gadamer alemán

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143 Hans-Georg Gadamer Biographisches – 144 Werkanalyse – 146 Conclusio – 152 Literatur – 155

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gadamer

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Page 1: Gadamer alemán

143

Hans-Georg Gadamer

Biographisches – 144

Werkanalyse – 146

Conclusio – 152

Literatur – 155

Page 2: Gadamer alemán

144

Die Hermeneutik gehörte neben der Phänomeno-

logie, Lebens-, Sprach- und Existenzphilosophie

zu den am meisten zitierten philosophischen Rich-

tungen im 20. Jahrhundert. Vor allem Hans-Georg

Gadamer und dessen Hauptwerk Wahrheit und Methode (1960) wurden einige Jahre derart breit

besprochen, dass nicht zufällig der Begriff der Uni-

versalhermeneutik in Umlauf geriet. Was Herme-

neutik heißt und welche Verbindungen zwischen

ihr und der Anthropologie bestehen, wird im Fol-

genden erläutert ( .   Abb.  1 ).

Biographisches

Hans-Georg Gadamer wurde 1900 in Marburg als

zweiter Sohn seiner Eltern Emma und Johannes

Gadamer geboren. Der Vater war ein angesehener

Professor für pharmazeutische Chemie. 1902 er-

hielt er einen Ruf an die Universität Breslau, wo

er bis 1919 lehrte. Anschließend übernahm er den

Lehrstuhl für Pharmazie in Marburg. Dort war er

bis 1927 zeitweise als Rektor der Universität aktiv;

er starb 1928.

Bei aller väterlichen Strenge wuchs Hans-Georg

wohlbehütet auf. In Breslau bewohnten die Gada-

mers eine komfortable Villa, wobei es selbstver-

ständlich war, dass ihnen Personal die Verrichtun-

gen des Alltags abnahm. Als 1912 der Untergang

der Titanic in der Familie diskutiert wurde und der

Vater darauf verwies, dass dabei so viele Menschen

wie in einem großen Dorf umgekommen waren,

kommentierte dies sein Jüngster mit der wenig ein-

fühlsamen Bemerkung: »Ach, die paar Bauern!«

Und beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs soll

Hans-Georg ausgerufen haben: »Oh! Das ist fein!«

– woraufh in ihm sein Vater in die Parade fuhr und

meinte: »Du weißt nicht, wovon du redest!«

Mit achtzehn Jahren legte Gadamer seine Rei-

feprüfung am Gymnasium zum Heiligen Geist in

Breslau ab. Wenige Wochen darauf immatrikulierte

er sich an der dortigen Universität für Germanistik,

wobei er während der nächsten drei Semester auch

Sanskrit, Kunstgeschichte, Psychologie, Philoso-

phie, Geschichte, Musikwissenschaft und Orienta-

listik studierte.

Als sein Vater 1919 einen Ruf nach Marburg er-

hielt, folgte ihm sein Sohn und setzte in der Stadt an

der Lahn seine Studien fort. Allerdings konzentrierte

er sich nun auf das Fach Philosophie, das ihm anfäng-

lich vor allem durch Paul Natorp und Nicolai Hart-

mann nahe gebracht wurde. Daneben besuchte er

Vorlesungen beim Kunsthistoriker Richard Hamann

(ein Schüler Wilhelm Diltheys und Georg Simmels )

und beim Romanisten Ernst Robert Curtius .

Die beiden Philosophen Natorp und Hartmann

beeindruckten den jungen Studenten. Den Ersteren

nannte er einen wunderbaren Schweiger, in dessen

Gegenwart man verstummte, wenn man nicht et-

was sehr Gewichtiges zu sagen hatte. Bei diesem

Neukantianer hat Gadamer 1922 mit einer Arbeit

über Das Wesen der Lust nach den platonischen Dia-logen promoviert – eine Dissertation, die er später

selbstkritisch als wenig substanzvoll einschätzte.

Ungezwungeneren Umgang hatte er mit Nicolai

Hartmann , mit dem er häufi g im Marburger Café

Vetter saß, wo ihm der Ältere die Grundzüge sei-

ner Kategorien- und Wertelehre auf den Caféhaus-

tisch malte. Hartmann stand notorisch erst gegen

Mittag auf, gab nachmittags seine Lehrveranstal-

tungen und lud abends gegen 21.00 Uhr Studenten

(so auch Gadamer) zum Privatissimum. Ab Mitter-

nacht entfalteten diese Treff en ihren ganz besonde-

ren Glanz, und wenn man zu den Lieblingen des

Professors zählte, durft e man mit ihm seinem As-

tronomiehobby frönen und durch sein Zeiß-Fern-

rohr die Sterne betrachten.

Das Sommersemester 1921 verbrachte Gada-

mer in München, wo er bei den Phänomenologen

Moritz Geiger und Alexander Pfänder Philosophie

und bei Heinrich Wölffl in Kunstgeschichte studier-

te. Damals hörte er das erste Mal den Namen Mar-

tin Heideggers , und er traf auf Karl Löwith , mit dem

ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte.

Kurze Zeit nach seiner Promotion befasste sich

Gadamer nicht ganz freiwillig erneut mit Heideg-

. Abb. 1 Hans-Georg

Gadamer (*1900; † 2002).

(Foto: Philipp Rothe)

Kapitel •  Hans-Georg Gadamer

Page 3: Gadamer alemán

145

ger. Damals grassierte in Marburg die Poliomye-

litis (Kinderlähmung), von der auch der frischge-

backene Dr. phil. erfasst wurde. Monatelang war

er deshalb gezwungen, als Kranker in Isolation zu

verbringen. Diese Zeit nutzte er, um ausführlich

Texte von Edmund Husserl (die tausend Seiten der

Logischen Untersuchungen ) und Heidegger zu stu-

dieren.

Die Krankheit verlief bei dem jungen Philo-

sophen einigermaßen glimpfl ich. Allerdings blieb

ihm als Residuum eine Schwäche des linken Beines,

was dazu führte, dass Studienkollegen über ihn frot-

zelnd dichteten: »Der Gada mer , hinkt hinter her !«

Weil die Rekonvaleszenz nur langsame Fortschritte

machte, beschlossen Hartmann und seine Frau, die

sich rührend um den Patienten kümmerten, dass

dieser heiraten sollte; eine passende Gattin würde

der Genesung sicherlich zuträglich sein. So kam es

zur Heirat mit der zwei Jahre älteren Frida Katz, die

Gadamer bereits aus Breslau kannte; seine Zustim-

mung zu dieser Ehe soll mehr passiver denn aktiver

Natur gewesen sein.

Zusammen mit seiner Frau wechselte der frisch

Vermählte 1923 von Marburg nach Freiburg. Dort

lernte er sowohl Heidegger als auch dessen Lehrer

Husserl persönlich kennen. Von der Phänomenolo-

gie hatte der junge Student bereits 1920 durch Max

Scheler einiges vernommen. Scheler hielt damals

zwei Vorträge in Marburg, die auf Gadamer als »dä-

monische, ja beinahe satanische Ausführungen«

wirkten.

Verglich man Schelers Rhetorik mit Husserls

Lehrveranstaltungen, schnitt der Letztere schlecht

ab. Nüchtern, in sich versunken und stark mono-

logisierend trug der Begründer der Phänomeno-

logie seine Ideen vor, die bei den Zuhörern nur

selten Begeisterung auszulösen vermochten. Die

meisten wandten sich daher von Husserl ab und

seinem Schüler Heidegger zu, der mehr noch als

Scheler sein Publikum mittels seiner Vortragskunst

in Bann zog.

Auch Gadamer gehörte bald zur Fraktion je-

ner Studenten, die sich um Heidegger scharten und

von dessen Vorlesungen begeistert waren. Es gelang

ihm, den Vortragenden auf sich aufmerksam zu

machen, und innerhalb weniger Monate wurde er

zum Meisterschüler, den Heidegger zusammen mit

Frau Frida sogar für vier Wochen in seiner Hütte in

Todtnauberg wohnen ließ. Als Heidegger 1923 nach

Marburg berufen wurde, war es für Gadamer keine

Frage, dass er ihm dorthin folgte.

In der Stadt an der Lahn war Gadamer Hilfs-

assistent bei Heidegger und in dieser Rolle mit der

Beschaff ung von Büchern ebenso wie von Alltags-

utensilien oder mit der Hörsaalbetreuung befasst.

Anfänglich war der Meister noch zufrieden mit

den Leistungen seines Adlatus. Nach und nach aber

machte er seinem Unmut über das unzulängliche

Wissen des Jüngeren Luft , und in einem Brief an

ihn schrieb er: »Wenn Sie nicht genügend Härte

gegen sich selbst aufb ringen, wird nichts aus Ih-

nen.«

Der erschütterte Gadamer beschloss daraufh in,

ein zweites Mal zu studieren. Er inskribierte in klas-

sischer Philologie, wozu ihm nicht nur Heidegger,

sondern auch der Marburger Th eologe Rudolf Bult-

mann geraten hatte. 1927 schloss Gadamer dieses

Studium (unter anderem bei Paul Friedländer ) mit

der Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen

ab, was von seinem philosophischen Mentor hono-

riert wurde. Nun war der Weg frei für eine Habili-

tation bei Heidegger, die 1929 mit einer Arbeit über

Platons dialektische Ethik erfolgreich abgeschlossen

wurde.

Indes Gadamer sich einige Jahre der kulturel-

len Welt der Antike zuwandte, kümmerte sich seine

im Vergleich zu ihm lebenslustigere Gattin Frida

um gesellschaft liche Kontakte. Auf »halberotische

Weise« (so Gadamer) knüpft e sie Beziehungen zu

Freunden und Kollegen ihres Mannes, etwa mit

den Philosophen Karl Löwith und Gerhard Krüger

und Ende der 30er Jahre auch mit dem Romanisten

Werner Krauss .

Die Liaison von Frida mit Letzterem trug dazu

bei, dass Gadamer in den 40er Jahren eine neue

Partnerschaft mit der zwanzig Jahre jüngeren Stu-

dentin und späteren Assistentin Käte Lekebusch

einging, die er 1950 ehelichte. Die 1926 geborene

Tochter Jutta entstammte der gemeinsamen Ehe

mit Frida; die Patenschaft für Jutta übernahm Karl

Löwith .

Nach seiner Habilitation arbeitete Gadamer als

Privatdozent an der Marburger Universität. Die

Studenten erlebten seine Gedankengänge in den

Vorlesungen teilweise als so unverständlich, dass

sie dafür eine neue Einheit (die »Gad«-Einheit) er-

Biographisches

Page 4: Gadamer alemán

146

fanden. Den Grad ihres Nicht-verstehens drückten

sie von nun an in »Gads« aus – für den zukünft i-

gen Großmeister der Hermeneutik durchaus eine

Kränkung, wie er später in seiner Autobiographie

Philosophische Lehrjahre (1977) zugab.

In den folgenden Jahren bekleidete Gadamer

mehrere Professuren: 1934 eine Vertretungspro-

fessur in Kiel; 1937 eine außerplanmäßige Stelle

in Marburg; und 1939 eine ordentliche Professur

in Leipzig, wo er bis 1947 blieb. Während dieser

ganzen Zeit will er innerliche Distanz zum faschis-

tischen Regime gehalten haben. Äußerlich aber

verhielt er sich immerhin so geschickt, dass er im

NS-Staat erfolgreich Karriere machte. In Philoso-phische Lehrjahre schrieb er über die letzte Phase

des Dritten Reichs und die Tage des Volkssturms:

»Wenn man sich einigermaßen vernünft ig und un-

auff ällig verhielt, war das Überleben nicht schwer

(Gadamer 1977a, S. 122).«

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Gadamer

zuerst Dekan der Philosophischen Fakultät und

1947 Rektor der Universität Leipzig. Zwei Jahre da-

rauf übernahm er in Heidelberg den Lehrstuhl von

Karl Jaspers , der einem Ruf nach Basel gefolgt war.

In der Neckarstadt lehrte Gadamer bis zu seiner

Emeritierung 1968 und behielt dort danach seinen

Wohnsitz bei. Enge Kontakte pfl egte er mit den

Ärzten Viktor von Weizsäcker und Heinrich Schip-

perges sowie mit dem Philosophen Karl Löwith .

Jahrelang war Gadamers Alltag durch um-

fangreiche administrative, organisatorische und

didaktische Aufgaben geprägt, und so verwun-

dert es nicht, dass er damals nur wenige größere

schrift liche Arbeiten publizierte. Seine Stärke wa-

ren zunehmend das philosophische Gespräch und

eine rege Vortragstätigkeit geworden. Dass es trotz

vielfältiger Ablenkungen zur Abfassung des Haupt-

werks Wahrheit und Methode (1960) gekommen

ist, verdanken wir Käte Lekebusch, die ihren Gat-

ten immer wieder zu konzentrierter schrift licher

Arbeit anhielt.

Wahrheit und Methode ist sein einziges um-

fangreiches Buch mit zusammenhängendem Text

geblieben. Gadamers andere Bücher – etwa Hegel, Husserl, Heidegger (1987), Griechische Philosophie I–III (1985–1991), Ästhetik und Poetik I–II (1993) so-

wie Hermeneutik im Rückblick (1995) – sind Mon-

tagen aus Vortragsmanuskripten und Essays, die

in einem Zeitraum von mehr als fünf Jahrzehnten

entstanden sind.

Nach seiner Emeritierung 1968 lehrte Gadamer

einige Semester als Vertreter des eigenen, vakant

gewordenen Lehrstuhls. In den 70er Jahren gab er

zusammen mit dem Mediziner Paul Vogler (der ihn

als Arzt beriet) eine Neue Anthropologie in sieben

Bänden heraus. Diese befassen sich mit Biologischer Anthropologie (Band 1 und 2), Sozialanthropologie

(3), Kulturanthropologie (4), Psychologischer Anth-ropologie (5) und Philosophischer Anthropologie (6

und 7).

Von 1985–1995 wurden im Verlag Mohr Sieb-

eck in Tübingen die Gesammelten Werke Gadamers

in zehn Bänden publiziert. Damit sind die meisten

seiner Aufsätze und Manuskripte auch aus den 30er

und 40er Jahren wieder verfügbar. In den letzten

Jahren seines Lebens – Gadamer starb hochbetagt

2002 – veröff entlichte er noch verschiedene klei-

nere Texte, unter anderem die Bücher Gedicht und Gespräch (1990), Über die Verborgenheit der Ge-sundheit (1993) sowie Die Moderne und die Grenze der Vergegenständlichung (1996). Auch als Vortra-

gender und Interviewpartner blieb der Denker bis

zu seinem Tod aktiv.

Seit den 70er Jahren wurde Gadamer mit

einer Reihe von Preisen und Ehrungen versehen:

1971 wurde ihm der Orden Pour le Mérite und der

Reuchlin-Preis zuerkannt; 1979 erhielt er den Sig-

mund-Freud- sowie den Hegel-Preis; 1986 folgte

der Jaspers-Preis, und 1993 wurde ihm das Bundes-

verdienstkreuz verliehen. Daneben wurden ihm

von mehreren Universitäten Ehrendoktorate über-

reicht.

Werkanalyse

Der wesentlichste Beitrag Gadamers zur Philoso-

phie, zur Analyse der menschlichen Existenz und

damit auch zur Anthropologie liegt in seiner Aus-

arbeitung der Hermeneutik. Deshalb liegt hier der

Schwerpunkt auf der Erörterung seiner hermeneu-

tischen Schrift en, vor allem auf seinem Hauptwerk

Wahrheit und Methode (1960).

Wahrheit und Methode , von Studenten und Kol-

legen liebevoll Wum genannt, entwickelte sich in

den 60er Jahren zu einem Beststeller und ist inzwi-

Kapitel •  Hans-Georg Gadamer

Page 5: Gadamer alemán

147

schen zu einem Longseller geworden. In Deutsch-

land kam es im Zuge der Studentenunruhen Ende

der 60er Jahre zu einer regen Debatte über dieses

Buch. Vor allem Karl-Otto Apel (geboren 1922) und

Jürgen Habermas (geboren 1929) standen an der

Spitze jener, die Gadamers Philosophie des Verste-

hens um ideologiekritische und psychoanalytische

Positionen erweitern wollten.

z Geschichte der Hermeneutik Die Tradition der in Wahrheit und Methode be-

handelten Hermeneutik reicht weit über Gadamer

hinaus, und ihr Grundanliegen – das Verstehen von

Zeichen, Symbolen, Texten, Sprachen, historischen

Begebenheiten, Kunstwerken, anderen Menschen

und nicht zuletzt der eigenen Person – ist beinahe

so alt wie die Menschheit und ihre Kultur selbst.

Dennoch lässt sich eine Geschichte der Hermeneu-

tik im engeren Sinne nachzeichnen.

So wurde bereits in der griechischen Antike im

Umgang mit Mythen das Problem des Verstehens

virulent. Die Griechen erkannten, dass sie mytho-

logische Geschichten und Erzählungen nicht wört-

lich, sondern allegorisch auff assen mussten, um sie

richtig zu verstehen. So waren etwa die Auskünft e

des Orakels von Delphi ausgesprochen interpreta-

tionsbedürft ig.

Allegorien zu deuten war eine der ersten Auf-

gaben, für die sich das griechische Volk den Göt-

terboten Hermes zur Unterstützung erdichtete. Er

sollte den Sterblichen die Botschaft en und Taten

der Götter verständlich machen und umgekehrt

die Reaktionen der Irdischen an die Himmlischen

weiterleiten. Im Begriff der Hermeneutik (das Grie-

chische »hermeneuein« bedeutet soviel wie verste-

hen, auslegen und übersetzen) ist der Namen dieser

mythologischen Gestalt mit enthalten.

Eine Zuspitzung des Verstehensproblems soll

sich nach Gadamer ergeben haben, als sich im Zuge

von Luthers Protestantismus für die Gläubigen die

Notwendigkeit ergab, Gottes Wort ohne Hilfestel-

lung durch Priester auslegen zu müssen. Die Bibel-

exegese sei ein Paradebeispiel für die hermeneuti-

sche Tätigkeit geworden, und nicht ganz zufällig

seien bedeutende Hermeneutiker wie Friedrich

Schleiermacher und Rudolf Bultmann Th eologen

gewesen. Ausgehend von der Interpretation der

Heiligen Schrift hat sich im Laufe der letzten Jahr-

hunderte neben der philologischen auch der Zweig

der theologischen Hermeneutik herausgebildet.

Einer der Ersten, der im 19. Jahrhundert das

Verstehen in einen wissenschaft stheoretischen

Rahmen stellte, war Wilhelm Dilthey (1833–1911).

Unter anderem mit seinen Ideen über eine beschrei-bende und zergliedernde Psychologie (1894), seiner

Schrift Die Entstehung der Hermeneutik (1900) so-

wie dem zusammenfassenden Band Der Aufb au der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaft en

(1910) profi lierte er sich als neuzeitlicher Begrün-

der einer verstehenden Methodenlehre .

Ursprünglich wollte Dilthey ein methodologi-

sches Fundament für die Geschichtswissenschaft en

formulieren. Bald stellte sich jedoch heraus, dass

er mit seiner Hermeneutik eine Basis des metho-

dischen Vorgehens für die Geistes- und Kultur-

wissenschaft en generell skizziert hatte. Diese be-

schäft igen sich anders als die Naturwissenschaft en

mit individuellen und einmaligen und nicht mit

regelhaft en und allgemeinen Phänomenen. Na-

turwissenschaft en generalisieren und formulieren

Gesetzmäßigkeiten, wohingegen die Kulturwissen-

schaft en individualisieren.

Das Individuelle erfordert zu seiner wissen-

schaft lichen Erfassung einen eigenen Methoden-

kanon, für den eine verstehende Psychologie die

Grundlage bilden sollte. Ausgehend davon gelangte

Dilthey fast zwangsläufi g auf hermeneutisches Ter-

rain. Sein methodologisches Credo lautete sinn-

gemäß: »Die Natur erklären wir, das Seelenleben

(und die Kultur) verstehen wir« – wobei sich das

Verstehen nicht bloß auf einzelne psychische Funk-

tionen bezog.

Dilthey war vielmehr an der Erforschung grö-

ßerer Zusammenhänge interessiert, die er im See-

lenleben des Einzelnen ebenso wie in der Kultur

vermutete. Das Ziel seiner Verstehensbemühungen

war die Aufdeckung sogenannter Strukturen und

der daraus entspringenden geistig-sozialen Leis-

tungen. Für eine solche Psychologie, die tragende

und formende Funktionen für die gesamten Wis-

senschaft en vom Menschen übernehmen sollte,

braucht es die Hermeneutik .

Will man etwa eine geschichtliche Epoche oder

ein literarisches Kunstwerk verstehen, muss sich

der Interpret anders als in den Naturwissenschaf-

ten mit seinen persönlichen Urteilen, Erfahrungen

Werkanalyse

Page 6: Gadamer alemán

148

und Neigungen in den hermeneutischen Prozess

einbringen. Das Subjekt kann bei der Erforschung

geisteswissenschaft licher Th emen nicht wie zum

Beispiel in der Physik oder Chemie aus dem For-

schungsgeschehen ausgeklammert werden, son-

dern bildet einen gewichtigen Bestandteil des wis-

senschaft lichen Verstehens.

Um dem Vorwurf des Subjektivismus ent-

gegenzuwirken, formulierte Dilthey Vorschrift en,

die jeder befolgen sollte, der hermeneutisch vorge-

hen will. Der zentrale Gedanke dabei lautete, dass

das Verstehen ein zirkuläres Geschehen ist, dessen

Bewegung keine Endpunkte kennt. Die Kunst und

Technik des Verstehens könne nur erlernen, wer

diesen hermeneutischen Zirkel akzeptiere, in den

hineinzugelangen nicht immer leicht sei. Ihn viele

Male zu wiederholen, erfordere außerdem ein ho-

hes Maß an Geduld, Wissen und Können.

Konkret müsse ein Interpret gedanklich meh-

rere Kreisbewegungen absolvieren: So solle er die

einzelnen Elemente und Phänomene, die er befor-

sche, jeweils zum Ganzen seines Untersuchungs-

gegenstandes in Beziehung setzen und umgekehrt

vom Ganzen zum Teil zurückkehren. Ähnliche

zirkuläre Relationen bestehen zwischen dem Werk

einerseits und der Weltanschauung seines Urhe-

bers andererseits sowie zwischen dem Untersucher

und seinem Forschungsobjekt. Die Beschäft igung

mit Letzterem verändere den Ersteren, und dieser

verstehe daraufh in neue Seiten an seinem Unter-

suchungsgegenstand.

Um mittels Hermeneutik wissenschaft liche Er-

gebnisse und nicht lediglich individuelle Spekula-

tionen zu generieren, forderte Dilthey die Geistes-

wissenschaft ler auf, den hermeneutischen Zirkel

mit aller nur erdenklichen Redlichkeit zu prakti-

zieren. Ihm war daran gelegen, »Dämme gegen den

Einbruch romantischer Willkür und skeptischer

Subjektivität« zu errichten, und dementsprechend

hochgesteckt waren seine Zielvorgaben, die jedem

hermeneutischen Forschungsansatz zugrunde lie-

gen sollten. Zu Diltheys Idealen im Hinblick auf das

Verstehen zählte:

1) Hermeneutiker müssen die Resultate anderer

Wissenschaft ler bezüglich ihrer Forschungsthema-

tik umfänglich kennen und schlüssig in ihre eige-

nen Interpretationen integrieren; 2) Hermeneutik

darf sich nicht in Nebensächlichkeiten ergehen,

sondern soll das »eigentliche Objekt der Geistes-

wissenschaft en, das Leben selbst« erschließen; 3)

Letztes Ziel des hermeneutischen Verfahrens ist es,

Autoren, Künstler oder andere Menschen besser zu

verstehen, als sie sich selbst verstanden haben.

Trotz aller Versuche, die Hermeneutik im

menschlichen Dasein zu verankern, blieb sie für

Dilthey überwiegend ein methodisches Th ema, mit

dem sich Geistes- und Kulturwissenschaft ler ausei-

nandersetzen sollten. Eine Philosophengeneration

nach ihm hat Heidegger das Motiv des Verstehens

auf die Existenz des Menschen im Ganzen ausge-

weitet. In seiner Vorlesung vom Sommersemester

1923 ( Hermeneutik der Faktizität ) sowie in Sein und Zeit (1927) entwickelte er Gedanken zum Verstehen ,

welche die Hermeneutik als eine für alle Menschen

existentiell relevante Problematik defi nierten:

»   Die Hermeneutik hat die Aufgabe, … der Selbst-

entfremdung, mit welcher das Dasein geschlagen

ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich

für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst

verstehend zu werden und zu sein (Heidegger

1975, S. 12).   «

Die hervorstechende Eigenschaft des Menschen ist

seine Fähigkeit zur Selbst- und Weltdeutung : Der

Mensch versteht sich als Verstehender. In Sein und Zeit bezeichnete Heidegger diese Fähigkeit als ein

Existential (menschliche Wesenseigentümlich-

keit). Sobald Menschen jedoch daran gehen, sich,

andere oder die Welt zu verstehen, stoßen sie auf

eine Fülle von Vormeinungen und -urteilen, die sie

nicht ohne weiteres abstreifen können. Im Gegen-

teil: Heidegger zufolge gehört diese Vorstruktur

wesentlich zu jedem Verstehensakt, und es sei eine

Illusion zu glauben, dass man sich irgendwann vo-

raussetzungslos, mit purem und nacktem Bewusst-

sein, der Natur, den Mitmenschen und den Dingen

nähern könne.

Weil in jedem Verstehensakt die Erfahrungen,

der Charakter, die Erwartungen und die Lebens-

bedingungen des Verstehenden enthalten sind, sah

es der Philosoph als eine hermeneutische Haupt-

aufgabe an, diese Vorbedingungen sowie das Vor-

verständnis des Menschen sich selbst betreff end

durchsichtig zu machen. Dazu gehören zum Bei-

spiel alle Vorentwürfe über das Objekt des Verste-

Kapitel •  Hans-Georg Gadamer

Page 7: Gadamer alemán

149

hens, welche der Interpret in sich trägt, wenn er

sich diesem zuwendet.

z Gadamers Universalhermeneutik Als Gadamer im Sommersemester 1923 in Freiburg

bei Heidegger studierte, kam er in Kontakt mit des-

sen Gedanken zur Hermeneutik , die ihn von da an

nicht mehr losließen. Obwohl es über drei Jahr-

zehnte dauerte, bis er das Manuskript zu Wahrheit und Methode in Angriff nahm, kann dieses Buch als

Fortsetzung Heidegger‘scher Verstehenskonzepte

der 20er Jahre gelesen werden. Jene Fragen, welche

der Lehrer damals nur angerissen und nicht weiter

verfolgt hatte, bildeten für seinen Schüler den Stoff ,

woraus seine eigene Philosophie erwuchs.

Ähnlich wie Heidegger wandte sich Gadamer

gegen die von Dilthey vertretene Meinung, die

Geistes- und Kulturwissenschaft en hätten in der

Hermeneutik eine Methode gefunden, die ihnen

annähernd Objektivität und Allgemeingültigkeit

gewähren könne. Verstehensprozesse ereignen

sich weder im Bereich von Philosophie und Wis-

senschaft en noch im Alltag auf dem Boden von

Regelwerken. Mit methodischen Vorschrift en die

Aufgabe der Deutung und Auslegung von Kunst-

werken oder Mitmenschen bewältigen zu wollen,

führe lediglich zu sterilen Lösungen.

Wesentliche Voraussetzungen für gelingendes

Verstehen bilden Gadamer zufolge vielmehr Tu-

genden wie Takt , Geschmack , Gemeinsinn , Bil-

dung und künstlerische Intuition . Im Eingangska-

pitel von Wahrheit und Methode zeigte er, welche

Bedeutung diese Tugenden als humanistische Leit-

begriff e für die Geisteswissenschaft en (und das All-

tagsleben) haben. Wer Kultur, Mitmenschen und

sich selbst verstehen will, muss als Grundlage dafür

eben diese zwischenmenschlichen und gefühlsmä-

ßigen Fertigkeiten entwickeln.

Statt einer Technik des Verstehens schwebte

Gadamer also eine hermeneutische Einstellung vor,

die eng mit der Persönlichkeit des Betreff enden ver-

knüpft ist, und die mit Begriff en wie Selbst-, Men-

schen- und Weltkenntnis; Intuition, Empathie und

Solidarität; Geduld, Vorsicht und Skepsis; weltan-

schauliche und geistige Unabhängigkeit; Vornehm-

heit, Würde und Stil skizziert werden kann.

Doch selbst wenn Menschen derartige Eigen-

schaft en aufweisen, sollten sie nicht meinen, die

Hürden des Verstehens überwunden zu haben.

Für Gadamer war wie für Heidegger jede herme-

neutische Bemühung stets mit Vormeinungen und

-urteilen verknüpft . Wer zu verstehen sucht, ist der

Beeinfl ussung durch eine Fülle von Vorannahmen

ausgesetzt; die Qualität des Hermeneutikers besteht

deshalb darin, sich dieser Voreingenommenheit

bewusst zu sein, ohne sie je abstreifen zu können:

»   Eben hier liegt der Punkt, an dem der Versuch

einer philosophischen Hermeneutik kritisch einzu-

setzen hat. Die Überwindung aller Vorurteile, diese

Pauschalforderung der Aufklärung, wird sich selber

als ein Vorurteil erweisen, dessen Revision erst den

Weg für ein angemessenes Verständnis der End-

lichkeit freimacht (Gadamer 1986, S. 280).   «

Gemeinhin wird angenommen, dass Vorurteile

das Verstehen behindern, und in vielen Fällen lässt

sich diese Annahme auch bestätigen. Nicht zuletzt

deshalb kam es, wie Gadamer ein Kapitel in Wahr-heit und Methode überschrieben hat, zur »Diskre-

ditierung des Vorurteils durch die Aufk lärung«.

Daneben gibt es aber auch Vorurteile, welche das

Verstehen eher befördern. So sei es in manchen

Situationen sinnvoll, sich dem Vorurteil beispiels-

weise eines Lehrers, Fachmanns, Vorgesetzten oder

anderer Autoritäten anzuvertrauen, um dadurch

ein Grundverständnis für einen zu erlernenden

Stoff zu entwickeln:

»   Die Vorurteile, die sie einpfl anzen, sind zwar

durch die Person legitimiert. Ihre Geltung verlangt

Eingenommenheit für die Person, die sie vertritt.

Eben damit werden sie zu sachlichen Vorurteilen,

denn sie bewirken die gleiche Eingenommenheit

für eine Sache, die auf andere Weise zustande

kommen kann (Gadamer 1986, S. 285).   «

Vorurteile eignen uns Menschen wie eine zweite

Haut; wir vermögen nicht, sie abzulegen, sondern

nur, sie als wahr oder falsch zu diff erenzieren. Eine

zentrale Frage der Hermeneutik lautet daher, wie

wahre von falschen Vorurteilen zu trennen sind.

Der Philosoph verwies diesbezüglich auf die Zeit

und den Zeitenabstand, die es ermöglichen, Vor-

meinungen nach Jahren oder Jahrzehnten als falsch

oder richtig zu klassifi zieren. Darüber hinaus ge-

Werkanalyse

Page 8: Gadamer alemán

150

stand Gadamer auch dem zwischenmenschlichen

Dialog eine klärende, kritische und diskriminieren-

de Funktion zu.

Gadamer erachtete jedoch die Menschen als so

unlösbar in das Denken und Empfi nden des Zeit-

geistes und der Wirkungsgeschichte eingebunden,

dass ihre angeblich kritischen Urteile über vergan-

gene Vorurteile ebenfalls schon wieder den Geruch

von Vorurteilen an sich tragen. Einen archime-

dischen Punkt, von dem aus ein ungetrübtes Er-

kennen und Verstehen möglich ist, gibt es nicht;

stattdessen sind alle Menschen stets mitten in eine

Wirkungsgeschichte gestellt, die sie nur sporadisch

begreifen und überblicken.

Daher plädierte Gadamer dafür, die Macht der

Wirkungsgeschichte anzuerkennen und nicht ver-

geblich zu versuchen, sie abzuschütteln. Weil Men-

schen in ihr und in jeweiligen Situationen existie-

ren, ohne aus ihnen aussteigen und sie von außen

beurteilen zu können, werden sie immer auf die

Grenze ihres momentanen Wissens und Verstehens

zurückgeworfen:

»   Wirkungsgeschichtliches Bewusstsein ist zu-

nächst Bewusstsein der hermeneutischen Si-tuation . Der Begriff der Situation ist ja dadurch

charakterisiert, dass man sich nicht ihr gegenüber

befi ndet und daher kein gegenständliches Wissen

von ihr haben kann. Man steht in ihr, fi ndet sich

immer schon in einer Situation vor, deren Erhel-

lung die nie ganz zu vollendende Aufgabe ist. Das

gilt auch für die hermeneutische Situation (Gada-

mer 1986, S. 307).   «

Neben der Wirkungsgeschichte und den sich än-

dernden Situationen darf man nach Gadamer noch

den Horizont berücksichtigen, vor dem der Gegen-

stand des Verstehens wie auch der Verstehende

selbst angesiedelt sind. Mit Horizont meint man

alltagssprachlich den Gesichtskreis, der alles um-

greift , was von einem Punkt aus sichtbar ist. In der

Philosophie wird seit Nietzsche und Husserl die-

ser Begriff verwendet, um die Gebundenheit des

Denkens an seine endliche Bestimmtheit und das

Schrittgesetz der Erweiterung des Gesichtskreises

auszudrücken.

In der hermeneutischen Situation treff en zwei

Horizonte aufeinander: der eine, in welchem der

Verstehende lebt, und der andere, welcher dem

Verstehensobjekt zugehörig ist. Je überlegener

und weit dimensionierter der Horizont des Ers-

teren ausgebildet ist, je mehr er über sein Nahes

und Gewohntes hinaussehen kann, umso leichter

wird er den Horizont des Gegenüber wahrnehmen

und sich in Maßen in diesen hinein versetzen kön-

nen. Dabei verlässt er aber seinen eigenen Hori-

zont nicht; vielmehr kommt es im günstigen Fall

zu einer temporären und punktuellen Fusion von

Perspektiven und Gesichtskreisen.

Wirkungsgeschichte , Situation , Horizont – an-

hand dieser Begriff e wollte Gadamer seine Leser auf

eine Art Überforderung aufmerksam machen, wel-

che die Geschichte der Hermeneutik lange prägte.

Dieses Problem ist dem Philosophen zufolge aus

dem überzogenen Ideal eines grenzenlosen Verste-

hens und einer vollendeten Aufk lärung erwachsen.

Das geheime Ziel solcher Hermeneutik, die er bei

Schleiermacher ebenso wie bei Hegel, Wilhelm von

Humboldt und Dilthey vermutete, sei die »Aufh e-

bung der eigenen Endlichkeit in der Unendlichkeit

des Wissens«.

Gadamer vertrat demgegenüber konsequent

eine Hermeneutik der Begrenzung und der End-

lichkeit . Er verglich zwar den Verstehensprozess

mit einem lange währenden oder unendlichen Ge-

spräch, dessen Spiel des Fragens und Antwortens

immer wieder neu überraschende Perspektiven

hervorbringt. So ausgiebig sich ein gegenseitiges

Verständnis zwischen den Gesprächspartnern aber

auch entwickelt haben mag, bleiben sie letztlich

doch immer mit einem Rest von ungelöstem Rätsel

behaft et.

Das bedeutet im Umkehrschluss, dass alle For-

mulierungen, die von einem angeblich vollstän-

digen Verstehen eines Textes oder einer raschen

Übereinstimmung in zwischenmenschlichen Situ-

ationen berichten, unter den Verdacht von Miss-

verstehen und Überschätzung hermeneutischer

Potenzen fallen. Gadamer bezeichnete eine solche

Art der Hermeneutik als naiv oder als eine Spielart

des Dominanz- und Distanzstrebens:

»   Der Anspruch, den anderen vorgreifend zu ver-

stehen, erfüllt die Funktion, sich den Anspruch des

anderen in Wahrheit vom Leibe zu halten (Gada-

mer 1986, S. 366).   «

Kapitel •  Hans-Georg Gadamer

Page 9: Gadamer alemán

151

Wer derart zu verstehen vorgibt, hält sich nicht nur

die Ansprüche des anderen vom Leibe – er bringt

sich auch um das, was Gadamer die hermeneuti-

sche Erfahrung nannte. Unter Erfahrung verstand

der Denker ein grundsätzlich negatives Erlebnis.

So wie Arthur Schopenhauer meinte, dass Erfah-

rungen verlorene Illusionen sind, betonte auch Ga-

damer, dass man von Erfahrungen im eigentlichen

Sinne nur sprechen könne, wenn sie den Erwartun-

gen des Betreff enden zuwiderlaufen.

Nur im Zusammenprall mit der widerständigen

Realität oder im Zuge von Enttäuschungen mache

man Erfahrungen. Als erfahren galt für Gadamer

derjenige, dem die Ereignisse seiner Lebensge-

schichte zu verändernden Erkenntnissen und Ein-

sichten verholfen haben – wobei sich die Verände-

rungen sowohl auf die eigene Person als auch auf

die Welt um sie her beziehen können. So oder so

wird der Betreff ende aber mit Begrenzungen kon-

frontiert, was Gadamer dazu verleitete, das Erleben

der menschlichen Endlichkeit als die Erfahrung

schlechthin zu bezeichnen, die in allen anderen als

existentielle Tönung mitenthalten ist.

Ausgehend von diesen Überlegungen erörterte

Gadamer auch die hermeneutische Erfahrung . Bei

ihr komme es ebenfalls zum aufrüttelnden Erleb-

nis der Widerständigkeit der Wirklichkeit, die sich

dem Verstehenden hauptsächlich in zwei Formen

präsentiert: als Erfahrung des Du sowie als Erfah-

rung der Überlieferung. Sowohl der Mitmensch als

auch Bücher, Kunstwerke oder geschichtliche Epo-

chen sind eigen und anders. Sie präsentieren sich

dem Beobachter als mehr oder minder spröde Rea-

lität, in die er nur teilweise einzudringen vermag,

und die ihn auf sich selbst zurückwirft .

Am ehesten gelinge demjenigen ein verstehen-

der Zugang zur Welt, der über eine fragende Ein-

stellung verfügt. Gadamer betonte allerdings, dass

nicht beliebige Fragen zum Verstehen beitragen.

Im Alltag begegnen einem oberfl ächliche Fragen

zuhauf, die kaum dazu dienen, Kunst, Kultur, Ge-

schichte oder Mitmenschen wirklich kennenzuler-

nen:

»   Im Wesen der Frage liegt, dass sie einen Sinn

hat. Sinn aber ist Richtungssinn. Der Sinn der Frage

ist mithin die Richtung, in der die Antwort allein

erfolgen kann, wenn sie sinnvolle, sinngemäße

Antwort sein will. Mit der Frage wird das Befragte

in eine bestimmte Hinsicht gerückt (Gadamer 1986,

S. 368).   «

Als Beispiele für ein solches Fragen verwies Gada-

mer auf die sokratisch-platonischen Dialoge . Bei

diesen Gesprächen ging es nicht darum, siegreich

gegen jemanden anzuargumentieren. Vielmehr

versuchten die Gesprächspartner stets, die Ge-

dankengänge des anderen verstehend nachzuvoll-

ziehen und fragend ein gemeinsames Denken zu

ermöglichen. Ziel der Dialoge war das Entdecken

von Wahrheitspartikeln; dies geschah, wenn alle

Beteiligten die Stärken einzelner Argumente her-

vorhoben, selbst wenn sie nicht die eigenen waren.

Die Platonischen Dialoge lehren, dass sich je-

des Fragen und Antworten und alle Verstehensakte

im Medium der Sprache ereignen. Selbst jene Mo-

mente, in denen man in einem stummen Blick oder

einer vielsagenden Geste des Gegenüber meint, et-

was von ihm verstanden zu haben, sind nach Ga-

damer von Begriff en eingerahmt und durchsetzt.

Sobald man interpretierend über diese Blicke oder

Gesten nachdenkt, setzt dies sprachliche Kompe-

tenzen voraus. Indem Menschen Sprachen lernen

und in ihnen leben, sind sie automatisch in Kul-

turen mit allen ihren Vernunft - und Sinnanteilen,

aber auch mit allen ihren Sinnwidrigkeiten und

Absurditäten eingewoben.

Hermeneutik im Medium der Sprache hat zum

Ziel, sich potentiell am Verstehen der gesamten

Welt und der Summe von Sinn, Wert und Bedeu-

tung zu versuchen. Die Sprachen und Symbolberei-

che der Menschen und damit ihre Verstehenskapa-

zitäten haben sich im Laufe der Geschichte immer

weiter ausdiff erenziert, und dementsprechend plä-

dierte Gadamer dafür, Leben, Mitmenschen, Kul-

tur und letztlich den ganzen Kosmos als Th emen

der hermeneutischen Bemühungen zu begreifen.

Ein solches Unterfangen bezeichnete er als Univer-

salhermeneutik .

Dieses universale Verstehen-Wollen wird zwar

Mal um Mal von der Begrenztheit einzelner Ver-

stehensakte, von der wirkungsgeschichtlichen Si-

tuation, den individuellen Vorurteilen und nicht

zuletzt von der Sprache selbst limitiert. Doch trotz

dieser Limitierungen plädierte Gadamer für ein

Festhalten an der Aufgabe des Verstehens. Denn

Werkanalyse

Page 10: Gadamer alemán

152

mit jedem auch noch so kleinen sprachlich-her-

meneutischen Fortschritt festigt der Mensch seine

Zugehörigkeit zur Sphäre von Freiheit, Vernunft

und Humanität und trägt damit zu seiner Selbst-

aufk lärung bei.

Die bisherige Geschichte ihres Fragens und

Verstehens weist die Menschen als exquisite Sinn-

sucher aus, die immer wieder Dimensionen von

Wert und Bedeutung erkennen und benennen wol-

len, selbst wenn sie zugeben müssen, dass ihr Da-

sein stets vom Einbrechen des Sinnwidrigen und

Absurden bedroht ist. Das Verstehen ihres Woher

und Wohin und das Benennen ihres Wesens, die

Hermeneutik ihrer Existenz treibt sie um, seit das

Spiel der Evolution sie hervorgebracht hat, und sie

wird erst enden, wenn die Gattung Homo irgend-

wann einmal in der stummen Weltnacht des Kos-

mos untergeht.

Sinnverstehen und damit einhergehend Suche

nach Wahrheit und Vernunft sind die eigentlichen

und tiefgründigen Aufgaben der Menschheit schon

seit Jahrtausenden. Daher defi nierte Gadamer sei-

ne Form der Hermeneutik als ein existentielles und

anthropologisches Th ema und nicht nur als metho-

dologisches Problem der Geistes- und Kulturwis-

senschaft en.

Conclusio

Was haben nun Gadamers Ausführungen zur Her-

meneutik mit der Heilkunde und medizinischen

Anthropologie zu tun? Der Philosoph hat auf diese

Frage vor allem in seinem 1993 publizierten Buch

Über die Verborgenheit der Gesundheit Antworten

formuliert. Außerdem fi nden sich im Eingangs-

kapitel zu seiner Neuen Anthropologie (Band 1)

Hinweise auf die gegenseitige Beeinfl ussung von

Hermeneutik, Medizin, Philosophie sowie Anth-

ropologie.

Darin betonte Gadamer, man müsse sich von

der Vorstellung lösen, mit Hilfe der Wissenschaf-

ten und Philosophie ein Menschenbild entwerfen

zu können, das unverrückbar richtig und stabil ist.

Allein das Faktum der Vorurteilsgebundenheit und

Geschichtlichkeit aller Meinungen und Urteile las-

se eine solche Hoff nung von vorneherein als illusio-

när erscheinen.

Des Weiteren machte der Autor darauf auf-

merksam, dass in allen Wissenschaft en vom

Menschen und seiner Kultur implizit immer an-

thropologische Vorannahmen und Einstellungen

mitschwingen, welche die konkrete wissenschaft -

liche oder soziale Praxis entscheidend prägen. Wir

können uns zum Beispiel keinerlei Formen der

Heilkunde ausmalen, die ohne derlei meist unaus-

gesprochene Menschenkunde auskommen.

So trägt jeder pfl egend oder ärztlich Tätige im

Gesundheitswesen Maßstäbe hinsichtlich Leib,

Seele, Krankheit, Gesundheit, Lebensqualität, Arzt-

Patienten-Beziehung, gegenseitiger Hilfe, Heil und

Heilung und vieler anderer Aspekte in sich, die

sein konkretes Tun und Lassen enorm beeinfl us-

sen. Fließen diese unrefl ektiert und unkorrigiert in

seinen berufl ichen Alltag ein, entstehen nicht selten

Situationen, in denen sich Patienten zu Recht be-

schweren, sie stießen auf zu wenig Verständnis und

Menschlichkeit innerhalb der Medizin.

Hermeneutik im Sinne Gadamers kann dem

Einzelnen helfen, seine anthropologischen Vor-

annahmen bewusster werden zu lassen und damit

einer eventuell nötigen Korrektur anheimzustel-

len. Ähnlich wie die von Francis Bacon initiierte

und im 19. Jahrhundert favorisierte Ideologiekritik

(Ludwig Feuerbach , Karl Marx , Arthur Schopen-

hauer , Friedrich Nietzsche ) sorgt die Hermeneutik

dafür, die Rahmenbedingungen jeglichen Denkens

und Handelns (Zeitgeist, gesellschaft liche, ökono-

mische, geschichtliche, politische Gegebenheiten;

persönliche Faktoren wie Charakter, Stimmung,

Lebensentwurf) transparenter zu machen. Damit

wirkt sie als …

»   kritisches Maß, das das Handeln des Menschen

von vorschnellen Wertungen und Abwertungen

befreit und seinen Zivilisationsweg an sein Ziel er-

innern hilft, der – sich selbst überlassen – weniger

und weniger ein Weg zur Beförderung der Huma-

nität zu werden droht. So dient die Wissenschaft

über den Menschen dem Wissen des Menschen

von sich selbst und seiner Praxis (Gadamer 1972,

S. XXXVI).   «

Hermeneutik ist für die Heilkunde und medizini-

sche Anthropologie jedoch noch in anderer Hin-

sicht relevant. Seit dem Aufk ommen von Psycho-

Kapitel •  Hans-Georg Gadamer

Page 11: Gadamer alemán

153

analyse, Tiefenpsychologie und Psychosomatik

einerseits sowie von Existenzphilosophie und So-

zialpsychologie andererseits tendiert die anthropo-

logische Betrachtung des Menschen dazu, alles an

ihm als Formen des Ausdrucks und der Kommuni-

kation aufzufassen.

Dies betrifft auch und vor allem den mensch-

lichen Leib. Wir können uns keinen Zustand und

keinen Moment im Dasein eines Menschen vorstel-

len, in denen der Betreff ende nicht mit seiner Um-

und Mitwelt in irgendeiner Art kommuniziert.

Selbst wenn der Einzelne schläft , schweigt, sich

abwendet oder in die Einsamkeit fl üchtet, drücken

sein Blick, seine Körperhaltung, der Turgor und die

Durchblutung seiner Haut oder die schlichte Tat-

sache seiner Abwesenheit etwas aus.

In solchen Situationen kommuniziert der Be-

treff ende vorwiegend expressiv und appellativ ,

nicht aber sonderlich informativ . Diese Begriff e

verwendete der Wiener Psychologe und Sprach-

forscher Karl Bühler , um verschiedene Dimen-

sionen der menschlichen Kommunikation zu be-

schreiben. Expressionen (Ausdruck) und Appelle

(Auff orderungen an die Umwelt) werden von den

Mitmenschen zwar wahrgenommen und intuitiv

mehr oder minder korrekt eingeordnet – ihr Infor-

mationsgehalt aber ist in der Regel diff us.

Der Mensch kann nicht nicht-kommunizie-

ren – so lautet die oft zitierte Formel der Kommu-

nikationsforscher. Der Mitteilungscharakter der

menschlichen Existenz ist dabei leiblich begründet

und in vielen Fällen expressiver und appellativer

Natur. Da der menschliche Leib vielschichtige Aus-

drucksmöglichkeiten aufweist (Blässe, Erröten, Zit-

tern, Blutdruck- und Herzfrequenzschwankungen,

Hüsteln, Seufzen, Obstipation), die sich als vegeta-

tiv gesteuerte Phänomene kaum willkürlich modu-

lieren lassen, kommuniziert jedermann nolens vo-

lens mit seinen Mitmenschen, selbst wenn er keine

Worte gebraucht. Besonders Aff ekte, Stimmungen,

Atmosphären sowie Zustände von An- und Ent-

spannung teilen sich auf diesem nonverbalen Weg

wirkungsvoll mit.

Weil der menschliche Leib (der beseelte und

eventuell vergeistigte Körper) in gewisser Weise

wie ein »Lied ohne Worte« erscheint (so der Ti-

tel einiger lyrischer Klavierstücke von Felix Men-

delssohn-Bartholdy), gab es in der Vergangenheit

immer wieder Versuche, das Expressive und Ap-

pellative an ihm mittels systematischer Kategorien

zu interpretieren. So kann man Ernst Kretschmers

Körperbau und Charakter (1921) als Typenlehre ein-

ordnen, die allein an der organischen Konstitution

von Menschen (leptosom, athletisch, pyknisch) de-

ren Gangart, Weltanschauung und Temperament

erahnen und in begriffl iche Informationen über-

setzen wollte.

Die Tiefenpsychologie und Psychosomatik ging

in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts

diesbezüglich diff erenzierter vor. Freud , Adler und

ihre Schüler versuchten ebenso wie etwa Franz

Alexander , Viktor von Weizsäcker oder Arthur Jo-

res , in den körperlichen Zuständen ihrer Patienten

individuelle Mitteilungen zu erkennen, die unter

Umgehung der gesprochenen Sprache lebensge-

schichtliche oder charakterliche Details der Betref-

fenden off enbaren.

Die diesem Vorgehen zugrundeliegende tiefen-

psychologische und psychosomatische Hauptthese

lautet, dass sich das Unbewusste eines Menschen

des Leibes bedient, um sich auszudrücken. An-

ders formuliert: Das Unbewusste ist der Leib, und

alle seine Wünsche, Begierden und Triebimpulse,

Ängste, Aff ekte, Kränkungen und Konfl ikte, aber

auch die Lebensgeschichte eines Individuums so-

wie seine Ziele, Werte und Zukunft sentwürfe wer-

den daher zu einem erheblichen Teil nicht wörtlich,

sondern körperlich zum Ausdruck gebracht.

Besonders jene Aspekte der Existenz, welche

das eigene Selbstbild massiv in Frage stellen und

als anstößig oder ängstigend erlebt werden, fallen

häufi g aus dem Rahmen der sprachlich-bewussten

Kommunikation. Sie werden nicht mehr gelebt,

sondern unbewusst geleibt – wie es der Daseins-

analytiker Medard Boss formuliert hat. Diese ex-

kommunizierten Anteile des Daseins tragen oft -

mals wegen der mit ihnen einhergehenden vege-

tativen Dysbalance zur Entstehung körperlicher

Krankheiten bei.

Die Pioniere der Psychosomatik (Georg Grod-

deck , Helen Flanders Dunbar , Franz Alexander )

setzten ihren Ehrgeiz darein, an den somatischen

Symptomen ihrer Patienten deren existentielle

Nöte und psychosoziale Belastungen wie vom Blatt

abzulesen. Vor allem Groddeck glänzte diesbe-

züglich mit zügellos phantasievollen und symbol-

Conclusio

Page 12: Gadamer alemán

154

trächtigen Interpretationen, indes Alexander sich

mit seinem Spezifi tätsmodell darauf beschränkte,

einzelnen körperlichen Krankheiten spezifi sche

seelische Konfl ikte zuzuordnen.

Die Psychosomatik am Anfang des 21. Jahr-

hunderts ist skeptisch geworden in Bezug auf eine

fi xe Koppelung von körperlichen Symptomen und

psychosozialen Inhalten, die darin unbewusst zum

Ausdruck gebracht werden sollen. Was sie jedoch

anerkennt ist die Möglichkeit und oft mals auch

die Notwendigkeit, in den Krankheitszuständen

von Patienten deren individuellen Sinn- und Be-

deutungsgehalt zu erkennen und – falls gewünscht

– mit den Betroff enen zu besprechen.

Denn Gesundheit wie Krankheit eines Men-

schen sind eingebettet in dessen Lebensgeschichte

und spiegeln deren Rahmenbedingungen und Ver-

lauf wieder. Genetische Ausstattung, Konstitution,

biologische Matrix, Familienkonstellation, ökono-

mische und ökologische Einfl üsse, Erziehung und

Bildung, politische und historisch-gesellschaft liche

Gegebenheiten und Prozesse, Triebschicksal und

Charakterstruktur, Weltanschauung, soziale und

kulturelle Verhältnisse, Belastungen durch Um-

weltgift e und Erreger aller Art, Erfahrungen mit

Eros und Sexus sowie die individuelle Wert- und

Normorientierung – sie alle und weitere Faktoren

verschränken sich beim Einzelnen und ermögli-

chen dessen Krankheit und Gesundheit.

Ausgehend von derart komplexen Bedingungs-

gefügen wird rasch deutlich, dass der Medizin im

Allgemeinen und den konkreten Ärzten im Be-

sonderen eine immense hermeneutische Aufgabe

zufällt, sofern sie ihre Patienten umfassend verste-

hen wollen. Alle Ärzte – nicht nur Psychiater, Psy-

chotherapeuten und Psychosomatiker – sind auf-

gerufen, zumindest in Ansätzen jene Verstehens-

arbeit in Angriff zu nehmen, die unweigerlich auf

sie zukommt, sobald sie sich die Dimensionen des

Humanen in der Medizin vor Augen führen:

»   Denn der Mensch ist nicht nur ein Naturwesen,

sondern auch sich selbst und anderen geheimnis-

voll fremd, als Person, als Mitmensch, in Familie

und Beruf, mit unzähligen unwägbaren Einwirkun-

gen und Einfl üssen, Belastungen und Problemen.

Da gibt es noch ganz andere Unverständlichkeiten

als die zu erforschenden Gesetzlichkeiten des

Naturgeschehens, die eine hoch entwickelte For-

schung mehr und mehr ans Licht bringt. Nun, mit

dem Unverständlichen und mit dem Verstehen der

Unberechenbarkeiten des seelisch-geistigen Le-

benshaushaltes des Menschen hat es die Kunst des

Verstehens zu tun, die man Hermeneutik nennt

(Gadamer 1993, S. 202f.).   «

Gadamer sprach in seinem Werk mehrfach von

Universalhermeneutik , um zu verdeutlichen,

dass nicht nur einige wenige Geisteswissenschaft -

ler, sondern alle Forscher, Künstler, Philosophen,

Techniker, Juristen, Lehrer, Erzieher, Psychologen

und Ärzte, die sich mit dem Menschen und seiner

Kultur beschäft igen, unwillkürlich mit dem Th ema

des Verstehens konfrontiert sind.

Gadamer selbst wählte aufgrund seiner konser-

vativen Lebens- und Weltanschauung eher harmlo-

se kulturelle Bereiche aus, an denen er sein Verste-

henskonzept demonstrieren konnte: Lyrik und die

schönen Künste, altphilologische und philosophie-

geschichtliche Fragestellungen sowie die Mytholo-

gie und Th eologie waren jene Disziplinen, in denen

er sich mit seiner Hermeneutik am heimischsten

fühlte.

Eine universale Hermeneutik der menschli-

chen Existenz bedeutet unserer Ansicht aber auch,

sich um das Verstehen von gesellschaft lich, histo-

risch und politisch brisanteren Phänomenen zu be-

mühen: soziale und ökonomische Ungerechtigkeit,

Unterdrückung, Ausbeutung, Patriarchat, Imperia-

lismus, Chauvinismus, religiöser und politischer

Fanatismus und Fundamentalismus, Krieg, Mili-

tarismus, Aberglauben, staatliche und kirchliche

autoritäre Hierarchien, Erziehungs- und Bildungs-

defi zite.

Zu derlei Th emen hat sich der Großmeister des

Verstehens kaum geäußert. Wer jedoch als Arzt,

Psychologe, Psychotherapeut oder einfach nur als

Mitmensch seine Patienten und Zeitgenossen um-

fassend verstehen will, muss unweigerlich einige

oder viele dieser Phänomene bei seinen hermeneu-

tischen Bemühungen berücksichtigen, selbst wenn

ihn dies in Distanz und Kontrast zur Majorität der

»Insider« bringen sollte. Es steht zu vermuten, dass

Gadamer aus Sorge, zum »Outsider« werden zu

können, die delikateren Problemfelder der Univer-

salhermeneutik nicht aktiv bearbeitet hat.

Kapitel •  Hans-Georg Gadamer

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