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§ 262 Auswirkungen einer Übergangsjustiz auf die demokratische Konsolidierung in Mittel- und Osteuropa Gábor Halmai Übersicht A. Einleitung B. Übergang und Demokratisierung C. Postkommunistische Ansätze für eine Übergangsjustiz D. Gerechtigkeit schaffen: Rückwirkung und Rechtsstaatsprinzip E. Verwaltungssanktionen: Überprüfung und Lustration F. Zugang zu den Akten der Geheimpolizei G. Die Verfassung als Instrument des Systemwandels H. Fazit: Demokratische Konsolidierung I. Bibliographie RN 1 2–11 12–22 23–30 31–59 60–72 73–91 92–95 A. Einleitung <RNA>75<RNE><MA>Aufarbeitung der Vergangenheit<ME>Nach der Wende ist es den mittel- und osteuropäischen Staaten immer noch nicht gelungen, die kommunistische Vergangenheit ehrlich und ernsthaft aufzuarbeiten. So wirkt sich die Art und Weise, in der sie sich mit dieser Periode auseinandersetzen, negativ auf den Prozeß der demokratischen Konsolidierung aus. Der Umgang dieser Staaten mit ihrer Vergangenheit hat daher die Herausbildung und Stärkung der Aspekte, die für eine Konsolidierung der Demokratie auf der Verhaltens- und Einstellungsebene notwendig sind, wie etwa das Vertrauen in demokratische Institutionen, untergraben. Insoweit wird insbesondere auf die Bedeutung einer allgemeinen Offenlegung geheimpolizeilicher Unterlagen hingewiesen. B. Übergang und Demokratisierung <RNA>75<RNE><MA>Institutionelle und gesellschaftliche Voraussetzungen<ME>Martin Seymour Lipset erörtert auf der

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§ 262 Auswirkungen einer Übergangsjustiz auf die demokratische Konsolidierung in Mittel- und Osteuropa

Gábor Halmai

Übersicht

A. EinleitungB. Übergang und DemokratisierungC. Postkommunistische Ansätze für eine ÜbergangsjustizD. Gerechtigkeit schaffen: Rückwirkung und RechtsstaatsprinzipE. Verwaltungssanktionen: Überprüfung und LustrationF. Zugang zu den Akten der GeheimpolizeiG. Die Verfassung als Instrument des SystemwandelsH. Fazit: Demokratische KonsolidierungI. Bibliographie

RN

12–11

12–2223–3031–5960–7273–9192–95

A. Einleitung

<RNA>75<RNE><MA>Aufarbeitung der Vergangenheit<ME>Nach der Wende ist es den mittel- und osteuropäischen Staaten immer noch nicht gelungen, die kommunistische Vergangenheit ehrlich und ernsthaft aufzuarbeiten. So wirkt sich die Art und Weise, in der sie sich mit dieser Periode auseinandersetzen, negativ auf den Prozeß der demokratischen Konsolidierung aus. Der Umgang dieser Staaten mit ihrer Vergangenheit hat daher die Herausbildung und Stärkung der Aspekte, die für eine Konsolidierung der Demokratie auf der Verhaltens- und Einstellungsebene notwendig sind, wie etwa das Vertrauen in demokratische Institutionen, untergraben. Insoweit wird insbesondere auf die Bedeutung einer allgemeinen Offenlegung geheimpolizeilicher Unterlagen hingewiesen.

B. Übergang und Demokratisierung

<RNA>75<RNE><MA>Institutionelle und gesellschaftliche Voraussetzungen<ME>Martin Seymour Lipset erörtert auf der Grundlage der Arbeiten Max Webers zwei wesentliche Grundvoraussetzungen der Demokratie – die institutionelle und die gesellschaftliche. Auf institutioneller oder formeller Ebene bedürfe es einer Verfassung, einer an der Macht befindlichen politischen Elite, die die wichtigsten Entscheidungen treffe, sowie einer legitimen alternativen Gruppe, die an die Macht gelangen wolle. Hinsichtlich der gesellschaftlichen oder substantiellen Vorbedingungen für die Stabilität der Demokratie trennt Lipset zwei Bereiche: die wirtschaftliche Lage und die Legitimität des politischen Systems. Nach dem von ihm zugrunde gelegten Weberschen Ansatz „beinhaltet die Legitimität die Fähigkeit des Systems, die Überzeugung zu schaffen und aufrecht zu erhalten, daß die bestehenden politischen Institutionen für die Gesellschaft die angemessensten sind“1.

1 M.S. Lipset, Political Man, Anchor, New York, 1963, S. 64.

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<RNA>75<RNE><MA>Entstehungsphasen der Demokratie<ME>In seinem berühmten Aufsatz „Transitions to Democracy“, der später zu einem der bedeutendsten Werke der Transitologie wurde, unterscheidet Dankwart Rüstow drei Entstehungsphasen der Demokratie: Aufstieg der neuen Elite in der Vorbereitungsphase, Entscheidung über das neue politische System in der zweiten Phase und Stabilisierung der neuen Institutionen in der dritten2. Im Anschluß an Rüstow hat Robert Dahl die Voraussetzungen für die Entstehung von Demokratie untersucht und ähnlich wie Lipset die institutionelle und die gesellschaftliche Dimension getrennt. Die Institutionen verfolgten das Ziel, erstens den Bürgern die Festlegung von Präferenzen wie etwa Versammlungs-, Rede- und Informationsfreiheit zu ermöglichen, zweitens die Möglichkeit zu schaffen, diese Präferenzen, etwa in freien Wahlen, zum Ausdruck zu bringen, und drittens zu gewährleisten, daß diese Präferenzen Eingang in die politischen Entscheidungen finden3. Zu der gesellschaftlichen Dimension gehören Dahl zufolge Regelungen, die sich vorteilhaft auf die Demokratie auswirken, zum Beispiel pluralistische Wirtschaftssysteme und solche, die der Demokratie abträglich sind, wie etwa eine zentralistische Wirtschaft4.

<RNA>75<RNE><MA>Übergang, Liberalisierung, Demokratisierung<ME>Guillermo O’Donnell und Philippe Schmitter verwenden in ihrer Studie die komplexeren Begriffe Übergang, Liberalisierung und Demokratisierung. Danach bezeichnet Übergang den Wandel des politischen Systems, während unter Liberalisierung die Ausweitung der Menschenrechte zu verstehen sei, was aber nicht unbedingt Auswirkungen auf den politischen Entscheidungsfindungsprozeß haben müsse. Eine weitere Theorie zur Kennzeichnung von Postkonfliktgesellschaften beschreibt einen abgestuften Prozeß, bei dem die Liberalisierung nicht rasch durchgesetzt wird, sondern mit Verzögerung eintritt. Um dies zu erreichen, müßten bestimmte politische und wirtschaftliche Freiheiten zunächst eingeschränkt werden5. Demokratisierung definieren beide Autoren unter dem Gesichtspunkt der bürgerlichen Rechte und Pflichten. Demzufolge ergebe sich aus dem demokratischen Charakter eines Systems nicht nur die Gleichberechtigung aller Bürger im Entscheidungsfindungsprozeß der Gemeinschaft, sondern auch ihre Bereitschaft, sich diesen Entscheidungen zu unterwerfen6. <MA>Übergangsphase<ME>Neu ist bei O’Donnell und Schmitter der Versuch, die für die Entstehung neuer politischer Systeme entscheidenden Elemente nicht nur für die Anfangs-, sondern auch für die Übergangsphase zu bestimmen. Zu diesen Elementen zählen sie die Art und Weise der Geschichtsaufarbeitung. Auf einen weiteren wichtigen Aspekt der Demokratisierung hat Adam Przeworski hingewiesen, der bei der Untersuchung der Aufspaltung der Eliten zwischen Hardlinern und Reformern in der alten Elite und zwischen moderaten und radikalen Kräften in der neuen Elite differenziert7.

<RNA>75<RNE><MA>Begriff der konsolidierten Demokratie<ME>In ihrem umfangreichen Werk8 führen Juan Linz und Alfred Stepan den Begriff der konsolidierten Demokratie ein, dem formelle, institutionelle und substantielle sowie verhaltensorientierte

2 Dankwart A. Rustow, Transitions to Democracy: Toward a Dynamic Model, Comparative Politics, Bd. 2, Nr. 3 (April 1970), S. 337 ff.3 Vgl. Robert A. Dahl, Polyarchy, Yale University Press, 1971, S. 3.4 Ebd., S. 203.5 Roland Paris, At War’s End: Building Peace After Civil Conflict, New York: Cambridge University Press, 2004.6 Guillermo O’Donnell/Philippe Schmitter, Tentative Conclusions about Uncertain Democracies, in: Guillermo O’Donnell/Philippe Schmitter/Laurence Whitehead (Hg.): Transitions from Authoritarian Rule: Prospects for Democracy, The Johns Hopkins University Press, Baltimore, 1986.7 Adam Przeworski, Democracy and the Market. Political and Economic Reforms in Eastern Europe and Latin America, Cambridge University Press, Cambridge, 1991.8 Juan J. Linz/Alfred Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation, Southern Europe, South America, and Post-Communist Europe, The Johns Hopkins University Press, Baltimore, 1996.

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Elemente zugrunde liegen. Linz und Stepan zufolge sind Kriterien für eine konsolidierte Demokratie nicht nur das Vorhandensein demokratischer Institutionen, sondern auch das Fehlen politischer Akteure, die diese demokratischen Institutionen abschaffen wollen, sowie die allgemeine Akzeptanz demokratischer Entscheidungen in der öffentlichen Meinung. Ähnlich wie bei Lipset vollzieht sich für Linz und Stepan nach ihrer strukturellen Sicht der Prozeß der demokratischen Konsolidierung auf zwei Ebenen, nämlich erstens auf der formellen/strukturellen und zweitens auf der eher substantiellen Ebene.

<RNA>75<RNE><MA>Festigung der politischen Institutionen<ME>Auf der ersten, institutionellen Ebene müßten die während des Übergangs geschaffenen politischen Institutionen gefestigt werden. Linz und Stepan heben drei solcher Institutionen hervor. Erstens könne ein demokratischer Staat ohne eine von ihnen sogenannte „einsatzfähige Bürokratie“ seinen Monopolanspruch auf Ausübung legitimer Gewalt in seinem Hoheitsgebiet nicht wirksam durchsetzen9. Zweitens müsse eine demokratische Konsolidierung die Festigung der Kerninstitutionen einer demokratischen „politischen Gesellschaft“ umfassen: politische Parteien, Wahlen, politische Führung und parteiübergreifende Allianzen10. Drittens bedürfe es einer Stärkung der Strukturen, die die horizontale Verantwortlichkeit, die Verfassungsmäßigkeit und das Rechtsstaatsprinzip gewährleisten. Ein besonders bedeutsames Element der Konsolidierung der Demokratie sei daher die Rechtsstaatlichkeit. Neben diesen politischen Institutionen seien eine starke Zivilgesellschaft und eine institutionalisierte Wirtschaftsgesellschaft erforderlich, damit sich Demokratien konsolidieren könnten.

<RNA>75<RNE><MA>Normatives Bekenntnis zur Demokratie<ME>Die zweite Ebene betrifft das normative Bekenntnis zur Demokratie im Verhaltens- und im Einstellungsbereich. Zwischen den beiden genannten Ebenen bestehe – so die Autoren – eine Wechselbeziehung, da sich die Legitimation der Demokratie, die im Verhältnis der politischen Akteure zur allgemeinen Bevölkerung (zweite Ebene) notwendig sei, ohne ein gewisses Maß wirksamer Herrschaft der neuen demokratischen Institutionen (erste Ebene) nicht erreichen lasse. <MA>Konsolidierung<ME>Dies bildet den Ausgangspunkt für die von Larry Diamond verwendete Definition der Konsolidierung als „Prozeß des Erreichens einer breit und tief verankerten Legitimation, so daß alle maßgeblichen politischen Akteure sowohl in der Elite als auch in der breiten Bevölkerung davon überzeugt sind, daß das demokratische Regime das richtigste und geeignetste für ihre Gesellschaft und besser als alle anderen für sie vorstellbaren realistischen Alternativen ist“11. In einer konsolidierten Demokratie stellten die demokratischen Vorschriften, Institutionen und Beschränkungen die „einzigen Spielregeln“ für politische Konkurrenten, den einzigen funktionierenden Rahmen für das Regieren der Gesellschaft und für die Förderung der eigenen Interessen dar. Linz und Stepan betonen, daß die Legitimation über ein abstraktes Bekenntnis zur Demokratie hinausgehen müsse. Sie stellen eine Überschneidung des Verhaltensbereichs (das heißt, wenn keine nennenswerte politische Gruppe eine Abschaffung des demokratischen Regimes androht), des Einstellungsbereichs (wenn die Bürger einen starken Willen zur Demokratie zeigen) und des konstitutionellen Bereichs der Konsolidierung fest und stellen die These auf, daß die Legitimation auch einen normativen und im Verhalten zum Ausdruck

9 Juan J. Linz/Alfred Stepan, Toward Consolidated Democracies, in: Larry Diamond/Marc Plattner/Yun-han Chu/Hung-mao Tien (Hg.), Consolidating the Third Wave Democracies: Themes and Perspectives, Baltimore, Johns Hopkins University Press, 1997, S. 20.10 Ebd., S. 17.11 Larry Diamond, Developing Democracy: Toward Consolidation. Baltimore, Johns Hopkins University Press, 1999.

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kommenden Willen zur Einhaltung der konkreten Regeln und Verfahren der Verfassungsordnung des Landes umfassen müsse12.

<RNA>75<RNE><MA>Tragweite des Konsolidierungsprozesses<ME>Alle diese Elemente beweisen die Tragweite des Konsolidierungsprozesses: Er betrifft nicht nur den Aufbau, die Festigung und die Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen, sondern auch die Verankerung und Intensivierung demokratischer Einstellungen sowohl in den Eliten als auch in der breiten Bevölkerung. Konsolidierung der Demokratie impliziert und verlangt sogar die Herausbildung einer demokratischen politischen Kultur, die Larry Diamond als zentralen Faktor der Demokratiekonsolidierung postuliert13. Politische Kultur – in der Bevölkerung, vor allem aber auch in den Eliten – ist ein unverzichtbares Erfordernis im postkommunistischen Mittel- und Osteuropa. Auch wenn nicht zweifelhaft sein kann, daß die mittel- und osteuropäischen Staaten auf der verfahrenstechnischen Ebene konsolidiert sind, so läßt die vollständige Konsolidierung auf der substantiellen Ebene doch vor allem deshalb zu wünschen übrig, weil die politische Kultur in diesen Staaten nicht stark genug ausgeprägt ist.

<RNA>75<RNE><MA>Situation vor und während der Übergangsphase<ME>Allerdings berücksichtigen Linz und Stepan – ähnlich wie O’Donnell und Schmitter – die Situation sowohl vor als auch während der Übergangsphase. Die wichtigsten Elemente, welche die Demokratisierung vor der Wende beeinflußt hätten, seien die nationale und staatliche Machteinheit, das ursprüngliche politische System sowie die wirtschaftliche Lage; während des Übergangs seien hingegen folgende Elemente maßgebend: Verhalten der alten Elite, Strategie der neuen Elite, externe Einflüsse, Wandel der Legitimation des politischen Systems sowie die Modalitäten der Verfassungsgebung14.

<RNA>75<RNE><MA>Werteorientierung im Demokratiebegriff<ME>Aufgrund der im Rahmen der internationalen Beziehungen unternommenen Anstrengungen zur weltweiten Demokratisierung, die erstmals von Woodrow Wilson im Ersten Weltkrieg angeregt wurden, kamen neben diesen mehr oder weniger beschreibenden Definitionen der Demokratie zunehmend auch werteorientierte Begriffsbestimmungen zum Tragen. Hierzu gehört auch das Konzept der liberalen Demokratie mit den folgenden Erfordernissen: Schutz der Minderheitenrechte, unabhängige Judikative und Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Grund- und Menschenrechte, Existenz einer Zivilgesellschaft. Demgegenüber ist die illiberale Demokratie durch die gewalttätige Ausübung der Staatsmacht und die Mißachtung der Grundrechte gekennzeichnet 15. Der von Francis Fukuyama verwendete Begriff der werteorientierten Demokratie geht von der universellen Geltung demokratischer Werte aus. Zwar könnten nationale und religiöse Ideologien, starke soziale Spannungen und das Fehlen einer Zivilgesellschaft die Entstehung einer Demokratie behindern, jedoch könne Demokratie überall in der Welt Fuß fassen16. Demgegenüber meint Samuel Huntington, daß der Begriff „Demokratie“ mit der christlich-westlichen Zivilisation verknüpft sei17.

12 Linz und Stepan, 1997, S. 15 f.13 Larry Diamond, Introduction: Political Culture and Democracy, in: ders. (Hg.), Political Culture and Democracy in Developing Countries, Boulder: Lynne Rienner, 1994.14 Juan J. Linz/Alfred Stepan, Towards Consolidated Democracies, Journal of Democracy 7.2 (1996), S. 14 ff.15 Vgl. die Begriffe der liberalen und der illiberalen Demokratie bei Larry Diamond, Developing Democracy, Toward Consolidation, The Johns Hopkins University Press, Baltimore, 1999, und bei Fareed Zakaria, The Future of Freedom. Illiberal Democracy at Home and Abroad, W.W. Norton and Company, New York, 2003.16 Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, Penguin Books, London, 1992.17 Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, Touchstone Books, London, 1997.

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<RNA>75<RNE><MA>Politische Kultur als Konsolidierungsvoraussetzung<ME>Ohne auf den Gegensatz von Universalität und Zivilisationsgebundenheit eingehen zu wollen, konzentriert sich der vorliegende Beitrag auf das Thema, inwieweit die Art und Weise der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und die Modalitäten der Verfassungsgebung die Konsolidierung der Demokratie in den mittel- und osteuropäischen Staaten beeinflußt haben18. Die extreme Polarisierung, die sich in diesen Staaten zwanzig Jahre nach der Wende findet, ist teilweise auf einen Mangel an politischer Kultur zurückzuführen.

C. Postkommunistische Ansätze für eine Übergangsjustiz

<RNA>75<RNE><MA>Übergangsgesellschaft und Menschenrechtsverletzungen<ME>Übergangsgesellschaften sind zwangsläufig mit der Vergangenheit im allgemeinen und der Hinterlassenschaft von Menschenrechtsverletzungen des alten Regimes im besonderen konfrontiert. Im vorliegenden Beitrag wird die Auffassung vertreten, daß die vollständige Konsolidierung der Demokratie nur gelingen kann, wenn ein politischer Wille vorhanden ist, den notwendigen Prozeß der Auseinandersetzung mit der undemokratischen Vergangenheit in Angriff zu nehmen. Der genaue Inhalt und das Ziel dieses Prozesses lassen sich am besten mit zwei deutschen Begriffen beschreiben, für die es keine direkte englische Übersetzung gibt: Geschichtsaufarbeitung und Vergangenheitsbewältigung19.

<RNA>75<RNE><MA>Vergangenheitsbewältigung<ME>Die Art der Vergangenheitsbewältigung hängt wesentlich von den Machtverhältnissen ab, die am Anfang der Übergangsphase zur Demokratie herrschen. Der radikalste, revolutionärste Weg zur Wende ist der gewaltsame Umsturz oder der Zusammenbruch des repressiven Regimes; in diesem Fall haben die neuen Kräfte einen deutlichen Sieg über die alte Ordnung errungen. Demokratie kann aber auch auf Betreiben von Reformern innerhalb der alten Garde oder aufgrund gemeinsamen Handelns und einer Verhandlungslösung zwischen regierenden und oppositionellen Gruppierungen eintreten. In seiner Studie über fünfunddreißig sogenannte Übergänge der dritten Welle, die sich Ende der achtziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts vollzogen hatten oder sich zu vollziehen schienen, bezeichnet Samuel Huntington den Umsturz mit dem Begriff „Ersetzung“, während er die beiden weniger radikalen Arten des Übergangs, zwischen denen sich keine genaue Grenze ziehen läßt, „Transformation“ bzw. „Verdrängung“ nennt20. <MA>Kategorisierung des Übergangs<ME>Diese Art der Kategorisierung wird problematisch, wenn man versucht, die verschiedenen Staaten, die jeweils individuelle Lösungen des Übergangs gefunden haben, in die einzelnen Kategorien einzuordnen. Bei der Auswertung des Wandels in Mittel- und Osteuropa stuft Huntington beispielsweise das Geschehen in Ungarn in die Kategorie der Transformation ein, während er die Ereignisse in Polen und in der Tschechoslowakei als Verdrängung charakterisiert. In seinem Buch „The Magic Latern“ prägt Timothy Garton Ash, der als Augenzeuge in Warschau, Budapest, Berlin und Prag „die Revolution von 1989“ miterlebt hat, den Begriff „Refolution“ für die Vorgänge in Warschau und Budapest, da es sich im wesentlichen um Reformen von oben als Reaktion auf Forderungen nach einer Revolution von unten gehandelt habe, während er das Geschehen in Prag, Berlin und Bukarest ohne weiteres als „Revolution“ bezeichnet21. Der Wandel in Ungarn und Polen sei nicht durch Massendemonstrationen wie in Rumänien, in der ehemaligen Deutschen 18 Zu Mittel- und Osteuropa werden hier auch die Tschechische Republik, die Slowakische Republik, Ungarn, Polen und bis 1990 die Deutsche Demokratische Republik gezählt.19 Diese Ausdrücke haben normative Anklänge, da sie nicht nur einen Prozeß bezeichnen, sondern auch die positiven Ergebnisse dieses Prozesses implizieren.20 Vgl. Samuel P. Huntington, The Third Wave: Democratization in the Late Twentieth Century, University of Oklahoma Press, 1991, S. 124 f.

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Demokratischen Republik oder in der Tschechoslowakei ausgelöst worden, und Reformen von revolutionärer Bedeutung hätten die Kontinuität der Legitimität des früheren Regimes unterbrochen, ohne daß dies Folgen für die Kontinuität der Legalität gehabt habe. Ein weiterer westlicher Beobachter, Ralf Dahrendorf, argumentiert, daß die Wandlungen von 1989 „sowohl außerordentlich rasch abliefen als auch die alten Strukturen sehr gründlich durcheinanderschüttelten (und das ist eine Definition der Revolution)“; schließlich führten sie zur Delegitimierung der gesamten herrschenden Klasse und zur Ersetzung der meisten ihrer wichtigen Mitglieder sowie zur konstitutionellen Transformation mit weitreichenden Konsequenzen“22.

<RNA>75<RNE><MA>Übergangsarten und Vergangenheitsbewältigung<ME>Wichtiger ist jedoch die Frage, inwieweit sich die unterschiedlichen Arten des Übergangs auf die Bemühungen um die Vergangenheitsbewältigung auswirken. Huntington stellt die folgenden Leitlinien für Demokratisierer im Umgang mit autoritären Verbrechen auf:a) Falls eine Ersetzung (Revolution) eingetreten ist und falls es moralisch und politisch wünschenswert ist, ziehe die Führer des autoritären Regimes umgehend (innerhalb eines Jahres nach der Machtübernahme) zur Verantwortung und stelle gleichzeitig klar, daß mittel- und niederrangige Beamte nicht strafrechtlich verfolgen werden.b) Im Fall einer Transformation oder Verdrängung versuche nicht, die autoritären Beamten wegen Menschenrechtsverletzungen zu belangen, da die politischen Kosten eines solchen Unterfangens höher sind als die moralischen Vorteile.c) Erkenne, daß hinsichtlich der Problematik „Strafverfolgung und Bestrafung versus Vergeben und Vergessen“ jede Alternative mit großen Schwierigkeiten verbunden ist und daß „nicht Verfolgen, nicht Bestrafen, nicht Vergeben und vor allem nicht Vergessen“ wohl die am wenigsten befriedigende Vorgehensweise sein dürfte23.Ähnlich führt Ruti Teitel aus, daß Strafprozesse „sich gut zur Darstellung historischer Ereignisse bei kontroversen Einschätzungen eignen“ und „in Zeiten radikaler Veränderungen notwendig sind“24. András Sajó merkt an, daß nach dem Maßstab Teitels in Mittel- und Osteuropa möglicherweise gar keine radikalen Veränderungen stattgefunden haben, zumindest keine radikalen Veränderungen im Hinblick auf die Vergangenheit25. <MA>Staatliche Pflicht zur Aufarbeitung<ME>Zu welchen Entscheidungen bezüglich einer Übergangsjustiz ein Staat auch immer kommen mag, um die Vergangenheit aufzuarbeiten und zu bewältigen: Die überwiegende Mehrheit der wissenschaftlichen Lehre ist der Auffassung, daß in der einen oder anderen Form eine entsprechende staatliche Verpflichtung sowohl aus innerstaatlichem Verfassungsrecht als auch aus dem Völkerrecht bestehe. Selbstverständlich werden auch Argumente gegen jede Art postkommunistischer Entschädigung und Vergeltung vorgetragen. Der radikalste Vertreter dieser Auffassung kommt zu dem Ergebnis, daß es entweder alle oder keinen treffen müsse; da es aber unmöglich sei, alle zu erreichen, dürfe niemand bestraft und niemand entschädigt werden26.

<RNA>75<RNE><MA>Rechtfertigung der Übergangsjustiz<ME>Die einander ergänzenden Begründungen zur Rechtfertigung einer Politik der Übergangsjustiz in neuen 21 Timothy Garton Ash, The Magic Latern: The Revolution of ’89 Witnessed in Warsaw, Budapest, Berlin and Prague, Random House, 1990.22 Ralf Dahrendorf, Betrachtungen über die Revolution in Europa, 1990, S. 9 f. (Reflections on the Revolution in Europe, Random House, 1990, S. 8).23 Huntington aaO., S. 231.24 Vgl. Ruti Teitel, Transitional Justice as Liberal Narrative, in: András Sajó (Hg.), Out of and Into Authoritarian Law, Kluwer Law International, 2003, S. 6.25 András Sajó, Erosion and Decline of the Rule of Law in Post-Communism: An Introduction, in: ders. (Hg.) aaO., S. XIX.26 Vgl. Jon Elster, On Doing What One Can: An Argument Against Post-Communist Restitution and Retribution, East Eur. Const. Rev., Bd. 1, Heft 2 (Sommer 1992), S. 15 ff.

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Demokratien laufen im wesentlichen darauf hinaus, einerseits den Status der Opfer als Rechtsträger anzuerkennen und andererseits das Vertrauen der Bürger zu fördern27. Mit einer engen Definition bezeichnet Jon Elster Übergangsjustiz als den „rechtlichen und administrativen Prozeß, der sich nach einem politischen Wandel vollzieht, um sich mit dem Fehlverhalten des früheren Regimes auseinanderzusetzen“28. Garrett legt eine weitergefasste Definition zugrunde, wenn er ausführt: „Im Kern geht es bei der Übergangsjustiz vor allem um die Maßnahmen und Grundsätze der Erinnerung. Die fundamentalen Fragen, die sich der neuen demokratischen Regierung und ebenso auch oder vielleicht sogar noch drängender der Bevölkerung stellen, lauten, was von der Vergangenheit in Erinnerung bleiben soll, wie Vergangenheit zu definieren ist, was hinsichtlich der Vergangenheit ‚zu tun‘ ist und wie sich all dies auf Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft auswirken kann (oder wird)“29. Mit anderen Worten: Die neuen Staaten müssen bestrebt sein, ihre diversen Pflichten gegenüber den Opfern von Menschenrechtsverletzungen und gegenüber der Gesellschaft zu erfüllen30.

<RNA>75<RNE><MA>Pflichten der Übergangsjustiz<ME>Diese Pflichten können Folgendes umfassen:– Gerechtigkeit schaffen, das heißt Verfolgung und Bestrafung von Tätern, wenn sich ein krimineller Charakter der Handlung feststellen läßt;– den Opfern einen Anspruch darauf zuerkennen, die Wahrheit zu erfahren; dies beinhaltet die Möglichkeit, jeden einzelnen Aspekt von Übergriffen zu ermitteln, die immer noch geheimgehalten werden, und diese Wahrheit den Justizopfern, ihren Angehörigen und der Gesellschaft insgesamt zu offenbaren;– Entschädigung der Opfer in einer Weise, die ihren Wert und ihre Würde als menschliche Wesen anerkennt; Schadensersatz in angemessener Höhe ist sicherlich Teil dieser Pflicht, aber sie sollte darüber hinaus so verstanden werden, daß dazu auch immaterielle Gesten, mit denen das angetane Leid anerkannt wird, und eine Entschuldigung im Namen der Gesellschaft gehören;– Pflicht der Staaten, dafür Sorge zu tragen, daß Personen, die in irgendeiner Dienststellung in den Streit- und Sicherheitskräften des Staates Straftaten begangen haben, nicht weiterhin bei rekonstituierten demokratischen Rechtsvollzugsstellen oder Einrichtungen im Sicherheitsbereich tätig sind.

<RNA>75<RNE><MA>Offenlegung der Wahrheit als Alternative<ME>Nicht alle diese vier Verpflichtungen kommen unbedingt in jedem Fall eines Übergangs zum Tragen. Wie Huntington darlegt, sind Strafverfolgungen bei Transformationen und Verdrängungen nicht empfehlenswert. Was unter „Gerechtigkeit“ zu verstehen ist, hängt allein von demjenigen ab, der die tatsächliche politische Macht ausübt. Roger Errera formuliert das so: „Erinnerung ist die letztgültige Form der Gerechtigkeit“31. Insofern kann die Offenlegung der Wahrheit eine Alternative zu Verfolgung und Bestrafung darstellen. Es gibt jedoch auch noch andere legitime Gründe für das Unterlassen einer Strafverfolgung. So ist möglicherweise eine Nachfolgeregierung nicht in der Lage, die in einem früheren Regime

27 Pablo de Greiff, Vetting and Transitional Justice, in: Alexander Mayer-Rieckh/ders. (Hg.): Justice As Prevention. Vetting Public Employees in Transitional Societies, Social Science Research Council, New York, 2007, S. 524.28 Jon Elster: Memory and Transitional Justice, abrufbar unter http://web.mit.edu/rpeters/papers/elster_memory.pdf, 2007, S. 1.29 Stephen Garrett, Models of Transitional Justice: A Comparative Analysis, Columbia International Affairs Online, Juni 2000, abrufbar unter http://www.ciaonet.org/isa/gas02.30 Vgl. Juan E. Méndez, In Defense of Transitional Justice, in: A. James McAdams (Hg.), Transitional Justice and Rule of Law in New Democracies, University of Notre Dame Press, 1997, S. 11 f.31 Vgl. Roger Errera, Dilemmas of Justice, 1 East Eur. Const. Rev. 21, 22 (Sommer 1992).

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für Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen strafrechtlich zu verfolgen, wenn die unter der Kontrolle des alten Regimes stehenden oder sich diesem gegenüber loyal verhaltenden Sicherheitskräfte so mächtig sind, daß jeder Versuch, diese Verantwortlichen oder ihre politischen Verbündeten zu belangen, Ereignisse auslösen könnte, die den Übergang gefährden. <MA>Unüberwindliche praktische Schwierigkeiten<ME>Ein weiterer Grund kann darin bestehen, daß unüberwindliche praktische Schwierigkeiten dem Staat eine Bestrafung unmöglich machen: z.B. Fehlen von Beweisen, nicht funktionierende Strafrechtspflege, wirtschaftliche Krise, extrem lange Vorbereitungszeiten32. Auch Strafen in Form einer Disqualifizierung, die als Mittel der Entkommunisierung dienen kann, sind nicht zwangsläufig Bestandteil des Übergangs. Im Schrifttum wird vielfach die Auffassung vertreten, daß Entkommunisierung auf der inkohärenten Vorstellung einer Kollektivschuld beruhe und keinen Prozeß darstelle, dem sich eine souveräne Nation bereitwillig unterziehe, sondern eher ein Machtspiel der Elite33. Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, geht es den Normalbürgern in Mittel- und Osteuropa eher um die persönliche Sicherheit und das Überleben im Alltag – populäre Forderungen nach Rache sind recht selten laut geworden.

<RNA>75<RNE><MA>Staatliche Reaktionen auf Lustrationsforderungen<ME>Die neuen Regierungen haben auf diese Forderungen nach Reinigung, „Lustration“, oder zumindest nach Auskunft über diejenigen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, unterschiedlich reagiert. Auf Druck früherer Dissidenten aus dem Osten hat die deutsche Regierung die Akten geöffnet und die Vergangenheit durch öffentliche Anprangerung aufgearbeitet. Die damalige Tschechoslowakische Republik ging vielleicht am schärfsten vor, unterwarf nahezu jedermann einer Überprüfung anhand der Aufzeichnungen der Geheimpolizei und ging von einer Schuldvermutung aus, wenn der Betreffende dort verzeichnet war. Polen hat sich mit der Problematik befaßt, allerdings kaum im Wege einer öffentlichen Auseinandersetzung. <MA>„Wohlstand ist die beste Rache“<ME>Ungarn ist der Meinung, die Vergangenheit lasse sich am besten bewältigen, wenn es einem in der Gegenwart besser gehe; mit anderen Worten, für den neuen ungarischen Staat gilt die Devise: „Wohlstand ist die beste Rache“34.

<RNA>75<RNE><MA>Verdeutlichung des Umbruchs<ME>In Erfüllung ihrer Pflichten haben die Nachfolgestaaten offenbar zwei verschiedene Wege gefunden, den Umbruch zwischen dem alten Regime und der neuen Ordnung zu verdeutlichen:1. Heranziehung derjenigen, die sich am Unrecht des alten Regimes beteiligt oder Vorteile daraus gezogen haben;2. Einhaltung der von der neuen Regierung proklamierten Grundsätze der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit35.Der erste Weg umfaßt die Aufarbeitung der Geschichte, der zweite blickt in die Zukunft. <MA>Übergangsjustiz<ME>Herkömmlicherweise wird unter dem Begriff der Übergangsjustiz zwar die Art und Weise der Vergangenheitsaufarbeitung und Vergangenheitsbewältigung verstanden, dieser Beitrag wird sich jedoch auch mit den institutionellen (einschließlich der konstitutionellen) Reformen als zukunftsorientierte Aspekte des Übergangs befassen.

32 Vgl. Paul van Zyl, Justice without Punishment: Guaranteeing Human Rights in transitional Societies, in: Sajó (Hg.) aaO., S. 54 ff.33 Vgl. Stephen Holmes, The End of Decommunization, East Eur. Const. Rev. Bd. 3, Heft 3 und 4 (Sommer/Herbst 1994), S. 33 ff.34 Vgl. Gábor Halmai und Kim Lane Scheppele, Living Well Is the Best Revenge: The Hungarian Approach to Judging the Past, in: A. James McAdams (Hg.) aaO., S. 155 ff.35 Neil J. Kritz, The Dilemmas of Transitional Justice, in: Kritz (Hg.): Transitional Justice. How Emerging Democracies Reckon with Former Regimes. Vol. I. General Considerations, US Institute of Peace Press, Washington, DC, 1995, S. xix.

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<RNA>75<RNE><MA>„Vier Wege zur Wahrheit“<ME>Weiter unten werden die verschiedenen Ansätze des Umgangs mit der Vergangenheit behandelt, die Timothy Garton Ash als die „vier Wege zur Wahrheit“ bezeichnet:1. Rechtliche Verfahren, Gerichtsprozesse;2. Überprüfung und Lustration der Beamten;3. Wahrheits- und Versöhnungskommissionen;4. Zugang zu den Akten der ehemaligen Geheimpolizei36.

<RNA>75<RNE><MA>Entschädigungspflicht<ME>Zahlreiche Autoren fügen dieser Liste von Ansätzen eine fünfte Vorgehensweise zur Vergangenheitsbewältigung hinzu, nämlich die Herausgabe von Vermögensgegenständen oder eine materielle Entschädigung der Opfer. Diese Frage soll hier nicht vertieft werden, jedoch bildet sich im Völkerrecht zunehmend der Konsens heraus, daß der Staat verpflichtet ist, die Opfer eklatanter Menschrechtsverletzungen der Regierung zu entschädigen, und daß in Fällen, in denen das Regime, das die betreffenden Handlungen begangen hat, keine Entschädigung leistet, die Entschädigungspflicht auf die Nachfolgeregierung übergeht37.

<RNA>75<RNE><MA>Wahrheitskommissionen<ME>Da historische Untersuchungskommissionen, die in Südafrika und Lateinamerika eingerichtet wurden und in einigen Fällen zur Gänze international besetzt waren, wie etwa die Wahrheitskommission für El Salvador oder die Kriegsverbrechertribunale der Vereinten Nationen für Ruanda, in Mittel- und Osteuropa nicht eingesetzt wurden, wird diesem Ansatz hier nicht weiter nachgegangen38. Aber es ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, daß ein Großteil der Funktionen dieser Kommissionen – vollständige, amtliche Darstellung und Anerkennung der Vergangenheit – durch den Zugang zu den Unterlagen des ehemaligen Regimes erfüllt wird.

D. Gerechtigkeit schaffen: Rückwirkung und Rechtsstaatsprinzip

<RNA>75<RNE><MA>Auftrag an die Übergangsregierungen<ME>Allen Übergangsregierungen stellt sich die grundlegende Frage, ob die Führer des abgesetzten Regimes wegen der von ihnen an der Nation verübten Untaten strafrechtlich verfolgt werden sollen. Teilweise wird die Auffassung vertreten, daß die Aburteilung und Bestrafung dieser Personen zur Erreichung eines gewissen Maßes an Gerechtigkeit notwendig sei, während andererseits geltend gemacht wird, daß es sich dabei einfach nur um einer Demokratie unwürdige Schauprozesse und Manifestationen einer Siegerjustiz handele. Nach dem Tod Francos gab es im Rahmen der relativ friedlichen spanischen Wende eine allseitige Amnestie, während in Griechenland und in Südafrika (nach der Apartheid) eine allumfassende Amnestie nicht durchführbar war.

<RNA>75<RNE><MA>Entgegenstehende Strafrechtsgrundsätze<ME>Entscheidet man sich für eine Strafverfolgung, kann der Wunsch, Kriminalstrafen zu verhängen, gegen Grundsätze der demokratischen Rechtsordnung wie etwa ex post facto und nulla poena sine lege verstoßen, die eine Bestrafung wegen Handlungen verbieten, die zum Zeitpunkt der Begehung nicht strafbar waren. Nach dem Krieg wurden in Frankreich zum Beispiel Tausende von Menschen nach einem Gesetz von 1944, mit dem der neue Straftatbestand der

36 Vgl. Timothy Garton Ash, The Truth About Dictatorship, in: The New York Review of Books, 19.2.1998.37 Vgl. z.B. Kritz aaO., S. XXVI f.38 Verschiedene Varianten von Wahrheitskommissionen sind ausführlich in jedem der drei Bände von Kritz (Hg.), Transitional Justice (FN 35), dargestellt.

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„nationalen Unwürde“ geschaffen worden war, wegen Handlungen angeklagt, die sie vor Erlaß des Gesetzes begangen hatten.

<RNA>75<RNE><MA>Verjährung unverfolgter Menschenrechtsverletzungen?<ME>Einige der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen waren auch schon im alten System strafbar, wurden aber selbstverständlich nicht verfolgt. Können die neuen Einrichtungen die Täter für ihre Handlungen zur Verantwortung ziehen, wenn zum Zeitpunkt der Wende die Verjährungsfrist für diese Straftaten bereits abgelaufen war? In Ungarn und in der Tschechischen Republik ist der postkommunistische Gesetzgeber davon ausgegangen, daß die Verjährungsfrist vor der Wende nicht zu laufen begonnen habe, da die Straftaten, insbesondere diejenigen zur Unterdrückung abweichender Meinungen im Jahr 1956 bzw. 1968, allein aus politischen Gründen nicht verfolgt worden seien. Angesichts der nunmehr eingetretenen Befreiung der Justiz von der politischen Bevormundung könne die Verjährungsfrist für diese Verbrechen erneut in Gang gesetzt werden, so daß die neuen Behörden die Möglichkeit hätten, diese Jahrzehnte zurückliegenden Straftaten zu verfolgen. <MA>Verfassungsgerichtliche Antworten<ME>Es kam zur Verabschiedung entsprechender Gesetze, die aber in beiden Ländern dem jeweils neu geschaffenen Verfassungsgerichtshof zur Kontrolle vorgelegt wurden. Beide Gerichtshöfe erließen Urteile, in denen eloquent die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der Frage der Altschuld und der Verantwortlichkeit im Kontext des Bekenntnisses der neuen Demokratie zum Rechtsstaatsprinzip dargelegt wird. Auf dieser Grundlage – bei offenkundig ähnlichen Sachverhaltsmustern – entschied der tschechische Verfassungsgerichtshof, daß der Neubeginn der Verjährungsfrist für Verbrechen des alten Regimes ein Gebot der Gerechtigkeit sei, während der ungarische Gerichtshof die Maßnahme als Verletzung des Rechtsstaatsprinzips verwarf.

<RNA>75<RNE><MA>Gesetz über rückwirkende Strafbarkeit in Ungarn<ME>In Ungarn erließ das erste gewählte Parlament ein Gesetz über die Verfolgung der zwischen dem 21. Dezember 1944 und dem 2. Mai 1990 begangenen Straftaten. Nach dem Gesetz sollte die Verjährungsfrist für die Straftatbestände des Verrats, des vorsätzlichen Totschlags und der Körperverletzung mit Todesfolge ab dem 2. Mai 1990 (dem Tag der Konstitution des ersten gewählten Parlaments) erneut beginnen – allerdings nur in denjenigen Fällen, in denen „die Unterlassung des Staates, die genannten Straftaten zu verfolgen, auf politischen Gründen beruhte“. Der ungarische Staatspräsident, Árpád Göncz, fertigte das Gesetz nicht aus, sondern verwies es an den Verfassungsgerichtshof.

<RNA>75<RNE><MA>Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit<ME>Mit einstimmigem Urteil39 wies der Verfassungsgerichtshof den Versuch des Parlaments zur Einführung einer rückwirkenden Strafbarkeit zurück und stützte sich dabei auf einen Großteil der Gründe, die Göncz in seiner Vorlage angeführt hatte. Das vorgesehene Gesetz verstoße gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, dessen Wahrung in einem konstitutionellen Rechtsstaat garantiert sein müsse. Außerdem sei der Wortlaut des Gesetzes vage (unter anderem habe sich der Begriff „politische Gründe“ in der von dem Gesetz erfaßten langen Zeitspanne stark verändert, und auch die Definition der Straftatbestände selbst habe sich in dieser Zeit gewandelt). Die Grundsätze des Strafrechts – keine Strafe ohne Straftat und keine Straftat ohne Gesetz – seien eindeutig durch eine rückwirkende Änderung der Verjährungsregelung verletzt; rückwirkende Änderungen der Rechtsvorschriften seien nur zulässig, soweit sie sich zugunsten des Angeklagten auswirkten. Gestützt auf die Verfassungsbestimmungen, wonach sich Ungarn als konstitutioneller Rechtsstaat versteht und eine Bestrafung ohne ein zum Zeitpunkt der Tat in

39 Entscheidung des Verfassungsgerichts der Republik Ungarn 11/1992 (III. 5.) AB.

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Kraft befindliches Gesetz unzulässig ist, erklärte der Gerichtshof das Gesetz für verfassungswidrig40.

<RNA>75<RNE><MA>Das Urteil des tschechischen Verfassungsgerichtshofs von 1999<ME>Mit Urteil vom 21. Dezember 1993 zum Gesetz über die Unrechtmäßigkeit des kommunistischen Regimes wies der Verfassungsgerichtshof der Tschechischen Republik die Beschwerde einer Gruppe von Abgeordneten des tschechischen Parlaments zurück und erklärte ein Gesetz für verfassungsmäßig, mit dem die Verjährung zwischen 1948 und 1989 für Straftaten ausgesetzt wurde, die aus „politischen Gründen, die mit den Grundsätzen der Rechtsordnung eines demokratischen Staats nicht vereinbar sind“, nicht verfolgt worden sind41. <MA>Bezug zur BVerfG-Rechtsprechung<ME>Die tschechische Entscheidung stützt sich zum Teil auf einen Beschluß des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 24. Oktober 199642, mit dem die Verurteilung ehemaliger DDR-Beamter bestätigt worden war, denen die Teilnahme an der Übermittlung des Schießbefehls zur Last gelegt worden war, der zur Tötung von 260 Menschen geführt hatte, die zwischen 1949 und 1989 die Überquerung der Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland versucht hatten. Das Bundesverfassungsgericht hatte das Vorbringen der Verteidigung zurückgewiesen, die auf die Bestimmung des Grundgesetzes verwiesen hatte, wonach „[e]ine Tat … nur bestraft werden [kann], wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde“, und geltend gemacht hatte, daß nach Art. 103 Abs. 2 GG die Verfolgung solcher Taten verboten sei. Das Bundesverfassungsgericht entschied, daß diese Vorschrift zurücktreten müsse, wenn ein Staat (die DDR) seine Gesetze dazu benutze, eindeutige Verletzungen allgemein anerkannter Menschenrechte zu rechtfertigen.

<RNA>75<RNE><MA>Rechtssicherheit versus Gerechtigkeit<ME>In dem wiedervereinigten Deutschland illustrieren die Prozesse gegen die Grenzsoldaten wegen der Schüsse an der Berliner Mauer43 einmal mehr das von den ungarischen Verfassungsrichtern formulierte Dilemma, ob „die auf formellen und objektiven Kriterien beruhende Rechtssicherheit wichtiger ist als eine zwangsläufig parteiische und subjektive Gerechtigkeit“. Nach den Grenzschutzvorschriften der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik waren die Soldaten berechtigt, bei „Handlungen … [wie] das widerrechtliche Passieren der Staatsgrenze“ von der Schußwaffe Gebrauch zu machen. Diese Handlungen waren sehr weit definiert und umfaßten auch den gemeinschaftlichen Versuch der Grenzüberquerung durch zwei Personen oder Handlungen von „besonderer Intensität“. An der Grenze war eine strenge Durchsetzung der Vorschriften üblich: Die Vorgesetzten betonten, daß „Grenzverletzungen um jeden Preis zu verhindern“ waren. Die deutschen Instanzgerichte übernahmen die Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts44 und verliehen bei Vorliegen besonderer Umstände dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit Vorrang vor dem Grundsatz der Rechtssicherheit.

<RNA>75<RNE><MA>Entgegengesetzte Lösungen des Gerechtigkeits-Dilemmas<ME>Somit wurde das Dilemma von dem ungarischen Verfassungsgerichtshof auf der einen Seite und vom tschechischen Verfassungsgerichtshof und dem deutschen Bundesverfassungsgericht auf der anderen Seite ähnlich formuliert, jedoch entgegengesetzt gelöst: Das ungarische Gericht hat das Rechtsstaatsprinzip im Sinne des

40 Eine Übersetzung der Entscheidung in die englische Sprache findet sich bei László Sólyom und Georg Brunner, Constitutional Judiciary in a New Democracy. The Hungarian Constitutional Court, The University of Michigan Press, Ann Arbor, 2000, S. 214 ff. (im folgenden: Sólyom/Brunner).41 Englische Übersetzung bei Kritz (Hg.), Bd. III Transitional Justice (FN 35), S. 620 ff.42 BVerfGE 95, 96 Ls. 3 (137 f.).43 Vgl. BGHSt 39, 1 (15 ff.); 40, 241 (243 ff.).44 Vgl. BVerfGE 95, 96 ff.

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Rechtssicherheitsgebots ausgelegt, während das tschechische und das deutsche Gericht das Rechtsstaatsprinzip im Sinne des materiellen Gerechtigkeitsgebots verstanden haben45.

E. Verwaltungssanktionen: Überprüfung und Lustration

<RNA>75<RNE><MA>Entfernung aus dem Dienst<ME>Eine ebenso große Herausforderung für die Übergangsdemokratien und für das Rechtsstaatsprinzip stellen die verschiedenen nichtstrafrechtlichen Verwaltungssanktionen dar, die allesamt bezwecken, diejenigen Personen, die dem repressiven Regime gedient haben, aus dem öffentlichen Sektor zu entfernen. Ziel dieser Vorgänge ist die Verhinderung weiterer Menschenrechtsverstöße durch Personalreformen, indem Personen, denen es an Integrität fehlt, aus öffentlichen Einrichtungen ausgeschlossen werden, oder zumindest indem die Allgemeinheit, vor allem die Wähler, über die Vergangenheit der Kandidaten für öffentliche Ämter informiert werden. In den letztgenannten Fällen (mildere Formen der Lustration) besteht die Sanktion einzig und allein in der Veröffentlichung der Daten über die Mitwirkung der Beamten in einer der repressiven Einrichtungen, etwa in der Geheimpolizei des alten Regimes. <MA>Förmliches Verfahren<ME>Neben der Lustration in ehemals kommunistischen Ländern ist der Ausschluß mißbräuchlich handelnder oder unfähiger Mitarbeiter mit dem Ziel, eine Wiederholung von Menschenrechtsmissbräuchen zu verhindern sowie faire und effiziente öffentliche Einrichtungen aufzubauen, ganz allgemein für Länder kennzeichnend, die aus einem Konflikt oder aus autoritären Regimen hervorgehen. Beispiele aus jüngerer Zeit sind die Bemühungen der Vereinten Nationen zur Überprüfung von Personen in El Salvador, Bosnien und Herzegowina, Liberia und Haiti, aber auch die „Entbaathifizierung” im Nachkriegsirak. Wie es im Bericht des Generalsekretärs über Rechtsstaatlichkeit und Übergangsjustiz in Konflikt- und Postkonfliktgesellschaften heißt: „Die Überprüfung umfaßt in der Regel ein förmliches Verfahren zur Identifizierung und Entfernung der für Missbräuche verantwortlichen Personen insbesondere aus der Polizei, dem Strafvollzugsdienst, der Armee und der Judikative“46.

<RNA>75<RNE><MA>Behutsamere Übergänge<ME>Man darf jedoch nicht vergessen, daß es zahlreiche Übergänge gegeben hat, bei denen keinerlei Überprüfung oder Lustration – noch nicht einmal in den wichtigsten Organen des Rechtsstaats – stattgefunden hat (beispielsweise in Spanien, Chile, Argentinien, Guatemala, Südafrika); und auch in Mittel- und Osteuropa vollzogen sich neben den eher umfangreichen Überprüfungs- und Lustrationswellen, wie etwa in der Tschechischen Republik und in Ostdeutschland (der ehemaligen DDR), auch Übergänge, bei denen die Überprüfungen in nur sehr bescheidenem Ausmaß oder nur sektorspezifisch durchgeführt wurden, so etwa in Polen und Ungarn. Während des revolutionären Wandels in Ostdeutschland und in der Tschechoslowakei nach der „samtenen“ Revolution von 1989 ist die Überprüfung und Lustration als Teil einer allgemeinen Politik der Entkommunisierung zu betrachten, der genau auf die personelle 45 Das Dilemma einer Nachfolgejustiz, mit dem diese Gerichte konfrontiert waren, gehört zu den Themen einer lebhaften Diskussion über die Natur des Rechts; die Erörterung bei H.L.A. Hart und Lon Fuller zur Übergangsjustiz befaßt sich mit der Beziehung zwischen Recht und Moral, zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht. Während H.L.A. Hart (Positivism and the Separation of Law and Morals, Harvard Law Review 71, 1958, S. 593) den Positivismus verteidigt, weist Fuller die von Hart vorgetragene abstrakte Formulierung des Problems zurück und konzentriert sich stattdessen auf Nachkriegsdeutschland. Mit dem Argument, daß die von Hart abgelehnte gezielte Aufweichung rechtsstaatliche Erwägungen über Erwägungen der materiellen Gerechtigkeit im Strafrecht erhebe, hält Fuller eine Aufweichung im Interesse der Wahrung der Moralität des Rechts für gerechtfertigt. Vgl. Lon L. Fuller, Positivism and Fidelity to Law – A Reply to Professor Hart, Harvard Law Review 71, 1958, S. 630. Zu dieser Debatte vgl. Ruti G. Teitel: Transitional Justice, Oxford University Press, 2000, S. 12 ff.46 UN Doc. S/2004/616, S. 17.

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Dimension des Gesamtprozesses der postkommunistischen politischen und rechtlichen Transformation ausgerichtet war47.

<RNA>75<RNE><MA>Überprüfung im vereinigten Deutschland<ME>Die Überprüfung im vereinigten Deutschland fand in zwei verschiedenen Bereichen statt: Einerseits wurden Repräsentanten auf Kommunal-, Länder- und Bundesebene häufig über ihr „Vorleben“ in der Deutschen Demokratischen Republik befragt. In einigen Ländern durften Personen, die für die „Stasi“ (den Staatssicherheitsdienst der DDR) gearbeitet hatten, nicht für Bürgermeisterwahlen kandidieren. Da Parlamentarier jedoch nicht wegen eines zuvor nicht strafbaren Fehlverhaltens abgesetzt oder angeklagt werden können, war die Durchleuchtung der Parlamente nicht geeignet, über die Bekundung öffentlicher Mißbilligung seitens der „sauberen“ Parteien hinaus zu weiteren Konsequenzen zu führen. Die Überprüfung des ostdeutschen öffentlichen Sektors hatte dagegen tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben vieler Bürger, auf die Legitimität der Institutionen und auf die Wahrnehmung von Schuld48.

<RNA>75<RNE><MA>Überprüfung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst<ME>Die Überprüfung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst war Teil eines breiter angelegten Schrumpfungsprozesses in diesem Bereich. 1989 waren im öffentlichen Sektor der DDR 2,2 Millionen Mitarbeiter tätig. Aufgrund von Privatisierungen und Entlassungen verringerte sich diese Zahl bereits lange vor Abschluß des Personalabbaus im Frühjahr 1991 auf 1,2 Millionen. <MA>Umstrukturierung<ME>Überprüfungen waren der erste Schritt eines umfangreichen Vorgangs der Umstrukturierung und der Reduzierung der Beschäftigtenzahl. Durch Befragung und durch Untersuchungen sollten alle Mitarbeiter identifiziert werden, die für eine weitere Tätigkeit im öffentlichen Dienst eines demokratischen Staats ungeeignet waren. Im Anschluß an die Überprüfungsphase erfolgte eine Beurteilung der beruflichen Eignung der Beschäftigten im Hinblick auf die Stellung, die sie innehatten oder nach der Umstrukturierung innehaben würden. Schließlich wurde die Zahl derjenigen, deren persönliche Integrität und berufliche Eignung über jeden Zweifel erhaben waren, mit der sinkenden Anzahl der Arbeitsplätze abgeglichen, was zu weiteren Entlassungen führte.

<RNA>75<RNE><MA>Anforderungen der Praxis<ME>Überprüfungen wurden erstmals im Herbst 1989 vorgeschlagen und begannen, mitunter in informellen Verfahren, im Frühjahr 1990. Damals waren die Überprüfungen einfach als Reaktion auf zurückliegendes Fehlverhalten konzipiert, bei der der Umstand, inwieweit sich die Ansichten und das Verhalten einer Person nach 1989 geändert hatten, keine große Rolle spielte. In den Rechtsgrundlagen für die Vornahme der Überprüfungen war als Zweck der Maßnahme jedoch die Beurteilung der gegenwärtigen und zukünftigen Zuverlässigkeit des Mitarbeiters in einem demokratischen öffentlichen Dienst angegeben. Das Überprüfungsverfahren war zwar in einer Generalvorschrift des Einigungsvertrags49 geregelt, wurde aber in der Praxis je nach Sektor, Land und Verwaltungsbehörde unterschiedlich gehandhabt. Institutionen, deren moralische Autorität in höherem Maße auf dem ihnen von der Allgemeinheit entgegengebrachten Vertrauen beruht, also etwa Gerichte und Universitäten, entschieden sich in der Regel für intensivere Verfahren. <MA>Überprüfungskommissionen<ME>Die für diese Einrichtungen zuständigen Überprüfungskommissionen setzten sich aus Insidern

47 Vgl. Jiri Priban, Oppressors and Their Victims. The Czech Lustration Law and the Rule of Law, in: Mayer-Rieckh, Alexander/Greiff, Pablo de (Hg.): Justice As Prevention. Vetting Public Employees in Transitional Societies, Social Science Research Council, New York, 2007, S. 308 ff.48 Vgl. Christiane Wilke, The Shield, the Sword, and the Party: Vetting the East German Public Sector, in: Mayer-Rieckh, Alexander/Greiff, Pablo de (Hg.): Justice As Prevention. Vetting Public Employees in Transitional Societies, Social Science Research Council, New York, 2007, S. 348 ff.49 Art. 20 Abs. 1 i.V.m. Anl. 1 Kap. XIX Sachgebiet A Abschn. III Nr. 1 v. 31.8.1990 (BGBl. II S. 883).

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und Vertretern der Zivilgesellschaft oder des Juristenstandes zusammen, die die Unparteilichkeit und Fairness des gesamten Prozesses gewährleisten sollten. In anderen Bereichen des öffentlichen Sektors, etwa in Kommunalverwaltungen, war das Überprüfungsverfahren entsprechend den für den jeweiligen Beschäftigten vorgesehenen Aufgaben und seiner öffentlichen Wahrnehmbarkeit differenziert ausgestaltet. Die Kommissionen wurden innerhalb der Institutionen ohne Wahlen gebildet. Sie betrachteten ihre Tätigkeit als reine Verwaltungsangelegenheit. <MA>Ergebnisse<ME>Die von den Überprüfungskommissionen am häufigsten untersuchte Kategorie des Fehlverhaltens war die Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS, allgemein Stasi genannt). Den verfügbaren Zahlen zufolge mußten durchschnittlich 30 v.H. bis 45 v.H. aller als MfS-Informanten verzeichneten Personen ihren Arbeitsplatz verlassen. Viele entschieden sich für eine einvernehmliche Auflösung des Beschäftigungsverhältnisses, wodurch ihnen die Peinlichkeit einer Entlassung erspart blieb, gleichzeitig aber auch die Möglichkeit genommen wurde, die Entlassung bei Gericht anzufechten.

<RNA>75<RNE><MA>Ausrichtung auf inoffizielle Stasi-Informanten<ME>Obwohl das Überprüfungsverfahren eigentlich zur Aufdeckung verschiedener Formen nichtkriminellen Fehlverhaltens dienen sollte, wurde es allgemein als Fahndung nach MfS-Informanten aufgefaßt. Diese Gleichsetzung ist auf eine Einengung des Überprüfungsfokus aufgrund der verfügbaren Beweismittel und der gesetzlich festgelegten Kriterien zurückzuführen. Die Konzentration auf das MfS war nicht Ausdruck einer vorweggenommenen Einschätzung der relativen Verantwortlichkeit des MfS, der kommunistischen Partei, das heißt der Sozialistischen Einheitspartei (SED), oder anderer Institutionen für begangenes Unrecht. Durch die aus pragmatischen Gründen erfolgte Ausrichtung gerade auf die inoffiziellen Stasi-Informanten wurden die diesem Personenkreis zuzurechnenden Menschen implizit als die Hauptschuldigen dargestellt. Andere Formen der Kollaboration mit dem MfS sowie der Machtmißbrauch der SED, des Gewerkschaftsbundes und anderer Organisation verloren gegenüber der Figur des MfS-Spitzels an Bedeutung50.

<RNA>75<RNE><MA>Die tschechische Lustration<ME>Die tschechische Lustration ist die im Gesetz Nr. 451/1991 der Gesetzessammlung „zur Festlegung einiger weiterer Bedingungen für die Besetzung bestimmter Ämter in staatlichen Einrichtungen und Betrieben der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik, der Tschechischen Republik und der Slowakischen Republik“ (sogenanntes „großes Lustrationsgesetz“)51 und im Gesetz Nr. 279/1992 der Gesetzessammlung „über bestimmte weitere Voraussetzungen für die Ausübung bestimmter Ämter, die durch Ernennung oder Berufung von Angehörigen der Polizei der Tschechischen Republik und Angehörigen des Strafvollzugsdienstes der Tschechischen Republik“ – sogenanntes „kleines Lustrationsgesetz“, weil es lediglich Lustrationsverfahren in bezug auf die Polizeikräfte und das Gefängniswesen umfaßt –, geregelt. Ihr liegt die Vorstellung zugrunde, daß die postkommunistische tschechoslowakische Gesellschaft sich ihrer Vergangenheit stellen und den Prozeß der Entkommunisierung durch juristische und politische Mittel ermöglichen müsse. Zweck ist die Auflistung einer Anzahl sorgfältig ausgewählter hoher Ämter in der Staatsverwaltung, die für Personen unzugänglich sein sollen, deren Loyalität gegenüber der neuen Regierung aufgrund ihrer während des kommunistischen Regimes wahrgenommenen politischen Aufgaben und ausgeübten Macht fragwürdig erscheint.

<RNA>75<RNE><MA>Listen von Ämtern und Tätigkeiten<ME>Die Rechtsvorschriften enthalten zwei insoweit relevante Listen von Ämtern und Tätigkeiten: In der ersten Liste

50 Ebd.51 Englische Übersetzung bei Kritz (Hg.), Bd. III Transitional Justice (FN 35), S. 312 ff.

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sind diejenigen Ämter aufgeführt, für die der Betreffende ein Lustrationsverfahren durchlaufen muß, ehe er ein Amt übernehmen kann, während in der zweiten Liste die unter dem kommunistischen Regime ausgeübten Machtpositionen und Tätigkeiten aufgezählt sind, die eine Person, die sich um eine in der ersten Liste bezeichnete Stelle bewirbt, disqualifizieren. Trotz der großen Bandbreite der Ämter, für die das Lustrationsverfahren vorgeschrieben ist, sind die in allgemeinen demokratischen Wahlen zu vergebenden Positionen nicht von dem Gesetz erfaßt. Zu den durch die Lustrationsvorschriften geschützten Bereichen gehören der Öffentliche Dienst, leitende Verwaltungspositionen in allen Verfassungsorganen, Armeedienstränge vom Dienstgrad Oberst an aufwärts, die Polizei, der Nachrichtendienst, die Staatsanwaltschaft, die Richterschaft, Notariate, Staatsbetriebe und Unternehmen mit Mehrheitsbeteiligung des Staats, die Nationalbank, die staatlichen Medien und Presseagenturen, universitäre Verwaltungspositionen vom Dekan an aufwärts sowie der Vorstand der Akademie der Wissenschaften.

<RNA>75<RNE><MA>Disqualifizierende Positionen und Tätigkeiten im ehemaligen Regime <ME>Als disqualifizierende Positionen und Tätigkeiten im ehemaligen Regime gelten politische Tätigkeiten, Tätigkeiten in der repressiven Geheimpolizei, im Staatssicherheitsdienst und im Nachrichtendienst, sowie die Kollaboration mit diesen Diensten. Die politischen Ämter und Tätigkeiten, die zur Disqualifikation führen, umfassen Sekretäre der kommunistischen Partei vom Rang eines Bezirkssekretärs an aufwärts, Mitglieder der Verwaltungsräte von der Ebene der KP-Bezirkskomitees an aufwärts, Mitglieder des KP-Zentralkomitees, politische Propagandasekretäre der Komitees, Mitglieder der Parteimiliz, Mitglieder der Beschäftigungsüberprüfungskomitees nach dem kommunistischen Umsturz von 1948 und dem Einmarsch des Warschauer Pakts von 1968 sowie Absolventen der Propaganda- und Sicherheitshochschulen der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion und in der Tschechoslowakei. <MA>Ausnahmen<ME>Nicht betroffen sind diejenigen Parteisekretäre und Mitglieder der Verwaltungsräte der Parteikomitees, die zwischen dem 1. Januar 1968 und dem 1. Mai 1969 tätig waren, das heißt während der Demokratisierungsperiode des „Prager Frühlings 1968“, der im August 1968 durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts ein Ende fand.

<RNA>75<RNE><MA>Begnadigung wegen „Sicherheitsbedenken“<ME>Folgende Posten im Sicherheitsdienst, in der Geheimpolizei und im Nachrichtendienst wurden in den gesetzlichen Katalog aufgenommen: leitende Beamte der Sicherheitspolizei vom Dienstrang eines Abteilungsleiters an aufwärts, Angehörige des Nachrichtendienstes sowie Polizeiangehörige, die eine politische Agenda verfolgt haben. Gleichwohl sah das Gesetz ursprünglich eine Befugnis des Innenministers, des Leiters des Nachrichtendienstes sowie des Leiters der Polizeikräfte vor, Angehörige der ehemaligen Geheimpolizei zu begnadigen, wenn deren Entlassung „Sicherheitsbedenken“ auslösen würde.

<RNA>75<RNE><MA>Kollaboration<ME>Der umstrittenste Teil des Gesetzes ist die Liste der Tätigkeiten von Bürgern, die mit der Geheimpolizei zu tun hatten. Erfaßt werden Kollaborateure der Geheimpolizei wie Agenten, Eigentümer konspirativer Wohnungen und deren Mieter, Informanten, politische Mitarbeiter der Geheimpolizei sowie andere vorsätzliche Kollaborateure wie Treuhänder und Kollaborationskandidaten. <MA>Systemreflex<ME>Diese komplizierte Regelung reflektiert das von der kommunistischen Geheimpolizei aufgebaute System. Vor allem mußte geklärt werden, ob jemand vorsätzlich mit der Polizei kollaboriert hatte, indem er beispielsweise ein geheimes Dokument über die Kooperation als Agent unterzeichnet hatte, oder ob der Betreffende lediglich Zielperson der geheimpolizeilichen Tätigkeit war und möglicherweise unbeabsichtigt zur Informationsquelle im Rahmen einer Polizeivernehmung geworden war.

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<RNA>75<RNE><MA>Verfassungskonformität der Lustration<ME>Der Verfassungsgerichtshof der Tschechischen und Slowakischen Förderativen Republik bestätigte die generelle Verfassungskonformität des Gesetzes und führte aus, daß die Lustration grundsätzlich nicht gegen den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte oder das Übereinkommen von 1958 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf verstoße. Im übrigen erklärte der Verfassungsgerichtshof diejenigen Teile des Gesetzes für verfassungswidrig und damit für nichtig, in denen spezielle Befugnisse des Verteidigungsministers und des Innenministers geregelt waren, bestimmte Personen aus Gründen der Staatssicherheit vom Lustrationsverfahren auszunehmen. Diese Abschnitte stünden im Widerspruch zum Grundsatz der Gleichbehandlung und zum Grundsatz der geordneten Rechtspflege, die garantierten, daß auf Personen, die sich in derselben Lage befänden, dieselben Vorschriften anzuwenden seien52.

<RNA>75<RNE><MA>Ausschließlich Parteifunktionäre und -militärs als Adressaten<ME>Das Gesetz findet keine Anwendung auf normale Mitglieder der Kommunistischen Partei, sondern erfaßt nur kommunistische Parteifunktionäre und Parteimilitärs. Personen, deren Lustration einen Positivbefund mit dem Vermerk ergibt, daß sie mit der Geheimpolizei zusammengearbeitet haben, können trotzdem in der Politik aktiv bleiben, da das Gesetz nicht für Ämter und Positionen gilt, über die in allgemeinen Wahlen entschieden wird. <MA>Selbstregulierung durch Parteien<ME>Allerdings führten die politischen Parteien ganz überwiegend Selbstregulierungsmaßnahmen ein, denen zufolge alle Kandidaten einen Lustrationsbescheid mit „negativem Befund“ vorweisen müssen, um für Parlamentswahlen aufgestellt zu werden. Allein die kommunistische Partei weigerte sich, interne Lustrationsregeln anzuwenden. Es wurde somit eine gesetzliche Regelung geschaffen, aufgrund deren es durchaus möglich ist, daß Mitglieder des Parlaments und der Gemeinderäte durch geheimpolizeiliche Tätigkeit vorbelastet sind, während beispielsweise Dekane einer Universität ein Lustrationsverfahren durchlaufen müssen.

<RNA>75<RNE><MA>Keine Lustration im privatwirtschaftlichen Sektor<ME>Auch in dem sich herausbildenden privatwirtschaftlichen Sektor gab es keine Lustration. Privatunternehmen hatten keinen Zugang zu den Unterlagen der Geheimpolizei über ihre Beschäftigten und konnten daher keine „Privatlustrationen“ durchführen. Das Verfahren ist so ausgestaltet, daß der Betreffende beim Sicherheitsamt des Innenministeriums ein Lustrationszertifikat beantragen muß. Jedermann kann das Zertifikat beantragen, das Ministerium ist zur Ausstellung verpflichtet. Zwingend vorgeschrieben ist die Vorlage des Zertifikats nur für Personen, die einen im Lustrationsgesetz bezeichneten Arbeitsplatz innehaben oder sich für eine solche Stelle bewerben. Eine Organisation ist zur Beantragung der Lustration eines Beschäftigten nur berechtigt, wenn dessen Arbeitsplatz unter das Lustrationsgesetz fällt. <MA>Rechtsschutz<ME>Gegen die Feststellung eines „positiven Lustrationsbefunds“ kann der Betroffene Widerspruch beim Ministerium einlegen und im Fall der Zurückweisung des Widerspruchs Zivilklage gegen das Ministerium auf Schutz der „persönlichen Integrität“ erheben.

<RNA>75<RNE><MA>Befund der Lustrationsanträge und -zertifikate<ME>Den verfügbaren Zahlen für Mitte der neunziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts läßt sich entnehmen, daß bei ungefähr 5 v.H. aller Lustrationsanträge ein Zertifikat mit einem

52 Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik v. 26.11.1992 zum Überprüfungsgesetz. Englische Übersetzung bei Kritz (Hg.), Bd. III Transitional Justice (FN 35), S. 346 ff.

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Positivbefund erteilt wurde, das den Bewerber für das Amt disqualifiziert. Nach den jüngsten Daten geht die Zahl der positiven Lustrationsbefunde bei der Überprüfung zurück und liegt bei ungefähr 2 bis 3 v.H. aller Anträge, die seit Erlaß des Lustrationsgesetzes im Jahr 1991 beim Innenministerium eingegangen sind. Rund 9 000 Beamte und Agenten des Sicherheitsdienstes sowie KP-Funktionäre wurden von Ämtern in Regierung und öffentlicher Verwaltung, in der Judikative, in den staatlichen Medien, im Militär und in leitenden Hochschulpositionen ausgeschlossen53. Beim Ministerium wurden zwischen 6 000 und 8 000 Lustrationsanträge jährlich gestellt, die Zahl der zwischen 1991 und 2001 erteilten Lustrationszertifikate betrug 402 27054. Das Gesetz wurde ursprünglich mit einer Laufzeit von fünf Jahren erlassen, wurde in der Folgezeit vom Parlament jedoch mehrfach verlängert und wird auch heute noch in der Tschechischen Republik angewandt55.

<RNA>75<RNE><MA>Das polnische Lustrationsgesetz<ME>Das vom polnischen Parlament im April 1997 erlassene polnische Lustrationsgesetz56 trat formell im August 1997 in Kraft, konnte aber erst nach Schaffung der Abteilung V (Lustrationsgericht) des Appellationsgerichts Warschau im Dezember 1998 ausgeführt werden. Der Präsident des Obersten Gerichtshofs ernannte im Oktober 1998 einen Vertreter des öffentlichen Interesses, der am 1. Januar 1999 offiziell sein Amt antrat.

<RNA>75<RNE><MA>Pflicht zur Abgabe einer Lustrationserklärung<ME>Nach dem Gesetz sind alle vor dem 11. Mai 1972 geborenen Personen (mithin alle Personen, die vor dem Machtübergang 1989 nach dem Gesetz volljährig waren), die bestimmte aufgelistete öffentliche Positionen im Staat bekleiden oder sich für solche Stellen bewerben, zur Abgabe einer Erklärung über ihre Tätigkeit bei bzw. ihre Kollaboration mit den Sicherheitsdiensten (Organen der Staatssicherheit) im Zeitraum zwischen 1944 und 1990 verpflichtet. Die Pflicht zur Abgabe einer positiven oder negativen Lustrationserklärung obliegt einem breiten Personenkreis, dessen Mitglieder leitende Stellungen im Staat oder wichtige Positionen in der Staatsverwaltung einnehmen; hierzu zählen unter anderem der Staatspräsident, die Mitglieder des Parlaments, Senatoren, Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte sowie Personen, die Schlüsselpositionen im (öffentlichen) polnischen Rundfunk und Fernsehen, in der Polnischen Presseagentur und in der Polnischen Informationsagentur bekleiden.

<RNA>75<RNE><MA>Inhalt und Form der Erklärung<ME>Entsprechend dem Gesetzesanhang bestehen die Lustrationserklärungen aus zwei Teilen. Teil A enthält eine einfache Angabe darüber, ob der Erklärende für die Organe der Staatssicherheit tätig war bzw. mit ihnen kollaboriert hat oder nicht. Teil B (der nicht öffentlich bekannt gemacht wird) enthält Einzelheiten der Tätigkeit oder Kollaboration im Fall einer Positiverklärung. Die Tatsache der Abgabe einer Positiverklärung wird im Amtsblatt „Monitor Polski“ oder im Fall der Kandidatur für das Amt des Präsidenten oder für ein Abgeordnetenmandat in einer der beiden Parlamentskammern auch in den Wahlbekanntmachungen veröffentlicht. Die Namen aller Personen, die Positiverklärungen abgeben haben, erscheinen also im Amtsblatt, allerdings ohne Angaben über die Art der Kollaboration. Im Fall von Kandidaten für einen Sitz im Sejm, im Senat oder für das Amt des Staatspräsidenten steht neben ihrem Namen auf der Wahlbekanntmachung, in der die Namen aller Kandidaten aufgelistet sind,

53 Aleks Szcerbiak, Dealing with the Communist Past or the Politics of the Present? Lustration in Post-Communist Poland, Europe-Asia Studies, Bd. 54, Heft 4, Juni 2002, S. 553.54 Vgl. Priban aaO., S. 17.55 Die Slowakei ist z.B. den entgegengesetzten Weg gegangen, denn nach der Aufspaltung der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik wurde das Lustrationsgesetz von Mečiars populistischer Bewegung für eine demokratische Slowakei und den anderen Parteien in seiner Koalitionsregierung ignoriert.56 Einheitlicher Text im Dziennik Ustaw, 1999, Nr. 42, Pos. 428.

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daß sie eine positive Lustrationserklärung vorgelegt haben. Somit können Personen, die ihre Zugehörigkeit zu den Geheimdiensten oder ihre vorsätzliche Kollaboration mit diesen erklärt haben, trotzdem für das Amt kandidieren – die Entscheidung über ihre Zukunft liegt indes in den Händen der Wähler. Nach dem polnischen Lustrationsgesetz ist nur eine Lüge hinsichtlich einer Kollaboration mit den Geheimdiensten, nicht jedoch die Kollaboration als solche mit Sanktionen belegt.

<RNA>75<RNE><MA>Überprüfung negativer Lustrationserklärungen<ME>Die Überprüfung einer negativen Lustrationserklärung erfolgt durch den Vertreter des öffentlichen Interesses. Besteht der Verdacht einer unwahren Lustrationserklärung, macht der Vertreter des öffentlichen Interesses die Sache beim Lustrationsgericht anhängig. Gerichtsentscheidungen, mit denen eine Falscherklärung festgestellt wird, werden veröffentlicht. Die Rechtsfolgen einer solchen Gerichtsentscheidung richten sich nach der Position des Betroffenen. Sejmabgeordnete und Senatoren verlieren ihren Sitz, können aber bei den nächsten Wahlen kandidieren. Bei Richtern bedarf es zusätzlich einer Entscheidung des Disziplinargerichts.

<RNA>75<RNE><MA>Zahl und Ergebnis der Überprüfungen<ME>In der Zeit von 1999 bis 2004 gaben ungefähr 27 000 Personen eine Lustrationserklärung ab, die nach dem Lustrationsgesetz allesamt der Überprüfung durch den Vertreter des öffentlichen Interesses unterlagen. 278 Personen gaben an, für die Staatssicherheitsorgane tätig gewesen zu sein oder mit diesen kollaboriert zu haben. Ihre Namen wurden im „Monitor Polski“ veröffentlicht. Der Vertreter brachte lediglich 126 Rechtssachen vor das Lustrationsgericht. Bis zum 30. April 2004 kam das Lustrationsgericht in bezug auf 103 Personen zu einem Urteil. In 52 Fällen stellte das Gericht eine Falscherklärung fest57.

<RNA>75<RNE><MA>Das ungarische Lustrationsgesetz<ME>Das ungarische Lustrationsgesetz wurde nach langem Zögern Anfang 1994 am Ende der Amtszeit der ersten gewählten Regierung erlassen und stellt ähnlich wie die polnische Regelung eine Kompromißlösung der Frage dar, wie mit Geheimagenten der Polizei des alten Regimes zu verfahren ist. Das Gesetz sah die Einrichtung von mit drei Richtern besetzten Kammern vor, welche die Aufgabe hatten, die geheimpolizeilichen Unterlagen aller Personen zu sichten, die derzeit bestimmte öffentliche Ämter bekleiden (darunter der Präsident, die Minister, die Parlamentsabgeordneten, die Verfassungsrichter, die Richter an den ordentlichen Gerichten, einige Journalisten, Personen, die hohe Ämter in staatlichen Hochschulen oder staatseigenen Betrieben ausüben, sowie bestimmte andere in einer Liste aufgezählte hohe Regierungsbeamte). <MA>Überprüfungsverfahren<ME>Alle diese Personen sollten sich einer Überprüfung ihrer Vergangenheit unterziehen, in deren Rahmen ihre Akten darauf untersucht werden, ob die Betreffenden eine lustrationsbedürftige Aufgabe58 im ehemaligen Überwachungsstaat wahrgenommen hatten. Gegebenenfalls sollte die Kammer den Betroffenen über die Beweismittel unterrichten und ihm die Möglichkeit geben, freiwillig von dem öffentlichen Amt zurückzutreten. Nur wenn er sich zum Verbleib im Amt entschied, hatte die Kammer die Informationen zu veröffentlichen. Hielt der Betroffene die in den Unterlagen gefundenen Informationen für falsch, konnte er vor ihrer Veröffentlichung Rechtsmittel bei einem Gericht einlegen, das dann die Beweismittel in nichtöffentlicher Sitzung überprüfen und eine Einzelfallentscheidung erlassen sollte. Nahm 57 Vgl. Adam Czarnota, The Politics of the Lustration Law in Poland, 1989–2006, in: Alexander Mayer-Rieckh/Pablo de Greiff (Hg.): Justice As Prevention. Vetting Public Employees in Transitional Societies, Social Science Research Council, New York, 2007, S. 222 ff.58 Das Gesetz stufte die nachstehenden Tätigkeiten als lustrationsbedürftig ein: Tätigkeit für die Staatssicherheitsorgane als offizieller Agent oder Informant, Erlangung von Daten der Staatssicherheitsstellen als Entscheidungshilfe sowie die Mitgliedschaft in der (faschistischen) Pfeilkreuzlerpartei.

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der Betreffende das gegen ihn ergangene Urteil an und trat von dem Amt zurück, sollten die Angaben weiterhin vertraulich bleiben.

<RNA>75<RNE><MA>(Personal-)Informationen von allgemeinem Interesse<ME>Nach Inkrafttreten des Gesetzes und während die Überprüfung der ersten Gruppe von Parlamentsabgeordneten bereits stattfand, wurde eine Normenkontrollklage beim ungarischen Verfassungsgerichtshof erhoben. Mit Entscheidung vom Dezember 199459 erklärte dieser Teile des Gesetzes von 1994 für verfassungswidrig, soweit darin „Vergangenheitsüberprüfungen von Personen, die Schlüsselämter innehaben“, vorgeschrieben waren. Der Verfassungsgerichtshof legte in seinem Urteil die wichtigsten Grundsätze des Rechts auf Achtung der Privatsphäre des einzelnen, dessen Vergangenheit in den Unterlagen preisgegeben wird, sowie des Rechts auf Veröffentlichung von Informationen von allgemeinem Interesse dar. Die wichtigsten grundsätzlichen Ausführungen des Verfassungsgerichtshofs lauten wie folgt: „Der Verfassungsgerichtshof stellt fest, daß Daten und Aufzeichnungen über Personen in Positionen der Staatsgewalt und über Personen, die am politischen Leben teilnehmen – einschließlich Personen, die im Rahmen ihrer Tätigkeit für die öffentliche Meinungsbildung verantwortlich sind –, Informationen von allgemeinem Interesse im Sinne von Art. 61 der Verfassung darstellen, wenn sich aus ihnen ergibt, daß diese Personen zu irgendeinem Zeitpunkt Tätigkeiten ausgeübt haben, die den Grundsätzen eines Verfassungsstaats widersprechen, oder Staatsorganen angehört haben, die zu irgendeinem Zeitpunkt Tätigkeiten nachgegangen sind, die diesen Grundsätzen widersprechen“. Art. 61 der ungarischen Verfassung sieht einen ausdrücklichen Anspruch auf Zugang zu Informationen von allgemeinem Interesse und auf deren Verbreitung vor.

<RNA>75<RNE><MA>Brisanz des Lustrationsurteils<ME>Das Lustrationsurteil war nicht nur politisch (weil der Lustrationsprozeß in einer erst kürzlich gewählten Regierung bereits begonnen hatte, in der zahlreiche Spitzenpersönlichkeiten wichtige Positionen in dem Regime der Staatspartei eingenommen hatten)60, sondern auch verfassungsrechtlich heikel, weil zwei Verfassungsgrundsätze aufeinandertrafen: das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der einzelnen (hier der Spitzel) und das jedermann (auch den Bespitzelten) zustehende Recht auf öffentlichen Zugang zu rechtmäßig veröffentlichten Daten. Bis zu der Entscheidung über das Lustrationsgesetz waren beide Grundsätze jeweils für sich nachdrücklich aufrechterhalten worden. In dieser Rechtssache standen diese Grundsätze einander nun aber diametral gegenüber.

<RNA>75<RNE><MA>Rechtliche Konsequenzen des Geheimaktenbestands<ME>Angesichts der Vielzahl der Problemkreise – von der Verfassungsmäßigkeit des Lustrationsprozesses bis hin zur fortlaufenden Geheimhaltung der Unterlagen des Sicherheitsapparats – versuchte der Verfassungsgerichtshof, die unterschiedlichen Interessen in ein Gleichgewicht zu bringen. Erstens entschied er, daß die Aufrechterhaltung dieser gigantischen Sammlung von Geheimunterlagen mit der Wahrung des Rechtsstaatsprinzips unvereinbar sei, da diese Unterlagen von einem Rechtsstaat schon gar nicht verfassungskonform zusammengestellt worden wären. Aus dem Umstand, daß diese Unterlagen nun einmal existierten, ergäben sich jedoch weitere Probleme, unter anderem das Problem des freien Zugangs zu den in den Akten enthaltenen Informationen sowohl seitens der interessierten Allgemeinheit als auch seitens der Personen, deren Namen

59 60/1994 (XII. 24) AB. Vgl. die englische Übersetzung der Entscheidung bei Sólyom/Brunner, S. 306 ff.60 So hatten der Premierminister und der Parlamentspräsident der Legislaturperiode 1994–1998 in der Zeit vor 1989 Ministerämter bekleidet und galten nach den damals geltenden Rechtsvorschriften als befugte Amtspersonen, die regelmäßig Informationsberichte von der Geheimpolizei erhielten.

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in den Akten entweder als Opfer oder als Mitarbeiter auftauchen. <MA>Offenlegung für die Allgemeinheit<ME>Eine Offenlegung der Unterlagen für die interessierte Allgemeinheit bedeute zugleich auch die Offenlegung solcher Informationen, die für die darin Erwähnten von größter persönlicher Bedeutung seien. Da dem einzelnen nach der ungarischen Verfassung ein Recht auf Selbstbestimmung zustehe, stelle sich im Hinblick auf die Entscheidung, in welchem Umfang die Akten des Sicherheitsapparats offengelegt werden können, die Frage, wie viel dann noch von dem Anspruch der Allgemeinheit auf freien Zugang zu den Informationen verbleibe.

<RNA>75<RNE><MA>Kollisionen zwischen Privatsphäre und Informationsfreiheit<ME>Zur Beantwortung dieser Frage traf der Verfassungsgerichtshof eine wichtige Unterscheidung. Er führte aus, daß die Privatsphäre von Personen des öffentlichen Lebens enger sei als diejenige anderer Personen in einem demokratischen Staat. Daher dürften bei solchen in der Öffentlichkeit stehenden Personen Informationen aus den Sicherheitsakten in einem weiteren Umfang veröffentlicht werden als bei Personen, die keine einflußreiche Stellung bekleideten, so daß Kollisionen zwischen Privatsphäre und Informationsfreiheit bei beiden Personengruppen unterschiedlich zu behandeln seien. Damit verwies der Verfassungsgerichtshof das Problem als „politische Frage“ zurück an das Parlament mit dem Hinweis, daß diesem weder die Vernichtung sämtlicher Unterlagen noch die Aufrechterhaltung absoluter Geheimhaltung freistehe, da ein Großteil ihres Inhalts von allgemeinem Interesse sei.

<RNA>75<RNE><MA>Nachbesserungsaufträge zum Lustrationsgesetz<ME>Im übrigen stellte der Verfassungsgerichtshof fest, daß das Parlament noch weitere Teile des Gesetzes nachbessern müsse, ehe dieses für verfassungsmäßig erklärt werden könne. Auch die spezielle Liste der zu lustrierenden Personen bedürfe der Änderung, da sie in verfassungswidriger Weise willkürlich sei. Insbesondere sei die Gruppe der lustrationsbedürftigen Journalisten sowohl zu weit (wegen der Aufnahme der Produzenten von Musik- und Unterhaltungsprogrammen) als auch zu eng definiert (wegen des Ausschlusses einiger offenkundig einflußreicher Journalisten, die für private elektronische Medien tätig seien). Entweder müßten alle Journalisten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die im Rahmen ihrer Tätigkeit meinungsbildend wirkten, der Lustration unterworfen werden oder keiner. Das Parlament habe insoweit die Wahl. Eine Ausdehnung des Lustrationsverfahrens auf Journalisten in den privaten Medien verstoße weder gegen die Pressefreiheit noch gegen das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Journalisten. Vielmehr komme jeder, der in der Formulierung des Gesetzes von 1994 „an der Gestaltung des öffentlichen Willens beteiligt“ sei, für eine Lustration in Betracht, vorausgesetzt, daß alle zu diesem Kreis gehörenden Personen in gleicher Weise einbezogen würden. <MA>Begrenzung auf öffentliche Aufgaben<ME>Die Erstreckung der Lustration auf Amtsträger der Universitäten und Fachhochschulen sowie auf die leitenden Angestellten von Betrieben im alleinigen oder mehrheitlichen Staatsbesitz sei hingegen verfassungswidrig, da diese Personen „weder Staatsgewalt ausüben noch an öffentlichen Angelegenheiten beteiligt sind“. Eine Sondervorschrift, der zufolge Geistliche lustriert werden konnten, erklärte der Verfassungsgerichtshof aus verfahrensrechtlichen Gründen für nichtig, da die für den Klerus geltenden Verfahren nicht dieselben Garantien aufwiesen wie die Verfahren gegen andere Personen.

<RNA>75<RNE><MA>Phasenziele der Lustrationsgesetzgebung<ME>An der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs läßt sich gut ablesen, daß mit einem Lustrationsgesetz je nach der historischen Situation zwei Ziele verfolgt werden können. Zu Beginn des Übergangs mag eine umfassende Lustration als Ausdruck der Unumkehrbarkeit

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der Wende und als rituelle Reinigung der Gesellschaft dienen. Allerdings dürfte mehr als fünf Jahre nach der „Rechtsstaatsrevolution“ das konstitutionelle Ziel eher darin bestehen, den Bereich der Informationsfreiheit im Rahmen einer rechtsstaatlichen Lustration genau zu bestimmen. Die Allgemeinheit hat Anspruch darauf, über das Verhalten und die Vergangenheit derjenigen Bescheid zu wissen, die nunmehr im politischen öffentlichen Leben eine prominente Rolle spielen. Dem Verfassungsgerichtshof zufolge ist die Lustration prominenter Vertreter des Staates verfassungsrechtlich zu billigen, nicht jedoch die Veröffentlichung der vollständigen Mitarbeiterliste.

<RNA>75<RNE><MA>Erweiternde Novellierung in der Lustrationsgesetzgebung<ME>Nach dem vom Parlament im Juli 1996 verabschiedeten neuen Lustrationsgesetz LXII/1996 müssen sich nur Amtsträger, die vor dem Parlament oder dem Staatspräsidenten vereidigt oder die vom Parlament gewählt werden, dem Lustrationsverfahren unterziehen. Damit wird dem vom Verfassungsgerichtshof angesprochenen Problem einer übergroßen Anzahl lustrationsbedürftiger Beamter Rechnung getragen. Gemäß der Neufassung sind Richter an den ordentlichen Gerichten, Staatsanwälte und Bürgermeister von der Lustration ausgenommen. Nach dem Regierungswechsel im Jahr 1998 setzten die Regierungsparteien der Mitte–Rechts-Koalition im Jahr 2002 das Gesetz XCIII durch, mit dem die Liste der zur Lustration vorgesehenen Personen im Vergleich zu dem Änderungsgesetz von 1996 und dem ursprünglichen Gesetz von 1994 erheblich erweitert wurde. Die Novellierung dehnte die Überprüfung im Bereich der Medien über die Ebene der Chefredakteure hinaus aus auf „Personen, die unmittelbar oder mittelbar Einfluß auf die politische öffentliche Meinung nehmen“, und galt auch für kommerzielles Fernsehen, Radio, Zeitungen und Internet-Nachrichtenagenturen61.

<RNA>75<RNE><MA>Korrektur der Gruppen Lustrationsbetroffener<ME>Kurz nach dem Regierungswechsel im Jahr 2002 wurde bekannt, daß der damalige Premierminister Péter Medgyessy während der kommunistischen Ära zu den leitenden Geheimoffizieren der ehemaligen Abteilung III/II (Spionageabwehr) des Innenministeriums gehört hatte. Der Skandal zeigte, daß die geltende gesetzliche Regelung nicht ausreichte, um sicherzustellen, daß nur unbescholtene Personen öffentliche Ämter bekleiden, da die Rechtsvorschriften ausschließlich auf die innerstaatlich operierende Überwachungseinheit der ungarischen Geheimpolizei (die ehemalige Abteilung III/III) ausgerichtet waren. Es gab daneben aber noch andere Einheiten, die im Ausland lebende Ungarn oder in Ungarn lebende Ausländer sowie das militärische Dienstpersonal bespitzelten; diese Einheiten der Geheimpolizei waren von dem Gesetz nicht erfaßt – trotz öffentlicher Proteste mehrerer Führungspersönlichkeiten, die eine Anwendung des Lustrationsgesetzes auf alle Spitzeltätigkeiten forderten. In dieser Sache wurde Verfassungsbeschwerde erhoben, die der Verfassungsgerichtshof jedoch 1999 zurückwies. <MA>Ausdehnung der Lustration auf Kirchen?<ME>Aufgrund des medialen Drucks durch die intensive Presseberichterstattung über den Fall des Premierministers und auf Drängen der Opposition legte die Regierung einen Entwurf zur Änderung des Lustrationsgesetzes vor, das nunmehr für alle ehemaligen Abteilungen gelten sollte und außerdem die Ausdehnung des Lustrationsverfahrens auf die Kirche mit der Begründung vorsah, daß es, wenn sich Medienvertreter der Lustration unterziehen müßten, keinen verfassungsrechtlichen Grund gebe, die Kirchenführung auszunehmen. Der Gesetzesentwurf wurde letztlich jedoch vom Parlament abgelehnt.

F. Zugang zu den Akten der Geheimpolizei

61 Vgl. Elizabeth Barrett/Péter Hack/Ágnes Munkácsi, Lustration As Political Competition: Vetting in Hungary, in: Alexander Mayer-Rieckh und Pablo de Greiff (Hg.), Justice As Prevention. Vetting Public Employees in Transitional Societies, Social Science Research Council, New York, 2007, S. 180 ff.

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<RNA>75<RNE><MA>Unterschiede in den Zugangsbegrenzungen<ME>Wie das Beispiel der ungarischen Gesetzesregelung zeigt, ging es bei der Lustration immer auch um die Frage, inwieweit den Opfern, aber auch der Allgemeinheit Zugang zu den Unterlagen der Geheimpolizei des alten Regimes zu gewähren ist. In anderen Ländern wurden diese beiden Problemkreise getrennt normiert. Was den Umfang des Zugangs betrifft, finden sich in den mittel- und osteuropäischen Staaten unterschiedliche Modelle. Die polnische und die erste ungarische Lösung sahen einen nur begrenzten Zugangsanspruch der Opfer vor. Die wichtigste Einschränkung besteht darin, daß nach diesen Modellen das Opfer den Namen des Spitzels nicht erfährt. Das wiedervereinigte Deutschland, das als erstes Land in der Geschichte die Staatsarchive der Geheimpolizei öffnete, gewährte den Opfern auch unbeschränkten Zugang zu den Daten der Mitarbeiter und ermöglichte den staatlichen Einrichtungen, die Vergangenheit ihrer Beschäftigten überprüfen zu lassen. Das vom ungarischen Parlament 2003 verabschiedete Gesetz folgte nicht nur der deutschen Regelung, indem es den Opfern einen Anspruch auf Informationen über die auf sie angesetzten Spitzel zuerkannte, sondern machte auch die Akten über die Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens allgemein zugänglich. <MA>Jedermann-Einsichtsrechte<ME>Die umfangreichste Zugangsmöglichkeit besteht jedoch nach einer ähnlichen gesetzlichen Regelung in der Tschechischen Republik und in der Slowakei, wo – vorbehaltlich des notwendigen Schutzes der personenbezogenen Daten Dritter – die Akten der Geheimpolizei von jedermann eingesehen werden können.

<RNA>75<RNE><MA>Verfassungsmäßigkeit der ungarischen Zugangsregelung<ME>In der erwähnten Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs in Ungarn über die Verfassungsmäßigkeit des Lustrationsgesetzes von 1994 heißt es weiter, daß die Bemühungen des Gesetzgebers in der Frage des Aktenzugangs verfassungsrechtlich unzulänglich seien, da das Recht auf Privatsphäre und informationelle Selbstbestimmung nicht für alle Bürger garantiert werde. Da das Parlament das Recht auf informationelle Selbstbestimmung noch nicht gewährleistet und vor allem den Bürgern keinen Anspruch auf Einsicht in die sie betreffenden Akten zuerkannt habe, stellte der Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil eine vom Parlament geschaffene verfassungswidrige Rechtslage durch gesetzgeberisches Unterlassen fest62. <MA>„Amt für Geschichte“<ME>Mit einem neuen Gesetz von 1996 wurde ein „Amt für Geschichte“ mit der Aufgabe eingerichtet, die Geheimpolizeiakten zu übernehmen und den darin erwähnten Bürgern Zugang zu ihren Unterlagen zu gewähren. Privatpersonen können somit bei diesem Amt Einsicht in ihre Akten beantragen, sofern die Privatsphäre und das informationelle Selbstbestimmungsrecht anderer nicht gefährdet werden. Mit der Schaffung des Amtes für Geschichte wurden die zuvor ergangenen Urteile des Verfassungsgerichtshofs umgesetzt.

<RNA>75<RNE><MA>Historisches Archiv der öffentlichen Sicherheitsdienste<ME>Ausgelöst durch den erwähnten Skandal um den ungarischen Premierminister im Dezember 2003 verabschiedete das Parlament in demselben Jahr das Gesetz V, mit dem ein neues Historisches Archiv der öffentlichen Sicherheitsdienste angelegt wurde, um alle Unterlagen der Sicherheitsdienstabteilungen an einem Ort zusammenzuführen. Das neue Gesetz sieht die Möglichkeit vor, die persönliche Vergangenheit der Inhaber öffentlicher Ämter offenzulegen. Jedermann kann Einsicht in die Unterlagen von Personen verlangen, die ein öffentliches Amt aktuell bekleiden oder früher

62 Da es sich hierbei um eine ungewöhnliche Befugnis des ungarischen Verfassungsgerichtshofs handelt, ist eine kurze Erläuterung angebracht. Der Verfassungsgerichtshof kann feststellen, daß das Parlament die Verfassung durch Nichterlaß eines Gesetzes verletzt, wenn der Erlaß durch die Verfassung oder ein Gesetz geboten ist.

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einmal bekleidet haben. <MA>Betroffene öffentliche Ämter<ME>Die Kategorie der betroffenen öffentlichen Ämter ist in dem Gesetz nicht näher definiert; es wird jedoch davon ausgegangen, daß alle Personen erfaßt sind, die mit Exekutivbefugnissen ausgestattet oder im Medienbereich tätig sind (oder waren). Das Gesetz läßt sich sehr weit auslegen. Bei Inhabern öffentlicher Ämter können in sehr begrenztem Umfang in dem Archiv befindliche Informationen über die Beziehungen veröffentlicht werden, die eine Person zu irgendeiner Sicherheitsdienstabteilung (also nicht nur der Abteilung III/III) unterhalten hat. Erst seit 2003 haben die Betroffenen Anspruch auf Mitteilung der Identität des Spitzels (also eine Antwort auf die Frage, wer sich hinter dem Decknamen verbirgt).

<RNA>75<RNE><MA>Daten von allgemeinem Interesse<ME>Im Mai 2005 änderte das ungarische Parlament das Gesetz V von 2003 in der Absicht, alle Akten der früheren Geheimpolizei offenzulegen, unter anderem auch die Namen der Mitarbeiter, die kein öffentliches Amt innehaben. Des weiteren sollte das Archiv die Befugnis erhalten, zahlreiche Informationen auf seiner Website ohne einen entsprechenden persönlichen Antrag zu veröffentlichen. Vor der Ausfertigung legte der Staatspräsident das Gesetz dem Verfassungsgerichtshof zur Vorabprüfung vor. In seiner Vorlage verwies er auf die Feststellung des Verfassungsgerichtshofs im Urteil 60/1994 AB, in dem es heißt, daß nur die Angaben über die Vergangenheit von Inhabern öffentlicher Ämter als Daten von allgemeinem Interesse anzusehen seien, deren Veröffentlichung auch ohne Zustimmung des Betroffenen zulässig sei, daß jedoch die Offenlegung von Angaben über Normalbürger, die kein öffentliches Amt bekleiden, deren Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletze. Das Verfahren ist noch beim Verfassungsgerichtshof anhängig. Dieser hat in seiner Entscheidung 37/2005 AB, gestützt auf seine frühere Argumentation, das Änderungsgesetz für verfassungswidrig erklärt, das demzufolge nicht in Kraft getreten ist.

<RNA>75<RNE><MA>Nationales Institut für Erinnerung in Polen<ME>In Polen wurde die Frage des Zugangs ebenfalls 1997 im Zusammenhang mit dem Lustrationsgesetz diskutiert, jedoch erließ der Sejm 1998 letztlich ein eigenes Gesetz über das Nationale Institut für Erinnerung – Kommission für die Verfolgung von Verbrechen gegen die polnische Nation63. Das Gesetz regelt das Zugangsrecht von Personen, über die die Organe der Staatssicherheit in der Zeit von 1944 bis 1989 Informationen gesammelt hatten.

<RNA>75<RNE><MA>Gesetzentwurf von 2007 in Polen<ME>2007 verabschiedete das polnische Parlament einen von der konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) eingebrachten Gesetzentwurf offenbar mit dem Ziel, eine Vielzahl von Berufsgruppen von der Überprüfungspflicht auszunehmen, ohne die Lustrationspläne der regierenden antikommunistischen Partei vollkommen leerlaufen zu lassen64. Im Vergleich zu dem Überprüfungsgesetz von 1997 sollte mit dem neuen Lustrationsgesetz die Anzahl der Personen erhöht werden, die vor dem 15. Mai 2007 eine Überprüfungserklärung abzugeben hatten. Bei Nichtabgabe einer solchen Erklärung drohte die Entlassung aus bestimmten Ämtern, Falscherklärungen sollten mit rechtlichen Sanktionen geahndet werden. Nach Angaben des Nationalen Instituts für Erinnerung hätten sich bei ordnungsgemäßer Ausführung des Gesetzes ungefähr 300 000 bis 400 000 Menschen in Polen einer Zwangsüberprüfung unterziehen müssen. Die Opposition machte geltend, das Gesetz sei vage und unklar und enthalte zweifelhafte Kriterien zur Bestimmung derjenigen Personen, die zu Erklärungen darüber verpflichtet seien, ob sie vor 1989 mit den kommunistischen Geheimdiensten zusammengearbeitet haben.

63 Gesetzblatt v. 19.12.1998.64 Vgl. Timothy Garton Ash, On Lustration in Poland, The Guardian v. 24.5.2007.

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<RNA>75<RNE><MA>Urteil des polnischen Verfassungstribunals<ME>In einem juristisch komplizierten Urteil erklärte das polnische Verfassungstribunal Mitte Mai das Gesetz in wesentlichen Teilen für nichtig: Es verstoße gegen mehrere Verfassungsartikel, allerdings sei die vom Gesetzgeber verwendete Definition des Begriffs „Kollaborateur“ – eine der umstrittensten Bestimmungen des neuen Gesetzes – mit der polnischen Verfassung konform, sofern sich die Kollaborateure ihrer Rolle zum Zeitpunkt der Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten voll bewußt waren. Darüber hinaus entschied das Verfassungstribunal, daß die Überprüfung der Hochschullehrer, aller Journalisten, der leitenden Angestellten von Verlagen und der Rektoren staatlicher Schulen verfassungswidrig sei. Dem Nationalen Institut für Erinnerung (IPN) sei die Veröffentlichung von Listen ehemaliger kommunistischer Kollaborateure (die mit der Regelung unter anderem bezweckt worden war) verwehrt. Auch die in dem Gesetz vorgesehene Abschaffung des Rechts auf Einlegung eines Rechtsmittels beim Obersten Gerichtshof in Überprüfungsfällen verstoße gegen die Verfassung.

<RNA>75<RNE><MA><ME>Interessanterweise hatte Premierminister Jaroslaw Kaczynski zuvor erklärt, im Fall einer Nichtigerklärung des Gesetzes durch das Verfassungstribunal werde seine Partei einen Gesetzentwurf vorlegen, um die IPN-Archive komplett zu öffnen und alle geheimen Informationen über ehemalige kommunistische Kollaborateure offenzulegen.

<RNA>75<RNE><MA>Deutsches Volkskammergesetz vom 24.8.1990<ME>Noch vor der deutschen Wiedervereinigung hatte die Volkskammer, das Parlament der DDR, im Sommer 1990 auf Drängen von Mitgliedern der Bürgerrechtsbewegung ein Gesetz verabschiedet, um „die politische, historische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit zu gewährleisten und zu fördern“65. Der westdeutsche Verhandlungspartner wollte dieses Volkskammergesetz nicht in den Einigungsvertrag aufnehmen, doch nach einem Hungerstreik der Bürgerrechtler wurde vereinbart, daß das vereinigte deutsche Parlament nach den „Grundsätzen“ des Volkskammergesetzes vom August 1990 ein Gesetz über die Stasi-Unterlagen zu schaffen hatte66. So kam es zum Erlaß des Gesetzes über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Stasi-Unterlagen-Gesetz – StUG)67.

<RNA>75<RNE><MA>Deutsches Stasi-Unterlagen-Gesetz<ME>Durch das Gesetz wird eine Bundesbehörde geschaffen, welche die Akten verwaltet, ordnet und rekonstruiert. Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen wird jeweils für fünf Jahre gewählt. In den ersten beiden Amtszeiten war Joachim Gauck, jetziger Bundespräsident und früherer Pastor aus Rostock, Leiter der Behörde, die deshalb schon bald als Gauck-Behörde bekannt wurde. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz enthält eine detaillierte Regelung, Teile der Stasi-Unterlagen einem beschränkten und genau bezeichneten Publikum zugänglich zu machen. <MA>Differenzierte Zugangsrechte<ME>Es gibt unterschiedliche Zugangsrechte für Stasi-Opfer, Stasi-Informanten, Forscher und Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes. Die

65 Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit v. 24.8.1990, Gbl. der DDR I, Nr. 58, S. 1419 ff.66 Vereinbarung zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland zur Durchführung und Auslegung des am 31. August 1990 in Berlin unterzeichneten Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag – v. 18.9.1990; http://www.verfassungen.de/de/ddr/einigungsvertrag90-auslegungsvereinbarung.htm.67 Abrufbar in deutscher und englischer Sprache unter http://www.bstu.bund.de/DE/BundesbeauftragteUndBehoerde/Rechtsgrundlagen/StUG/stug_inhalt.html?nn=1751692#doc1751586bodyText1.

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Vergangenheit einiger Personen wird in weiterem Umfang offengelegt als diejenige anderer. Personen, die bespitzelt wurden, können Einsicht in „ihre“ Akten beantragen. Zwischen 1991 bis 2003 wurden mehr als zwei Millionen Anträge auf persönliche Akteneinsicht gestellt68. Hunderttausende von Menschen haben Zugriff auf das von der Stasi gesammelte Wissen über ihr persönliches Leben erlangt. Nach Einsicht in ihre Akte können die Betroffenen entscheiden, wem sie über das Gelesene berichten wollen – der Familie, den Freunden, der Öffentlichkeit? Nach dem Gesetz können sie selbst darüber bestimmen, an wen sie die von der „Stasi“ zusammengestellten geheimen Erkenntnisse weitergeben wollen69. Nach dem Gesetz machen sich Journalisten jedoch strafbar, wenn sie aus nichtamtlichen Quellen erlangte Informationen über den Akteninhalt verwenden70.

<RNA>75<RNE><MA>Gesetz über den öffentlichen Zugang der Tschechischen Republik<ME>1996 verabschiedete das Parlament der Tschechischen Republik das Gesetz über den öffentlichen Zugang zu den mit den Tätigkeiten der ehemaligen Geheimpolizei in Zusammenhang stehenden Akten71. Ursprünglich war darin ein Zugang nur für Personen vorgesehen, die potentiell von den Tätigkeiten der Geheimpolizei betroffen waren. Im Jahr 2002 erfolgte jedoch eine Änderung72, um die Hauptverzeichnisse der Geheimpolizeimitarbeiter der Allgemeinheit zugänglich zu machen73. Gemäß der aktuellen Regelung kann jeder volljährige Staatsbürger der Tschechischen Republik Zugang zu den zwischen dem 25. Februar 1948 und dem 15. Februar 1990 zusammengestellten Akten der Geheimpolizei beantragen.

<RNA>75<RNE><MA>Schutzvorkehrungen durch das Innenministerium<ME>Der Zugang, der im übrigen vom Innenministerium gewährt wird, ist daher nicht auf die Daten und Akten des Betroffenen beschränkt. Allerdings schützt das Ministerium die durch die Verfassung garantierten Rechte auf persönliche Unversehrtheit und Privatsphäre anderer Personen, deren Namen möglicherweise in den Akten erwähnt werden, in die der Antragsteller Einsicht verlangt. Das Ministerium hat daher dem Antragsteller alle Angaben, durch die diese in der Verfassung verankerten Rechte beeinträchtigt werden können, vorzuenthalten, sofern sie nicht mit den Tätigkeiten der Geheimpolizei oder ihrer Mitarbeiter in Zusammenhang stehen. Der Antragsteller erhält Auskunft über die Identität der Geheimpolizeispitzel, nicht jedoch zum Beispiel über deren Eheleben oder gesundheitlichen Probleme. Dieser Wandel in der staatlichen Politik hat selbstverständlich zu mehreren Gerichtsverfahren geführt, mit denen die Betroffenen die Streichung ihrer Namen in den Verzeichnissen und ihre moralische Rehabilitierung verlangt haben74.

68 Sechster Tätigkeitsbericht der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik 2003, S. 20, 71.69 Vgl. Wilke aaO.70 Kritz (Hg.), II Transitional Justice, Country Studies, Germany (after Communism), S. 596.71 Nr. 140/1996 der Gesetzessammlung der Tschechischen Republik.72 Vgl. Gesetz Nr. 107/2002 der Gesetzessammlung der Tschechischen Republik zur Änderung des Gesetzes Nr. 140/1996.73 Diese Verzeichnisse sind zugänglich unter www.mvcr.iol.cz.74 Zu den meistpublizierten und prominentesten Fällen gehört derjenige der bekannten Schauspielerin Jiřina Bohdalová. Sie verklagte das tschechische Innenministerium und beantragte die Streichung ihres Namens in der Liste der Geheimpolizeispitzel. Im Prozeß stellte sich heraus, daß sie in den 1950er Jahren im Alter von 28 Jahren von der Geheimpolizei psychisch gefoltert worden war, sich jedoch nie zu einer Zusammenarbeit bereiterklärt hatte. Im Januar 2004 stellte das Bezirksgericht Prag zwar fest, daß die Schauspielerin zu keinem Zeitpunkt Mitarbeiterin der Geheimpolizei gewesen sei, unterließ es jedoch, das Innenministerium dazu zu verpflichten, ihren Namen aus dem Verzeichnis zu entfernen, obwohl Bohdalová keine politische Karriere oder Ämter anstrebte, für die ein Lustrationsverfahren vorgeschrieben ist. Vgl. Priban aaO.

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<RNA>75<RNE><MA>Gesetz über die Offenlegung in der Slowakischen Republik<ME>Der Nationalrat der Slowakischen Republik erließ im August 2002 das Gesetz über die Offenlegung von Unterlagen über die Tätigkeit der Staatssicherheitsbehörden im Zeitraum 1939 bis 1989 sowie die Gründung des Instituts der nationalen Erinnerung75. Neben dem Verfahren zur Offenlegung von Unterlagen auf Antrag von Opfern oder staatlichen Einrichtungen ist in dem Gesetz auch die Veröffentlichung von Daten durch das Institut von Amts wegen geregelt. Danach unterliegen der Offenlegung und Veröffentlichung alle erhaltenen oder rekonstruierten Dokumente, die aufgrund der Tätigkeit der Staatssicherheit und anderer Sicherheitsbehörden in der Zeit vom 18. April 1939 bis zum 31. Dezember 1989 erstellt worden sind. Ausgenommen sind lediglich Unterlagen, deren Preisgabe die internationalen Interessen oder die Sicherheit des Landes beeinträchtigen oder das Leben einer Person ernsthaft gefährden könnte. Zum Ausschluß eines Dokuments von der Offenlegung und Veröffentlichung bedarf es einer Empfehlung des slowakischen Nachrichtendienstes oder des Verteidigungsministeriums, die von einem beauftragten Ausschuß des Nationalrats gebilligt werden muß.

G. Die Verfassung als Instrument des Systemwandels

<RNA>75<RNE><MA>Verfassungen als politische Dokumente<ME>Ein eher für die Zukunft bedeutsamer Aspekt bei Übergängen ist die Funktion der Verfassungen im Rahmen des Systemwandels in einigen postkommunistischen Ländern; dabei zeigt sich, daß in der Zeit vor 1989 Verfassungen ausnahmslos politische Dokumente waren und daß neugeschaffene Grundgesetze und Einrichtungen wie zum Beispiel Verfassungsgerichtshöfe als politische und juristische Instrumente des Wandels dienen können. Die Geschichte lehrt, daß sich Gesetze ändern können, daß jedoch schriftlich niedergelegte Verfassungen mit den in ihnen verankerten Grundwerten bestehen bleiben müssen. Dies widerlegt die These, daß „höheres Recht“ gar nicht als Recht aufzufassen sei. Es geht eigentlich um die Grundlage aller Naturrechtstheorien. Diese haben immer wieder Konjunktur, insbesondere in akuten Krisenzeiten wie beim Zusammenbruch faschistischer oder kommunistischer Staatsordnungen. <MA>Naturrechtliche Fundierung der Verfassungspraxis<ME>Als zu Zeiten des Nationalsozialismus und des Faschismus das Vertrauen in die Gesetzgeber erschüttert war, sahen die Menschen die Judikative in neuem Licht – nämlich als Kontrollinstanz gegenüber der von der Gesetzgebung an den Tag gelegten Mißachtung von bis dato als unumstößlich geltenden Grundsätzen – und wollten der Judikative die Aufgabe übertragen, diese Grundsätze zu verwirklichen. Mauro Cappelletti hat diesen Vorgang als dreiphasigen Prozeß beschrieben76. Zuerst komme der Erlaß einer schriftlichen Verfassung. Zweitens werde den modernen Verfassungen eine gewisse „Unbeugsamkeit“ verliehen. Drittens folge die Einrichtung eines von der Legislative unabhängigen Mechanismus zur Umsetzung der in der Verfassung normierten Garantien; diese Aufgabe falle der Judikative zu – in einigen Systemen einem speziellen Verfassungsgerichtshof. Durch den modernen Konstitutionalismus hat das Naturrecht mit seiner historischen und realen Quellenfunktion einen neuen Stellenwert in der Rechtstheorie erlangt.

<RNA>75<RNE><MA>Neue Verfassungen und eigenständige Verfassungsgerichtshöfe<ME>Eben dieser Prozeß vollzog sich in den Jahren 1989/1990 beim Wandel des kommunistischen Systems in Mittel- und Osteuropa einschließlich der Länder der ehemaligen Sowjetunion. In nahezu allen diesen Staaten wurden neue Verfassungen und eigenständige Verfassungsgerichtshöfe geschaffen. Als einziger Staat des

75 553/2002 der Slg. Gesetz über die nationale Erinnerung. Änderungen: 110/2003 der Gesetzessammlung und 610/2004 der Slg.76 Mauro Cappelletti, Judicial Review in the Contemporary World, New York, 1971.

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postkommunistischen Europas kehrte Lettland in die Unabhängigkeit zurück, ohne seine aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stammende Verfassung aus dem Jahr 1922 aufzugeben77. Eivind Smith zufolge lassen sich die verschiedenen Formen der Verfassungsgebung Anfang der neunziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts nur als Ausdruck des Bestrebens dieser Länder begreifen, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen und ein neues Zeitalter einzuläuten. In Ländern wie Estland, Lettland und Litauen werde die Verfassung offenkundig als Instrument der Transformation ihres Status als ehemalige Sowjetrepubliken angesehen. In Ländern mit einer weniger schmerzlichen Geschichte werde die Verfassung hingegen – etwa in Norwegen – als Symbol der Errungenschaften oder wie in Schweden als Ausdruck des Selbstverständnisses des Staatswesens betrachtet.

<RNA>75<RNE><MA>Verfassung und politische Stabilität<ME>Eine gut konzipierte Verfassung bietet zahlreiche Vorteile, darunter auch den, daß sie reale politische Stabilität herbeiführen kann78. Als Gegenbeispiel läßt sich Lettland anführen, wo eine Vielzahl formeller Änderungen der Verfassung von 1922 innerhalb kürzester Zeit vorgenommen werden konnte, weil deren Verabschiedung durch das Parlament verfahrensrechtlich so einfach ist. Dieselben Bedenken bestehen hinsichtlich der Stabilität der ungarischen und der polnischen Verfassung, bei letzterer zumindest bis zu der Fassung von 1997. Ein äußerst paradoxer Aspekt der gesamten Geschichte Mittel- und Osteuropas besteht darin, daß sich gerade diese beiden Länder, das heißt Ungarn und Polen, als die am weitesten entwickelten Staaten keine neue Verfassung gegeben haben bzw. daß Polen dies erst im Jahr 1997 getan hat. Demgegenüber wurden in Staaten, in denen einer neuen Demokratie vermeintlich größere Hindernisse entgegenstanden, zum Beispiel in Rußland, Bulgarien und Rumänien, schon sehr bald neue Verfassungen verabschiedet.

<RNA>75<RNE><MA>Negative Konsequenzen häufiger Verfassungsänderungen<ME>Zu den negativen Konsequenzen der häufigen Verfassungsänderungen sowohl in Lettland als auch in Ungarn gehört die Versuchung, konstitutionelle Änderungen in den Dienst einer populären Sache zu stellen und sie parteipolitisch auszuschlachten; so wird beispielsweise in beiden Ländern ständig gefordert, daß der Staatspräsident „vom gesamten Volk“ gewählt werden müsse, was die Gefahr in sich birgt, daß letztlich eine „starke Hand“ die endlosen Probleme der heutigen Politik löst79.

<RNA>75<RNE><MA>Norwegische „Verfassungsgepflogenheiten“<ME>Ein bekanntes Beispiel dafür, wohin das Spannungsverhältnis zwischen erforderlichen Verfassungsänderungen oder -anpassungen einerseits und starren konstitutionellen Änderungsverfahren andererseits führen kann, ist Norwegen, dessen Verfassung bis in das Jahr 1814 zurückreicht. Die Verfassung ist das bedeutendste nationale und politische Erbe des norwegischen Volkes. In einigen wichtigen Bereichen scheinen Verfassungswortlaut und Verfassungswirklichkeit dort jedoch nicht übereinzustimmen; daher muß man häufig auf sogenannte „Verfassungsgepflogenheiten“ zurückgreifen, die prima facie zum Teil in direktem Widerspruch zu der schriftlichen Verfassung stehen.

<RNA>75<RNE><MA>Modi der Verfassungsgebung<ME>Die Modalitäten der Verfassungsgebung hängen wesentlich von den Machtverhältnissen ab, die zu Beginn des Übergangs zur Demokratie herrschen. Der radikalste, revolutionärste Weg zur Wende ist der gewaltsame Umsturz oder der Zusammenbruch des repressiven Regimes; in diesem Fall haben die neuen Kräfte einen deutlichen Sieg über die alte Ordnung errungen. Demokratie

77 Vgl. Eivind Smith (Hg.), The Constitution as an Instrument of Change, SNS Förlag, 2003, S. 87.78 Vgl. Janis Penekis, Amend or Adjust the Constituion, in: Smith (Hg.) aaO., S. 82.79 Ebd., S. 96.

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kann aber auch auf Betreiben von Reformern innerhalb der alten Garde oder aufgrund gemeinsamen Handelns und einer Verhandlungslösung zwischen regierenden und oppositionellen Gruppierungen eintreten. Die verschiedenen Formen der Verfassungsgebung Anfang der neunziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts Jahre lassen sich als Ausdruck des Bestrebens der einzelnen Länder begreifen, jeweils auf ihre Weise ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen und ein neues Zeitalter einzuläuten.

<RNA>75<RNE><MA>Drei Arten der Verfassungsentstehung<ME>Nach einer Übergangszeit von nunmehr zwanzig Jahren kann der Vorgang der Verfassungsbildung in allen mittel- und osteuropäischen Ländern, wahrscheinlich mit Ausnahme Ungarns, als abgeschlossen gelten. Es lassen sich drei verschiedene Arten der Verfassungsentstehung ausmachen.a)1. Der früheste, womöglich zu frühe Abschluß des Vorgangs mit entsprechenden Legitimationsproblemen erfolgte in Bulgarien und Rumänien, wo die ersten aus freien Wahlen hervorgegangenen Parlamente souveräne verfassungsgebende Nationalversammlungen waren, wie diejenigen in Frankreich von 1789 bis 1791 und von 1945 oder die Weimarer Nationalversammlung von 1919.b)2. In der Tschechischen und in der Slowakischen Republik schloß der demokratisch gewählte ordentliche Gesetzgeber den Vorgang nach dem Zusammenbruch des formellen föderativen Staats 1992 ab und trug damit wesentlich zum Ende der Föderation bei80.c)3. In Ungarn und Polen hat ebenfalls der ordentliche, aber nicht legitimierte Gesetzgeber umfassende Änderungen an der alten Verfassung vorgenommen, allerdings nach friedlichen Verhandlungen zwischen den Vertretern der autoritären Regime und deren demokratischer Opposition. <MA>„Paktierende Verfassungsgebung“<ME>Zu einer ähnlichen „paktierenden Verfassungsgebung“81 kam es in Spanien Ende der siebziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts sowie in Südafrika von Anfang bis Mitte der neunziger Jahre. Der Verfassungsgebungsprozeß in Polen wurde zwar 1997 mit einer endgültigen Verfassung zum Abschluß gebracht, die Verfassungsgerichte spielen mit ihrer aktiven Auslegung jedoch eine wichtige Rolle bei der Fortentwicklung der Verfassungsrechtsprechung.

<RNA>75<RNE><MA>Die ungarische „konstitutionelle Revolution“<ME>In Ungarn wurden Konzepte zur Umgestaltung der stalinistisch gefärbten Rákosi-Verfassung aus dem Jahr 1949 in ein rechtsstaatliches Dokument ausgearbeitet, und zwar 1989 im Rahmen der Gespräche des Nationalen Runden Tisches von den Teilnehmern des Oppositionellen Runden Tisches, der sogenannten dritten Seite und den Repräsentanten der Staatspartei. Anschließend segnete das nicht legitimierte Parlament die umfassende Änderung der Verfassung nur noch ab, die dann am Jahrestag der Revolution in Kraft trat und seither – mit mehr oder weniger umfangreichen Modifikationen – die Rechtsgrundlage der „konstitutionellen Revolution“ darstellt. Das Protokoll des Oppositionellen Runden Tisches und der dreiseitigen Verhandlungen82 geben einen Einblick in die Absichten der „Gründerväter“. Es bleibt zu untersuchen, wie diese Vorstellungen umgesetzt bzw. geändert wurden.

80 Andrew Arato, Dilemmas Arising Out of the Power to Create Constitutions in Eastern Europe, in: Michel Rosenfeld (Hg.), Constitutionalism, Identity and Difference, Duke University Press, 1994.81 Der Begriff findet sich bei Michel Rosenfeld, The Identity of the Constitutional Subject, Taylor & Francis, 2009.82 András Bozóki (Hg.), A rendszerváltás forgatókönyve. Kerekasztal-tárgyalások 1989-ben, Bad. I–IV, Magvető, 1999. Zum Verfassungsgebungsverfahren vgl. näher Halmai Gabor, Az 1949-es alkotmány jogállamosítása, in: András Bozóki aaO., Bd. VII, Új Mandátum Kiadó, 2000. S. 180 ff.

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<RNA>75<RNE><MA>Interventionen des Oppositionellen Runden Tisches<ME>Unmittelbar vor Gründung des Oppositionellen Runden Tisches im März 1989 war dem Parlament ein Vorschlag der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (Magyar Szocialista Munkáspárt – MSZMP) für die neue Verfassung vorgelegt worden. Die MSZMP befürchtete nämlich, daß der „neue“ Verfassungsrahmen von den Machthabern selbst geschaffen werden würde. Im Verlauf der Gespräche des Nationalen Runden Tisches, die Mitte Juni begannen, versuchte der Oppositionelle Runde Tisch zunächst, dies zu verhindern, und erwog, die Verabschiedung der neuen Verfassungsordnung dem neu eingerichteten Parlament nach entsprechenden Wahlen zu übertragen. Die Opposition lehnte unter anderem Verhandlungen über die Schaffung des Amtes eines Staatspräsidenten pauschal ab und empfahl stattdessen, den Parlamentspräsidenten vorübergehend mit den Befugnissen des Staatspräsidenten auszustatten. Im übrigen stimmten die Teilnehmer des Oppositionellen Runden Tisches erst drei Tage vor Ende der Verhandlungen der Regelung zu, daß ein Verfassungsgerichtshof bereits vor Verabschiedung der neuen Verfassung eingerichtet werden sollte.

<RNA>75<RNE><MA>„Vorab-Verfassungsgebung“<ME>Der Plan, die neue Verfassung von dem demokratisch gewählten neuen Parlament verabschieden zu lassen, wurde aus verschiedenen Gründen aufgegeben. Gewiß hat dabei der Umstand eine Rolle gespielt, daß die Opposition nicht sicher sein konnte, daß die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (MSZMP) gegen ihre bei den Wählern weitaus weniger bekannten Konkurrenten nicht die absolute Mehrheit gewinnen würde. Außerdem deutete einiges darauf hin, daß selbst im Fall einer einfachen Mehrheit der Opposition nicht auszuschließen war, daß die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei zur Bildung einer Regierung in der Lage sein würde. Selbstverständlich konnte sich auch die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei ihres Erfolgs nicht sicher sein und deshalb nicht die Option einer „Vorab-Verfassungsgebung“ ignorieren, vor allem wenn sie im Gegenzug die Zusage erhielte, daß einige ihrer Standpunkte in die Verfassung übernommen würden. Eine solche Zusage konnte seitens der Parteien erfolgen, die schließlich die Vereinbarung über eine Direktwahl des Staatspräsidenten vor den Parlamentswahlen schlossen, als deren Gewinner der kommunistische Reformer Imre Pozsgay erwartet wurde. Dies wurde durch ein erfolgreiches Referendum verhindert, das die Allianz der Freien Demokraten (Szabad Demokraták Szövetsége – SZDSZ) und der Verband der Jungen Demokraten (Fiatal Demokraták Szövetsége – Fidesz) veranlaßt hatten. Deshalb wurde der Staatspräsident erst nach den ersten demokratischen Wahlen von dem neuen Parlament gewählt. Aus dem veröffentlichten Protokoll geht hervor, daß die Kluft zwischen den Unterzeichnern der Vereinbarung und den Initiatoren des Referendums dadurch bedingt war, daß die eine Seite konsequent einen Plan für einen Regimewandel verfolgte, während sich auf der anderen Seite – angeblich – Antall und Pozsgay auf einen Pakt zwischen der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei und dem Ungarischen Demokratischen Forum (Magyar Demokrata Fórum – MDF) verständigt hatten. Antalls Motiv war offenbar die Befürchtung, daß die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei die Wahlen gewinnen könnte, so daß er sich eine Machtbeteiligung und damit einen Sieg auch für den Fall sichern wollte, daß er die ersten demokratischen Wahlen verlieren würde. Unter dem Gesichtspunkt der Wende führte dies zu dem Happy End, daß sich das Ungarische Demokratische Forum aufgrund des Referendums von dem Pakt mit den Kommunisten lossagen konnte und ihm damit der Weg zu einer Vereinbarung mit der Allianz der Freien Demokraten offenstand, die das Referendum initiiert hatte.

<RNA>75<RNE><MA>Novellierung der Verfassung von 1949<ME>Dies belegt, daß sowohl die Staatspartei als auch die Opposition bestrebt waren, im Zuge der Wende die

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Schaffung der konstitutionellen Rahmenbedingungen nicht einer neuen Verfassung zu überlassen, weil sie Angst hatten, die demokratischen Wahlen zu verlieren. Aus diesem Grund kam es dazu, daß die Verfassungsänderung von 1989 in Form einer Einfügung neuer Bestimmungen in die Fassung von 1949 erfolgte. Die Verfassung kann jetzt als rechtsstaatliches Dokument gelten, auch wenn die Rákos-Kádár-Grundstrukturen hier und da durchschimmern83. Wahrscheinlich ist die Tatsache, daß die Formulierungen in Verhandlungen zustande gekommen sind, der Grund dafür, daß die alt-neue Verfassung im wesentlichen dem in den festlandeuropäischen Systemen weitverbreiteten Modell einer auf Konsens aufgebauten Demokratie entspricht. Das Regierungssystem, das ein Parlament mit mehr als zwei politischen Parteien und eine Koalitionsregierung voraussetzt, bedeutet aber auch, daß die Parteien bewußt sowohl das von der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) bevorzugte und selbst heute in zahlreichen postkommunistischen Ländern anzutreffende System einer teilweisen oder umfassenden Präsidialherrschaft als auch das Zweiparteiensystem des britischen Westminster-Parlamentarismus abgelehnt haben. Im Vergleich zu den westeuropäischen Lösungen weist das 1989/1990 eingerichtete Verfassungsgebungsverfahren eine weitere Besonderheit auf, die das Resultat eines vierzigjährigen totalitären Regimes ist: Es beruht nicht nur auf einem Konsens der Koalitionsparteien, sondern es erfordert in einigen Fällen auch die Mitwirkung der Opposition und verstärkt die Kontrolle der von der Regierung ausgeübten Macht erheblich.

<RNA>75<RNE><MA>Verfassungsrechtsakte mit Zweidrittelmehrheit<ME>Was Rechtsakte betrifft, die einer Zweidrittelmehrheit und damit der Unterstützung der Opposition bedürfen, war ursprünglich bei „Rechtsakten mit Verfassungsgeltung“ eine solche Mehrheit praktisch in allen Fragen erforderlich, die den Regierungsaufbau und die Grundrechte betreffen. Mit dem „Pakt“ von 1990 zwischen der größten Regierungspartei und der größten Oppositionspartei wurde die Anzahl der Rechtsakte, die diese Voraussetzung erfüllen müssen, erheblich reduziert. Als Gegenleistung für die Zustimmung zu dieser Änderung und zur Schaffung des Instruments eines konstruktiven Mißtrauensvotums wurde der Allianz der Freien Demokraten (SZDSZ) ein „mäßig schwacher“ Staatspräsident zugestanden. 1989 gelang es dem Oppositionellen Runden Tisch, die Festschreibung des – auf Imre Pozsgay zugeschnittenen – Amtes eines „mäßig starken“ Präsidenten und damit eines semipräsidialen Systems in der Verfassung zu verhindern, jedoch verfügte Árpád Göncz zweifellos über weitergehende präsidiale Befugnisse als im Gesetz Nr. I von 1946 mit der darin geregelten beispielhaften repräsentativen Präsidentschaft vorgesehen war. <MA>Gleichgewichtswahrende Zwischenstellung des Präsidenten<ME>Aufgrund dieser eher „neutralen“ Befugnisse des Präsidenten ist dieser weder der Exekutive noch der Legislative zuzuordnen, sondern nimmt eine das Gleichgewicht wahrende Zwischenstellung ein. Die im Vergleich zu anderen europäischen Lösungen extrem weitreichenden Befugnisse des Verfassungsgerichtshofs und die komplizierte Regelung der parlamentarischen Beauftragten lassen sich ebenfalls auf das Bestreben zurückführen, die Macht der Exekutive zu beschränken.

83 Überraschenderweise wird in der Begründung der Entscheidung 3/2004. (II. 17.) über die Möglichkeit eines Einspruchs des Generalanwalts insoweit ein gegenteiliger Ansatz sichtbar, als das Gericht 15 Jahre nach der Wende, die praktisch zu einer neuen Verfassung geführt hat, die ungarische Verfassungsentwicklung seit 1949 als ein Kontinuum darstellt. Hierfür spricht auch, daß das Gericht folgende Zeiträume abgrenzt: Die erste Phase umfaßt die Ära Rákos, die Verfassung in Form des Gesetzes Nr. XX von 1949 (vom Gericht als Verfassung 1 bezeichnet, obwohl ohnehin nur eine einzige Verfassung existiert), und ihre Änderung durch Kádár durch das Gesetz I von 1972 (vom Gericht als Änderung 1 bezeichnet). Die zweite Phase umfaßt die in den Gesprächen des Runden Tisches ausgearbeitete Verfassung des Übergangs in Form des Gesetzes Nr. XXXI von 1989 (sogenannte Änderung 2).

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<RNA>75<RNE><MA>Diskussion um den Verfassungsgerichtshof<ME>Die Parteien des Oppositionellen Runden Tisches akzeptierten den Plan der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) zur Errichtung des Verfassungsgerichtshofs als Gegengewicht zur Exekutive entsprechend dem vorherrschenden Muster in den Konsensdemokratien Europas, wenn auch nur vorläufig für den Zeitraum bis zu den Wahlen. Die Opposition wollte jedoch keine die Macht der Staatspartei stützende Institution, sondern bestand auf einem Verfassungsgerichtshof, der die Macht des Parlaments und der Regierung radikal einschränkt und dessen Entscheidungen vom Parlament nicht – wie dies ursprünglich von der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) vorgeschlagen worden war – aufgehoben werden können; im übrigen sollte jedermann das Recht haben, die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zu beantragen.

<RNA>75<RNE><MA>Verfassungsordnung als konsensuelle Demokratie<ME>Der nach den Wahlen im Frühjahr 1990 geschlossene „Pakt“ zwischen dem Ungarischen Demokratischen Forum (MDF) und der Allianz der Freien Demokraten (SZDSZ) ist darüber hinaus das Ergebnis eines einvernehmlichen Entscheidungsfindungsprozesses, der ebenfalls aufgrund der Gespräche des Runden Tisches Eingang in die politische Kultur Ungarns fand. Das Protokoll dieser Gespräche belegt anschaulich, daß die Vorbereitung des ungarischen Übergangs von Konsens getragen wurde und daß die Beteiligten – offenbar im Bewußtsein ihrer fehlenden Legitimität – versucht haben, die neue Verfassungsordnung als konsensuelle Demokratie auszugestalten. Deshalb wollten sie die denkbar umfassendste Kontrolle der Macht der Exekutive erreichen. Gleichzeitig zeigt die technische Umsetzung der nächsten Verfassungsänderung, daß die politischen Akteure die Aufgabe, das Verhältnis der Verfassungsorgane zueinander zu definieren, als Teil der politischen Verhandlungen betrachteten und zunächst nicht die Absicht hatten, eine abschließende Verfassungslösung zu schaffen, was die Verabschiedung einer neuen Verfassung bedeutet hätte.

<RNA>75<RNE><MA>Ausgestaltung des Staatspräsidentenamtes<ME>Ein Indiz hierfür ist der Umstand, daß József Antall, der sich für eine Ausgestaltung des Staatspräsidentenamtes als Spitze der Exekutive und Oberbefehlshaber der Streitkräfte ausgesprochen hatte, als Ministerpräsident während des Medienkriegs 1991/1992 den Verfassungsgerichtshof um eine gegenteilige Auslegung der Verfassungsbestimmungen über die Befugnisse des Staatspräsidenten ersuchte. Der Verfassungsgerichtshof unter Leitung von László Sólyom stellte in ergänzender Auslegung der insoweit lückenhaften Verfassung fest, daß der Staatspräsident in ähnlichen parlamentarischen Systemen wie dem ungarischen nicht an der Spitze der Exekutive stehe sowie nach der Verfassung und dem Gesetz über die nationale Verteidigung de facto auch nicht über die Befugnisse eines Oberbefehlshabers verfüge; diese stünden vielmehr der Regierung und dem Verteidigungsminister gemeinsam zu.

<RNA>75<RNE><MA>Parlamentskontrolle der Exekutive<ME>Während der Pakt von 1990 wohl das letzte Einvernehmen auf institutioneller Ebene zwischen den Regierungsparteien (oder zumindest der größeren Regierungspartei) und der Opposition (oder zumindest einer Oppositionspartei) darstellte, führte die aus dem Pakt hervorgegangene Verfassungsänderung ihrerseits zu einer intensiveren Kontrolle der Exekutive. In den nachfolgenden Legislaturperioden hätte die jeweilige Regierung offenbar gerne die Möglichkeiten der Verfassungsorgane eingeschränkt, die einvernehmliche Ausübung von Regierungsbefugnissen zu begrenzen, vor allem die Möglichkeiten des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive. Die Regierungen besaßen jedoch entweder nicht den Mut oder nicht die erforderliche Unterstützung, die hierfür notwendigen Verfassungsänderungen durchzusetzen.

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<RNA>75<RNE><MA>Kritik an der ungarischen „Verfassungsgebung“ von 1989<ME>Die ungarische „Verfassungsgebung“ von 1989 ist von zahlreichen Autoren kritisiert worden. Der amerikanische Professor für Rechtswissenschaft Bruce A. Ackerman vertritt in seinem 1992 veröffentlichten Buch die These, daß die konstitutionellen Garantien eines liberalen Rechtsstaats nur gewährleistet werden könnten, wenn eine neue Verfassung geschaffen werde, und daß die Möglichkeit zur Schaffung eines neuen Grundgesetzes im Laufe der Zeit abnehme84. Es habe die Möglichkeit, ja sogar die Notwendigkeit bestanden, in Ungarn eine neue Verfassung gleich zu Beginn des politischen Übergangs zu verabschieden, wodurch sich seiner Meinung nach das Legitimationsdefizit des „Systemwandels“ hätte beheben lassen, wie dies 1949 mit dem Grundgesetz in Deutschland erfolgt sei. In einem zehn Jahre später gegebenen Interview wiederholt er nicht nur diese Auffassung, sondern äußert sich auch zu den Nachteilen: „Ungarn hat die Chance zur Verabschiedung einer Verfassung nicht genutzt. Der Runde Tisch von 1989 hat keine neue Verfassung entworfen. Der Verfassungsgerichtshof hat durch Ausarbeitung der fundamentalen Grundsätze in seinem Urteil versucht, einen Ersatz für eine neue Verfassung zu schaffen. Es steht jedoch zu befürchten, daß dies mit Ablauf der Amtszeit von László Sólyom sein Ende finden wird. <MA>Auslegung statt Neufassung<ME>Da die Herausbildung des Konstitutionalismus nicht auf einen modernen, neuen Verfassungstext gestützt ist, sondern auf der Auslegung durch den Verfassungsgerichtshof in seiner jeweils aktuellen Besetzung beruht, sind die ungarischen verfassungsrechtlichen Errungenschaften zu fragil und ungewiß“85.

<RNA>75<RNE><MA>Grundgesetz von 2011<ME>Am 18. April 2011 verabschiedete das ungarische Parlament mit der Zweidrittelmehrheit der national-konservativen Regierungskoalition von Fidesz-Ungarischer Bürgerbund (Fidesz-Magyar Polgári Szövetség) und Christdemokratischer Volkspartei (Kereszténydemokrata Néppárt, KDNP) das neue ungarische Grundgesetz86. Dieses Grundgesetz, das am 1. Januar 2012 in Kraft trat, ersetzt die im Zuge des Systemwechsels von 1989/90 umfassend novellierte, formal aber nicht außer Kraft gesetzte sozialistische Verfassung. Anders, als man es von der Entstehung eines Schriftstücks, das das Leben in einem Land langfristig prägen wird, erwarten würde, erfolgte die Formulierung des neuen Grundgesetzes ohne eine echte politische, fachwissenschaftliche und gesellschaftliche Debatte. Eine Diskussion wurde de facto ausschließlich unter Vertretern der Regierungsparteien geführt. Auch die Venedig-Kommission des Europarats brachte in einer Stellungnahme vom 17./18. Juni 2011 ihre Besorgnis über ein Dokument zum Ausdruck, das unter Ausschluß der politischen Opposition, von Rechtsexperten und zivilgesellschaftlichen Institutionen entstanden ist87. Zwar wird in Ungarn Artikel B der Verfassung als unabhängiger, demokratischer Rechtsstaat bezeichnet, der laut Artikel E an der Schaffung der Europäischen Einheit mitwirkt, doch genügt die Verfassung in vielerlei Hinsicht nicht den Standards des

84 Bruce Ackerman, The Future of Liberal Revolution, New Haven, 1992. Anfang der 1990er Jahre erarbeitete András Sajó im juristischen Institut der ungarischen Akademie der Wissenschaften einen Entwurf für eine neue Verfassung, der aber mit Ausnahme einer Reaktion von Fachleuten keinerlei politische Wirkung zeigte. Sajó András, Egy lehetséges alkotmány, Bence György, Halmai Gábor, Pokol Béla és Sós Vilmos bíráló megjegyzéseive, A Társadalomtudományi Társaság Füzetei, Bp. 1991.85 „A magyar alkotmányos vívmányok túlságosan sérülékenyek“, von Gábor Halmai geführtes Interview mit Bruce A. Ackermann, Fundamentum, 2003/2. S. 52.86 Verfassungstext in deutscher Übersetzung unter <www.kormany.hu/download/7/81/40000/Grundgesetz%20Ungarns%202011.pdf>.87 Opinion of the New Constitution of Hungary, adopted by the Venice Commission at its 87th Plenary Session, 17-18 June 2011, CDL-AD(2011)016; <www.venice.coe.int/docs/2011/CDL-AD(2011)016-E.pdf>

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demokratischen Konstitutionalismus und den grundlegenden Prinzipien, die in Art. 2 des EU-Vertrags (gemeinsame Werte der Union) festgelegt sind88.

<RNA>75<RNE><MA><ME>Die Frage, die sich für die Zukunft einer so fragilen Demokratie wie der ungarischen stellt, ist, ob Ungarn dank dieser illiberalen Tendenzen des neuen Grundgesetzes in ein autoritäres System zurückfällt, oder diese Demokratie gefestigt werden kann. Die Europäische Union kann behilflich sein, da letztlich nach Art. 2 EUV die Union auf bestimmte Werte, darunter die Wahrung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte gegründet ist. Aber wie John Stuart Mill einmal weise gesagt hat: Demokratie kann nur von innen und nicht von außen kommen. Also, um ihre Demokratie zu retten, braucht Ungarn vor allem eine neue verfassusngsgebende Mehrheit, unterstützt von den ungarischen Wählern. Bei den Parlamentswahlen im April 20124 hat aber dieselbe national-konservative Regierungskoalition wieder eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erhalten, und damit ist die Zukunft der Demokratisierung nach wie vor unsicher.ist es noch nicht geschehen.

H. Fazit: Demokratische Konsolidierung

<RNA>75<RNE><MA>Frage der Akzeptanz und politischen Akteure<ME>Eine der wichtigsten Fragen lautet, welche Bedeutung die Verabschiedung von Verfassungen für die Konsolidierung der Demokratie in den Ländern Mittel- und Osteuropas hat und ob die extreme Polarisierung, die zwanzig Jahre nach der Wende in diesen Ländern anzutreffen ist, auf einen Mangel an politischer Kultur zurückzuführen ist. Kriterien für eine konsolidierte Demokratie sind sicherlich nicht nur die durch frühzeitige Verfassungsänderungen geschaffenen demokratischen Institutionen, sondern auch das Fehlen politischer Akteure, die diese demokratischen Institutionen abschaffen wollen, sowie die allgemeine Akzeptanz demokratischer Entscheidungen in der öffentlichen Meinung.

<RNA>75<RNE><MA>Ebenen im Prozeß demokratischer Konsolidierung<ME>Zu unterscheiden sind zwei Ebenen im Prozeß der demokratischen Konsolidierung, nämlich die formelle/strukturelle und die eher substantielle Ebene.1. Auf der ersten, das heißt der institutionellen Ebene müssen vor allem folgende Fragen beantwortet werden: Wurden die Strukturen gefestigt, die horizontale Verantwortlichkeit, Konstitutionalismus und Rechtsstaatlichkeit gewährleisten? Hat die im Rahmen einer neuen Verfassungsordnung erfolgte Einrichtung von Institutionen zu einem Rechtsstaat geführt? Wurden neben den politischen Institutionen auch eine starke Zivilgesellschaft und eine institutionalisierte Wirtschaftsgesellschaft geschaffen, damit sich die Demokratien konsolidieren können?2. Auf der zweiten Ebene, die das normative Bekenntnis zur Demokratie im Verhaltens- und im Einstellungsbereich betrifft, stellt sich die Frage, ob eine breit und tief verankerte Legitimation erreicht wurde. Es geht mit anderen Worten um die Frage, ob alle maßgeblichen politischen Akteure sowohl in der Elite als auch in der breiten Bevölkerung davon überzeugt sind, daß das demokratische Regime das richtige und geeignetste für die Gesellschaft und besser als alle anderen für sie vorstellbaren realistischen Alternativen ist.

88 Über die neue ungarische Verfassung und die Verfassungsentwicklung der folgenden Jahre s. Gábor Halmai, Hochproblematisch. Ungarns neues Grundgesetz, Osteuropa, 11/2011. Gábor Halmai, From the „Rule of Law Revolution“ to the Constitutional Counter-Revolution in Hungary, European Yearbook on Human Rights, 2012. Gábor Halmai, An Illiberal Constitutional System in the Middle of Europe, European Yearbook on Human Rights, 2014.

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Gabor Halmai, 2015-02-17,
Ich habe den urprünglichen Satz vor den Parlamentswahlen geschrieben.
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<RNA>75<RNE><MA>Gründe demokratischer Konsolidierungsdefizite<ME>Im folgenden seien die Hauptgründe für das Fehlen einer vollständigen demokratischen Konsolidierung genannt.1. Mangel an Konsens über demokratische Werte zum Zeitpunkt der Wende: <MA>Fehlender Wertekonsens<ME>Die Spaltung der antikommunistischen Koalitionspartner nach dem Abklingen der Gefahr einer kommunistischen Restauration in den Ländern der Region zeigt, daß Antikommunismus nicht unbedingt mit einem Bekenntnis zu demokratischen Werten und zu den Menschenrechten gleichgesetzt werden kann. In Polen und Ungarn gab es keine echte parlamentarische Demokratie, sondern lediglich Elemente eines repräsentativen Systems vor dem zweiten Weltkrieg unter Pilsudski und Horthy mit starken nationalistischen und antisemitischen Strömungen. Außerdem herrschte vor dem Übergang in keinem der beiden Länder eine Menschenrechtskultur.2. Enttäuschungen nach der Wende 1989/1990: <MA>Ausbleiben einer Vergeltungsjustiz<ME>Das Ausbleiben einer Vergeltungsjustiz gegen diejenigen, die schwere Menschenrechtsverletzungen begangen haben, und einer Entkommunisierung in durchgreifenden Überprüfungsverfahren, die Nichtherausgabe konfiszierten Vermögens sowie das Fehlen einer Art von Marshallplan mit der damit verbundenen Hoffnung auf rasches Wirtschaftswachstum und höhere Lebensstandards haben Enttäuschung ausgelöst. Die Klagen der Verlierer der Wende haben zu Populismus, Nationalismus, Antisemitismus, Antisäkularismus und antieuropäischen Stimmungen geführt, die sich die politischen Akteure zunutze machen konnten.

<RNA>75<RNE><MA>Unerledigte Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit<ME>Die ungelösten Probleme bei der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit lasten auf den neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa und schwächen sie. Das anschaulichste Beispiel hierfür ist Polen, wo das 2007 von der Regierung Kaczynski eingeführte Lustrationsprogramm das Land tief entzweite. 2002 haben die ungarischen und 2007 die bulgarischen Bürger erfahren, daß der von ihnen gewählte Premierminister beziehungsweise der Staatspräsident ein ehemaliger Mitarbeiter der Geheimpolizei war. Selbst in der Tschechischen Republik, wo die Lustration am radikalsten vollzogen wurde, ist die kommunistische Vergangenheit noch nicht aufgearbeitet, wie die kontroverse Entscheidung der Regierung, alle Unterlagen der Geheimpolizei im Internet zu veröffentlichen, gezeigt hat. <MA>Keine Rückfallgefahr<ME>Wie fragil diese Demokratien auf Verhaltens- und Einstellungsebene aber auch sein mögen, so ist es heutzutage doch undenkbar, daß diese Länder – mit Ausnahme Ungarns – in halbautoritäre Systeme zurückfallen könnten. Ob in Ungarn, wo nach den Parlamentswahlen von 2010 eine Beschneidung wesentlicher Rechtsstaatsgarantien eingesetzt hat, die liberale Demokratie konsolidiert werden kann oder ob das Land zurück in autoritäre Muster oder bestenfalls in eine illiberale Demokratie wie in den lateinamerikanischen Ländern oder wie im Rußland Putins verfällt, ist noch nicht entschieden.

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