gebäudehüllen: aufgaben für die zukunft

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© Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin. Bautechnik 91 (2014), Heft 3 165 Gebäudehüllen: Aufgaben für die Zukunft Schon immer war die Gestalt des Äußeren eines Bauwerks wesentlicher Aspekt in der Architektur – ist und war Programm und Argument von ganzen Architekturepochen. Ob in der Renaissance, im Barock oder in der ‚Moderne’ mit ihrer bis dato nie gekannten Auflösung dieser Außenhaut hin zu einer absoluten Transparenz und einer völlig neuen Interpretation der Beziehung zwischen Innen und Außen. Zu jeder Zeit waren die Gebäudehüllen verant- wortlich für die visuelle Identität, den Charakter und die Erscheinung eines Bauwerks. Sie beeinflussen – ja prägen – die Gestalt unserer Städte, unserer Lebensräume. Doch zu keiner Zeit war dieses Äußere so mit Funktionen behaftet als in der Gegenwart – und als es in der Zukunft wohl noch weitaus vermehrt (und als selbstverständlich empfunden) sein wird. Verband man in der Vergangenheit mit dem Begriff Gebäudehülle – oder umgangssprachlich meist reduziert ‚Fassade’ – allein die architektonische Gestalt und in der jüngerer Vergangenheit hinzukommend die Berücksichti- gung der bauphysikalischen Erfordernisse (diese Vergangenheit wird oftmals noch recht gegenwärtig gelebt!), so entwickeln wir derzeit ein Verständnis und einen Anspruch an eine ganzheitliche Betrachtung. Das Gestalten einer Ge- bäudehülle bedeutet – neben der Definition des architektonischen Ausdrucks – den Entwurf einer technisch hochentwickelten Konstruktion. Diese äußere Haut konditioniert maßgeblich das Innere unserer Gebäude, macht diesen Raum bewohnbar. Wie eine Funktionskleidung diesen umhüllend, steht sie für das Wohlbefinden und den Komfort: sie erlaubt das Eindringen positiver, wohltuender Einwirkungen des Außenklimas und hält die nicht gewollten von uns fern. Die Veränderung der Lebensräume ausgelöst durch eine bis in das Jahr 2050 enorm zunehmende Weltbevölkerung, aber im Besonderen durch ein unge- heures Maß an Urbanisierung und Verdichtung, wird eine Vielzahl von Erfor- dernissen in der konstruktiven Gestaltung unserer Bauwerke und vor allem deren Außenhaut mit sich bringen. Gegenüber dem Jahr 2007 wird sich in 2050 die städtische Bevölkerung weltweit auf ca. 6,8 Mrd. Menschen (dies ent- spricht 70% der gesamten Weltbevölkerung) mehr als verdoppelt haben. Der hierbei einhergehende Ressourcenverbrauch zur Schaffung vielfältiger neuer Bauwerke erfordert eine völlig neue Betrachtungsweise des Planens und Bau- ens und einen neuen Anspruch an die ‚Performance’ eines Gebäudes. Zudem verlangen die demographischen Entwicklungen eine weitaus stärkere Flexibi- lität in der Nutzung unserer Gebäude – und damit der auf diese unterschiedli- chen Nutzungen adaptierbaren Fassaden – als dies gegenwärtig noch der Fall ist. Die erforderliche Forschung und Entwicklung in neue Design-Methoden und technische Lösungen für diese Aufgabenstellungen an die Gebäudehülle wird mit Sicherheit sehr viel umfangreicher sein als für alle anderen Bereiche des Hochbaus. Auch aus diesem Grund nimmt die Wichtigkeit der Gebäude- hülle besonders für uns Ingenieure immer mehr zu. Gerade im Hinblick auf den Einsatz von Materialien (Stichwort ‚embodied energy’), der Dauerhaftig- keit, der konstruktiven Durchbildung und damit einhergehend der Rückbau- barkeit bzw. Recyclierbarkeit der Gebäudehülle. Oliver Englhardt Oliver Englhardt EDITORIAL

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Page 1: Gebäudehüllen: Aufgaben für die Zukunft

© Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin. Bautechnik 91 (2014), Heft 3 165

Gebäudehüllen: Aufgaben für die ZukunftSchon immer war die Gestalt des Äußeren eines Bauwerks wesentlicher Aspekt in der Architektur – ist und war Programm und Argument von ganzenArchitekturepochen. Ob in der Renaissance, im Barock oder in der ‚Moderne’mit ihrer bis dato nie gekannten Auflösung dieser Außenhaut hin zu einer absoluten Transparenz und einer völlig neuen Interpretation der Beziehungzwischen Innen und Außen. Zu jeder Zeit waren die Gebäudehüllen verant-wortlich für die visuelle Identität, den Charakter und die Erscheinung einesBauwerks. Sie beeinflussen – ja prägen – die Gestalt unserer Städte, unsererLebensräume. Doch zu keiner Zeit war dieses Äußere so mit Funktionen behaftet als in der Gegenwart – und als es in der Zukunft wohl noch weitausvermehrt (und als selbstverständlich empfunden) sein wird.

Verband man in der Vergangenheit mit dem Begriff Gebäudehülle – oder umgangssprachlich meist reduziert ‚Fassade’ – allein die architektonische Gestalt und in der jüngerer Vergangenheit hinzukommend die Berücksichti-gung der bauphysikalischen Erfordernisse (diese Vergangenheit wird oftmalsnoch recht gegenwärtig gelebt!), so entwickeln wir derzeit ein Verständnis undeinen Anspruch an eine ganzheitliche Betrachtung. Das Gestalten einer Ge-bäudehülle bedeutet – neben der Definition des architektonischen Ausdrucks– den Entwurf einer technisch hochentwickelten Konstruktion. Diese äußereHaut konditioniert maßgeblich das Innere unserer Gebäude, macht diesenRaum bewohnbar. Wie eine Funktionskleidung diesen umhüllend, steht sie fürdas Wohlbefinden und den Komfort: sie erlaubt das Eindringen positiver,wohltuender Einwirkungen des Außenklimas und hält die nicht gewollten vonuns fern.

Die Veränderung der Lebensräume ausgelöst durch eine bis in das Jahr 2050enorm zunehmende Weltbevölkerung, aber im Besonderen durch ein unge-heures Maß an Urbanisierung und Verdichtung, wird eine Vielzahl von Erfor-dernissen in der konstruktiven Gestaltung unserer Bauwerke und vor allemderen Außenhaut mit sich bringen. Gegenüber dem Jahr 2007 wird sich in2050 die städtische Bevölkerung weltweit auf ca. 6,8 Mrd. Menschen (dies ent-spricht 70% der gesamten Weltbevölkerung) mehr als verdoppelt haben. Derhierbei einhergehende Ressourcenverbrauch zur Schaffung vielfältiger neuerBauwerke erfordert eine völlig neue Betrachtungsweise des Planens und Bau-ens und einen neuen Anspruch an die ‚Performance’ eines Gebäudes. Zudemverlangen die demographischen Entwicklungen eine weitaus stärkere Flexibi-lität in der Nutzung unserer Gebäude – und damit der auf diese unterschiedli-chen Nutzungen adaptierbaren Fassaden – als dies gegenwärtig noch der Fallist. Die erforderliche Forschung und Entwicklung in neue Design-Methodenund technische Lösungen für diese Aufgabenstellungen an die Gebäudehüllewird mit Sicherheit sehr viel umfangreicher sein als für alle anderen Bereichedes Hochbaus. Auch aus diesem Grund nimmt die Wichtigkeit der Gebäude-hülle besonders für uns Ingenieure immer mehr zu. Gerade im Hinblick aufden Einsatz von Materialien (Stichwort ‚embodied energy’), der Dauerhaftig-keit, der konstruktiven Durchbildung und damit einhergehend der Rückbau-barkeit bzw. Recyclierbarkeit der Gebäudehülle.

Oliver Englhardt

Oliver Englhardt EDITORIAL

Page 2: Gebäudehüllen: Aufgaben für die Zukunft

166 Bautechnik 91 (2014), Heft 3

Durch die Umstrukturierung unserer energetischen Infrastruktur dienen Ge-bäudehüllen in Zukunft der Energie-Ernte bzw. der Energie-Transformation,sind Teil eines Energie-Grids und werden dadurch Teil unserer Infrastruktur.Die Fassade ist das Hauptelement um die Energieeffizienz eines Gebäudes zuverbessern und ist aktives Element zur Energieerzeugung!

Neue Produktionsprozesse ermöglichen eine unglaubliche Zahl faszinierenderneuer Materialien und Technologien. Zu sämtlichen genannten Aspekten ent-steht dadurch eine sich ständig ausweitende Basis für neue außergewöhnlicheMöglichkeiten in der hocheffizienten Gestaltung von Gebäudehüllen. Es istessentiell, ihre Eigenschaften, die Möglichkeiten der konstruktiven Durchbil-dung und die Integration in die Fassade zu verstehen. Es ist eine Ingenieur-Aufgabe! Wir Ingenieure haben zu selektieren, evaluieren und die Dinge so zu-sammenzufügen, dass es den Anforderungen aus technischer und nachhaltigerSicht gerecht wird.

Beispiele für solch besondere Ingenieurleistungen und erste Tendenzen hin zuvöllig neuen Entwicklungen finden sich in den Beiträgen dieser Ausgabe. EinSchwerpunkt liegt dabei auf den Hochleistungsbetonen: der Gestaltfindung,den Herstellprozessen und deren Einsatz als thermisch aktivierte Elemente innerhalb der Schichtung einer Außenwand im Industriebau.

Um neue technologische Möglichkeiten in der Konzeptionierung, Planungund Ausführung der ‚Maschine’ Gebäudehülle zu erforschen, um neue Wegezu gehen, müssen wir in interdisziplinärer Zusammenarbeit frei von Vorgabenaus Richtlinien und Normen fächerübergreifende, transdisziplinäre Ansätzeverfolgen. Dies gilt für die Arbeit mit traditionellen Materialien und deren Be-arbeitung ebenso wie für die Entwicklung völlig neuer Produkte. Der Inge-nieur nimmt hierbei eine – wie ich meine – neue und außerordentliche Stel-lung ein. Wir Ingenieure sind gefordert!

Ich freue mich, dass wir in dieser Ausgabe einige ‚cutting edge’-Projekte ausden Ingenieurwissenschaften präsentieren können. Und ich würde mir wün-schen, dass zukünftig in regelmäßiger Folge verschiedene Schwerpunkte undFacetten der Ausbildung von Gebäudehüllen in der ‚Bautechnik’ fokussiertwerden, um Entwicklungen und Konstruktionen dieser zukunftsweisenden In-genieurdisziplin aufzuzeigen.

Oliver Englhardt

EDITORIAL