung hat ausbilden lassen. Die Demokratie wurde unabweisbar, nachdem am Beginn der Neu-zeit die  selbstbestimmte Lebensführung ebenso bewusst geworden war, wie die damit einhergehende Notwendigkeit, Ordnungsformen einer Gesellschaft zu schaffen, die diese Selbstbestimmung allererst möglich machten.

Es  ist unschwer zu  sehen, dass  eine Lebensform, die  sich dadurch auszeichnet, die Lebensführung  von Praxisformen  bestimmt  sein  zu  lassen,  für  die  der Mensch  in  der Gesellschaft erst die Grundlage schaffen muss, eine riskante Lebensform darstellt. Die konstruktive Gestaltung der Lebensform trug das Risiko in sich, auch misslingen zu kön-nen. Und sie ist in der Geschichte misslungen. Denn eine der anthropologischen Bedin-gungen im Bildungsprozess der Gesellschaft ist, dass sie von allem Anfang an eine über Macht gebildete Gesellschaft  ist  (Dux 2009a6). Macht war am Anfang der Geschichte 

6  Die Untersuchung „Von allem Anfang an. Macht nicht Gerechtigkeit“  fasst eine Anzahl von Studien zur Genese der Gerechtigkeit von der frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert (Nietz-sche) zusammen.

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ein Medium der Selbstbehauptung jedes einzelnen Subjekts. In der Geschichte aber hat sie sich zur Herrschaft organisieren lassen. Jahrtausende lang hat Herrschaft die selbst-bestimmte Lebensführung der Subjekte zunichte gemacht. Es will mir als ein Verhängnis erscheinen, dass sich der Bildungsprozess der Gesellschaft über eine Form von Macht, durch  die  eine  große  Zahl  von  Menschen  ihrer  Selbstbestimmung  verlustig  geht,  in der kapitalistischen Struktur der Marktgesellschaft  fortsetzt. Mehr noch als das  in der Zeitenwende  der  Neuzeit  gewonnene  Bewusstsein  der  Selbstbestimmung  ist  es  deren Bedrohung durch das ökonomische System der Marktgesellschaft, die das Postulat der Demokratie ausbilden und unabweisbar hat werden lassen (Marshall 1992, S. 33–94). Die Bedrohung der Selbstbestimmung durch eine nun systemisch verfasste Form von Macht ist der Grund, dass sich der Kampf um die Demokratie durch die Jahrhunderte der Neu-zeit als Kampf um die humane Lebensform erweist. Die Zeitenwende stellt auch darin eine Zeitenwende dar, dass die Menschheit sich von einer Form der Macht zu befreien sucht, die sich als Bedrückung und Verlust der Selbstbestimmung durch die Geschichte zieht. Die Herrschaftsverfassung der Vergangenheit war ihre historische Ausprägung, die kapitalistische Marktgesellschaft ist ihre aktuelle. Mit ihr sind wir in die Krise geraten. Wenn Krisen mit der Bedrohung auch eine Chance enthalten, dann die,  den Kern der Demokratie endlich lebbar werden zu lassen. Präzisieren wir deshalb die Wahrheit der Demokratie, wie sie sich im zweiten Wahrheitssatz darstellt:

Um die humane Lebensform lebbar werden zu lassen, muss die Grundlage für eine selbstbestimmte Lebensführung konstruktiv dadurch geschaffen werden, dass eine Organisationsform von Macht geschaffen wird, die jedem, aber auch jedem zu einer selbstbestimmten Lebensführung verhilft. Es ist diese Zielvorgabe, die die Demo-kratie als ihre Wahrheit für sich in Anspruch nehmen kann. Sie ist so unabweisbar, wie die humane Lebensform im Verständnis einer säkular gewordenen Welt unab-weisbar ist.

6.4   Gerechtigkeit: Die Wahrheit der Demokratie. Der dritte Wahrheitssatz der Demokratie

Eine gesellschaftliche Verfassung, in deren Fokus das materiale Postulat der Demokratie liegt, allen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen, zielt auf eine von Sinn bestimmte Lebensführung. Sinn aber meint nicht nur die unabdingbar sinnhafte Gestal-tung des einzelnen Handelns, Sinn meint den Fluchtpunkt einer Lebensführung des Sub-jekts, die über den Tag hinausweist.  Jeder  sucht  ihm nachzukommen,  jeder  sucht  sein Leben so einzurichten, dass es sich nicht nur als ein sinnhaft geführtes Leben erweist, sondern tunlichst als ein sinnvoll geführtes. Sinn ist die eigentlich bestimmende Dimen-sion der Lebensführung. Wir haben sie erörtert.

Die kategoriale Dimensionierung der Sinnbestimmung gewinnt dadurch eine gestei-gerte Bedeutung, dass sie  in der demokratisch verfassten Gesellschaft der Neuzeit mit der  in  sie  eingelassenen  Selbstbestimmung  zusammengeht.  Denn  im  Junktim mit  der von Sinn bestimmten Form der Lebensführung gewinnt das Postulat der demokratischen Verfassung die Bedeutung, die Bedingungen einer von Sinn bestimmten Lebensführung in der Gesellschaft schaffen zu wollen (Dux 2008). Von der demokratischen Verfassung 

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der Gesellschaft werden wir deshalb  sagen, dass  sie dem Postulat, Bedingungen einer selbstbestimmten Lebensführung zu schaffen, nur so weit gerecht wird, wie es ihr gelingt, Bedingungen zu schaffen, die den Sinnanforderungen der Gesellschaft gerecht werden. Wir können das Junktim, das zwischen der selbstbestimmten und der von Sinn bestimm-ten Lebensführung des Subjekts besteht, präzisieren:

Das  im  Fluchtpunkt  der  Demokratie  gelegene  Postulat,  Bedingungen  einer  so selbstbestimmten wie von Sinn bestimmten Lebensführung zu schaffen, zielt darauf ab,  eine  gerechte Gesellschaft  zu  schaffen. Denn  eben  das meint Gerechtigkeit: gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen, die allen ein von Sinn bestimmtes Leben ermöglichen.

Demokratie und Gerechtigkeit sind ihrer materialen Zielvorgabe nach identisch. Wie die Demokratie hat auch die Gerechtigkeit die Wahrheit einer humanen Lebensform für sich, die das Subjekt auf eine von Sinn bestimmte Lebensführung verweist.7 Ganz ebenso wie die Demokratie die Konsequenz der humanen Lebensform darstellt, so stellt die Gerech-tigkeit die Konsequenz der Demokratie dar. Ersichtlich muss Gerechtigkeit anders ver-standen werden, als sie in aller Philosophie verstanden worden ist. Sie hat eine andere Genese und einen anderen Gehalt als die Moral, auf die sie gemeinhin und philosophisch gegründet wird. Inwiefern?

Das Postulat der sozialen Gerechtigkeit stand nicht am Anfang der Geschichte. Und das schlicht deshalb nicht, weil das Bewusstsein der Machbarkeit und Konstruktivität der Gesellschaft nicht am Anfang der Geschichte stand. Die Reflexivität der Lebensführung des Subjekts ist in der Frühzeit der Geschichte eng begrenzt. Sie bildet sich im Erwerbs-prozess der Handlungskompetenz in der frühen Ontogenese der Gattungsmitglieder aus. Eben deshalb ist sie aber auch in der Frühzeit der Geschichte an das je konkrete Han-deln des Subjekts gebunden. Es hat des weiten Raums der Geschichte bedurft, um sie auf die Strukturen der Gesellschaft  richten zu können. Um deren Reflexion und deren Kritik geht es im Theorem der sozialen Gerechtigkeit. Darin unterscheidet sie sich von der Moral, die sich auf die normativen Anforderungen in interaktiven und kommunikati-ven Beziehungen zwischen konkret verbundenen Subjekten richtet. Erst als sich mit der Organisationsform der Herrschaft ein anfängliches Bewusstsein bildete, dass die gesell-schaftliche Ordnung eine von Menschen bestimmte Ordnung darstellt, konnte ein ebenso anfängliches Bewusstsein  auch der  sozialen Gerechtigkeit  entstehen. Es wurde  jedoch durch die grundhafte Struktur des Denkens, die Ordnung der Gesellschaft als von Gott begründet zu verstehen, alsbald paralysiert (Dux 2009a, S. 86–123). Wenn aber einmal bewusst geworden ist, dass die Ordnung der Gesellschaft eine von Menschen gemachte Ordnung darstellt, dann ist die Menschheit bereits auf halbem Wege, um zu verstehen, dass auch deren normative Verfasstheit eine von Menschen gemachte Verfasstheit dar-stellt. Im Fluchtpunkt dieser Entwicklung liegt eine Form des Sollens, die zwar von den Verhältnissen heraufgeführt worden, aber nicht schon selbst in den Verhältnissen gelegen ist, eben die der sozialen Gerechtigkeit. Denn mit der Einsicht  in die Machbarkeit der 

7  Das lässt den Versuch, sich nun auch noch die Gerechtigkeit abmarkten zu lassen, wie er von Kersting angestellt wird, als abgründig inhuman erscheinen (2010, S. 874–883).

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sozialen Ordnung wird die Frage unabweisbar, ob die Gesellschaft in den Strukturen, in denen sie vorgefunden wird, verfasst ist, wie sie verfasst sein soll, wenn man ihr die auf Sinn  verweisende  Form  einer  selbstbestimmten  Lebensführung  zugrunde  legt. Demo-kratie, wie  sie  unter  dem Postulat  der Gestaltung dieser Lebensform verstanden wird, steht  quer  zu  der Versicherung,  diese Gesellschaft  sei  schon  oder  könne  nicht  anders sein  als  die,  die  sich mit  der  kapitalistischen Marktgesellschaft  gebildet  habe. Das  in der Neuzeit gewonnene Bewusstsein, die gesellschaftlichen Bedingungen einer humanen Lebensführung allererst  schaffen zu müssen,  transformiert das Postulat  einer  selbstbe-stimmten Lebensführung in das Postulat, eine gerechte Gesellschaft schaffen zu sollen. Jeder kann es für sich in Anspruch nehmen, weil jeder auf diese Lebensform fixiert ist. In diesem Sinne stellt Gleichheit den Bodensatz ebenso der Demokratie wie der Gerechtig-keit dar. Und in eben diesem Sinne ist die Gleichheit eines jeden sprechenden Wesens mit jedem anderen sprechenden Wesen schlicht ein Faktum, das einmal mehr Wahrheit für sich in Anspruch nehmen kann (Rancière 2008, S. 85; Apel 1976, S. 358–435). Es ist die-ses Bewusstsein und diese auf die Struktur der Gesellschaft und die durch sie begründete Ordnung gerichtete Frage, die das Postulat der sozialen Gerechtigkeit begründet. Halten wir nach allem fest:

Wenn, wie wir gesagt haben, die Wahrheit der Demokratie in der humanen Lebens-form gelegen ist, weil das Verständnis der humanen Lebensform als einer von Men-schen selbst begründeten Lebensform sich in das demokratische Postulat umsetzt, die  gesellschaftlichen  Bedingungen  einer  selbstbestimmten  Lebensführung  zu schaffen, dann findet die Wahrheit der Demokratie in der Gerechtigkeit ihre Mani-festation.  Die  hat  ihre Wahrheit  ebenso  in  der  Demokratie  wie  in  der  humanen Lebensform.

Das ist es, was mit dem dritten Wahrheitssatz der Demokratie zum Ausdruck kommen soll.

7   Resümee

1  Wir  sind nicht wirklich mit zwei Politiken und zwei Demokratien befasst. Wir  sind mit  einer Demokratie befasst,  die  in der Marktgesellschaft das Postulat der Demokra-tie als normatives Postulat mit sich führt, es aber nicht hat verwirklichen können. Die Demokratie ist eine irredentistische, eine uneingelöste Daseinsform geblieben. Ihr liegt die humane Lebensform zugrunde. In der hat sie ihre Wahrheit. Der Konflikt der Markt-gesellschaft mit der Demokratie ist ein Konflikt in der inneren Verfasstheit dieser Gesell-schaft. Es  ist ein Konflikt zwischen  ihrer durch das ökonomische System begründeten Machtverfassung und ihrem humanen Sollwert. Das muss man sehen, wenn der Konflikt eine Lösung finden soll.

2  Die Kritik der Marktgesellschaft macht eine Kritik der Erkenntnisvorgaben, von denen ihr Verständnis bestimmt wird, unausweichlich. Es ist unumgänglich, die absolutistische Logik der Vorneuzeit durch die erst mit der Neuzeit gewonnene Logik eines säkularen 

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Weltverständnisses zu ersetzen. Das lässt Wahrheit anders verstehen, das lässt das Sub-jekt anders verstehen, und es lässt schließlich mit dem Subjekt auch dessen Lebensform anders verstehen. Ich habe jeder der Kritiken das moderne Verständnis einer säkularen Welt und eines säkular verstandenen Subjekts unterlegt. Auf der Grundlage dieses Ver-ständnisses lässt sich jener Dreischritt begründen, um den es mir bei der Erörterung der Wahrheit der Demokratie zu tun ist:0   Die Wahrheit der Demokratie  liegt  in der humanen Lebensform. Die verweist den 

Menschen auf eine in medialen Formen geschaffene geistige und als geistige auf eine von Sinn bestimmte Lebensführung. Das ist der erste Wahrheitssatz der Demokratie.

0   Die Demokratie zielt darauf ab, die konstruktiven Bedingungen der geistigen, von Sinn bestimmten Lebensführung mit der konstruktiven Gestaltung der Gesellschaft zu schaffen. Diese materiale Bestimmung der Demokratie stellt ihre normative Zielv-orgabe dar. Diese Feststellung macht den zweiten Wahrheitssatz der Demokratie aus.

0   Die Realisierung der normativen Zielvorgaben verlangt nach ihrer Manifestation in der Gerechtigkeit. Wenn man deshalb fragt: Warum denn Gerechtigkeit?, so ist darauf nur die eine Antwort möglich: Weil sie die Wahrheit der Demokratie zur Grundlage hat. Sie stellt deren dritten Wahrheitssatz dar.

3  Gemeinhin  sehen  sich  in der Theorie der Normativität Normen nicht der Frage der Wahrheit, sondern der Richtigkeit ausgesetzt.Wenn es aber darum geht, die Frage zu klä-ren, was denn die Grundlage der Normativität sei, was insbesondere die Grundlage der sozialen Gerechtigkeit, dann will es mir mit Badiou unabweisbar erscheinen, eine Affir-mation für sie in der Welt zu finden. Badiou hat für ihre Affirmation einen „unbedingten Endpunkt“  gefordert  (Badiou  2010,  S. 23). Man  läuft mit  einer  solchen  Formulierung Gefahr, dahin missverstanden zu werden, eine absolute Geltung zu verlangen, wie sie nur die absolutistische Logik zu offerieren vermochte. Im Verständnis einer säkular gewor-denen Welt und eines säkular gewordenen Subjekts kann nicht fraglich sein, was gemeint ist. In ihr gibt es kein Absolutes, auch keine absolute Begründung der Normativität. Dafür aber gibt es die Wahrheit der humanen Lebensform.

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Günter Dux ist emeritierter Professor des Instituts für Soziologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Arbeitsgebiete/Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie. Theorie der Erkenntnis (Wissen). Politische Soziologie; Neuere Publikationen: Historische Theorie der Kultur. Zur pro-zessualen Logik im kulturellen Wandel. Weilerswist, Velbrück Wissenschaft,4 2000; Warum denn Gerechtigkeit. Die Logik des Kapitals. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2008; Von allem An-fang an. Macht, nicht Gerechtigkeit. Studien zur Genese und historischen Entwicklung des Postula-tes der Gerechtigkeit. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2009; Demokratie als Lebensform. Die Welt nach der Krise des Kapitalismus. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2012.