freya von den sieben inseln

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JOSEPH CONRAD FREYA VON DEN SIEBEN INSELN Eine Geschichte von seichten Gewässern band 3 haffmans verlag

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Joseph Conrad

Freya von den sieben inseLn

Eine Geschichte von seichten Gewässern

band 3

haffmans verlag

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JOSEPH CONRADS WERKE »ZÜRCHER AUSGABE«in neu übersetzten Einzelbänden

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JOSEPH CONRAD

Freya von den Sieben InselnEine Geschichte von seichten Gewässern

Neu übersetztund mit einer Nachbemerkung

vonNIKOLAUS HANSEN

HAFFMANS VERLAG

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»Freya of the Seven Islands – A Story of Shallow Waters«

erschien im April 1912 im »Metropolitan Magazine«,New York, und im Juli 1912 im »London Magazine«,

als Buchausgabe in »Twixt Land and Sea«,London / New York, 1912

Die Erstausgabe dieser Neuübersetzung erschien 1996 im Haffmans Verlag.

Einbandbild von Michael Sowa

Alle Rechte an dieser Neuedition und Neuübersetzung vorbehalten

Copyright © 1996, 2000 by Haffmans Verlag AG Zürich

Gesamtherstellung: Offizin Andersen Nexö, Leipzig isbn 3 251 20293 6

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Inhalt

FREYA VON DEN SIEBEN INSELNEine Geschichte von seichten Gewässern . . . . . . . 7

ANHANGNachbemerkung des Übersetzers . . . . . . . . . . . 123Glossar der nautischen Begriffe . . . . . . . . . . . . 126

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Eines Tages – und dieser Tag liegt inzwischen viele Jahre zurück – erhielt ich von einem alten Kumpan und Weggefährten auf meinen Fahrten durch fern-

östliche Gewässer einen langen Plauderbrief. Er lebte immer noch dort draußen, aber er war seßhaft geworden, ein Mann mittleren Alters; ich stellte ihn mir vor mit stattlicher Figur und häuslichem Wesen; kurz, von jenem Schicksal ereilt, das allen droht, sofern sie nicht in der besonderen Gunst der Götter stehen und schon früh das Zeitliche segnen. Es war ein Brief, der in Vergangenem schwelgte, ein »Du-erinnerst- Dich-doch-noch«-Brief – ein wehmütiger, im Gestern ver- hafteter Brief. Und unter anderem hieß es da: »Du erinnerst Dich doch bestimmt noch an den alten Nelson.« Den alten Nelson! Und ob. Aber eines vorweg, er hieß gar nicht Nelson. Ich nehme an, daß die Engländer im Archipel ihn Nelson nannten, weil es bequemer war, und er hat wohl nie etwas dagegen gesagt. Das war auch reine Pedanterie gewesen. Sein richtiger Name lautete Nielsen. Er war, lange bevor es die ersten telegraphischen Verbindungen gab, in den Osten gekommen, hatte für englische Firmen gearbei- tet, hatte ein englisches Mädchen geheiratet, hatte jahrelang zu uns gehört, hatte auf seinen Handelsfahrten den östlichen Archipel in allen Himmelsrichtungen durchsegelt, kreuz und quer, hin und her, diagonal, im Halbkreis, im Zickzack, in Achtern, Jahr für Jahr. Bis in den letzten Winkel dieser tropischen Gewässer war der alte Nelson (oder Nielsen) bei seinen Unternehmungen

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auf höchst friedvolle Weise vorgedrungen. Trüge man seine sämtlichen Routen in eine Karte ein, würden sie den Archi- pel wie ein Spinnengewebe überziehen – den gesamten Ar- chipel mit Ausnahme der Philippinen. Es war eine sonder- bare Abneigung gegenüber den Spaniern, oder, um es genau zu sagen, gegenüber den spanischen Behörden, die ihn die- ses Gebiet meiden ließ. Niemand weiß genau, was er eigent- lich meinte von ihnen befürchten zu müssen. Vielleicht hatte er irgendwann einmal Geschichten von der Inquisition gele- sen. Aber er hatte sowieso Angst vor allem, was er »Behörden« nannte; nicht vor den englischen Behörden, denen vertraute und die respektierte er, aber vor denen der anderen zwei, die in jenem Teil der Welt das Sagen haben. Die Holländer fand er zwar nicht ganz so schrecklich wie die Spanier, aber dafür mißtraute er ihnen um so mehr. Er mißtraute ihnen außer- ordentlich. In seinen Augen waren die Holländer imstande, einem Mann, der das Pech hatte, ihnen unangenehm auf- zufallen, »auf jede nur erdenkliche Weise übel mitzu- spielen«. Zwar hatten sie ihre Gesetze und Vorschriften, doch mangelte es ihnen bei deren Anwendung gänzlich an Augenmaß. Es war ein wahrhaft erbärmlicher Anblick, mit welch devoter Beflissenheit er seine Verhandlungen mit irgendwelchen Beamten führte, wenn man zugleich be- dachte, daß dieser Mann (dabei muß man wissen, daß er schon immer wohlbeleibt war, und einem, wenn ich das so sagen darf, bei seinem Anblick das Wasser im Mund zu- sammenlaufen konnte) bekanntlich gelassen und furchtlos Kannibalendörfer in Neuguinea aufzusuchen pflegte, um dort irgendeinen Tauschhandel zu treiben, bei dem für ihn am Ende vielleicht nicht einmal fünfzig Pfund heraus- sprangen.

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Ob ich mich an den alten Nelson erinnere! Kann man wohl sagen! Zugegeben, von den Leuten meiner Generation kannte ihn keiner aus seinen aktiven Tagen. Zu unserer Zeit war er schon »im Ruhestand«. Der Herrscher einer kleinen Inselgruppe etwas nördlich von Banka, der Sieben Inseln, hatte ihm ein Stück von einem seiner winzigen Eilande ver- kauft oder verpachtet. Ich vermute, daß es sich um eine rechtmäßige Transaktion gehandelt hat, doch wäre er Engländer gewesen, hätten die Holländer garantiert einen Grund gefunden, ihn ohne langes Gefackel von der Insel zu verjagen. In diesem Zusammenhang dürfte ihm die richtige Schreibweise seines Namens gut zustatten gekommen sein. Als bescheidenen Dänen, der sich äußerst korrekt verhielt, ließen sie ihn gewähren. Da er sein ganzes Geld in die Ur- barmachung seines Landes gesteckt hatte, war er natürlich peinlich darum bemüht, jeden noch so harmlosen Anlaß für Ärgernisse zu vermeiden, und es war in erster Linie seine aus diesen Gründen entstandene Vorsicht, von der seine Vorbe- halte gegenüber Jasper Allen herrührten. Doch davon später. Ja! Das waren unauslöschliche Erinnerungen, der große, ein- ladende Bungalow, den sich der alte Nelson auf einer ab- schüssigen Landspitze gebaut hatte, die stattliche Figur des Mannes, das weiße Hemd und die weiße Hose, die er meist trug (er hatte die Angewohnheit, beim geringsten Anlaß seine Alpakajacke auszuziehen), seine großen blauen Augen, sein wuchernder sandweißer Schnurrbart, der sich in alle Richtungen sträubte wie die Stacheln eines gereizten Igels, seine Eigenart, sich plötzlich hinzusetzen und mit dem Hut Luft zuzufächeln. Es muß aber dennoch gesagt werden, daß, woran man sich eigentlich erinnerte, seine Tochter war, die zu jener Zeit kam, um bei ihm zu leben – und sie wurde so etwas wie die Königin der Inseln.

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Freya Nelson (oder Nielsen) gehörte zu den Mädchen, an die man sich ein Leben lang erinnert. Das Oval ihres Ge- sichts war vollkommen; und innerhalb dieser faszinierenden Umrahmung mischte sich die äußerst glückliche Anordnung von Linien und Formen mit einem betörenden Teint zu einem Ausdruck von Gesundheit und Kraft und zu einem, wie ich es nennen möchte, unbewußten Selbstvertrauen – einer höchst erfreulichen und gleichwohl launischen Eigen- willigkeit. Ich werde mich hüten, ihre Augen mit Veilchen zu vergleichen, denn im Grunde war ihr Farbton einzigartig, nicht so dunkel und leuchtender. Es waren wache Augen, die einen in jeder Stimmung offen ansahen. Nie habe ich erlebt, daß sie die langen dunklen Wimpern niederschlug – Jasper Allen, so wage ich zu behaupten, wird aufgrund seiner privilegierten Stellung in den Genuß dieses Anblicks ge- kommen sein –, aber ich zweifle nicht, daß gerade dann ihr Ausdruck auf komplizierte Weise bezaubernd war. Sie konnte – so erzählte Jasper mir einmal mit einem rührend idiotischen Juchzen – auf ihrem Haar sitzen. Schon möglich, schon möglich. Mir war es nicht vergönnt, Zeuge dieser Er- staunlichkeiten zu sein; ich mußte mich damit begnügen, sie so zu bewundern, wie sie mir begegnete: mit sorgsam und schicklich aufgestecktem Haar, um nur ja nicht die gelun- gene Form ihres Kopfes zu verbergen. Und diese Haarflut war von einem solchen Glanz, daß sie, wenn auf der West- veranda die Jalousien heruntergelassen waren und dort ein angenehmes Dämmerlicht herrschte, oder im schattigen Obstgarten nicht weit vom Haus, selbst ein goldenes Licht auszustrahlen schien. Sie trug meist eine weiße Bluse und dazu einen halblan- gen Rock, unter dem ihre gepflegten braunen Schnürstiefel zu sehen waren. Wenn es an ihren Kleidern überhaupt ir-

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gendwelche Farben gab, dann allenfalls hier und da einen Tupfen Blau. Es schien keine Anstrengung zu geben, die sie erschöpfen konnte. Ich habe sie nach einer langen Ruder- partie in der Sonne (sie ruderte gern und viel) aus dem Dinghi steigen sehen, ohne daß ihr Atem schneller ging oder auch nur eine einzige Haarsträhne verrutscht war. In der Frühe, wenn sie auf die Veranda trat, um einen ersten Blick über See nach Westen gen Sumatra zu richten, glich sie in ih- rer Jugend und Unberührtheit frischem Morgentau. Doch der Morgentau verflüchtigt sich, während Freya nichts Flüchtiges an sich hatte. Ich erinnere mich an ihre runden, kräftigen Arme mit den zarten Handgelenken, an ihre großen, tüchtigen Hände mit den zu den Spitzen hin sich verjüngenden Fingern. Ich weiß nicht, ob sie gar auf See zur Welt gekommen ist, aber ich weiß, daß sie bis zum Alter von zwölf Jahren mit ihren Eltern auf verschiedenen Schiffen zur See fuhr. Nach- dem der alte Nelson seine Frau verloren hatte, stand er vor der schwierigen Frage, was er mit dem Mädchen anfangen sollte. Gerührt von seinem stummen Schmerz und seiner bedauernswerten Ratlosigkeit erbot sich eine freundliche Dame in Singapore, sich Freyas anzunehmen. Dieses Arran- gement währte etwa sechs Jahre, während deren der alte Nelson (oder Nielsen) »in den Ruhestand« trat und sich auf seiner Insel niederließ, und dann wurde beschlossen (die freundliche Dame siedelte nach Europa über), daß seine Tochter zu ihm ziehen sollte. Die erste und wichtigste Maßnahme zur Vorbereitung dieses Ereignisses bestand darin, daß der alte Knabe seinen Agenten in Singapore beauftragte, ihm ein Steyn & Ebhart- Klavier zu besorgen. Ich war damals Kapitän eines kleinen Dampfers für den Gütertransport zwischen den Inseln, und

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mir fiel die Aufgabe zu, ihm die Bestellung anzuliefern, wes- wegen ich einiges über Freyas Klavier weiß. Unter größten Schwierigkeiten wuchteten wir die riesige Kiste auf einen flachen Felsen zwischen Ufergebüsch, eine nautische Ope- ration, bei der einem meiner Boote beinahe der Boden herausgeschlagen wurde. Meine gesamte Mannschaft ein- schließlich Maschinisten und Heizern schuftete unter Auf- bietung allen verfügbaren Erfindungsreichtums in der Sonne wie die alten Ägypter beim Pyramidenbau, um sie mit Hilfe von Rollhölzern, Hebelstangen, Flaschenzügen und schiefen Ebenen aus geseiften Brettern schließlich bis zum Haus zu bringen, wo wir sie am äußersten Rand der West- veranda, die als Gesellschaftszimmer des Bungalows diente, absetzten. Dort wurde die Kiste vorsichtig auseinanderge- nommen, und dann stand es endlich da, das wunderschöne Ungetüm aus Palisander. In ehrfürchtiger Erregung schoben wir es behutsam gegen die Wand, und dann konnten wir zum ersten Mal an diesem Tag frei durchatmen. Es handelte sich zweifellos um den schwersten beweglichen Gegenstand, der seit Erschaffung der Welt auf diese Insel gelangt war. Das Klangvolumen, das er in jenem Bungalow (der seinerseits wie eine Schallmuschel wirkte) zu entfalten vermochte, war in der Tat verblüffend. Lieblich scholl es bis weit über das Meer. Jasper Allen erzählte mir, daß er frühmorgens an Deck der Bonito (seiner traumhaft schnellen und wunderschönen Brigg) deutlich hören konnte, wie Freya ihre Tonleitern übte. Aber der Bursche ankerte auch immer aberwitzig dicht vor der Landspitze, weswegen ich ihn wiederholt gerügt habe. Gewiß, in dieser Gegend ist die See fast immer ruhig, und die Sieben Inseln gelten als ein ganz besonders friedliches und wolkenloses Plätzchen. Aber dennoch, hin und wieder entschließt sich eines jener Nachmittagsgewitter über Banka,

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oder gar eine jener tückischen finsteren Sturmböen, die an der fernen Küste Sumatras lauern, zu einem blitzschnellen Ausflug hinüber zur Inselgruppe, die dann für ein paar Stun- den von heftigen Winden gebeutelt wird und in eine blauschwarze Düsternis von einzigartiger Bedrohlichkeit gehüllt ist. Und wenn dann die herabgelassenen Rattan- Jalousien wütend im Wind klapperten und der ganze Bun- galow erbebte, pflegte sich Freya ans Klavier zu setzen und inmitten des Geflackers der gleißenden Blitze und des rund- um grollenden Donners, der einem die Haare zu Berge ste- hen ließ, grimmige Wagner-Musik zu spielen; und Jasper blieb dann reglos auf der Veranda sitzen, betrachtete sie von hinten, versank in tiefer Bewunderung für ihre geschmei- dige, sich hin- und herwiegende Gestalt, für den geheimnis- vollen Schein ihres blonden Haars, für die über die Tasten fliegenden Hände, für ihren weißen Nacken – und derweil zerrte dort unten vor der Landspitze, keine hundert Meter von verhängnisvollen, schwarzglänzenden Felsklippen ent- fernt, die Brigg an ihren Ankertrossen. Puh! Und das, bitte sehr, aus dem einen einzigen Grund, daß er, wenn er abends an Bord ging und sein Haupt zur Ruhe bettete, das Gefühl haben wollte, seiner Freya, die dort oben im Bungalow friedlich schlummerte, so nah zu sein, wie es die Umstände eben erlaubten. Hat man so was schon erlebt! Und dabei muß man wissen, daß diese Brigg als zukünftiges Heim dienen sollte – als ihr zukünftiges Heim – es war das schwimmende Paradies, das er nach und nach wie eine Yacht ausstattete, auf der glückselig dahinsegelnd er sein Leben mit Freya zu verbringen beabsichtigte. Kindskopf! Aber der Bursche suchte immer das Risiko. Ich erinnere mich noch daran, daß ich eines Nachmittags zusammen mit Freya von der Veranda aus beobachtete, wie

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sich die Brigg von Norden der Landspitze näherte. Jasper, so vermute ich, machte das Mädchen mit seinem Fernrohr aus. Und was tut er? Statt noch anderthalb Meilen am Riff ent- langzusegeln und dann, nach bewährter Seemannsart, über Stag zu gehen und sich zu seinem Ankerplatz zu verholen, sucht er sich eine Lücke zwischen zwei abscheulichen alten spitzen Felsen, legt plötzlich hart Ruder und jagt die Brigg mit killenden und knatternden Segeln mitten hindurch, den Radau konnten wir bis oben auf die Veranda hören. Ich pfiff durch die Zähne, kann ich Ihnen sagen, und Freya fluchte. Ja! Sie ballte ihre kräftigen Fäuste, stampfte mit ihrem hüb- schen braunen Stiefel auf und sagte: »Verdammt!« Dann sah sie mich an, sie war ein wenig errötet – nur ganz leicht –, und sagte: »Ich vergaß, daß Sie hier sind«, dann lachte sie. Kein Wunder, kein Wunder. Wenn Jasper in Sichtweite war, ver- gaß sie mit Vorliebe, daß es noch andere Menschen auf der Welt gab. In meiner Besorgnis angesichts dieses wahnwitzi- gen Manövers konnte ich nicht umhin, Beistand suchend an ihren gesunden Menschenverstand zu appellieren. »Dieser Wahnsinnige!« sagte ich gefühlvoll. »Der reinste Vollidiot«, pflichtete sie mir zärtlich bei und sah mich mit großen, ernsten Augen offen an, während sich im Anflug eines Lächelns ein Grübchen auf ihrer Wange bil- dete. »Und das nur«, betonte ich, »um vielleicht zwanzig Minu- ten früher bei Ihnen zu sein.« Wir hörten, wie der Anker fiel, und dann wurde sie plötz- lich ausgesprochen resolut und ungemütlich. »Warten Sie. Dem werd ich’s zeigen.« Sie ging auf ihr Zimmer, schloß die Tür hinter sich und ließ mich mit ein paar Anweisungen auf der Veranda zurück. An Bord der Brigg waren die Segel noch längst nicht fertig

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aufgetucht, als Jasper, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe heraufgestürmt kam und, ohne einen guten Tag zu wünschen, sich ungeduldig nach allen Seiten umsah. »Wo ist Freya? War sie nicht gerade noch hier?« Als ich ihm erklärte, er werde, »auf daß es ihm eine Lehre sei«, eine ganze Stunde auf die Anwesenheit von Miss Freya verzichten müssen, sagte er, das hätte zweifellos ich ihr ein- geredet und daß er fürchte, mich eines Tages doch noch er- schießen zu müssen. Sie und ich, wir wären allmählich ein bißchen zu dicke miteinander. Dann warf er sich in einen Stuhl und versuchte, mir von seiner Fahrt zu erzählen. Aber das Komische war, daß der Bursche wirklich Qualen litt. Man sah es ihm an. Ihm versagte die Stimme, und er saß stumm da und starrte mit Leidensmiene die Tür an. Unge- logen … Und noch komischer war, daß nach nicht einmal zehn Minuten das Mädchen seelenruhig aus ihrem Zimmer spaziert kam. Und da bin ich gegangen. Will sagen, ich bin in der wohlmeinenden Absicht gegangen, den alten Nelson (oder Nielsen) auf seiner hinteren Veranda, die er sich bei der Einteilung des Hauses als ganz persönlichen kleinen Schlupfwinkel vorbehalten hatte, zu besuchen und in ein Gespräch zu verwickeln, damit er nicht womöglich durchs Haus liefe und ungewollt an Orten auftauchte, an denen er in jenem Moment nicht willkommen war. Er wußte, daß die Brigg eingetroffen war, doch er wußte nicht, daß sich Jasper bereits bei seiner Tochter befand. Ich vermute, daß er dies angesichts der Kürze der Zeit für aus- geschlossen hielt. Ein Vater mußte natürlich so denken. Er ahnte, daß Allen hinter seinem Mädchen her war; die Vögel in den Lüften und die Fische im Meer, die meisten Schiffer im Archipel und alle möglichen Leute in der Stadt Singapore wußten Bescheid. Aber er war unfähig sich einzugestehen

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wie ernst es dem Mädchen inzwischen mit dem Burschen war. Er hatte die Vorstellung, daß Freya viel zu vernünftig war, um sich in irgend jemanden richtig zu verlieben – ich meine so heftig, daß die Sache außer Kontrolle geriet. Nein; nicht das war der Grund, warum er, wenn Jasper zu Besuch kam, still vertieft in seine Sorgen auf der hinteren Veranda saß. Was ihm Sorgen machte, das waren die holländischen »Behörden«. Denn es ist eine Tatsache, daß die Holländer das Treiben des Jasper Allen, Eigner und Kapitän der Brigg Bonito, miß- trauisch verfolgten. Er war für ihren Geschmack viel zu um- triebig bei seinen Geschäften. Daß er je etwas Illegales getan hat, ist mir nicht bekannt; aber mir scheint, daß sein enormer Eifer unvereinbar war mit ihrem dumpfen Wesen und ihrer Betulichkeit in praktischen Dingen. Wie dem auch sei, der alte Nelson sah in dem Kapitän der Bonito einen gescheiten See- mann und einen reizenden jungen Mann, den er dennoch lie- ber nicht zu seinen näheren Bekannten zählte. Irgendwie kompromittierend, Sie verstehen. Andererseits mochte er Jasper nicht klipp und klar sagen, er sei in seinem Hause nicht erwünscht. Dafür war der arme alte Nelson ein viel zu netter Kerl. Ich glaube, er hätte es, solange man ihn nicht über die Maßen reizte, nicht einmal fertiggebracht, die Gefühle eines wuschelhaarigen Kannibalen zu verletzen. Ich spreche von Gefühlen, nicht von Körpern aus Fleisch und Blut. Was Speere, Messer, Kriegsbeile, Keulen und Pfeile anging, so hatte der alte Nelson durchaus bewiesen, daß er seinen Mann stehen konnte. Aber in jeder anderen Hinsicht war er eine furchtsame Seele. Und so saß er mit sorgenvoller Miene auf der hinteren Veranda, und wenn immer die Stimmen seiner Tochter und Jasper Allens zu ihm herüberdrangen, blähte er die Backen, und wie ein schwergeprüfter Mann ließ er die Luft mit einem kläglichen Geräusch wieder entweichen.

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Natürlich spottete ich über seine Ängste, soweit er sie mir anvertraute. In gewisser Weise schätzte er mein Urteil, und er respektierte es auch, allerdings weniger aufgrund meiner moralischen Qualitäten, sondern vielmehr wegen meiner vermeintlich guten Kontakte zu den holländischen »Behör- den«. Ich wußte genau, daß sein größtes Schreckgespenst, der Gouverneur von Banka – ein reizender, witziger, auf- richtiger Konteradmiral a. D. –, große Sympathien für ihn hegte. Dieser tröstliche Umstand, von dem ich ihn stets aufs neue in Kenntnis setzte, pflegte die Miene des alten Nelson (oder Nielsen) für einen Moment aufzuhellen; aber am Ende schüttelte er doch wieder nur zweifelnd den Kopf, als wollte er sagen, das sei ja alles schön und gut, aber im Wesen des holländischen Beamten gebe es Abgründe, die allein er er- messen könne. Vollkommen lächerlich. An jenem Tag, von dem hier die Rede ist, zeigte sich der alte Nelson gar mürrisch; eine Weile versuchte ich, ihn mit einer komischen und gewissermaßen auch empörenden Ge- schichte abzulenken, die einem gemeinsamen Bekannten in Saigon widerfahren war, als er plötzlich ausrief: »Warum zum Teufel muß er andauernd hier aufkreuzen!« Offenkundig hatte er von der Anekdote kein Wort mit- bekommen. Und das ärgerte mich, denn die Anekdote war wirklich gut. Ich starrte ihn an. »Also wirklich, also wirklich!« rief ich. »Sie wissen nicht, warum Jasper Allen hier andauernd aufkreuzt?« Das war meinerseits die erste offene Anspielung auf das wahre Verhältnis zwischen Jasper und seiner Tochter. Er blieb vollkommen gefaßt. »Oh, Freya ist ein vernünftiges Mädchen!« murmelte er geistesabwesend, während seine Gedanken offenkundig um die »Behörden« kreisten. Nein; Freya war keine Närrin. Was

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das anging, machte er sich keine Sorgen. Der Bursche leistete ihr lediglich Gesellschaft; er unterhielt das Mädchen; weiter nichts. Als der scharfsinnige Alte aufhörte mit seinem Gemur- mel, war im Haus alles still. Die anderen beiden unterhielten sich äußerst leise und zweifellos mit großer Herzenstiefe. Welche Art der Unterhaltung konnte fesselnder, konnte we- niger geräuschvoll sein als die Planung der gemeinsamen Zukunft? Da standen sie nun wohl Seite an Seite auf der Ve- randa und sahen hinunter auf die Brigg, die in dem faszinie- renden Stück die dritte Hauptrolle spielte. Ohne sie konnte es keine Zukunft geben. Sie bedeutete den beiden Wohl- stand und Heim und die große freie Welt. Wer war es noch gleich, der ein Schiff mit einem Gefängnis verglichen hatte? Wenn dieser Vergleich stimmt, so möchte ich schmachvoll mit einer Schlinge um den Hals an einer Rahnock enden. Die weißen Segel jenes Gefährts waren die weißen Flügel – nun gut, poetischer müßte es Schwingen heißen – also, die weißen Schwingen ihrer hochfliegenden Liebe. Hochflie- gend, was Jasper angeht. Freya war eine Frau und vermochte besser als er, die irdischen Aspekte dieser Verbindung im Blick zu behalten. Jasper hingegen schwebte seit dem Tag, an dem sie in einem jener alles entscheidenden Augenblicke des Schwei- gens, die allein geeignet sind, mit Sprache begabte Wesen wirklich eins werden zu lassen, hinabgeblickt hatten auf die Brigg und er ihr daraufhin vorgeschlagen hatte, die Eigner- schaft an diesem Juwel mit ihm zu teilen, im wahrsten Sinne des Wortes in den höchsten Höhen. Einen Moment lang hatte er ihr sogar das ganze Eigentum an dem Schiff über- lassen wollen. Andererseits jedoch hing sein Herz an der Brigg, die er einst in Manila von einem fragwürdigen Perua-

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ner gekauft hatte, einem undurchschaubaren, wortkargen Mann mittleren Alters in einem schlichten Anzug aus feinem schwarzen Wolltuch, der das Schiff, wenn man mich fragt, gut und gerne an der südamerikanischen Küste gestohlen haben konnte, behauptete er doch, »aus familiären Grün- den« auf die Philippinen gekommen zu sein. Dieses »aus fa- miliären Gründen« war deutlich genug. Kein wahrer caballero hätte nach einer solchen Bemerkung weitere Fragen gestellt. Und Jasper erwies sich als caballero. Die Brigg war damals noch schwarz und düster und völlig verdreckt; eine glanzlose Perle der See, oder richtiger noch, ein heruntergekommenes Meisterwerk. Denn er mußte wahrlich ein Künstler gewesen sein, der unbekannte Schiffbauer, der aus härtestem Tro- penholz, zusammengehalten mit Nieten aus reinstem Kup- fer, ihre herrlichen Linien erschaffen hatte. Gott allein weiß, in welchem Teil der Welt sie gebaut worden war. Jasper war es nicht gelungen, seinem wortkargen, verschlossenen Pe- ruaner wesentliche Informationen über ihre Geschichte zu entlocken – wenn der Bursche denn überhaupt Peruaner war und nicht der Teufel höchstpersönlich, wie Jasper im Scherz zu glauben vorgab. Meines Erachtens war sie alt genug, um als eines der letzten Piratenschiffe gedient haben zu können, vielleicht auch als Sklavenschiff, oder als Opiumklipper der ersten Stunde, oder gar als Opiumschmuggler. Wie dem auch sei, sie war gesund wie am Tag ihres Sta- pellaufs, segelte wie eine Hexe und lag auf dem Ruder wie eine kleine Jolle, und wie einige schöne und verwegene Frauen, die wir aus der Geschichte kennen, schien sie ein- geweiht in das Geheimnis der ewigen Jugend; und so war es nicht weiter verwunderlich, daß Jasper Allen sie wie eine Geliebte behandelte. Und diese Fürsorge ließ den Glanz ihrer Schönheit neu erstrahlen. Er hüllte sie in zahlreiche

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Schichten edelster weißer Farbe, die so gekonnt, behutsam und kunstvoll aufgetragen und von seiner geplagten Mann- schaft, die aus sorgfältig ausgewählten Malayen bestand, so gründlich sauber gehalten wurde, daß sie makelloser aussah und sich glatter anfühlte als die kostbarste Emaille, wie Ju- weliere sie für ihre Arbeit benutzen. Die schmale, mit Blatt- gold ausgelegte Göhle unterstrich den eleganten Sprung des Rumpfes im Wasser, und so gelang es der Brigg mühelos, die charakteristischen eleganten Linien sämtlicher Yachten, die sich in jenen Tagen in fernöstliche Gewässer verirrten, zu überstrahlen. Ich für meinen Teil muß sagen, daß ich auf ei- nem weißen Rumpf eine tiefrot ausgemalte Göhle bevor- zuge. Sie hebt die Formen deutlicher hervor und ist zudem weniger kostspielig. Und ich bemerkte dies Jasper gegen- über. Aber nein, das edelste Blattgold war gerade recht, denn das künftige Zuhause seiner Freya konnte gar nicht prächtig genug geschmückt sein. Seine Gefühle für die Brigg und für das Mädchen waren in seinem Herzen so untrennbar miteinander verbunden wie zwei Edelmetalle, die man in einen Schmelztiegel gibt. Und die Flamme brannte verflucht heiß, das kann ich Ihnen ver- sichern. Sie rief in ihm eine heftige innere Unruhe hervor, die seinen Tatendrang ebenso weckte wie seine Sehnsucht. Mit seinem außergewöhnlich fein geschnittenen Gesicht, der seitlichen Welle im kastanienbraunen Haar, den hageren langen Gliedmaßen, mit diesem begierigen Glanz in den stahlgrauen Augen und seinen raschen, schroffen Bewegun- gen erinnerte er mich bisweilen an die funkelnde Klinge eines Schwertes, die es nicht erwarten kann, aus der Scheide zu fahren. Nur wenn das Mädchen zugegen war, wenn er sie betrachten konnte, trat an die Stelle jenes eigenartig ange- spannten Gebarens eine ernste, inbrünstige Aufmerksam-

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keit für jede ihrer noch so beiläufigen Bewegungen und Äußerungen. Ihre kühle, entschiedene, imponierende, hei- tere Selbstbeherrschung schien sein Herz zu besänftigen. War es der Zauber ihres Gesichts, ihrer Stimme, ihrer Blicke, was so beruhigend auf ihn wirkte? Andererseits war es doch genau alles dies, was seine Phantasie entflammt hatte – so- fern denn die Liebe in der Phantasie ihren Ausgang nimmt. Aber ich bin nicht der Mann, solche Geheimnisse zu erör- tern, und mir will scheinen, daß wir uns dringend wieder dem armen alten Nelson widmen sollten, der noch immer auf der hinteren Veranda sitzt und sorgenvoll die Backen bläht. Ich wies ihn daraufhin, daß Jasper nicht gerade häufig auf Besuch käme. Er und seine Brigg waren unermüdlich im ganzen Archipel unterwegs. Doch der alte Nelson sagte nur diesen einen Satz, und er sagte ihn mit spürbarem Unbeha- gen: »Ich hoffe bloß, daß Heemskirk hier nicht auftaucht, so- lange die Brigg in der Gegend ist.« Sich jetzt wegen Heemskirk zu ängstigen! Heemskirk! … Das war wirklich nicht zum Aushalten –

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Meine Güte, wer war schon Heemskirk? Sie wer- den gleich merken, wie unbegründet die Angst vor Heemskirk … Gewiß, er war ein mißgünsti-

ger Mensch. Das lag auf der Hand, man hörte es an seinem Lachen. Nichts gibt soviel Aufschluß über die verborgenen Eigenschaften eines Menschen wie der Klang seines un- bedachten Lachens. Aber Gott bewahre, wenn wir bei jedem üblen Gewieher in Schrecken erstarrten wie der Hase beim kleinsten Laut, dann wären wir allenfalls geeignet, in der Einsamkeit der Wüste oder der Abgeschiedenheit einer Einsiedelei zu leben. Und selbst dort hätten wir uns mit der unvermeidlichen Gesellschaft des Teufels herumzu- plagen. Allerdings ist der Teufel eine bedeutende Persönlichkeit, die schon bessere Zeiten erlebt hat und in der Hierarchie der himmlischen Heerscharen einen hohen Rang einnimmt; dagegen war Heemskirk, dessen Vergangenheit nicht sehr beeindruckend gewesen sein kann, in der Hierarchie der rein irdischen Holländer lediglich ein schlichter Marineoffizier von vierzig Jahren, der sich keinerlei bemerkenswerter Ver- bindungen oder Fähigkeiten rühmen konnte. Er war Kom- mandant der Neptun, eines kleinen Kanonenbootes, das in den Gewässern des Archipels einen öden Patrouillendienst versah, um den Handel zu überwachen. Wahrlich keine son- derlich herausragende Position. Ich schwör’s Ihnen, ein ganz gewöhnlicher Leutnant mittleren Alters mit vielleicht fünf- undzwanzig Dienstjahren und der Gewißheit, daß die Ver-

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setzung in den Ruhestand nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen würde – weiter nichts. Er hatte sich nie groß den Kopf darüber zerbrochen, was auf den Sieben Inseln vor sich gehen mochte, bis er bei einem Gespräch, ich vermute in Mintok oder Palembang, davon erfuhr, daß dort ein hübsches Mädchen lebte. Ich wage zu behaupten, daß es pure Neugierde war, die ihn ver- anlaßte, die Gegend aufzusuchen, und dann, nachdem er Freya gesehen hatte, machte er es sich zur Gewohnheit, die Inselgruppe anzulaufen, wenn immer er in der Nähe war und sie binnen einer halben Tagesfahrt erreichen konnte. Ich will nicht den Eindruck erwecken, Heemskirk sei ein typischer holländischer Marineoffizier gewesen. Ich habe zu viele von ihnen erlebt, als daß mir dieser absurde Irrtum unterlaufen könnte. Er hatte ein breites, glattrasiertes Ge- sicht; große, flache gebräunte Wangen, zwischen die eine schmale Hakennase und ein kleiner gespitzter Mund ge- quetscht waren. In seinem schwarzen Haar zeigten sich erste silbergraue Fäden, und er hatte gräßliche fast schwarze Augen. Er konnte einen mit hochmütigen Seitenblicken bedenken, ohne dabei den Kopf zu bewegen, der dicht über den Schultern auf einem kurzen, dicken Hals saß. Ein schwerer, kugeliger Rumpf in einer dunklen Uniformjacke mit Goldstreifen auf den Schulterstücken wurde von zwei leicht gespreizten dicken runden Beinen getragen, die in einer weißen Drillichhose steckten. Auch sein runder Schädel unter der weißen Schirmmütze schien ungeheuer dick zu sein, doch enthielt er genug Hirnmasse, um die ner- vöse Angst des armen alten Nelson vor jeglichen auch nur andeutungsweise mit den Behörden in Zusammenhang stehenden Ereignissen zu erkennen und sich heimtückisch zunutze zu machen.

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Heemskirk pflegte an Land zu gehen und, ehe er ins Haus kam, stillschweigend das gesamte Anwesen abzuschreiten, als handelte es sich um seinen eigenen Grund und Boden. Auf der Veranda setzte er sich in den bequemsten Stuhl, und er blieb grundsätzlich zum Mittagsimbiß oder zum Abend- brot, er blieb einfach, ohne sich die Mühe zu machen, sein Bleiben mit einem einzigen Wort zu begründen. Er hätte es verdient, hinausgeworfen zu werden, und sei es nur wiegen seines Verhaltens gegenüber Miss Freya. Wäre er ein mit Speer und Giftpfeilen bewaffneter nackter Wilder gewesen, der alte Nelson (oder Nielsen) wäre mit bloßen Fäusten auf ihn losgegangen. Aber diese goldbesetzten Schulterstücke – die obendrein noch holländische Autorität repräsentierten – genügten, um den alten Knaben zu ver- ängstigen; und so ließ er es zu, daß der Mistkerl ihn mit äußerster Geringschätzung behandelte, seine Tochter mit Blicken verschlang und ihm hemmungslos seine bescheide- nen Weinvorräte wegtrank. Ich war bisweilen Zeuge dieser Besuche, und einmal riskierte ich sogar eine Bemerkung zu dem Thema. Die Beunruhigung in den runden Augen des alten Nelson zu sehen war unerträg- lich. Zunächst rief er aus, der Leutnant sei ein guter Freund; ein reizender Mann. Ich ließ unerbittlich meinen strengen Blick auf ihm ruhen, bis er unsicher wurde und schließlich eingeste- hen mußte, daß Heemskirk rein äußerlich keine sehr impo- sante Erscheinung sei, daß sich aber dahinter … »Ich bin hier draußen noch keinem einzigen imposanten Holländer begegnet«, unterbrach ich ihn. »Eine imposante Erscheinung hat zwar nicht viel zu bedeuten, aber merken Sie nicht –« In Erwartung dessen, was ich möglicherweise sagen könn- te, bekam Nelsons Gesicht plötzlich einen dermaßen ängst-

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lichen Ausdruck, daß ich es nicht über’s Herz brachte fort- zufahren. Natürlich hatte ich ihm eröffnen wollen, daß der Kerl hinter seinem Mädchen her war. Das brachte die Sache auf den Punkt. Was Heemskirk erwartete oder was er meinte erreichen zu können, entzieht sich meiner Kenntnis. Soweit ich die Dinge zu beurteilen vermag, hielt er sich vielleicht für unwiderstehlich, oder er hatte Freya aufgrund ihrer lebhaf- ten, kecken, zwanglosen Art falsch eingeschätzt. Aber es gab keinen Zweifel. Er hatte es auf das Mädchen abgesehen. Nelson wäre durchaus in der Lage gewesen, das zu erken- nen. Aber er zog es vor, alle Anzeichen zu übersehen. Und er wollte auch nichts davon hören. »Das einzige, was ich will, ist in Ruhe und Frieden mit den holländischen Behörden leben«, murmelte er verschämt. Ihm war nicht zu helfen. Ich hatte Mitleid mit ihm, und ich bin fest davon überzeugt, daß auch Miss Freya Mitleid für ihren Vater empfand. Seinetwegen übte sie sich in größter Zurückhaltung, und wie alles, was sie tat, tat sie auch dies auf schlichte, natürliche Weise und sogar mit stets heiterer Miene. Und dabei war es keine leichte Pflicht, die sie da auf sich ge- nommen hatte, denn in Heemskirks Annäherungsversuchen lag eine Spur von infamer Geringschätzung, die äußerst schwer zu erdulden war. Holländer seines Schlages pflegen ihre Untergebenen mit Hochmut zu behandeln, und dieser Offizier des Königs sah auf den alten Nelson und auf Freya herab, als stünden die beiden in jeder Hinsicht weit unter ihm. Ich kann nicht behaupten, daß ich für Freya Mitleid emp- fand. Sie gehörte nicht zu den Mädchen, die alles besonders tragisch nehmen. Man konnte mit ihr fühlen und Verständ- nis für ihre Schwierigkeiten haben, aber im Grunde schien sie jeder Situation gewachsen. Es war eher Bewunderung, was sie einem durch ihre selbstbewußte gelassene Heiterkeit

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abverlangte. Lediglich wenn Jasper und Heemskirk gleich- zeitig im Bungalow auftauchten, was gelegentlich vorkam, spürte sie die Spannung, doch auch das vermochte ihr bei weitem nicht jeder anzumerken. Einzig mein Blick war in der Lage, den zarten Schatten wahrzunehmen, der die Ausstrah- lung ihrer Persönlichkeit schwächte. Einmal entschlüpfte mir ungewollt die anerkennende Bemerkung: »Ich schwöre Ihnen, Sie sind wundervoll.« Über ihr Gesicht huschte ein Lächeln. »Vor allem kommt es darauf an zu verhindern, daß Jasper irgendwelche Dummheiten macht«, sagte sie; und ich be- merkte, daß in der stillen Tiefe ihrer klaren Augen, aus de- nen sie mich offen ansah, aufrichtige Besorgnis lag. »Nicht wahr, Sie werden mir helfen dafür zu sorgen, daß er nicht die Beherrschung verliert?« »Selbstverständlich werden wir dafür sorgen, daß er nicht die Beherrschung verliert«, erklärte ich, denn ich verstand nur zu gut, was der Hintergrund ihrer Befürchtungen war. »Er benimmt sich wie ein Irrer, wenn er sich aufregt.« »Das kann man wohl sagen«, pflichtete sie mir mit sanfter Stimme bei; denn es war ein Spiel zwischen uns, uns miß- billigend über Jasper zu äußern. »Aber es ist mir gelungen, ihn ein bißchen zu zähmen. In letzter Zeit benimmt er sich schon fast wie ein artiger Junge.« »Trotzdem, er würde Heemskirk zerquetschen wie eine Küchenschabe«, bemerkte ich. »Wohl wahr«, murmelte sie. »Und damit nicht genug«, fügte sie rasch hinzu. »Stellen Sie sich bloß mal vor, was der arme Papa durchmachen würde. Und außerdem habe ich die Absicht, als Eignerin jener stolzen Brigg in hiesigen Gewäs- sern zu segeln und nicht zehntausend Meilen von hier Zu- flucht zu suchen.«

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»Je früher Sie an Bord sind und sich des Mannes und des Schiffes annehmen, desto besser«, sagte ich ernst. »Sie brau- chen beide Ihre Hilfe, um Kurs zu halten. Ich glaube nicht, daß Jasper jemals vernünftig wird, solange er Sie nicht von dieser Insel fortgeholt hat. Sie erleben ihn ja nicht, wenn er ohne Sie ist, aber ich erlebe ihn dann. Er ist ständig in einem Zustand freudiger Erregung, ich finde das geradezu beäng- stigend.« Wieder antwortete sie mit einem Lächeln, und dann wurde sie ernst. Denn es dürfte ihr nicht unangenehm ge- wesen sein, etwas von der Macht zu erfahren, die sie über ihn hatte, und zugleich wußte sie um ihre Verantwortung. Plötz- lich verschwand sie, denn Heemskirk kam, den alten Nelson im Gefolge, die Stufen zur Veranda herauf. Kaum war sein Kopf auf Höhe des Fußbodens, als er aus seinen boshaften Augen Blicke in alle Richtungen schoß. »Wo ist Ihr Mädchen, Nelson?« fragte er in einem Ton, als sei ihm die ganze Welt Untertan. Und dann zu mir: »Die Göt- tin hat wohl die Flucht ergriffen, was?« Die Nelson-Bucht – wie wir sie zu nennen pflegten – war an jenem Tag voll von Schiffen. Zum einen lag dort mein Dampfer, dann, ein Stück weiter draußen, das Kanonenboot Neptun, und schließlich die Brigg Bonito, die, wie üblich, so dicht unter Land geankert hatte, daß man meinte, mit ein wenig Geschick und Augenmaß könne es gelingen, einen Hut von der Veranda auf ihr tadellos sauber geschrubbtes Achter- deck hinübersegeln zu lassen. Ihre Messingbeschläge fun- kelten wie Gold, die weiße Rumpffarbe schimmerte wie ein Samtrock. Der Fall ihrer lackglänzenden Masten und die gewaltigen, haargenau ins Kreuz gebrassten Rahen verliehen ihr eine Art kriegerische Eleganz. Sie war eine Schönheit. Kein Wunder, daß sich Jasper als Eigner eines solchen Schiffes und

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mit der Aussicht auf ein Mädchen wie Freya in einem Zustand ständiger freudiger Erregung befand, die vielleicht im siebten Himmel angebracht sein mochte, in einer Welt wie der unse- ren jedoch mit gewissen Gefahren verbunden war. Höflich wies ich Heemskirk darauf hin, daß Miss Freya gewiß mit häuslichen Angelegenheiten beschäftigt sei, da es doch drei Gäste zu versorgen gelte. Freilich wußte ich, daß sie gegangen war, um sich auf einer Lichtung am Ufer des einzigen Flusses, den es auf Nelsons kleiner Insel gab, mit Jasper zu treffen. Der Kommandant der Neptun bedachte mich mit einem düsteren zweifelnden Blick und fing an, es sich bequem zu machen, indem er seinen fetten zylinderför- migen Rumpf in einen Schaukelstuhl plumpsen ließ und seine Jacke aufknöpfte. Der alte Nelson nahm mit höchst bescheidenem Gebaren ihm gegenüber Platz, starrte aus sei- nen runden Augen besorgt in die Gegend und fächelte sich mit seinem Hut Luft zu. Ich versuchte, Konversation zu ma- chen, um die Zeit zu vertreiben; keine einfache Aufgabe bei einem griesgrämigen verliebten Holländer, der den Blick un- aufhörlich von einer Tür zur anderen wandern läßt und ent- weder mit einer spöttischen Bemerkung oder mit einem Grunzen reagiert, wenn man das Wort an ihn richtet. Dennoch verlief der Abend ohne Zwischenfälle. Glück- licherweise gibt es ein Maß an Verzückung, das für freudige Erregung keinen Platz mehr läßt. Jasper war friedlich und beschränkte sich darauf, Freya schweigend zu betrachten. Als wir zurück an Bord unserer jeweiligen Schiffe gingen, bot ich ihm an, seine Brigg am nächsten Morgen aus der Bucht zu schleppen. Ich hatte die Absicht, ihn so früh wie möglich von hier fortzubringen. Und so passierten wir im ersten kalten Dämmerlicht das Kanonenboot, das schwarz und reglos und totenstill am Ausgang der spiegelglatten

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Bucht lag. Doch mit tropischer Schnelle war die Sonne auf Höhe ihres zweifachen Durchmessers über dem Horizont emporgeklettert, noch ehe wir das Riff umfahren hatten und wieder auf Höhe der Landspitze waren. Dort, auf dem größ- ten Felsbrocken, stand Freya ganz in Weiß, den Tropenhelm auf dem Kopf, und sie glich der Statue einer Kriegerin mit rosigem Gesicht, wie ich durch mein Fernglas gut erkennen konnte. Sie winkte mit einem weithin sichtbaren Taschen- tuch, und Jasper kletterte blitzschnell in den Großmast der weißen und streitbaren Brigg und schwenkte zur Antwort seine Mütze. Kurz darauf trennten wir uns, ich nahm Kurs Nord, und Jasper fuhr mit einer leichten Backstagsbrise nach Osten, denn er wollte, wenn ich mich recht erinnere, auf je- ner Fahrt Banjermassin und zwei weitere Häfen anlaufen. Anläßlich dieser friedlichen Zusammenkunft sah ich diese Menschen zum letzten Mal alle beisammen; die bezaubernd unbefangene und resolute Freya, den arglosen alten Nelson mit seinen großen runden Augen, Jasper aufgeweckt, schmal- gliedrig, mit hagerem Gesicht, bewundernswert selbstbe- herrscht, weil unfaßbar glücklich in Anwesenheit seiner Freya; alle drei groß, blond, die Augen in unterschiedlichen Blau- tönen, und mitten unter ihnen der düstere, arrogante, schwarz- haarige Holländer, fast einen Kopf kleiner und so unendlich viel dicker als die anderen, daß man versucht war, ihn für eine Kreatur zu halten, die die Fähigkeit besitzt, sich aufzuplustern, für ein bizarres Menschenwesen von einem fremden Stern. Als wir uns nach dem Abendbrot vom Tisch erhoben hat- ten und in der erleuchteten Veranda standen, fiel mir dieser krasse Gegensatz urplötzlich ins Auge. Er sollte mich für den ganzen Rest des Abends beschäftigen, und ich erinnere mich bis heute daran, daß ich ihn zugleich komisch und als böses Omen empfand.

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Einige Wochen darauf lief ich eines frühen Morgens, von einer Reise in die südlichen Gewässer zurück- kehrend, in Singapore ein und sah dort die Brigg vor

Anker liegen, das Rigg wie üblich in perfekter Symmetrie, der Anblick eine wahre Pracht, als sei das Schiff soeben aus einer Glasvitrine gehoben und vorsichtig ins Wasser gesetzt worden. Sie lag draußen auf Reede, während ich dicht unter Land dampfte und mich auf meinen angestammten Platz direkt vor der Stadt legte. Wir saßen noch beim Frühstück, als ein Quartermeister kam und mir Meldung machte, daß Kapitän Allens Boot auf uns zuhielt. Seine schnittige Gig schoß längsseits, und mit zwei Sätzen war er unser Fallreep heraufgeklettert und begrüßte mich mit nervösem Händedruck, und aus seinen ungeduldig fra- genden Blicken schloß ich, daß er vermutete, ich habe auf meiner Fahrt die Sieben Inseln angelaufen. Ich zog aus mei- ner Tasche einen sauber gefalteten kleinen Zettel, den er mir ohne irgendwelche Förmlichkeiten aus der Hand riß und mit auf das Brückendeck nahm, um ihn dort ungestört lesen zu können. Nachdem ich, wie es der Anstand gebietet, eine Weile gewartet hatte, folgte ich ihm und fand ihn auf der Brücke, wo er nervös auf und ab schritt; denn so, wie es um seine Gefühle stand, kam er auch in Augenblicken tiefster Nachdenklichkeit innerlich nicht zur Ruhe. Triumphierend nickte er mir zu. »Tja, mein Bester«, sagte er, »von nun an sind die Tage ge- zählt.«

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Ich verstand, was er meinte. Ich wußte, daß diese jungen Menschen sich längst auf eine heimliche Heirat ohne offizi- elle Zustimmung verständigt hatten. Das war eine logische Entscheidung. Der alte Nelson (oder Nielsen) hätte seine Freya niemals freiwillig an diesen Jasper abgetreten, der ihn dermaßen kompromittierte. Nie im Leben! Was würden die holländischen Behörden zu einer solchen Verbindung sagen! Es klingt so absurd, daß man es gar nicht auszusprechen wagt. Aber niemand ist selbstsüchtiger und hartherziger als ein verzagter alter Mann, der Angst hat um sein »kleines An- wesen«, wie der alte Nelson seinen Besitz gewissermaßen rechtfertigend zu bezeichnen pflegte. Ein Herz, das durch- drungen ist von einer bestimmten Art von Furcht, erweist sich als immun gegen Vernunft, Gefühl und Lächerlichkeit. Es ist versteinert. Jasper hätte dennoch um ihre Hand angehalten, und dann hätte er gemacht, was er wollte; es war Freya, die entschied, daß kein Wort gesagt werden solle, weil sie befürchtete, daß »Papa vor lauter Sorge wahnsinnig werden könnte«. Er wäre fähig, sich in eine Krankheit hineinzusteigern, und dann brächte sie es nicht mehr über’s Herz, ihn allein zu lassen. Ein glänzendes Beispiel für die kluge Weitsicht von Frauen und die Freimütigkeit weiblicher Argumentation. Ansonsten bleibt lediglich zu sagen, daß Miss Freya den »lieben armen Papa« durchschaute, wie Frauen eben Männer zu durch- schauen pflegen – er lag vor ihr wie ein aufgeschlagenes Buch. Wenn seine Tochter erst einmal fort wäre, würde sich der alte Nelson nicht mehr in Sorge verzehren. Er würde ein großes Gezeter anstimmen und in ein endloses Lamento verfallen, aber das ist etwas anderes. Die wahren Seelen- qualen der Entscheidungsnot, die Pein widerstreitender Ge- fühle, alles dies bliebe ihm erspart. Und da er für wutent-

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brannte Raserei zu bescheiden war, würde er sich nach einer gewissen Zeit des Jammerns und Klagens wieder seinem »kleinen Anwesen« widmen, und natürlich der Pflege eines guten Verhältnisses zu den Behörden. Die Zeit würde alles weitere regeln. Und Freya hatte das Gefühl, sie werde warten können, derweil sie über ihr eige- nes Heim auf der prächtigen Brigg und über den Mann gebot, der sie liebte. Das war das rechte Leben für eine wie sie, die Schiffsplanken von klein auf gewöhnt war. Und natürlich liebte sie Jasper, und sie vertraute ihm; doch in ihren Stolz mischte sich eine Spur Sorge. Eine kunstvoll geschmiedete und vertrauenswürdige Schwertklinge, die einem ganz allein gehört, ist etwas Wundervolles, aber ob sie sich als Waffe eignet, um beim alltäglichen Stockfechten mit dem Schicksal zu bestehen – das ist eine ganz andere Frage. Sie wußte, daß sie von ihnen beiden die Stärkere war – keine billigen Scherze, bitteschön, hier ist nicht die Rede von Armdrücken. Sie geriet lediglich ein wenig in Sorge, wenn er fort war, und obendrein hatte sie mich, der ich mir als enger Vertrauter die Freiheit nahm, ihr wieder und wieder zuzu- flüstern »je schneller, desto besser«. Jedoch Miss Freya ver- fügte über eine gehörige Portion Starrsinn, und der Grund, den sie für das weitere Hinauszögern nannte, war bezeich- nend. »Nicht vor meinem einundzwanzigsten Geburtstag; damit niemand denken kann, ich sei nicht alt genug, um zu wissen, was ich tue.« Jasper hatte sich ihr in seinen Gefühlen gänzlich unter- worfen und gegen den Beschluß nicht einmal Einwände erhoben. Sie war einfach umwerfend in allem, was sie sagte oder tat, und für ihn war ein Ende in Sicht. Ich glaube, er war empfindsam genug, um sich im Grunde seines Herzens so-

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gar geschmeichelt zu fühlen – bisweilen. Und als Trost blieb ihm allemal die Brigg, die vom Geiste Freyas durchdrungen zu sein schien, denn was immer er an Bord tat, war gesegnet mit den höchsten Weihen seiner Liebe. »Ja. Bald fange ich an, die Tage zu zählen«, sagte er wieder. »Elf Monate noch. Drei Reisen muß ich bis dahin schaffen.« »Sehen Sie zu, daß Sie nicht zu Schaden kommen, wenn Sie sich derart übernehmen«, ermahnte ich ihn. Doch mit einem Lachen und einer hochmütigen Handbewegung wischte er meine Bedenken fort. Pah! Nichts, nichts werde der Brigg passieren, rief er, als könnte ihm das Feuer in sei- nem Herzen des Nachts in unbekannten Gewässern die Richtung weisen, als könnte ihm das Bild Freyas inmitten unsichtbarer Riffe als sichere Peilung dienen; als habe der Wind sich in den Dienst seiner Zukunft zu stellen, als müß- ten die Sterne für diese Zukunft kämpfen auf ihrem Weg über das Firmament; als entstehe aus der magischen Kraft seiner Leidenschaft das Vermögen, ein Schiff auf einem Tau- tropfen schwimmen zu lassen oder durch ein Nadelöhr zu steuern – ein Schiff, dem das prächtige Schicksal bestimmt war, einer Liebe zu dienen, deren unerhörte Anmut be- wirkte, daß jeder Weg auf Erden sicher, strahlend und unbe- schwerlich wäre. »Ich nehme an«, sagte ich, nachdem er aufgehört hatte, über meine an sich harmlose Bemerkung zu lachen, »ich nehme an, Sie wollen heute auslaufen.« Genau das hatte er vor. Er war nur deswegen noch nicht bei Tagesanbruch gefahren, weil er vermutet hatte, daß ich käme. »Und stellen Sie sich bloß vor, was gestern geschehen ist«, fuhr er fort. »Mein Bootsmann hat urplötzlich abgemustert.

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Er mußte. Und da ich in so kurzer Zeit niemand anderen ge- funden habe, werde ich jetzt Schultz mitnehmen. Den be- rüchtigten Schultz! Warum erklären Sie mich nicht für ver- rückt? Es war ein Haufen Arger, sag ich Ihnen, bis ich Schultz gestern spät in der Nacht endlich irgendwo aufgestöbert hatte. ›Ich bin dabei, Käptn‹, sagte er mit seiner wunderbaren Stimme, ›aber ich muß Ihnen leider gestehen, daß ich außer dem, was ich am Leibe trage, so gut wie keine Klamotten habe. Ich mußte meine ganze Garderobe versetzen, um mir hin und wieder ein bißchen was zu essen kaufen zu können.‹ Die Stimme von dem Mann. Zum Steinerweichen! Aber die Leute scheinen sich daran zu gewöhnen. Ich hatte ihn vorher noch nie gesehen, und ich schwöre Ihnen, plötzlich spürte ich, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Zum Glück war es sehr schummrig. Er saß in einem Eingeborenenviertel ganz friedlich unter einem Baum, spindeldürr, und bei ge- nauerem Hinsehen stellte ich fest, daß er nichts weiter an- hatte als ein altes Baumwollunterhemd und einen zerrissenen Pyjama. Ich hab ihm sechs weiße Bordanzüge und zwei Paar Segeltuchschuhe gekauft. Ohne Bootsmann ist das Schiff nicht in Schuß zu halten. Dafür brauch ich jemanden. Jetzt will ich gerade an Land, um ihn anzumustern, und auf dem Rückweg bring ich ihn mit an Bord, dann können wir aus- laufen. Was ist, ich hab den Verstand verloren – finden Sie nicht? Schwachsinn, na klar. Na los! Geben Sie’s mir. Keine falsche Zurückhaltung. Ich mag es, wenn Sie sich aufregen.« Da er so offenkundig eine Schimpftirade von mir erwar- tete, war es mir ein besonderer Genuß, ein übertriebenes Maß an Gelassenheit an den Tag zu legen. »Das Schlimmste, was man Schultz vorwerfen kann«, be- gann ich nüchtern und verschränkte dabei die Arme, »ist seine fatale Angewohnheit, auf jedem Schiff, das er je betre-

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ten hat, Vorräte zu stehlen. Er kann nicht anders. Ansonsten ist nichts gegen ihn zu sagen. Es gibt eine Geschichte von Kapitän Robinson, der behauptet, Schultz hätte in Chanta- bun mit ein paar üblen Typen von einer chinesischen Dschunke gemeinsame Sache gemacht, um auf dem Scho- ner Bohemian Girl den Steuerbord-Buganker zu stehlen, aber da bin ich skeptisch. Robinsons Geschichte scheint mir zu- viel Scharfsinn vorauszusetzen. Da halte ich diese andere Geschichte von den Maschinisten auf der Nan-Shan schon für wahrscheinlicher, die Schultz mitten in der Nacht im Ma- schinenraum überraschen, wie er die Messing-Handläufe ab- montiert, um sie an Land zu schleppen und dort zu verkau- fen. Aber ich kann Ihnen sagen, daß, abgesehen von dieser kleinen Schwäche, Schultz ein weitaus besserer Seemann ist als viele derer, die Zeit ihres Lebens nie einen Tropfen Al- kohol angerührt haben, und moralisch ist er vermutlich einigen Männern vorzuziehen, die Sie und ich kennen und die noch nie auch nur einen einzigen Penny gestohlen haben. Man kann sich vielleicht angenehmere Zeitgenossen für eine Schiffsbesatzung vorstellen, aber da Sie ohnehin keine andere Wahl haben, werden Sie mit ihm schon zurechtkom- men, denke ich. Entscheidend ist, daß man seine Psyche begreift. Geben Sie ihm kein Geld, solange Sie ihn noch an Bord haben. Keinen Cent, und wenn er Sie auf Knien an- fleht. Denn in dem Moment, wo Sie ihm Geld in die Hand geben, fängt er unweigerlich an zu stehlen. Denken Sie an meine Worte.« Ich genoß die ungläubige Überraschung, die Jasper an den Tag legte. »Einen Teufel wird er tun!« rief er. »Warum denn auch, verdammt? Sie wollen mich zum Narren halten, alter Knabe, hab ich recht?«

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»Nein. Will Ich nicht. Sie müssen die Psyche dieses Mannes verstehen. Er ist weder ein Faulenzer noch ein Schmarotzer. Er ist niemand, der rumläuft und sich jemanden sucht, der ihm Drinks spendiert. Aber angenommen, er geht mit fünf, oder meinetwegen auch mit fünfzig Dollar in der Tasche an Land. Nach dem dritten oder vierten Glas ist er benebelt und sein Drang zur Wohltätigkeit übermannt ihn. Entweder gibt er sein Geld mit vollen Händen aus, oder er verteilt es großzügig; jeder, der was haben will, kriegt was. Dann fällt ihm ein, daß die Nacht noch jung ist und daß er und seine Freunde bis zum Morgen wahrscheinlich noch den einen oder anderen Drink brauchen dürften. Also macht er sich in heiterster Stimmung auf den Weg zu seinem Schiff. Weder seine Beine noch sein Kopf werden in der bekannten Art in Mitleidenschaft gezo- gen. Er geht an Bord und schnappt sich das Erstbeste, womit er etwas anfangen zu können glaubt – die Petroleumlampe im Salon, ein Tauende, einen Sack Schiffszwieback, ein Faß Öl –, und er macht es, ohne sich irgendwas dabei zu denken, zu Geld. So und nicht anders spielt sich die Sache ab. Sie müssen lediglich darauf achten, daß Sie ihm nicht die Voraussetzun- gen liefern. Das ist alles.« »Zur Hölle mit seiner Psyche«, brummte Jasper. »Und da- bei hat ein Mann mit einer solchen Stimme Engel als Ge- sprächspartner verdient. Meinen Sie, die Sache ist unheil- bar?« Ich sagte ja, das glaubte ich. Zwar war er bisher nie ge- richtlich belangt worden, aber es gab auch niemanden mehr, der ihn noch beschäftigte. Am Ende, so fürchtete ich, würde er in irgendeinem Loch verhungern. »Na ja«, überlegte Jasper. »Die Bonito läuft keine Häfen in zivilisierten Gegenden an. Das wird es ihm leichter machen, sauber zu bleiben.«

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Das stimmte. Die Brigg trieb ihren Handel an entlegenen Küsten, wo in Buchten, die kaum jemand kannte, finstere Radschas hausten; wo Eingeborenendörfer an geheimnis- vollen Flüssen lagen, deren düstere, waldgesäumte Mün- dungen sich im Gewirr blaßgrüner Riffe und heimtückischer Sandbänke auffächerten in einsame Stränge ruhigen blauen Wassers, das in der Sonne glitzerte. Fern der vielbefahrenen Schiffahrtswege glitt sie, ganz in Weiß, vorbei an dunklen, drohenden Felsklippen, schlich gespenstisch leise hinter Landzungen hervor, die sich tiefschwarz im Mondschein ausstreckten; oder sie dümpelte wie eine schlafende See- möwe im Schatten irgendeines unbekannten Berges und wartete auf ein vereinbartes Signal. An diesigen, stürmischen Tagen wurde sie plötzlich in der Java See gesichtet, wo sie hochmütig durch die kurzen ruppigen Wellen pflügte; oder man sah sie in weiter Ferne als winzigen strahlenden weißen Fleck, der vor den dunkellila brodelnden Gewitterwolken dahinflog, die sich über dem Horizont türmten. Manchmal, wenn auf einer der wenigen Postrouten, dort, wo die Zivili- sation an den Geheimnissen der Wildnis entlangschrammt, die ahnungslosen Passagiere an der Reling standen und voller Interesse auf die Brigg zeigten und riefen: »Oh, da ist eine Yacht!«, dann brummte der holländische Kapitän mit feindseligem Blick und voller Verachtung: »Yacht! Nein! Das ist bloß der England-Jasper. Ein Hausierer –« »Ein guter Seemann, sagen Sie«, stieß Jasper hervor, der mit seinen Gedanken noch immer beim unverbesserlichen Schultz mit der wunderbar anrührenden Stimme war. »Erstklassig. Fragen Sie, wen Sie wollen. Ein echter Ge- winn – nur eben völlig unmöglich«, erklärte ich.»Auf der Brigg bekommt er seine Chance, sich zu än- dern«, sagte Jasper mit einem Lachen. »Da, wo ich auf dieser

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Reise hinfahre, gibt es keinerlei Versuchungen, was Trinken oder Stehlen angeht.« Ich drängte ihn nicht, sich zu diesem Thema genauer zu äußern. Aufgrund unseres vertraulichen Umgangs wußte ich ohnehin über den Gang seiner Geschäfte ziemlich genau Bescheid. Doch als wir in seiner Gig an Land fuhren, fragte er plötz- lich: »Wissen Sie übrigens, wo Heemskirk steckt?« Ich musterte ihn verstohlen und war beruhigt. Er hatte die Frage nicht als Liebhaber gestellt, sondern als Geschäfts- mann. Ich sagte ihm, ich hätte in Palembang erfahren, daß die Neptun im Gebiet um Flores und Sumbawa im Einsatz sei. Fernab von seiner Route. Die Zufriedenheit hierüber war ihm anzumerken. »Sie müssen wissen«, fuhr er fort, »daß sich der Bursche, wenn er nach Borneo kommt, einen Spaß daraus macht, meine Seezeichen zu zerstören. Ich hab ein paar Markierun- gen aufgestellt, um das Einlaufen in die Flußmündungen zu erleichtern. Ein Händler aus Celebes, der Anfang des Jahres dort in der Gegend mit seiner Proa in einer Flaute festlag, hat ihn dabei beobachtet. Zwei von den Dingern hat er mit seinem Kanonenboot unter Volldampf vierkant gerammt und zu Kleinholz gemacht, und dann hat er ein Dinghi zu Wasser gelassen, um eine dritte Spiere umzureißen, die ich vor einem halben Jahr unter größten Mühen als Hochwas- sermarkierung mitten auf einer Untiefe aufgestellt hatte. Haben Sie je so etwas Niederträchtiges gehört – na?« »Ich würde jeden Streit mit dem Kerl vermeiden«, lautete mein beiläufiger Kommentar, obwohl mir das soeben Gehörte ganz und gar nicht gefiel. »Es steht nicht dafür.« »Ich streiten?« rief Jasper. »Ich will keinen Streit. Ich werde diesem häßlichen Unhold kein Haar krümmen. Mein

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lieber Freund, wenn ich an Freyas einundzwanzigsten Ge- burtstag denke, könnte ich die ganze Welt umarmen, Heemskirk eingeschlossen. Trotzdem ist das ein übler, gehässiger Spaß, den er sich da erlaubt.« Die Verabschiedung auf der Pier fiel recht flüchtig aus, da wir beide dringende Geschäfte zu erledigen hatten. Hätte ich damals gewußt, daß unser rascher Händedruck, begleitet von einem »Bis dann, alter Knabe. Und viel Glück!«, unser letzter Abschied sein sollte, ich wäre zutiefst betrübt gewe- sen. Als er zurück in die Straits kam, war ich schon fort, und als ich das nächstemal dort auftauchte, war er schon wieder un- terwegs. Er versuchte, bis zu Freyas einundzwanzigstem Ge- burtstag drei Reisen zu schaffen. Auch in der Nelson-Bucht verpaßte ich ihn lediglich um ein paar Tage. Freya und ich sprachen mit großer Freude und grenzenloser Zuneigung von dem »Wahnsinnigen« und »reinsten Vollidioten«. Sie strahlte und schien ungeachtet der Tatsache, daß sie soeben erst von Jasper Abschied genommen hatte, fröhlicher als sonst. Freilich, es sollte für die beiden die letzte Trennung sein. »Begeben Sie sich so bald wie möglich an Bord, Miss Freya«, drängte ich. Sie sah mir direkt in die Augen, schien ein wenig zu errö- ten und war erfüllt von feierlicher Glut – und ich meinte, in ihrer Stimme ein leichtes Beben zu vernehmen. »Gleich am nächsten Tag.« Ah, ja! Gleich am nächsten Tag nach ihrem einundzwan- zigsten Geburtstag. Ich war erfreut über dieses sichtbare Zeichen tiefer Empfindung. Am Ende schien sie angesichts der selbstauferlegten Verzögerung doch ein wenig Ungeduld zu verspüren. Ich vermute, daß Jaspers jüngster Besuch das seinige dazu beigetragen hatte.

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»Sehr gut«, lobte ich. »Mir wird sehr viel leichter ums Herz sein, wenn ich weiß, daß Sie sich unseres Wahnsinnigen an- nehmen. Sie dürfen keine Minute verlieren. Er für sein Teil wird auf jeden Fall pünktlich sein – es sei denn der Himmel stürzt ein.« »Ja. Es sei denn –«, wiederholte sie mit einem nachdenk- lichen Flüstern und hob die Augen zum Abendhimmel, an dem weit und breit kein Wölkchen zu sehen war. Schwei- gend ließen wir eine Weile unsere Blicke über das Wasser wandern, das im Dämmerlicht eine geheimnisvolle Stille ausstrahlte, als sei es einzig dafür geschaffen, in der lauen Tropennacht einen langen, langen Traum zu beherbergen. Und der Frieden, der uns umgab, schien ohne Grenzen und ohne Ende. Und dann fingen wir an, in der uns eigenen Art über Jas- per zu reden. Wir stimmten darin überein, daß er sich in vie- ler Hinsicht allzu leichtfertig verhielt. Glücklicherweise war die Brigg den Anforderungen gewachsen. Nichts schien sie zu überfordern. Ein wahres Juwel von einem Schiff, sagte Miss Freya. Sie und ihr Vater hatten einen Nachmittag an Bord verbracht. Jasper hatte ihnen Tee serviert. Papa war ge- reizt … Ich sah den alten Nelson bildlich vor mir, wie er un- ter dem schneeweißen Sonnensegel an Deck der Brigg saß, seinen unterschwelligen Verdruß pflegte und sich mit dem Hut Luft zufächelte. Die Karikatur eines Vaters … Ich er- fuhr, daß sich Jasper in einem neuen Anflug seines Wahns maßlos grämte, weil es ihm nicht gelungen war, sämtliche Kajütentüren mit Griffen aus massivem Silber auszustatten. »Als ob ich das zugelassen hätte!« erklärte Miss Freya mit ge- spielter Empörung. Außerdem erfuhr ich ganz nebenbei, daß Schultz, der maritime Kleptomane mit der ergreifenden Stimme, nach wie vor in Lohn und Brot war, und zwar mit

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ausdrücklicher Zustimmung von Miss Freya. Jasper hatte die Dame seines Herzens von seiner Absicht in Kenntnis ge- setzt, die Psyche des Burschen in Ordnung zu bringen. Ja, in der Tat. Die ganze Welt war sein Freund, weil sie mit Freya dieselbe Luft atmete. Irgendwie brachte ich das Gespräch auf Heemskirk, und zu meiner Überraschung schreckte Miss Freya zusammen. In ihren Augen spiegelte sich Verzweiflung, während sie sich zugleich auf die Lippe biß, als wolle sie einen Lachanfall un- terdrücken. Oh! Natürlich. Heemskirk war zur gleichen Zeit wie Jasper im Bungalow zu Gast gewesen, nur war er einen Tag nach ihm eingetroffen. Er war am selben Tag abgereist wie die Brigg, allerdings ein paar Stunden später. »Was für ein Quälgeist muß er für Sie beide gewesen sein«, sagte ich mitfühlend. Ihr Blick signalisierte mir eine Art ängstlicher Belusti- gung, und dann brach sie plötzlich in schallendes Gelächter aus. »Ha, ha, ha!« Ich stimmte aus vollem Herzen mit ein, ohne allerdings denselben bezaubernden Tonfall zu treffen: »Ha, ha, ha! … Was für ein lächerlicher Mensch! Ha, ha, ha!« Und die drol- lige Vorstellung des alten Nelson, in dessen runden Augen vergebliche Wut aufflammte, während er zugleich den Leut- nant versöhnlich zu stimmen suchte, trieb mich in einen wei- teren Lachanfall. »Er sieht aus«, prustete ich, »er – ha, ha, ha! – zwischen Ihnen dreien sieht er aus … wie eine unglückliche Küchen- schabe. Ha, ha, ha!« Noch einmal brach dieses klingelnde Gelächter aus ihr hervor, dann lief sie in ihr Zimmer, warf hinter sich die Tür ins Schloß und ließ mich völlig überrascht allein zurück. Ich hörte auf der Stelle auf zu lachen.

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»Was ist denn so komisch?« vernahm ich die Stimme des alten Nelson von der Treppe her. Er kam auf die Veranda, setzte sich, blähte die Backen und sah unbeschreiblich einfältig aus. Aber ich wollte nicht wie- der in Gelächter ausbrechen. Und worüber, um alles in der Welt, hatten wir eigentlich so unbändig gelacht, fragte ich mich. Ich war plötzlich ganz niedergeschlagen. Oh, natürlich. Freya hatte damit angefangen. Das Mäd- chen ist überdreht, dachte ich. Und das war wirklich kein Wunder. Ich wußte keine Antwort auf die Frage des alten Nelson, aber der war noch so bedrückt von Jaspers letztem Besuch, daß er an nichts anderes denken konnte. Er forderte mich quasi auf, Jasper bei Gelegenheit zu verstehen zu geben, daß seine Besuche auf den Sieben Inseln nicht erwünscht seien. Ich sagte, das sei überflüssig. Mir seien in jüngster Zeit In- formationen zu Ohren gekommen, die den Schluß zuließen, daß ihm Jasper Allen in Zukunft keine nennenswerten Sor- gen mehr bereiten werde. Er seufzte ein bitterernstes »Gott sei Dank!«, das mich beinahe wieder in Gelächter ausbrechen ließ, doch seine Miene hellte sich nicht in entsprechendem Maße auf. Es schien, als hätte Heemskirk besondere Anstrengungen unternommen, um sich unbeliebt zu machen. Der Leutnant hatte eine finstere Verwunderung über die Entscheidung der Regierung zum Ausdruck gebracht, in dieser Gegend überhaupt einen Weißen siedeln zu lassen, und damit dem alten Nelson gehörige Angst eingejagt. »Das widerspricht den erklärten Grundsätzen unserer Politik«, hatte er ver- kündet. Außerdem hatte er ihm vorgeworfen, in Wahr- heit keinen Deut besser zu sein als ein Engländer. Er hatte sogar versucht, einen Streit vom Zaun zu brechen, in-

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dem er ihm vorwarf, daß er sich weigerte, Holländisch zu lernen. »Ich hab ihm gesagt, ich wäre zu alt, um so was noch zu lernen«, seufzte der alte Nelson (oder Nielsen) bedrückt. »Er sagte, ich hätte schon vor Jahren Holländisch lernen müssen. Ich hätte in holländischen Kolonien meinen Le- bensunterhalt verdient. Es sei undankbar von mir, kein Holländisch zu sprechen. Er hat mit mir geredet wie mit einem Chinesen.« Es war klar, daß man ihm böse zugesetzt hatte. Er sagte nicht, wie viele Flaschen von seinem besten Bordeaux er auf dem Altar der Schlichtung dargebracht hatte. Es muß ein großzügiges Trankopfer gewesen sein. Aber der alte Nelson (oder Nielsen) war zutiefst gastfreundlich. So etwas machte ihm nichts aus; und mein Bedauern beschränkte sich darauf, daß er seine Tugend an den Kommandanten der Neptun ver- schwendete. Ich hatte ihm zu gerne erzählt, daß ihm mit größter Wahrscheinlichkeit auch die Besuche Heemskirks in Zukunft erspart bleiben würden. Ich tat es nicht, und zwar einzig aus der (zugegeben absurden) Befürchtung, damit ir- gendeinen Verdacht in ihm zu wecken. Als wäre so etwas möglich bei dieser arglosen Karikatur von einem Vater! Schon sonderbar, daß es Freyas Worte waren, die das Thema Heemskirk zum Abschluß brachten, Worte ganz in diesem meinem Sinne. Beim Abendessen kam der alte Nelson immer wieder auf den Leutnant zu sprechen. Ir- gendwann murmelte ich kaum hörbar: »Zur Hölle mit dem Leutnant.« Ich sah, daß auch das Mädchen allmählich die Geduld verlor. »Und außerdem ging es ihm nicht besonders gut – hab ich recht, Freya?« jammerte er weiter. »Vielleicht war er darum so bissig, was meinst du, Freya? Er sah furchtbar schlecht

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aus, als er uns so plötzlich verließ. Seine Leber ist wahr- scheinlich auch nicht in bester Verfassung.« »Oh, er wird schon drüber wegkommen«, sagte Freya kurz angebunden. »Und hör endlich auf, dir seinetwegen Gedanken zu machen, Papa. Höchstwahrscheinlich wirst du in nächster Zeit sowieso nicht mehr viel von ihm hören.« In dem Blick, mit dem sie mein diskretes Lächeln erwi- derte, verbarg sich keinerlei Belustigung. Innerhalb weniger Stunden schienen ihre Augen hohl geworden zu sein, ihr Ge- sicht war erbleicht. Wir hatten allzu heftig gelacht. Über- dreht! Überdreht, da der entscheidende Moment nahte. Ein Mädchen mit ihrer Aufrichtigkeit, ihrem Mut und ihrem Selbstvertrauen wird neben der Leidenschaft auch die Zwei- fel an ihrem Entschluß empfunden haben. Eben jene Kraft der Liebe, die sie dorthin getragen hatte, dürfte sie einem er- heblichen moralischen Druck ausgesetzt haben, zu dem zweifellos auch eine Portion ganz gewöhnlicher Gewissens- bisse gehörte. Denn sie war ein ehrlicher Mensch – und ihr gegenüber auf der anderen Seite des Tisches saß der arme alte Nelson (oder Nielsen) und starrte sie aus seinen runden Augen an, und seine zornige Miene mußte in ihrer rühren- den Komik auch das heiterste Herz berühren. Er zog sich zeitig auf sein Zimmer zurück und widmete sich seinen Rechnungsbüchern, in denen er den für ein we- nig Nachtschlaf unverzichtbaren Trost zu finden hoffte. Wir saßen noch etwa eine Stunde auf der Veranda, wechselten je- doch lediglich belanglose Sätze ohne jede Bedeutung, als hätten wir uns im Laufe des Tages bei unseren langen Ge- sprächen über das einzig wichtige Thema restlos verausgabt. Und doch gab es etwas, das sie einem Freund hätte anver- trauen dürfen. Aber sie tat es nicht. Schweigend gingen wir auseinander. Vielleicht befürchtete sie auch bei mir den ty-

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pisch männlichen Mangel an nüchternem Realitätssinn … Oh! Freya! Als ich den abschüssigen Pfad hinunter zum Landungs- steg ging, bemerkte ich im Schatten von Felsen und Ge- büsch die Silhouette einer Frau und war im ersten Augen- blick erschrocken. Sie kam plötzlich hinter einem Felsblock hervor und stand vor mir auf dem Weg. Doch sogleich war mir klar, daß es sich um niemand anderen handeln konnte als um Freyas Magd, ein portugiesisches Mischlingsmädchen aus Malakka. Im Haus erhaschte man bisweilen einen flüch- tigen Blick auf ihr olivbraunes Gesicht und ihre verblüffend weißen Zähne. Manchmal hatte ich sie auch beobachtet, wie sie in Rufweite im Schatten einiger Obstbäume saß und ihre langen rabenschwarzen Locken zu Zöpfen flocht. Das schien in der Freizeit ihre Hauptbeschäftigung zu sein. Wir hatten häufig ein Nicken oder ein Lächeln getauscht – und gelegentlich auch ein paar Worte. Sie war ein hübsches Ge- schöpf. Und einmal hatte ich beifällig beobachtet, wie sie hinter Heemskirks Rücken komische und eindeutige Gri- massen schnitt. Ich erfuhr (von Jasper), daß sie, wie die Kammerzofe in einer Komödie, in das Geheimnis einge- weiht war. Sie sollte Freya auf ihrem ungewöhnlichen Weg in die Ehe und das »ewige« Glück begleiten. Warum mochte sie sich mitten in der Nacht unten an der Bucht herumtreiben – wenn nicht in eigenen Liebesangelegenheiten –, fragte ich mich. Doch es gab, soweit ich wußte, auf den Sieben Inseln niemanden, der für sie in Frage kam. Plötzlich wurde mir klar, daß ich es war, dem sie aufgelauert hatte. Unentschlossen, scheu, von Kopf bis Fuß in einen Umhang gehüllt, stand sie zögernd vor mir. Ich machte noch einen Schritt vorwärts, und wie ich mich dabei fühlte, geht keinen etwas an.

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»Was ist los?« fragte ich ganz leise. »Niemand weiß, daß ich hier bin«, flüsterte sie. »Und niemand kann uns sehen«, erwiderte ich, ebenfalls flüsternd. Ein gemurmeltes »Ich hatte solche Angst« drang an meine Ohren. Genau in diesem Moment vernahmen wir von der immer noch erleuchteten Veranda zwölf Meter über uns Freyas klare, gebieterische Stimme: »Antonia!« Mit einem unterdrückten Schrei verschwand das un- schlüssige Mädchen aus meinem Blickfeld. Im nahen Ge- büsch raschelte es; dann Stille. Ich wartete verwundert. Das Licht auf der Veranda wurde gelöscht. Ich wartete noch eine Weile und setzte dann, verwunderter denn je, den Weg fort hinunter zu meinem Boot. Ich erinnere mich besonders deutlich an die Ereignisse während dieses Besuches, weil es das letzte Mal war, daß ich den Bungalow der Nelsons sah. Als ich in den Straits eintraf, erwarteten mich dort telegraphische Nachrichten, die mich zwangen, umgehend meine Arbeit aufzugeben und sofort nach Hause zurückzukehren. Ich mußte mich furchtbar spu- ten, um das Postschiff zu erreichen, das am nächsten Tag fahren sollte, aber ich fand dennoch Zeit, zwei kurze Nach- richten zu hinterlassen, die eine für Freya, die andere für Jasper. Später schrieb ich einen ausführlichen Brief, den ich allerdings an Allen allein richtete. Ich erhielt keine Antwort. Dann machte ich seinen Bruder, oder besser Halbbruder, ausfindig, einen bläßlichen, ruhigen kleinen Mann, der als Rechtsanwalt in der City residierte und mich über seine Brille hinweg nachdenklich ansah. Jasper war das einzige Kind aus der zweiten Ehe seines Vaters, einer Verbindung, die bei den mittlerweile erwachse-

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nen Kindern aus erster Ehe nicht auf Wohlwollen gestoßen war. »Sie haben seit Ewigkeiten nichts von ihm gehört«, wie- derholte ich mit heimlichem Verdruß. »Darf ich fragen, was ›seit Ewigkeiten‹ in diesem Zusammenhang ungefähr be- deutet?« »Es bedeutet, daß es mir vollkommen gleichgültig ist, ob ich jemals von ihm gehört habe oder nicht«, erwiderte der kleine Jurist und wirkte plötzlich äußerst unfreundlich. Ich konnte es Jasper nicht verdenken, daß er seine Zeit nicht damit vergeudete, einem derart unmöglichen Ver- wandten Briefe zu schreiben. Doch warum schrieb er mir nicht – der ich immerhin ein guter Freund war; ein so guter Freund, daß ich als Entschuldigung für sein Schweigen die Vergeßlichkeit zu bemühen bereit war, die im Zustand aus- schweifender Wonnen ganz natürlich sein konnte? Ich war- tete voller Nachsicht, doch nichts geschah. Und der Ferne Osten schien, wie ein Stein, der in einen Brunnen von unge- heurer Tiefe fällt, ohne Widerhall aus meinem Leben zu ver- schwinden.

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Ich möchte behaupten, daß ehrenwerte Motive als Recht- fertigung für beinahe alles genügen. Was könnte man sich, ganz abstrakt gesehen, Löblicheres vorstellen als die

Absicht eines Mädchens, den »armen Papa« nicht zu ängstigen, sowie ihr Bemühen, dem Mann ihrer Wahl, koste es was es wolle, jede Möglichkeit zu vereiteln, etwas Voreiliges zu tun, etwas zu tun, das die Grundlagen ihres Glückes gefährden könnte? Nichts wäre liebevoller oder besonnener zu nennen. Fer- ner müssen wir das natürliche Selbstvertrauen des Mädchens bedenken sowie die generelle Weigerung der Frauen – der Frauen mit Verstand –, von derartigen Angelegenheiten viel Aufhebens zu machen. Wie bereits erwähnt, tauchte Heemskirk einige Zeit nach Jaspers Eintreffen ebenfalls in der Nelson-Bucht auf. Die Brigg, die direkt unterhalb des Bungalows lag, muß ein außerordentlich ärgerlicher Anblick für ihn gewesen sein. Anders als Jasper eilte er nicht an Land, noch ehe sein An- ker gefaßt hatte. Ganz im Gegenteil, er saß auf seinem Ach- terdeck herum und murmelte vor sich hin; und als er befahl, sein Boot fertig zu machen, tat er dies mit zorniger Stimme. Freyas bloße Existenz, die Jasper über sich selbst hinaus in einen Zustand köstlicher Erregung erhob, war für Heems- kirk ein Grund heimlicher Qualen, endloser Stunden ver- zweifelten Brütens. Als er die Brigg passierte, grüßte er schroff und fragte, ob der Kapitän an Bord sei. Schultz, der in seinem makellosen

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weißen Anzug schick und gepflegt aussah, lehnte an der Heckreling und fand die Frage höchst amüsant. Fröhlich sah er hinunter in Heemskirks Boot und antwortete im liebens- würdigsten Tonfall, den er mit seiner schönen Stimme zu modulieren vermochte: »Käptn Allen ist oben im Haus, Sir.« Allerdings änderte sich seine Miene abrupt, als ihm zur Ant- wort auf seine Auskunft ein wütendes »Was zum Teufel grin- sen Sie so?« entgegenbellte. Er beobachtete, wie Heemskirk an Land fuhr und, anstatt zum Haus hinaufzugehen, einen anderen Pfad wählte und über das Anwesen streifte. Der von Begierde geplagte Holländer fand den alten Nelson (oder Nielsen) bei den Trockenschuppen, wo dieser voller Hingabe und mit sichtlich großem Vergnügen seine Tabakernte inspizierte, die zwar bescheiden, aber von hoher Qualität war. Doch Heemskirk machte diesem schlichten Glück rasch ein Ende. Er setzte sich zu dem alten Knaben und verwickelte ihn in ein Gespräch, von dem er wußte, daß es seine Wirkung tun würde, und binnen kürzester Zeit stand dem armen Kerl vor lauter unterdrückter Aufregung der Schweiß auf der Stirn. Es war ein grausiges Gespräch über »Behörden«, und der alte Nelson versuchte, sich zu ver- teidigen. Wenn er mit Engländern Handel trieb, dann des- halb, weil er seine Produkte schließlich irgendwie loswerden mußte. Er äußerte sich so versöhnlich wie möglich, und ge- rade das schien Heemskirk, der sich mittlerweile in eine keu- chende Leidenschaft hineingesteigert hatte, aufzuregen. »Und der Schlimmste von allen ist dieser Allen«, knurrte er. »Ihr spezieller Freund – was? Sie haben eine Menge Engländer in diese Gegend gelockt. Man hätte Ihnen nie- mals erlauben dürfen, hier zu siedeln. Niemals. Was will er diesmal hier?«

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Der alte Nelson (oder Nielsen) war inzwischen sehr erregt und erklärte, daß Jasper mitnichten ein spezieller Freund von ihm sei. Gar kein Freund – kein bißchen. Er hatte drei Ton- nen Reis von ihm gekauft, weil er für seine Landarbeiter et- was zu essen brauchte. Was hatte das mit Freundschaft zu tun? Schließlich platzte Heemskirk mit dem Gedanken her- aus, der ihn in seinem Innersten verzehrte: »Ja. Erst verkauft er Ihnen drei Tonnen Reis, und dann flirtet er drei Tage mit Ihrer Tochter. Ich rede als Freund mit Ihnen, Nielsen. So geht das nicht. Sie sind hier lediglich ge- duldet.« Im ersten Moment war der alte Nelson erschüttert, doch er hatte sich ziemlich schnell wieder gefaßt. So geht das nicht! Natürlich nicht! Natürlich geht das so nicht. Er sei doch der Letzte auf der Welt. Aber sein Mädchen machte sich nichts aus dem Burschen, und sie war überhaupt viel zu vernünftig, um sich zu verlieben. Er war sehr ernsthaft darum bemüht, Heemskirk von seinem eigenen Gefühl voll- kommener Sicherheit zu überzeugen. Und der Leutnant war, wenngleich er zweifelnd beiseite sah, willens, ihm zu glauben. »Was wissen Sie schon davon«, grunzte er dennoch. »Aber ich weiß es«, beharrte der alte Nelson mit wach- sender Verzweiflung auf dem Gesagten, denn nun galt es auch noch, den Zweifeln zu widerstehen, die in ihm selbst aufkeimten. »Meine eigene Tochter! In meinem eigenen Haus, und ich sollte irgend etwas nicht wissen! Ich bitte Sie! Das wäre ein guter Witz, Leutnant.« »Sie scheinen ein recht inniges Verhältnis zu haben«, erklärte Heemskirk mürrisch. »Ich vermute, daß sie auch jetzt gerade beisammen sind«, fügte er hinzu und verspürte einen stechenden Schmerz, der sein spöttisch gemeintes Lächeln in eine sonderbare Grimasse verzerrte.

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Nelson fühlte sich tief getroffen und winkte ab. Er war durch diese Behauptung in seinen Grundfesten erschüttert und spürte zugleich, wie angesichts solcher Absurdität der Zorn in ihm emporstieg. »Pah! Pah! Ich werd Ihnen mal was sagen, Leutnant: Sie gehen jetzt ins Haus und trinken vor dem Essen noch einen Gin mit Lemon. Freya wird Ihnen Gesellschaft leisten. Ich muß den restlichen Tabak versorgen, bevor es dunkel wird, aber ich komme auch gleich.« Heemskirk war für diesen Vorschlag nicht unempfäng- lich. Seine geheimsten Sehnsüchte, die allerdings nicht die Sehnsüchte nach einem Drink waren, wurden erhört. Der alte Nelson, um sein Wohl besorgt, rief ihm die Empfehlung nach, es sich bequem zu machen, und auf der Veranda stünde eine Kiste Zigarren. Es war die Westveranda, die der alte Nelson meinte, jene, die als Gesellschaftszimmer des Hauses diente und über aller- beste Jalousien aus gespaltenem Bambusrohr verfügte. Auf der Ostveranda, die ihm ganz allein vorbehalten war, wo er die Backen blähen und anderen Formen des verwirrten Nach- denkens fröhnen konnte, bestanden die Jalousien aus robu- stem Segeltuch. Die Nordveranda war im Grunde gar keine Veranda. Eher ein langer Balkon. Sie hatte keine Verbindung zu den anderen beiden und ließ sich nur über einen Gang er- reichen, der durch das Haus führte. Darum zeichnete sie sich durch eine Abgeschlossenheit aus, die wie geschaffen war für die wortlosen Meditationen eines Mädchens, genauso wie für die scheinbar sinnlosen, mit einer Vielzahl transzendentaler Bedeutungen angereicherten Gespräche zwischen einem jun- gen Mann und einem Mädchen. Diese Nordveranda war von Kletterpflanzen überwu- chert. Freya, deren Zimmer zu dieser Veranda hinausführte,

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hatte sie sich mit ein paar Korbstühlen und einem Sofa glei- cher Machart als privates Boudoir eingerichtet. Auf diesem Sofa saßen sie und Jasper so dicht beieinander, wie es auf die- ser unvollkommenen Welt möglich ist, wo ein Körper nicht zur selben Zeit an zwei Orten sein kann und zwei Körper nicht zur selben Zeit an einem Ort sein können. Sie hatten den ganzen Nachmittag beieinander gesessen, und ich will nicht behaupten, daß ihre Unterhaltung ohne Sinn gewesen wäre. Da ihre Liebe zu ihm begleitet war von einer gewissen weisen Besorgnis, daß ihm in seiner freudigen Erregung das kleinste Unglück das Herz brechen könnte, sprach Freya natürlich in nüchternem Ton mit ihm. Er, der in Zeiten der Trennung von ihr nervös und kurz angebunden war, schien immer schier überwältigt zu sein, wenn er sie vor sich sah, überwältigt von dem großen Wunder, daß er ganz offen- sichtlich geliebt wurde. Als Kind eines alten Vaters, das seine Mutter früh verloren hatte und dessen man sich entledigte, indem man es in jungen Jahren zur See schickte, mangelte es ihm an Erfahrung mit jeglicher Art von Zärtlichkeit. In der Geborgenheit dieser laubumrankten Veranda und zu dieser spätnachmittäglichen Stunde beugte er sich ein we- nig herab, ergriff Freyas Hände und bedeckte sie, eine nach der anderen, mit Küssen, derweil sie lächelte und, einen Aus- druck wohlwollenden Mitgefühls in den Augen, auf seinen Kopf herabsah. Genau in diesem Augenblick näherte sich Heemskirk aus nördlicher Richtung dem Haus. Antonia hielt auf dieser Seite Wache. Aber sie hielt nicht sonderlich aufmerksam Wache. Die Sonne ging unter; sie wußte, daß ihre junge Herrin und der Kapitän der Bonito sich jeden Moment verabschieden würden. Sie spazierte, eine Blume im Haar, leise singend in dem Obstgarten auf und ab, über den sich bereits die Dämmerung gelegt hatte, als plötz-

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lich, keinen halben Meter von ihr entfernt, der Leutnant hin- ter einem Baum hervortrat. Sie machte einen Satz zur Seite wie ein scheues Reh, aber Heemskirk, der sofort begriff, was sie dort tat, stürzte sich auf sie und platschte ihr, als er sie an einem Arm zu fassen bekam, seine freie fette Hand auf den Mund. »Wenn du versuchst, einen Laut von dir zu geben, dreh ich dir den Hals um!« Diese grausige Redewendung genügte, um das Mädchen in Angst und Schrecken zu versetzen. Heemskirk hatte auf der Veranda Freyas goldblonden Kopf, und sehr dicht da- neben einen weiteren Kopf, ganz deutlich gesehen. Er zerrte das Mädchen, das keinerlei Widerstand leistete, einen Weg entlang auf das Grundstück und entließ sie mit einem bru- talen Stoß in Richtung jener Bambushütten, in denen die Be- diensteten wohnten. Zwar glich sie in vieler Hinsicht der treuen Kammerzofe in der italienischen Komödie, doch jetzt stürzte sie in ihrer Panik wortlos davon, um sich vor dem dicken, kleinen schwarzäugigen Mann, der grausam zupacken konnte wie ein Schraubstock, in Sicherheit zu bringen. Am ganzen Kör- per zitternd, völlig verängstigt und zugleich mit der Versu- chung ringend, einfach loszulachen, stand sie in einiger Ent- fernung und beobachtete, wie er durch die Hintertür ins Haus ging. Das Innere des Hauses war aufgeteilt durch zwei Flure, die sich in der Mitte kreuzten. An dieser Stelle wandte Heemskirk den Kopf im Vorbeigehen leicht nach links und fand die sichtbaren Beweise für das »innige Verhältnis« der- maßen unvereinbar mit den Beteuerungen des alten Nelson, daß ihm das Blut in den Kopf schoß und er ins Wanken kam. Zwei weiße Gestalten, im Abendlicht deutlich zu erkennen,

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standen da in unmißverständlichem Tun. Freya hatte Jasper die Arme um den Hals gelegt. Ihre Gesichter überlagerten einander in charakteristischer Weise, und Heemskirk ging weiter, und eine ganze Flut plötzlich empordrängender Flüche würgte ihn, bis er auf der Westveranda blind gegen einen Stuhl taumelte, sich dann aber in einen anderen fallen ließ, als wären ihm die Beine unterm Körper weggeschlagen worden. Zu lange hatte er sich damit begnügt, sich Freya in Gedanken gefügig zu machen. »So also kümmerst du dich um deine Gäste – du …«, dachte er und war dermaßen außer sich, daß ihm keine hinreichend herabwürdigende Bezeich- nung einfiel. Freya wand sich ein wenig und warf den Kopf zurück. »Da ist jemand gekommen«, flüsterte sie. Jasper, der sie fest an die Brust gedrückt hielt und hinab in ihr Gesicht sah, meinte gleichgültig: »Dein Vater.« Freya versuchte, sich loszumachen, doch brachte sie es nicht über’s Herz, ihn mit ausgestreckten Armen ganz von sich zu stoßen. »Ich glaube, es ist Heemskirk«, hauchte sie ihm zu. Er tauchte in stiller Verzückung tief hinab in ihre Augen, und die Erwähnung des Namens löste ein vages Lächeln bei ihm aus. »Der Dreckskerl reißt immer meine Seezeichen draußen in der Flußmündung um«, murmelte er. Eine andere Bedeu- tung verband sich für ihn nicht mit der Existenz Heems- kirks; Freya hingegen fragte sich, ob der Leutnant sie gese- hen hatte. »Laß mich los, Junge«, befahl sie mit einem entschiedenen Flüstern. Jasper gehorchte und trat sofort einen Schritt zurück, um aus einem anderen Winkel die besinnliche Be-

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trachtung ihres Gesichtes fortzusetzen. »Ich muß gehen und nachsehen«, sagte sie besorgt zu sich selbst. Sie gab ihm hastige Anweisungen, noch einen Moment zu warten, nachdem sie gegangen war, und dann auf die hintere Veranda zu schleichen und gemütlich eine zu rauchen, ehe er sich blicken ließ. »Bleib heute abend nicht zu lange«, lautete ihre letzte Empfehlung, bevor sie ihn verließ. Dann trat Freya mit ihrem leichten raschen Schritt hinaus auf die Westveranda. Während sie durch die Tür kam, gelang es ihr, die hochgebundenen Vorhänge am Ende des Flurs zu lösen, um damit Jaspers Rückzug aus dem Boudoir zu ver- decken. Bei ihrem Erscheinen sprang Heemskirk sofort auf, als wolle er über sie herfallen. Sie blieb stehen, und er machte eine übertrieben tiefe Verbeugung. Freya war irritiert. »Oh! Sie sind es, Mr. Heemskirk. Wie geht es Ihnen?« Sie sprach völlig normal. Ihr Gesicht konnte er im Halb- licht der tiefen Veranda nicht deutlich erkennen. Sein Zorn über das Gesehene war so groß, daß er Angst hatte, etwas zu sagen. Und als sie in aller Seelenruhe hinzufügte: »Papa wird bald hier sein«, gab er ihr in Gedanken die fürchterlichsten Namen, ehe er mit verzerrten Lippen zu sprechen begann. »Ich habe Ihren Vater bereits getroffen. Wir hatten im Schuppen ein längeres Gespräch. Er hat mir ein paar höchst interessante Dinge erzählt. Oh, höchst –« Freya setzte sich. Sie dachte: »Er hat uns gesehen, keine Frage.« Sie schämte sich nicht. Sie hatte lediglich Angst vor irgendwelchen idiotischen oder peinlichen Komplikationen. Aber sie konnte nicht ahnen, wie sehr sich Heemskirk (in seiner Vorstellung) ihrer Person bemächtigt hatte. Sie ver- suchte, Konversation zu machen.

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»Ich nehme an, Sie kommen gerade aus Palembang?« »Äh? Bitte? Oh, ja! Ich komme aus Palembang. Ha, ha, ha! Wissen Sie, was Ihr Vater gesagt hat? Er hat gesagt, er ma- che sich Sorgen, daß Sie sich hier schrecklich langweilen.« »Und von hier aus, nehme ich an, fahren Sie in die Mo- lukken«, fuhr Freya fort, die hoffte, Jasper mit ein paar nütz- lichen Informationen versorgen zu können. Außerdem war sie immer froh zu wissen, daß ein paar hundert Meilen zwi- schen diesen beiden Männern lagen, wenn sie sie nicht un- ter ihren Fittichen hatte. Heemskirk ließ ein wütendes Grunzen vernehmen. »Ja. Molukken«, brummte er und starrte angestrengt in Richtung ihrer schemenhaften Gestalt. »Ihr Vater meint, es sei sehr einsam hier für Sie. Ich will Ihnen was sagen, Miss Freya. Kein Platz auf der Welt ist so einsam, daß eine Frau nicht trotzdem eine Gelegenheit finden würde, jemanden zum Narren zu halten.« Freya dachte: »Ich darf mich von ihm nicht provozieren lassen.« In diesem Moment kam der tamulische Hausboy, den Nelson mit der Führung der Dienerschaft betraut hatte, und brachte die Lampen. Sogleich gab sie ihm umständliche Anweisungen, wo er die Lampen hinzustellen habe, und be- fahl ihm, das Tablett mit Gin und Lemon zu holen und An- tonia ins Haus zu schicken. »Ich muß Sie allein lassen, Mr. Heemskirk, es wird nicht lange dauern«, sagte sie. Und sie ging auf ihr Zimmer, um ein anderes Kleid anzu- ziehen. Sie beeilte sich, weil sie auf der Veranda sein wollte, ehe sich ihr Vater und der Leutnant wieder begegneten. Sie vertraute darauf, das Gespräch zwischen den beiden an die- sem Abend in die richtigen Bahnen lenken zu können. Doch Antonia, die immer noch verschreckt und außer sich war,

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präsentierte ihr einen blauen Fleck am Arm, über den sich Freya empörte. »Er hat sich aus dem Gebüsch auf mich gestürzt wie ein Tiger«, sagte das Mädchen und lachte nervös und mit ängst- lichem Blick. »Dieses Untier!« dachte Freya. »Er wollte uns also hinter- herschnüffeln.« Sie war wütend, aber die Vorstellung von dem fetten Holländer in seinen weißen Hosen, die an den Hüften weit und an den Knöcheln eng waren, und mit sei- nen Schulterstücken und dem dunkelroten Kugelkopf, wie er sie im Schein der Lampen anstarrte, war so abscheulich komisch, daß sie sich ein verzerrtes Grinsen nicht verknei- fen konnte. Dann wurde sie unruhig. Es war die Unvernunft dreier Männer, die diese Unruhe in ihr auslöste: Jaspers Un- gestüm, die Ängste ihres Vaters, Heemskirks blinde Leiden- schaft. Für die ersten beiden empfand sie große Zärtlichkeit, und sie beschloß, ihre ganze weibliche Diplomatie aufzubie- ten. Nicht mehr lange, sagte sie sich, und der ganze Spuk ist vorbei. Heemskirk hing in einem Stuhl auf der Veranda, er hatte die Beine von sich gestreckt, seine weiße Mütze ruhte auf seinem Bauch, und er steigerte sich in eine für abscheuliche Menschen typische Wut hinein, die einem Mädchen wie Freya gänzlich unbegreiflich war. Das Kinn lag ihm auf der Brust, und er starrte mit steinernem Blick auf seine Schuhe. Freya betrachtete ihn durch den Vorhang. Er rührte sich nicht. Er sah lächerlich aus. Aber diese völlige Reglosigkeit war beeindruckend. Sie schlich durch den Gang zur Ost- veranda, wo Jasper, ganz artiger Junge, mucksmäuschenstill im Dunkeln saß, wie ihm geheißen war. »Psst«, zischelte sie. Im nächsten Augenblick stand er ne- ben ihr.

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»Ja. Was gibt’s?« murmelte er. »Bloß der alte Mistkäfer«, flüsterte sie nervös. Bei dem Gedanken an die unheimliche Reglosigkeit Heemskirks war sie drauf und dran, Jasper zu sagen, daß man sie gesehen hatte. Aber sie war keineswegs sicher, daß Heemskirk ihrem Vater davon erzählen würde – zumindest an diesem Abend. Blitzschnell kam sie zu dem Entschluß, daß es am sichersten sei, wenn Jasper so bald wie möglich verschwinden würde. »Was hat et gemacht?« fragte Jasper ruhig und mit leiser Stimme. »Ach, nichts! Gar nichts. Er sitzt da und macht ein böses Gesicht. Aber du weißt ja, wie er Papa immer quält.« »Dein Vater ist ganz schön einfältig«, erklärte Jasper streng. »Ich weiß nicht«, sagte sie in zweifelndem Ton. Die Angst des alten Nelson vor den Behörden hatte ein wenig auf das Mädchen abgefärbt, seit es sie tagtäglich miterlebte. »Ich weiß nicht. Papa sagt, er hat Angst, daß er auf seine alten Tage noch an den Bettelstab kommt. Paß mal auf, mein Junge, du siehst zu, daß du morgen so früh wie möglich von hier weg kommst.« Jasper hatte auf einen weiteren Nachmittag mit Freya ge- hofft, auf einen Nachmittag des stillen Glücks an der Seite seines Mädchens, den Blick ruhend auf seiner Brigg, die Ge- danken kreisend um eine selige Zukunft. Sein Schweigen verriet seine Enttäuschung, die Freya nur zu gut verstand. Auch sie war enttäuscht. Andererseits war sie es, die ver- nünftig zu sein hatte. »Wir haben keine Sekunde für uns allein, solange dieser Mistkäfer im Haus rumkriecht«, erwiderte sie hastig mit lei- ser Stimme. »Was bringt es also, wenn du bleibst? Und er wird garantiert nicht verschwinden, solange die Brigg da ist. Das weißt du ganz genau.«

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»Man sollte ihn melden, wegen Nichtstuerei«, murmelte Jasper mit einem kurzen grimmigen Lachen. »Also, morgen bei Tagesanbruch machst du dich auf den Weg«, empfahl ihm Freya flüsternd. Er hielt sie, wie Liebende es tun. Sie ließ es protestierend geschehen, denn es fiel ihr schwer, ihn abzuweisen. Er nahm sie in die Arme und flüsterte ihr ins Ohr. »Das nächste Mal, wenn wir uns sehen, das nächste Mal, wenn ich dich in den Armen halte so wie jetzt, werden wir an Bord sein. Du und ich auf der Brigg – die ganze Welt, das ganze Leben –« Und dann brach es aus ihm heraus: »Ich weiß nicht, ob ich so lange warten kann! Ich habe das Ge- fühl, dich jetzt mit mir fortnehmen zu müssen, auf der Stelle. Ich könnte dich auf meinen Armen tragen und losrennen – den Weg hinab – ohne zu stolpern – ohne den Boden zu berühren –« Sie schwieg. Sie lauschte der Leidenschaft in seiner Stimme. Sie sagte sich, daß sie nur das leiseste Ja zu flüstern, daß sie nur mit einem schwachen Seufzen ihr Einverständ- nis zu bekunden brauchte, und er würde es tun. Er wäre dazu imstande – ohne den Boden zu berühren. Sie schloß die Augen, und in der Dunkelheit lächelte sie, und in einem köst- lichen Schwindel gab sie sich einen kurzen Augenblick lang seiner Umarmung hin. Doch ehe er der Versuchung erliegen konnte, seine Arme fester um sie zu schließen, hatte sie sich ihm entwunden, stand einen halben Meter von ihm entfernt und war völlig gefaßt. Da war sie wieder, die nüchterne Freya. Der tiefe Seufzer, der von der hellen, reglosen Gestalt Jaspers zu ihr herüber- drang, rührte sie an. »Du bist ein verrückter Junge«, sagte sie mit bebender Stimme. Dann änderte sich ihr Ton: »Kein Mensch kann

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mich einfach forttragen. Nicht mal du. Ich gehöre nicht zu den Mädchen, die sich forttragen lassen.« Seine helle Gestalt schien angesichts der Entschiedenheit dieser Aussage ein wenig zu schrumpfen, und sie ließ sich erweichen. »Genügt es dir nicht zu wissen, daß du – daß du mich fortgetragen hast?« fügte sie mit sanfter Stimme hinzu. Er murmelte eine Zärtlichkeit, und sie fuhr fort: »Ich hab es dir versprochen – ich habe gesagt, daß ich komme – und ich werde kommen, aus eigenem, freiem Wil- len. Du wirst mich an Bord erwarten. Ich werde die Strick- leiter hinaufklettern – ohne fremde Hilfe, und an Deck werde ich auf dich zugehen, und ich werde sagen ›Da bin ich, Junge‹, und dann lasse ich mich forttragen. Aber es wird kein Mann sein, der mich fortträgt – es wird die Brigg sein, deine Brigg – unsere Brigg … Ich liebe die Schönheit!« Sie vernahm einen undefinierbaren Laut, eine Art Seuf- zer, einen Ausdruck von Schmerz oder Freude, und sie glitt davon. Da war noch dieser andere Mann auf der anderen Veranda, dieser düstere, mürrische Holländer, der zwischen Jasper und ihrem Vater Unfrieden stiften, einen Streit vom Zaun brechen, böse Bemerkungen und vielleicht sogar Handgreiflichkeiten provozieren konnte. Eine grauenhafte Situation! Aber auch wenn sie diese schlimmste Möglichkeit beiseite ließ, graute ihr vor der Aussicht, noch mindestens drei Monate mit einem unglücklichen, gepeinigten, verbit- terten, verwirrten, lächerlichen Mann verbringen zu müssen. Und wenn der Tag, wenn die Stunde gekommen war und ihr Vater versuchen sollte, sie mit aller Gewalt zurückzuhalten – und das lag durchaus im Bereich des Möglichen –, was sollte sie dann tun? Konnte sie sich wirklich auf Handgreiflichkei- ten mit ihm einlassen? Doch was sie am meisten fürchtete, waren Klagelieder und flehende Bitten. Würde sie denen

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widerstehen können? In was für eine ekelhafte, grausame, lächerliche Lage würde sie dabei geraten! »Aber so wird es nicht kommen. Er wird nichts sagen«, dachte sie, während sie zur Westveranda hinübereilte, wo sie sich, als sie sah, daß Heemskirk sich nicht rührte, auf einen Stuhl in der Nähe der Tür setzte und ihn betrachtete. Der empörte Leutnant saß in unveränderter Haltung da; nur die Mütze war von seinem Bauch gerutscht und lag auf dem Boden. Seine gewaltigen schwarzen Brauen waren in einem Stirnrunzeln zusammengezogen, und er sah sie aus den Augenwinkeln an. Und dieser seitliche Blick, und dazu die Hakennase, überhaupt diese ganze massige, plumpe, aus- ufernde Gestalt erschien Freya so traurig-komisch, daß sie sich, und ihre innere Verwirrung mag das Ihre dazu beige- tragen haben, ein Lächeln nicht verkneifen konnte. Sie tat ihr bestes, um diesem Lächeln einen versöhnlichen Ausdruck zu geben. Sie wollte Heemskirk nicht unnötig reizen. Und der Leutnant, dem dieses Lächeln nicht entging, war besänftigt. Es kam ihm nie in den Sinn, daß seine äußere Er- scheinung, ein Marineoffizier, in Uniform, diesem Mädchen ohne Amt und Würden – der Tochter des alten Nielsen – lächerlich vorkommen könnte. Die Erinnerung daran, wie sie ihre Arme um Jaspers Hals geschlungen hatte, verstörte und erregte ihn aufs neue. »Dieses Miststück!« dachte er. »Auch noch lächeln – was? Das ist deine Art von Zeitver- treib. Den Papi hübsch an der Nase rumführen, hm? Die Sorte Spaß scheint dir zu liegen – hab ich recht? Na ja, wir werden sehen –« Er veränderte seine Haltung nicht, aber seine gespitzten Lippen umspielte nun ebenfalls ein Lächeln, ein hochmütiges, gefährliches, amüsiertes Grinsen, derweil seine Augen sich wieder in die Betrachtung seiner Stiefel ver- senkten.

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Freya kochte vor Empörung. Sie strahlte hell im Schein der Lampe, ihre kräftigen, wohlgeformten Hände hatte sie übereinander in den Schoß gelegt … »Widerlicher Kerl«, dachte sie. Ihr Gesicht verfärbte sich in jähem Zorn. »Sie haben meine Magd zu Tode erschreckt«, sagte sie laut. »Was war in Sie gefahren?« Er war so tief in seinen Gedanken über sie versunken, daß der Klang ihrer Stimme, mit der sie diese unerwarteten Worte sagte, ihn heftig zusammenfahren ließ. Er hob ruck- artig den Kopf und machte ein dermaßen verwirrtes Ge- sicht, daß Freya ungehalten nachsetzte: »Ich rede von Antonia. Sie hat einen blauen Fleck am Arm, so haben Sie zugepackt. Was sollte das?« »Wollen Sie sich mit mir anlegen?« fragte er heiser und mit Verwunderung in der Stimme. Er klimperte mit den Augen wie eine Eule. Er sah komisch aus. Freya hatte, wie alle Frauen, ein feines Gespür für das Lächerliche in der äußeren Erscheinung von Menschen. »Nein; ich glaube nicht.« Sie konnte sich nicht beherr- schen. Sie lachte los, ein lautes, nervöses Lachen, in das Heemskirk plötzlich mit einem rauhen »Ha, ha, ha!« einfiel. Vom Gang her waren Stimmen und Schritte zu hören, und dann erschien Jasper mit dem alten Nelson. Der alte Nelson warf seiner Tochter einen lobenden Blick zu, denn er war froh, wenn jemand den Leutnant bei Laune hielt. Und er stimmte bereitwillig in das Lachen ein. »Jetzt gibt es erst mal was zu essen, Leutnant«, sagte er und rieb sich genüßlich die Hände. Jasper war geradewegs ans Geländer getreten. Der Himmel war voller Sterne, und die samtig-blaue Nacht hüllte die Bucht unter ihm in undurchdringliche Dunkelheit, in der die Ankerlichter der Brigg und des Kanonenbootes rötlich aufglimmten wie ständig neu geschlagene Funken.

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»Wenn das nächste Mal dort unten das Ankerlicht brennt, werde ich auf dem Achterdeck sitzen und warten, daß sie kommt und sagt ›Da bin ich‹«, dachte Jasper; und sein Herz, erfüllt von einem überwältigenden Glücksgefühl, das ihm beinahe einen Schrei entlockt hätte, schien seine Brust sprengen zu wollen. Es war vollkommen windstill. Unter ihm regte sich kein einziges Blatt, und auch das Meer war nichts als ein friedlicher, in sich ruhender Schatten. In wei- ter Ferne zuckte fahles Licht über den wolkenlosen Himmel, das Wetterleuchten der Tropen, kurze, blasse, geheimnis- volle Blitze flackerten in rascher Folge spielerisch zwischen den dicht über dem Horizont stehenden Sternen auf, als handelte es sich um unentschlüsselbare Signale von einem anderen Planeten. Das Abendessen verlief friedlich, Freya saß, gefaßt aber blaß, ihrem Vater gegenüber. Heemskirk gefiel sich darin, ausschließlich mit dem alten Nelson zu sprechen. Jasper be- nahm sich vorbildlich. Er hielt seine Blicke im Zaum, er ge- noß das Gefühl von Freyas Nähe, so wie Menschen die Sonne genießen, ohne zum Himmel hinaufzuschauen. Und bald nachdem das Abendessen vorbei war, erklärte er, ein- gedenk der ihm gegebenen Anweisungen, daß es nun Zeit für ihn sei, an Bord zu gehen. Heemskirk sah nicht einmal auf. Er hatte es sich im Schaukelstuhl bequem gemacht, paffte eine Zigarre und schien mit grimmigem Gesicht über eine gehässige Bemer- kung nachzudenken. Das jedenfalls war Freyas Eindruck. Der alte Nelson sagte sogleich: »Ich begleite Sie hinunter.« Er hatte gerade ein Fachgespräch über die Gefahren der Küste Neuguineas begonnen und wollte Jasper ein paar Er- fahrungen aus der Zeit, als er selbst »da drüben« war, mit auf den Weg geben. Jasper war ein ausgezeichneter Zuhörer!

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Freya machte Anstalten, die beiden zu begleiten, doch ihr Vater runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und nickte viel- sagend in die Richtung des reglosen Heemskirk, der mit halbgeschlossenen Augen und vorgeschobenen Lippen da- saß und Rauchwolken ausstieß. Den Leutnant durfte man nicht allein lassen. Das konnte ihn vielleicht verärgern. Freya gehorchte den Zeichen ihres Vaters. »Vielleicht ist es besser, wenn ich bleibe«, dachte sie. Frauen sind in der Regel nicht geneigt, ihr eigenes Verhalten kritisch zu über- prüfen, geschweige denn es zu verurteilen. Es sind in erster Linie die peinlichen maskulinen Absurditäten, die für seine moralische Bewertung verantwortlich sind. Doch Freya empfand, während sie Heemskirk betrachtete, Bedauern und sogar Gewissensbisse. Wenn man seinen massigen Körper so schlaff hingestreckt sah, konnte man denken, er hätte sich überfressen, und dabei hatte er sich bei Tisch sehr zurückgehalten. Allerdings nicht mit dem Trinken. Die flei- schigen Lappen seiner häßlich großen Ohren mit ihren weit eingerollten Rändern waren puterrot. Sie glühten förmlich vor dem Hintergrund seiner flachen, fahlen Wangen. Es dauerte eine ganze Weile, bis er seine schweren braunen Lider hob. Dem Wohlwollen eines solchen Wesens ausge- setzt zu sein, war demütigend; und Freya, die letztendlich immer offen und ehrlich mit sich war, dachte voller Bedau- ern: »Hätte ich doch bloß Papa gegenüber von Anfang an die Wahrheit gesagt! Andererseits, wie schwer hätte er mir dann das Leben gemacht!« Ja. Männer waren auf die verschieden- sten Weisen absurd; ob sie liebenswert waren wie Jasper, un- belehrbar wie ihr Vater oder widerwärtig wie dieses lächer- lich kraftlose Wesen dort im Sessel. Ob es möglich wäre, ihn zu überzeugen? Aber vielleicht war das gar nicht nötig? »Ach! Ich kann nicht mit ihm reden«, dachte sie. Und als

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Heemskirk, immer noch ohne sie anzusehen, begann, mit re- soluter Hand seine halbgerauchte Zigarre auf dem Kaffee- tablett auszudrücken, packte sie die Angst, und sie eilte zum Klavier, klappte in furchtbarer Hast den Deckel auf und be- gann zu spielen, noch ehe sie sich gesetzt hatte. Sogleich hallte die Veranda, der ganze auf Pfählen gebaute hölzerne Bungalow, in dem es keine Teppiche gab, von auf- geregten, wirren Klängen wider. Doch trotz alledem hörte sie, spürte sie vom Boden her die schweren, rastlosen Schritte des Leutnants, der hinter ihrem Rücken auf und ab ging. Er war nicht richtig betrunken, aber er hatte genügend intus, um die seiner erregten Phantasie entspringenden Ein- gebungen vollkommen praktikabel und sogar klug zu fin- den; wunderbar und bedenkenlos klug. Freya merkte, daß er hinter ihr stehengeblieben war, und spielte weiter, ohne den Kopf zu wenden. Sie spielte ein stürmisches Stück, aus- drucksvoll spielte sie, brillant, doch als seine Stimme an ihr Ohr drang, erstarrte sie. Es war seine Stimme, nicht das Ge- sagte. Das unverschämt Vertrauliche in seinem Ton er- schreckte sie dermaßen, daß sie zunächst nicht verstand, was er sagte. Außerdem sprach er sehr undeutlich. »Ich hatte es schon geahnt … Natürlich hatte ich es schon längst geahnt, daß da bei Ihnen etwas im Gange ist. Ich bin schließlich kein Kind. Aber zwischen dem, was man ahnt, und dem, was man sieht – sieht, Sie verstehen – liegt ein ge- waltiger Unterschied. Sie wissen schon … Also bitte! Man ist ja nicht aus Stein. Und wenn ein Mann von einem Mädchen gequält worden ist wie ich von Ihnen, Miss Freya – bei Tag und bei Nacht, dann freilich … Aber ich bin ein Mann von Welt. Es muß langweilig für Sie sein hier … Sagen Sie, kön- nen Sie nicht mal mit diesem verfluchten Geklimper auf- hören … ?«

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Dieser letzte Satz war der einzige, den sie wirklich ver- stand. Sie schüttelte verneinend den Kopf und trat in ihrer Verzweiflung das Forte-Pedal, doch da er jetzt lauter sprach, gelang es ihr nicht, mit dem Klavier seine Stimme zu über- tönen. »Ich bin lediglich überrascht, daß Sie … Ein englischer Küstenschiffer, so ein gewöhnlicher Bursche. Primitives, un- verschämtes Pack, das hier in den Inseln sein Unwesen treibt. Ich würde mit solchem Abschaum kurzen Prozeß ma- chen! Und dabei haben Sie hier einen guten Freund, einen Gentleman, der bereit ist, sich Ihnen zu Füßen zu werfen – ihre hübschen Füße –, einen Offizier, einen Mann aus gutem Haus. Merkwürdig, finden Sie nicht? Aber lassen wir das! Sie sind eines Prinzen würdig.« Freya wandte nicht den Kopf. Ihr Gesicht erstarrte vor Entsetzen und Empörung. Diese Darbietung übertraf alles, was sie bisher für möglich gehalten hatte. Es war nicht ihre Art, aufzuspringen und wegzulaufen. Außerdem hatte sie das Gefühl, nicht absehen zu können, was passieren würde, wenn sie sich von der Stelle rührte. Ihr Vater mußte jeden Moment zurückkommen, und dann würde der andere sie in Ruhe lassen müssen. Es war das beste, ihn gar nicht zu be- achten – gar nicht beachten. Sie fuhr fort, lautstark und kor- rekt zu spielen, als wäre sie allein, als existiere Heemskirk gar nicht. Ihr Verhalten reizte ihn. »Also bitte! Ihren Vater können Sie ja vielleicht hinters Licht führen«, schrie er wütend, »aber mich werden Sie nicht für dumm verkaufen! Hören Sie auf mit diesem infernali- schen Lärm … Freya … He! Sie nordische Liebesgöttin, Sie! Schluß! Hören Sie? Das ist es, was Sie sind – eine Göttin der Liebe. Aber die heidnischen Götter sind lediglich verkleidete Teufel – und das gilt auch für Sie – ein hinterhältiger kleiner

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Teufel. Aufhören, hab ich gesagt, oder ich hol Sie von Ihrem Hocker runter!« Er stand hinter ihr und verschlang sie mit seinen gierigen Augen, vom goldschimmernden Scheitel ihres Kopfes, den sie krampfhaft still hielt, bis zu den Absätzen ihrer Schuhe, sein Blick folgte der Linie ihrer wohlgeformten Schultern, den Kurven ihres köstlichen Körpers, der ganz leicht vor der Tastatur hin und her schwang. Sie hatte ein dünnes Kleid an; die Ärmel endeten oberhalb der Ellenbogen in einer Spit- zenborte. Ein Satinband umfing ihre Taille. In einem Anfall unwiderstehlicher, verwegener Hoffnung legte er seine bei- den Hände auf eben diese Taille – und da endlich ver- stummte die nervtötende Musik. Aber so behende sie sich auch der Berührung entzog (der runde Klavierhocker fiel krachend um), Heemskirks Lippen, die es auf ihren Nacken abgesehen hatten, landeten einen gierigen, schmatzenden Kuß direkt unter ihrem Ohr. Eine Weile herrschte völlige Stille. Und dann ließ er ein mattes Lachen vernehmen. Ihr weißes, starres Gesicht, der auf ihm ruhende steinerne Blick aus ihren großen hellvioletten Augen irritierten ihn ir- gendwie. Sie hatte keinen Ton von sich gegeben. Sie sah ihn an, während sie sich mit einer ausgestreckten Hand an der Ecke des Klaviers abstützte. Die andere rieb mit mechani- scher Unbeirrbarkeit über die Stelle, die seine Lippen berührt hatten. »Was haben Sie?« sagte er gekränkt. »Erschrocken? Hören Sie, ersparen Sie uns doch dieses Theater. Sie wollen doch nicht behaupten, daß ein Kuß Sie dermaßen verängstigt, daß

… Ich weiß es besser … Ich denke gar nicht daran, mich kaltstellen zu lassen.« Er hatte sie mit einer solchen gespannten Aufmerksam- keit angestarrt, daß er ihr Gesicht in seinen Einzelheiten

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nicht mehr wahrnahm. Alles um ihn herum war irgendwie verschwommen. Er vergaß den umgestürzten Hocker, ver- fing sich mit dem Fuß darin, taumelte etwas nach vorn und sagte in schmeichelndem Ton: »Ich bin gar nicht so übel, ehrlich. Vielleicht versuchen wir es zum Eingewöhnen mal mit ein paar Küssen –« Weiter kam er nicht, denn seinen Kopf traf ein schwerer Schlag, begleitet von einem lauten Knall. Freya hatte mit ihrem runden, kräftigen Arm so weit ausgeholt, daß der Auf- prall ihrer flachen Hand auf seiner schlaffen Wange ihn halb herumwarf. Der Leutnant stieß einen leisen, heiseren Schrei aus und legte sich beide Hände auf die linke Gesichtshälfte, die plötzlich eine dunkle, ziegelrote Färbung angenommen hatte. Freya stand hoch aufgerichtet da, das Violett ihrer Au- gen hatte sich verfinstert, ihre Hand brannte noch von dem Schlag, ein irgendwie verhaltenes und zugleich entschlosse- nes Lächeln ließ einen winzigen Schimmer von ihren weißen Zähnen erkennen, und dann hörte sie die raschen, schweren Schritte ihres Vaters auf dem Weg unterhalb der Veranda. Die Kampfeslust in ihrem Ausdruck wich ernster Besorgnis. Sie empfand Mitleid mit ihrem Vater. Sie bückte sich hastig, um den Klavierhocker aufzuheben, als sei ihr daran gelegen, jegliche Spuren zu verwischen … Aber das war sinnlos. Sie hatte ihre ursprüngliche Haltung wieder eingenommen und eine Hand leicht auf das Klavier gestützt, noch ehe der alte Nelson die Treppe heraufgekommen war. Armer Vater! Wie wütend wird er sein – empört! Und hin- terher, die Ängste, das Bedauern! Warum hatte sie ihm nicht von Anfang an die Wahrheit gesagt? Der verwunderte Blick aus seinen offenen, unschuldigen Augen traf sie bis ins Mark. Aber er sah nicht sie an. Sein Blick war starr auf Heemskirk gerichtet, der ihm den Rücken zuwandte und, die

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Hände immer noch an die Wange gepreßt, mit zusammen- gebissenen Zähnen Flüche zischte und (sie sah ihn von der Seite) aus einem düsteren, bösen Auge unheilvoll zu ihr herüberfunkelte. »Was ist passiert?« fragte der alte Nelson tief beunruhigt. Sie antwortete ihm nicht. Sie dachte an Jasper, der jetzt an Deck seiner Brigg stand und zu dem erleuchteten Bungalow hinaufsah, und sie hatte Angst. Es war ein Segen, daß we- nigstens einer von ihnen an Bord und aus dem Weg war. Sie wünschte nur, er wäre hundert Meilen weit fort. Und zu- gleich war sie nicht sicher, ob sie sich das wirklich wünschte. Wenn Jasper, irgendeiner geheimnisvollen Eingebung fol- gend, in diesem Moment wieder auf der Veranda erschienen wäre, sie hätte ihre Entschiedenheit, ihre Standhaftigkeit, ihre Selbstbeherrschung in den Wind geschlagen und sich ihm in die Arme geworfen. »Was ist los? Was ist los?« fragte der ahnungslose Nelson immer wieder mit wachsender Erregung. »Grade noch hast du Klavier gespielt, und –« Im Wissen um das, was noch kommen würde, war Freya unfähig zu sprechen (außerdem gelang es ihr nicht, sich dem Bann des dunklen, bösen, funkelnden Auges zu entziehen), und sie deutete nur mit einem flüchtigen Nicken auf den Leutnant, als wollte sie sagen: »Brauchst ihn dir doch bloß anzusehen!« »Wie, ja!« rief der alte Nelson. »Ich seh schon. Was, um Himmels willen –« Inzwischen hatte er sich Heemskirk vorsichtig genähert, der mit beiden Füßen auf der Stelle stampfte und unzusam- menhängende Verwünschungen ausstieß. Die Demütigung der Ohrfeige, der Zorn über die Vereitelung seines Vorha- bens, die Lächerlichkeit der Bloßstellung und die Unmög-

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lichkeit jeglicher Rachenahme, alles das brachte ihn der- maßen in Rage, daß er sich nur noch mit wütendem Gebrüll zu helfen wußte. »Oh, oh, oh!« brüllte er und stapfte über die Veranda, als wolle er mit jedem Schritt ein Loch in den Boden tre- ten. »Was ist, hat er sich im Gesicht verletzt?« fragte der alte Nelson bestürzt. Plötzlich ging ihm in seiner Arglosigkeit ein Licht auf. »Um Gottes willen!« rief er, nun, da er verstand. »Hol den Brandy, schnell, Freya … Sind Sie anfällig auf dem Gebiet, Leutnant? Scheußlich, nicht wahr? Ich weiß, ich weiß! Früher hat’s mich auch manchmal urplötzlich erwischt und schier um den Verstand gebracht … Und auch die kleine Flasche Laudanum aus dem Arzneischrank, Freya. Beeil dich

… Du siehst doch, daß er Zahnschmerzen hat.« Und in der Tat, welche Erklärung hätte dem treuherzigen alten Nelson auch sonst in den Sinn kommen sollen ange- sichts dieser mit beiden Händen gehaltenen Wange, ange- sichts dieser wilden Blicke, dieses Aufgestampfes, dieses be- denklichen Schwankens des ganzen Körpers? Es hätte eines übernatürlichen Scharfsinns bedurft, um den wahren Grund zu erkennen. Freya hatte sich nicht gerührt. Sie beobachtete Heemskirks wütend forschenden düsteren Blick, mit dem er sie verstohlen ansah. »Ah, du möchtest also gern aus der Sache raus!« sagte sie zu sich. Sie betrachtete ihn uner- schrocken und überlegte. Die Versuchung, dem Ganzen ein Ende zu machen, ohne daß weiteres Porzellan zerschlagen wurde, war unwiderstehlich. Mit einem fast unmerklichen Kopfnicken signalisierte sie ihre Zustimmung und schlüpfte hinaus. »Beeil dich mit dem Brandy!« rief der alte Nelson, als sie im Gang verschwand.

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Heemskirk machte seinen innersten Gefühlen Luft, in- dem er ihr einen ganzen Schwall von Verwünschungen auf Holländisch und auf Englisch nachrief. Er wütete nach Her- zenslust, während er auf der Veranda hin und herlief und die Stühle beiseite trat, die ihm im Weg standen; derweil umflat- terte der alte Nelson (oder Nielsen), der angesichts dieser Zeichen mörderischen Schmerzes von tiefem Mitgefühl er- griffen wurde, den reizenden (und gefürchteten) Leutnant wie eine aufgeregte alte Henne. »O Gott, o Gott! Ist es so schlimm? Ich kenne das. Ich hab meiner armen Frau manchmal einen richtigen Schrecken eingejagt damit. Erwischt es Sie oft so schlimm, Leutnant?« Heemskirk rempelte ihn unwirsch beiseite und stieß ein kurzes, irres Lachen aus. Aber sein wankender Gastgeber nahm es ihm nicht übel; einen Mann, der gemartert wird von entsetzlichen Zahnschmerzen, kann man für so was nicht verantwortlich machen. »Gehen Sie auf mein Zimmer, Leutnant«, sagte er be- schwörend. »Legen Sie sich bei mir aufs Bett. Sie bekommen gleich etwas, das den Schmerz lindert.« Er faßte den armen Leidenden beim Arm und schob ihn sanft bis an das Bett, auf das sich Heemskirk in einem er- neuten Anfall von Wut mit solcher Wucht schmiß, daß er von der Matratze wohl zwei Handbreit wieder hochprallte. »O Gott!« rief der zutiefst besorgte Nelson, und ungehal- ten lief er hinaus, um nachzusehen, wo der Brandy und das Laudanum blieben, denn es ärgerte ihn sehr, daß es offen- kundig an Bemühen fehlte, seinen teuren Gast von seinen Qualen zu befreien. Schließlich brachte er die Dinge selbst. Eine halbe Stunde später stand er im Mittelgang des Hau- ses und lauschte überrascht einem leisen, erstickten, ge- heimnisvollen Geräusch, das halb ein Lachen, halb ein

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Schluchzen war. Er runzelte die Stirn; dann ging er gerade- wegs zum Zimmer seiner Tochter und klopfte an die Tür. Freya, deren prächtiges blondes Haar ihr weißes Gesicht umrahmte und über einen dunkelblauen Morgenrock hinab- wellte, öffnete einen Spaltbreit. Das Zimmer war nur schwach erleuchtet. Antonia kauerte in einer Ecke und wiegte sich leise stöhnend vor und zurück. Der alte Nelson hatte nicht viel Erfahrung mit den ver- schiedenen Arten weiblichen Gelächters, aber er war sicher, daß hier gelacht wurde. »Nicht sehr mitfühlend, nicht sehr mitfühlend!« sagte er mit entschiedener Mißbilligung, »Was ist so komisch daran, wenn ein Mann Schmerzen hat? Ich hätte gedacht, daß eine Frau – ein junges Mädchen –« »Er war so komisch«, murmelte Freya, deren Augen im Halbdunkel des Ganges seltsam glitzerten. »Und außerdem weißt du, daß ich ihn nicht mag«, fügte sie mit flackernder Stimme hinzu. »Komisch!« wiederholte der alte Nelson und staunte über dieses Zeichen der Gefühllosigkeit in einem so jungen Men- schen. »Du magst ihn nicht! Willst du vielleicht sagen, daß, weil du ihn nicht magst – Aber, das ist doch einfach grausam! Ist dir eigentlich klar, daß das so ziemlich der schlimmste Schmerz ist, den es gibt? Hunde werden bekanntlich sogar verrückt davon.« »Er scheint ganz bestimmt verrückt geworden zu sein«, preßte Freya hervor, als müsse sie ein verborgenes Gefühl niederkämpfen. Aber ihr Vater war jetzt in Fahrt. »Und du weißt, wie er ist. Ihm entgeht nichts. Er ist ein Mensch, der sich an den winzigsten Dingen stört – ein ech- ter Holländer –, und ich möchte es nicht mit ihm verderben.

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Es ist doch so, mein Kind: Wenn unser Radscha irgendeine Dummheit macht – und du weißt, was er für ein launischer, aufmüpfiger Kerl ist – und die Behörden auf die Idee kom- men, daß ich einen schlechten Einfluß auf ihn habe, dann sitzt du vielleicht plötzlich ohne Dach über dem Kopf da –« »So ein Blödsinn, Vater!« rief sie, aber es klang nicht sehr überzeugend, und sie bemerkte, daß er wütend war, so wü- tend, daß es sogar zur Ironie reichte; jawohl, der alte Nelson (oder Nielsen) und Ironie! Nur ein Hauch von Ironie, aber immerhin. »Oh, natürlich, wenn du eigenen Besitz hast – ein Anwe- sen, eine Plantage, von der ich nichts weiß –« Aber er war unfähig, die Ironie durchzuhalten. »Ich sage dir, die würden mich hier rausschmeißen, ohne mit der Wimper zu zucken«, flüsterte er eindringlich. »Ohne Entschädigung natürlich. Ich kenne diese Holländer. Und der Leutnant ist genau der Typ, um so einen Stein ins Rollen zu bringen. Sein Wort hat Gewicht bei den einflußreichen Stellen. Ich möchte ihn auf gar keinen Fall verärgern – auf keinen Fall – und unter kei- nen Umständen … Was hast du gesagt?« Es war nur ein undeutlicher Ausruf gewesen. Wenn sie jemals auch nur ansatzweise erwogen hatte, ihm alles zu erzählen, dann war es mit solchen Überlegungen jetzt end- gültig vorbei. Ausgeschlossen, sowohl aus Achtung vor seiner Würde als auch um des Friedens seiner armen Seele willen. »Mir liegt er persönlich auch nicht besonders.« Der alte Nelson offenbarte seine unterdrückten Empfindungen mit einem Seufzer. »Es geht ihm schon besser«, fuhr er nach einem Moment des Schweigens fort. »Ich hab ihm für die Nacht mein Bett überlassen. Ich schlaf auf meiner Veranda in der Hängematte. Nein; ich kann auch nicht behaupten,

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daß ich ihn mag, aber deswegen über einen Mann zu lachen, weil er vor Schmerzen halb wahnsinnig wird, das kommt nicht in Frage. Ich muß mich wundern über dich, Freya. Seine eine Gesichtshälfte ist ganz rot angelaufen.« Sie zuckte krampfartig unter seinen Händen, die er ihr vä- terlich auf die Schultern gelegt hatte. Sein struppiger, borsti- ger Schnurrbart strich ihr zum Gutenachtkuß über die Stirn. Sie schloß die Tür und ging in die Mitte des Zimmers, ehe sie sich ein bitteres Lachen gestattete, dem jegliche Heiterkeit fehlte. »Rot angelaufen! Ein bißchen rot angelaufen!« wieder- holte sie gedankenversunken. »Das will ich hoffen! Ein bißchen –« Ihre Lider waren naß. Antonia, in ihrer Ecke, stöhnte und kicherte, wobei es unmöglich war zu sagen, wo das Stöhnen aufhörte und das Kichern begann. Die Herrin und ihre Magd waren ein wenig überdreht ge- wesen, weil Freya, als sie in ihr Zimmer floh, Antonia dort vorgefunden und ihr alles erzählt hatte. »Ich hab dich gerächt, meine Liebe«, hatte sie gerufen. Und dann hatten sie lachend geweint und unter Tränen gelacht, und an gegenseitigen Ermahnungen hatte es nicht gefehlt – »Psst, nicht so laut! Sei still!« von der einen, und »Ich fürchte mich so … Er ist ein böser Mann«, als Zwi- schenwürfe von der anderen. Antonia hatte große Angst vor Heemskirk. Sie hatte Angst vor ihm wegen seiner äußeren Erscheinung: wegen seiner Augen und seiner Brauen, wegen seines Mundes und seiner Nase und seiner Glieder. Vernünftiger konnte man nicht argumentieren. Und sie fand, er sei ein böser Mann, weil er in ihren Augen böse aussah. Besser konnte eine Mei- nung nicht begründet sein. Im schwachen Licht, das im

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Zimmer herrschte und von einem Nachtlämpchen am Kopfende von Freyas Bett herrührte, kam das Mädchen aus seiner Ecke gekrochen, kauerte sich zu Füßen seiner Herrin und flüsterte flehend: »Dort ist die Brigg. Captain Allen. Lassen Sie uns gleich fliehen – oh, lassen Sie uns fliehen! Ich hab solche Angst. Kommen Sie! Kommen Sie!« »Ich! Fliehen!« dachte Freya bei sich, ohne das ver- schreckte Mädchen anzusehen. »Niemals.« Weder die resolute Herrin unter ihrem Moskitonetz noch das verängstigte Mädchen, das zusammengerollt auf einer Matte am Fußende des Bettes lag, schliefen in jener Nacht besonders gut. Wer überhaupt nicht schlief, war Leutnant Heemskirk, Er lag auf dem Rücken und starrte rachesinnend ins Dunkel. Erregende Bilder wechselten sich vor seinem geistigen Auge ab mit demütigenden Betrachtungen, die sei- nen Zorn wachhielten, weiter nährten. Eine hübsche Ge- schichte für Klatschmäuler! Aber die Klatschmäuler durften unter keinen Umständen davon erfahren. Die Schmach mußte schweigend ertragen werden. Eine hübsche Sache! Getäuscht, verführt und geschlagen von dem Mädchen – und vielleicht auch getäuscht vom Vater. Aber nein. Nielsen war lediglich eines der Opfer dieser schamlosen Dirne, die- ser unverfrorenen Schlampe, dieser hinterhältigen, lachen- den, küssenden, falschen … »Nein; er hat mich nicht absichtlich getäuscht«, dachte der geplagte Leutnant. »Aber ich möchte es ihm trotzdem gerne heimzahlen, daß er ein solcher Schwachkopf ist –« Na ja, kommt Zeit, kommt Rat. Eines jedoch stand für ihn fest: Er hatte beschlossen, sich sehr früh aus dem Haus zu stehlen. Er glaubte nicht, dem Mädchen begegnen zu kön- nen, ohne vor Wut die Beherrschung zu verlieren.

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»Himmelherrgottsakra! Zum Teufel noch mal! Bis mor- gen früh bin ich hier erstickt!« murmelte er vor sich hin, der- weil er im Bett des alten Nelson starr auf dem Rücken lag und nach Luft rang. Bei Tagesanbruch stand er auf und öffnete vorsichtig die Tür. Leise Geräusche auf dem Gang warnten ihn, und während er sich selbst verborgen hielt, sah er Freya aus ihrem Zimmer kommen. Der unerwartete Anblick beraubte ihn aller Kraft, sich von dem Türspalt zurückzuziehen. Es war ein denkbar schmaler Spalt, aber er gab den Blick frei auf die eine Seite der Veranda. Freya eilte zu jener Seite, um be- obachten zu können, wie die Brigg die Landspitze passierte. Sie trug ihren dunklen Morgenmantel; ihre Füße waren nackt, weil sie erst gegen Morgen eingeschlafen war und nun, aus Angst, zu spät zu sein, Hals über Kopf hinauslief. Heemskirk hatte sie so noch nie gesehen, das Haar, die Form ihres Kopfes nachzeichnend, sanft zurückgebunden zu einem schweren, blonden Zopf, der ihr über den Rücken fiel, und in der Anmut überschäumender Jugend, Kraft und Be- gierde. Im ersten Moment war er überwältigt, und dann knirschte er mit den Zähnen. Er konnte ihren Anblick nicht ertragen. Er murmelte eine Verwünschung und blieb reglos hinter der Tür stehen. Mit einem leisen »Ah!«, das aus tiefster Brust herauf- drängte, griff sie, als sie die Brigg entdeckte, die bereits unter Segeln war, nach dem Fernrohr des alten Nelson, das in einer Halterung hoch an der Wand hing. Der weite Ärmel ihres Morgenmantels glitt zurück und entblößte ihren weißen Arm bis hinauf zur Schulter. Heemskirk, der den Türknauf packte, als wollte er ihn zerquetschen, fühlte sich wie ein Mann, der sich gerade von einem Saufgelage erhoben hat.

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Und Freya wußte, daß er sie beobachtete. Sie wußte es. Sie hatte, als sie aus dem Gang kam, gesehen, wie die Tür sich bewegte. Mit höhnischer Bitterkeit und triumphierender Verachtung fühlte sie seine Blicke auf sich ruhen. »Du bist da«, dachte sie und setzte das Fernrohr ans Auge. »Na gut, dann sollst du auch zusehen!« Die winzigen grünen Inseln sahen aus wie schwarze Schat- ten, das aschgraue Meer war glatt wie ein Spiegel, das klar kon- turierte Gewand der farblosen Morgendämmerung, in der sogar die Brigg wie ein Schatten erschien, hatte im Osten einen hellen Saum. Freya hatte Jasper, der an Deck stand und sein eigenes Fernrohr auf den Bungalow richtete, sogleich ent- deckt und das Glas aus der Hand gelegt, um ihre beiden wun- derschönen weißen Arme über den Kopf heben zu können. In dieser Gebärde des erhabenen Schreis verharrte sie reglos, und sie erglühte innerlich im Bewußtsein der Bewunderung, die Jasper ihrer Gestalt, die er da draußen im Sichtfeld seines Glases vor sich sah, entgegenbrachte, aber auch von dem Ge- fühl der bösen Leidenschaft ging eine wärmende Wirkung aus, von den brennenden, lüsternen Blicken des anderen, die dieser auf ihren Rücken geheftet hatte. In der Glut ihrer Liebe, aus einer Laune ihrer Gedanken heraus, aber auch dank jenes geheimnisvollen Wissens um die männliche Natur, das den Frauen angeboren zu sein scheint, dachte sie: »Du siehst mir zu – du wirst es nicht lassen – du kannst es nicht lassen! Dann sollst du auch etwas zu sehen bekom- men.« Sie legte beide Hände an die Lippen und warf sie dann hinaus, um einen Kuß über das Meer zu schicken und als wolle sie zugleich auch ihr Herz hinüberschleudern auf das Deck der Brigg. Ihr Gesicht war gerötet, ihre Augen glänz- ten. Endlos wiederholte sie diese leidenschaftliche Geste

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und schien wohl Hunderte von Küssen hinauszusenden, wieder und wieder und wieder, derweil die aufgehende Sonne der Welt die Pracht der Farben brachte und die Inseln grün, das Meer blau, die Brigg dort unten weiß erstrahlen ließ – im blendenden Weiß ihrer ausgebreiteten Schwin- gen –, während die rote Flagge wie eine winzige Flamme von der Gaffelpiek züngelte. Und von Mal zu Mal inniger flüsterte sie mit jedem Kuß: »Nimm das – und das – und das –«, bis sie plötzlich die Arme sinken ließ. Sie hatte gese- hen, wie zur Antwort die Flagge gedippt wurde, und im nächsten Augenblick verschwand der Rumpf der Brigg hin- ter der Landspitze. Daraufhin wandte sie sich von der Balustrade ab und verschwand, nachdem sie langsam, mit gesenktem Blick und einem rätselhaften Ausdruck auf dem Gesicht, an der Tür zum Zimmer ihres Vaters vorbeigegan- gen war, hinter dem Vorhang. Aber anstatt ihren Weg durch den Gang fortzusetzen, blieb sie reglos und so, daß man sie nicht sehen konnte, hin- ter dem Vorhang stehen, um zu beobachten, was passieren würde. Eine Weile ließ sich auf der weitläufigen Veranda mit den Tischen und Sesseln niemand blicken. Dann wurde die Tür zum Zimmer des alten Nelson plötzlich geöffnet, und Heemskirk schwankte heraus. Sein Haar wirr, seine Augen blutunterlaufen, sein unrasiertes Gesicht wirkte äußerst dü- ster. Mit wildem Blick sah er sich um, entdeckte seine Mütze auf einem Tisch, griff hastig nach ihr und ging dann ruhig, aber mit seltsam wankendem Schritt zur Treppe, als würde er in einer letzten Anstrengung die schwindenden Kräfte sammeln. Gleich nachdem sein Kopf das Niveau des Veranda- bodens erreicht hatte und verschwunden war, kam Freya mit zusammengepreßten Lippen und entschlossener Miene hin-

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ter dem Vorhang hervor, und aus ihren leuchtenden Augen war alle Sanftheit verschwunden. Ganz ungeschoren sollte er nicht davonkommen. Auf keinen Fall – auf gar keinen Fall! Sie war erregt, sie zitterte am ganzen Leibe, sie hatte Blut geleckt! Sie mußte ihm zu verstehen geben, daß sie wußte, daß sie beobachtet worden war; er sollte wissen, daß sein erbärmlicher Versuch, sich davonzuschleichen, nicht unbemerkt geblieben war. Aber wenn sie jetzt zum Gelän- der lief und ihm hinterherrief, das wäre kindisch, ge- schmacklos – ihrer nicht würdig. Und außerdem – was sollte sie denn rufen? Welches Wort? Welchen Satz? Nein; das kam nicht in Frage. Aber wie dann? … Sie runzelte die Stirn, sie hatte eine Idee, sie stürzte zum Klavier, das die ganze Nacht offengestanden hatte, und ließ das Ungetüm aus Palisander in wüsten und wütenden Baßtönen aufheulen. Sie schlug die Akkorde an, als würde sie der schlingernden breiten Gestalt in den weiten weißen Hosen und der dunklen Uniformjacke mit goldenen Schulterstücken Gewehrsalven hinterher- schicken, und dann setzt sie ihm mit eben dem Stück nach, das sie am Vorabend gespielt hatte – eine moderne, wilde Liebesmusik, die sie schon mehrmals ins Feld geführt hatte, wenn Gewitterstürme über die Inselgruppe hinwegtobten. Mit triumphierender Gehässigkeit akzentuierte sie den Rhythmus und war so versunken in ihr Tun, daß sie die Gegenwart ihres Vaters nicht bemerkte, der sich einen alten zerschlissenen karogemusterten Ulster über den Schlaf- anzug gezogen hatte und von der hinteren Veranda her- übergeeilt war, um den Grund für diese Darbietung zu so unpassender Stunde zu erfahren. Er starrte sie an. »Was zum Teufel? … Freya!« … Seine Stimme wurde vom Klavier fast völlig verschluckt. »Wo ist der Leutnant geblie- ben?« rief er.

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Sie sah mit leerem Blick zu ihm auf, als sei ihre Seele ganz in der Musik aufgegangen. »Weg.« »Wa-a-a-s? … Wohin?« Sie schüttelte leicht den Kopf und spielte nun noch lauter als zuvor. Die unschuldig besorgten Augen des alten Nelson suchten überall, sein Blick wanderte von der offenen Tür sei- nes Zimmers hinab und hinauf über Decken und Böden, als sei der Leutnant ein winziges Wesen, das irgendwo herum- kröche oder an einer Wand klebte. Aber ein schrilles Pfeifen, das von irgendwo unten heraufdrang, zerriß den üppigen Klang, der in gewaltigen, vibrierenden Wogen aus dem Kla- vier toste. Der Leutnant war unten in der Bucht angekom- men und pfiff das Boot herbei, das ihn zum Schiff bringen sollte. Und er schien es schrecklich eilig zu haben, denn so- fort pfiff er ein zweites Mal, dann wartete er einen Moment, ehe er ein langes, schier endloses schrilles Signal ertönen ließ, das sich so schrecklich anhörte, als würde er vor Angst schreien, ohne vorher Luft geholt zu haben. Unvermittelt hörte Freya auf zu spielen. »Er geht an Bord«, sagte der alte Nelson, den dieser Um- stand zutiefst verwirrte. »Was kann ihn bewogen haben, so früh aufzubrechen? Komischer Kerl. Und verdammt emp- findlich! Es würde mich nicht wundern, wenn es dein Benehmen von gestern abend war, das ihn verletzt hat. Ich hab dich beobachtet, Freya. Du hast ihm quasi ins Gesicht gelacht, während er Höllenqualen litt vor Schmerzen. Mit so was macht man sich keine Freunde. Er fühlt sich von dir be- leidigt.« Freyas Hände ruhten jetzt untätig auf den Tasten; sie ließ den blonden Kopf sinken, eine plötzliche Unzufriedenheit befiel sie, eine nervöse Erschöpfung, als habe sie eine

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schwere Krise durchlebt. Der alte Nelson (oder Nielsen) machte ein bekümmertes Gesicht und erwog in seinem kah- len Kopf die notwendigen diplomatischen Schritte. »Ich denke, es wäre angebracht, wenn ich im Laufe des Vormittags an Bord gehe, um zu sehen, was los ist«, erklärte er wichtigtuerisch. »Warum bekomme ich eigentlich keinen Frühstückstee? Hast du gehört, Freya? Ich muß mich schon sehr über dich wundern, wirklich. Ich hätte nie gedacht, daß ein junges Mädchen zu solcher Herzlosigkeit fähig ist. Und dabei betrachtet sich der Leutnant als unser Freund! Was? Nein? Also, er sagt, er sei unser Freund, und für einen Mann in meiner Lage bedeutet das eine Menge. Auf jeden Fall! O ja, ich muß an Bord gehen.« »Mußt du das?« murmelte Freya teilnahmslos; dann fügte sie in Gedanken hinzu: »Armer Mann!«

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Was die Ereignisse der nächsten sieben Wochen angeht, so ist erstens berichtenswert, daß der diplomatische Besuch des alten Nelson (oder

Nielsen) ins Wasser fiel. Das Kanonenboot Neptun Seiner Majestät des Königs der Niederlande, befehligt von einem in seiner Ehre verletzten und wutschnaubenden Leutnant, ver- ließ die Bucht zu unerwartet früher Stunde. Als Freyas Vater, nachdem er sich vergewissert hatte, daß seine kostbare Tabakernte ordentlich in der Sonne ausgebreitet war, hin- unter ans Ufer kam, rundete es bereits die Landspitze. Noch tagelang bedauerte der alte Nelson diesen Umstand. »Jetzt weiß ich doch gar nicht, in was für einer Stimmung der Mann weggefahren ist«, jammerte er seiner hartherzigen Tochter vor. Ihre Hartherzigkeit erstaunte ihn. Ihre Gleich- gültigkeit machte ihm beinahe ein wenig angst. Weiter ist zu berichten, daß noch am selben Tag das mit Ostkurs laufende Kanonenboot Neptun die Brigg Bonito pas- sierte, die in Sichtweite von Carimata, den Bug ebenfalls nach Osten gerichtet, in einer Flaute lag. Ihr Kapitän Jasper Allen schwelgte unbekümmert in einem zärtlichen Tag- traum, in dem ihm seine Freya bereits ganz gehörte, und er- hob sich nicht aus seinem Liegestuhl auf dem Achterdeck, um die Neptun eines Blickes zu würdigen, als sie so dicht vor- beifuhr, daß der Rauch, der plötzlich aus ihrem kurzen schwarzen Schornstein quoll, zwischen den Masten der Bonito hindurchzog und für einen kurzen Moment das im Sonnenlicht makellos strahlende Weiß ihrer dem Dienst der

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Liebe geweihten Segel verhüllte. Jasper wandte nicht einmal den Kopf zu einem flüchtigen Blick. Heemskirk hingegen hatte die Brigg aus der Brückennock von weitem schon lange und mit ernster Miene beobachtet und dabei die Mes- singreling vor sich fest umklammert, bis er, als die Schiffe einander näherkamen, alles Vertrauen in seine Selbstbeherr- schung verlor und sich in den Kartenraum zurückzog, des- sen Tür er krachend hinter sich ins Schloß warf. Dort saß er, die Stirn in Falten, viele schweigsame Stunden lang – wie ein Prometheus in den Ketten niederster Begierden, dem die Eingeweide vom Schnabel und den Klauen gedemütigter Leidenschaft herausgerissen werden. Derlei Federvieh läßt sich nicht so leicht verscheuchen wie ein Huhn. Getäuscht, betrogen, hintergangen, verführt, beleidigt, zum Narren gehalten – Schnabel und Klauen! Ein böser Vogel! Der Leutnant legte keinen Wert darauf, als der von einem Mädchen geohrfeigte Marineoffizier zum Ge- spött des Archipels zu werden. Konnte es angehen, daß sie diesen halbseidenen Küstenschiffer tatsächlich liebte? Er versuchte, nicht darüber nachzudenken, doch sogleich be- stürmten ihn in seinem Refugium, viel schlimmer als alle Ge- danken, lauter unentrinnbare Bilder. Er sah, wie sie – eine klare, nahe, detaillierte, plastische, farbige, hell erstrahlende Vision – er sah, wie sie dem Burschen um den Hals hing. Und er schloß die Augen, nur um festzustellen, daß es nichts half. Dann begann ganz in der Nähe ein Klavier zu spielen, deutlich hörbar; und er hielt sich die Ohren zu, aber auch das änderte nichts. Es war nicht zu ertragen – nicht so, ganz mit sich allein. Er stürzte aus dem Kartenraum und redete auf der Brücke, von den höhnischen Klängen eines Geisterkla- viers begleitet, wirr und unzusammenhängend auf den wachhabenden Offizier ein.

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Schließlich bleibt zu berichten, daß Leutnant Heemskirk, statt seine Fahrt nach Ternate fortzusetzen, wo er erwartet wurde, von seiner geplanten Route abwich und Makassar an- lief, wo niemand mit seinem Kommen rechnete. Dort war- tete er mit irgendwelchen Erklärungen auf und unterbreitete dem Gouverneur oder einer anderen maßgeblichen Stelle einen bestimmten Vorschlag, woraufhin er die Erlaubnis erhielt, in betreffender Sache zu tun, was er für richtig befand. So wurde Ternate ganz vom Reiseplan der Neptun gestrichen, und das Boot dampfte nach Norden, bis die bergige Küste von Celebes in Sicht kam, überquerte dann die breite Meerenge und bezog Posten vor der niedrigen, von unberührten und stummen Urwäldern gesäumten Küste, wo das Meer nachts leuchtete und bei Tag tiefblau war, gesprenkelt mit schillernden grünen Flecken über den dicht unter der Oberfläche liegenden Riffen. Tagelang konnte man die Neptun gemächlich vor der düsteren Küste auf und ab fahren sehen, oder sie lauerte wachsam in den silbrig schimmernden Trichtern breiter Flußmündungen, unter dem weiten, leuchtenden, nie dunstig-milden, nie bedeckten Himmel, der die Erde mit dem ewigen Sonnenlicht der Tropen überflutet – jenem Sonnenlicht, das in seinem ungebrochenen Gleißen die Seele mit einer unergründ- lichen Melancholie erfüllt, die inniger, durchdringender, tiefgreifender ist als die graue Traurigkeit der nördlichen Nebel.

Die Brigg Bonito glitt um eine düstere, bewaldete Landspitze an der silbrig glänzenden Mündung eines großen Flusses. Der Windhauch, der sie vorwärts trieb, hätte nicht einmal die Flamme einer Fackel zum Flackern gebracht. Geheimnisvoll lautlos schob sie sich hinter einem Schleier regloser Blätter

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hervor ins freie Wasser, gespenstisch weiß und majestätisch mysteriös in ihrem kaum wahrnehmbaren Dahingleiten; und Jasper, den Ellenbogen ans Großwant gestützt und den Kopf in die Hand gelegt, dachte an Freya. Alles in der Welt erinnerte ihn an sie. Die Schönheit der geliebten Frau findet sich wieder in den Schönheiten der Natur. Die wallenden Sil- houetten der Berge, die Kurven einer Küstenlinie, die will- kürlichen Windungen eines Flusses sind freilich weniger lieblich als die harmonischen Linien ihres Körpers, und wenn sie sich bewegt, wenn sie leichten Schrittes dahinglei- tet, meint man in der Anmut dieser Bewegungen geheimnis- volle Kräfte am Werk zu sehen, die allen ergreifenden Er- scheinungen der sichtbaren Welt innewohnen. Jasper, der, wie alle Männer, von Dingen abhängig war, liebte sein Schiff – das Heim seiner Träume. Er übertrug et- was von Freyas Seele auf die Brigg. Das Deck war der sichere Halt ihrer Liebe. Daß er die Brigg besaß, dämpfte seine Lei- denschaft angesichts der beruhigenden Gewißheit eines be- reits gewonnenen Glücks. Der Vollmond, makellos und gelassen, stand schon recht hoch am Himmel und schwebte in einer Luft, die so ruhig und klar war wie der Blick aus Freyas Augen. Auf der Brigg regte sich kein Laut. »Hier wird sie stehen, an meiner Seite, an Abenden wie heute«, dachte er entzückt. Und es war in diesem Moment, inmitten dieses Friedens, in dieser Freude, unter dem strahlenden, gütigen Blick des Mondes, der den Liebenden gewogen ist, auf einer spiegel- glatten See, unter einem wolkenlosen Himmel, so als wollte sich die ganze Natur wie zum Hohn von ihrer angenehmsten Seite zeigen, es war in diesem Moment, daß sich das Kano- nenboot Neptun aus dem Schatten der dunklen Küste löste,

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in dem es, unsichtbar, gelegen hatte, und hinausdampfte, um die Brigg Bonito abzufangen, die nach See zu lag. Kaum hatte man das Kanonenboot ausgemacht, das aus seinem Hinterhalt aufgetaucht war, da zeigte Schultz, der Mann mit der wunderbaren Stimme, Anzeichen einer son- derbaren Unruhe. Schon den ganzen Tag lang, seit sie die flußaufwärts gelegene malayische Stadt verlassen hatten, war er mit verstörtem Gesichtsausdruck und wie jemand, dem etwas auf der Seele liegt, seinen Pflichten nachgegangen. Jas- per war das nicht verborgen geblieben, aber der Bootsmann hatte sich abgewandt, als wolle er nicht, daß man ihn ansehe, und schüchtern etwas von Kopfschmerzen und leichtem Fieber gemurmelt. Es mußte allerdings schon ziemlich schlimm um ihn stehen, als er jetzt hinter seinem Kapitän in Deckung ging und sich deutlich vernehmbar fragte: »Was kann der Kerl bloß von uns wollen?« … Ein nackter Mann, der im eiskalten Wind versucht, sich das Zittern zu verknei- fen, hätte mit weniger entstellter, unsicherer Stimme ge- sprochen. Aber das konnte natürlich vom Fieber kommen – vielleicht hatte er Schüttelfrost. »Er will sich unbeliebt machen, das ist alles«, sagte Jasper in bester Stimmung. »Das versucht er nicht zum erstenmal bei mir. Na, wir werden gleich sehen.« Und es dauerte tatsächlich nicht lange, bis die beiden Schiffe in bequemer Rufweite nebeneinander lagen. Die Brigg mit ihren eleganten Linien und ihren weißen Segeln wirkte im Mondlicht zart wie ein anmutiges Mädchen. Das kurze, plumpe Kanonenboot mit seinen kümmerlichen dun- klen Masten, die nackt in den leuchtenden Himmel dieser strahlenden Nacht ragten wie abgestorbene Bäume, warf ei- nen düsteren Schatten auf den Wasserstreifen zwischen den beiden Schiffen.

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Beide waren sie besessen von Freya wie von einem alles durchdringenden Geist, und als sei sie die einzige Frau auf der Welt. Jasper erinnerte sich an ihre bitterernste Ermah- nung, mit Taten und Worten achtsam und zurückhaltend zu sein, solange er von ihr fort war. Im Augenblick dieser gänz- lich unerwarteten Begegnung spürte er den Hauch, mit dem diese hastig geflüsterte Warnung, die sie ihm jedesmal im letzten Moment ihres Abschieds zuraunte, sein Ohr erreicht hatte, er hörte ihre abschließenden, halb scherzhaft gemein- ten Worte: »Vergiß nicht, Junge, ich würde es dir nie verzei- hen!«, und bei diesen Worten hatte sie ihm kurz den Arm ge- drückt, was er mit einem ruhigen, zuversichtlichen Lächeln beantwortet hatte. Heemskirks Besessenheit war anderer Natur. Ein Flüstern kam bei ihm nicht vor; eher ging es um Visionen. Er sah, wie das Mädchen einem elenden Tauge- nichts um den Hals hing – dem Taugenichts, genau dem Taugenichts, der soeben seinen Ruf beantwortet hatte. Er sah, wie sie mit großen, klaren, weit geöffneten Augen über eine Veranda schlich, um einer Brigg nachzusehen – jener Brigg. Wenn sie gekreischt, gekeift, Namen gerufen hätte! … Aber sie hatte schlicht und ergreifend über ihn triumphiert. Weiter nichts. Ihn verführt (davon war er fest überzeugt), getäuscht, hintergangen, beleidigt, geschlagen, zum Narren gehalten … Schnabel und Klauen! Die beiden Männer, auf so unterschiedliche Weise besessen von Freya von den Sieben Inseln, waren keine ebenbürtigen Gegner. In der vollkommenen Stille, die sich wie tiefer Schlaf über die beiden Schiffe gesenkt hatte, die sich ihrerseits inmitten einer Welt befanden, die nichts weiter als ein zarter Traum zu sein schien, überquerte ein Boot, gerudert von javani- schen Matrosen, den dunklen Wasserstreifen und kam bei der Brigg längsseits. Ein weiß gekleideter Deckoffizier, mög-

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licherweise der Geschützoffizier, kletterte an Bord. Er war ein kleiner Mann mit dickem Bauch und keuchender Stimme. Sein unbewegliches fettes Gesicht wirkte im Mond- licht leblos, und wenn er ging, standen seine dicken Arme vom Körper ab wie bei einer ausgestopften Puppe. Seine li- stigen kleinen Augen funkelten wie Katzengold. In gebro- chenem Englisch überbrachte er Jasper die höfliche Bitte, an Bord der Neptun zu kommen. Jasper hatte derartiges nicht erwartet. Doch nach kurzer Bedenkzeit beschloß er, sich nicht verärgert, nein, nicht ein- mal überrascht zu zeigen. Entlang des Flusses, aus dem er gekommen war, hatte es in den letzten Jahren politische Un- ruhen gegeben, und er wußte, daß seine Besuche in dieser Gegend mit Argwohn betrachtet wurden. Aber solche Be- denken der Behörden, die den alten Nelson in Angst und Schrecken versetzten, störten ihn nicht im geringsten. Er machte sich bereit, von Bord zu gehen, und Schultz folgte ihm an die Reling, als wollte er ihm etwas sagen, aber dann stand er nur schweigend da. Als Jasper von Bord stieg, fiel ihm das leichenblasse Gesicht auf. Die Augen des Mannes, der auf der Brigg Erlösung von den Folgen seiner eigenarti- gen psychischen Verfassung gefunden hatte, sahen ihn stumm und mit flehendem Blick an. »Was ist los?« fragte Jasper. »Ich möchte bloß wissen, wie das enden wird«, sagte der Mann mit der wunderbaren Stimme, die sogar die unbe- stechliche Freya in ihren Bann geschlagen hatte. Doch wo war jetzt der verführerische Klang geblieben? Diese letzten Worte hatten sich angehört wie das Krächzen eines Raben. »Du bist krank«, sagte Jasper entschieden. »Ich wünschte, ich wäre tot!« lautete die verblüffende Ant- wort, die Schultz, offenkundig in einem Zustand geheimnis-

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voller, aber heftiger Bestürzung, in sich hineinmurmelte. Jasper musterte ihn mit scharfem Blick, doch war dies nicht der Moment, um den krankhaften Ausbruch eines fiebern- den Mannes zu ergründen. Er sah nicht so aus, als redete er bereits im Wahn, und das mußte für den Augenblick ge- nügen, Schultz machte einen Satz nach vorn. »Der Kerl führt was im Schilde!« sagte er verzweifelt. »Er führt was im Schilde gegen Sie, Käptn Allen. Ich spür es, und ich –« In unerklärlicher Erregung blieben ihm die Worte im Halse stecken. »Alles klar, Schultz. Ich werde ihm keine Gelegenheit bie- ten.« Jasper beendete das Gespräch und schwang sich ins Boot. Heemskirk, der an Bord der Neptun breitbeinig im strah- lenden Mondlicht stand, so daß sein pechschwarzer Schat- ten quer über das Achterdeck fiel, zeigte keinerlei Regung, als Jasper auf ihn zukam, doch insgeheim verspürte er beim Anblick des Mannes so etwas wie das Tosen der See in sei- ner Brust. Jasper stand schweigend vor ihm. Jetzt, da sie sich höchstpersönlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, verfielen sie sofort in jenes Verhalten, das ihnen von ihren gelegentlichen Begegnungen im Bungalow des alten Nelson her vertraut war. Sie ignorierten die Existenz des anderen – Heemskirk tat es übelgelaunt; Jasper tat es in vollkommener neutraler Gelas- senheit. »Was ist da oben auf dem Fluß los, wo Sie gerade her- kommen?« fragte der Leutnant ohne Umschweife. »Falls Sie die Unruhen meinen, davon weiß ich nichts«, antwortete Jasper. »Ich hab da oben eine halbe Ladung Reis gelöscht, habe aber keine neue Ladung an Bord nehmen

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können und bin wieder weggefahren. Da oben läuft derzeit so gut wie kein Handel, aber noch eine Woche, und die hät- ten gehungert, wenn ich nicht gekommen wäre.« »Einmischung! Typisch englische Einmischung! Dabei würd ich sagen, das Pack verdient nichts besseres als zu hun- gern.« »Da oben leben Frauen und Kinder, wie Sie wissen«, be- merkte Jasper in ruhigem Ton. »Aber natürlich! Wenn ein Engländer von Frauen und Kindern redet, kann man sicher sein, daß an der Sache was faul ist. Wir werden Ihre Betätigungen einer Untersuchung unterziehen müssen.« Sie sprachen abwechselnd, so als wären sie körperlose Geister – bloße Stimmen im leeren Raum; denn sie sahen einander an, als wäre ihnen gegenüber nichts, oder allenfalls mit einer Art von Wahrnehmung, wie man sie leblosen Gegenständen entgegenbringt, und das war alles. Aber nun entstand ein Schweigen. Heemskirk hatte auf einmal ge- dacht: »Sie wird ihm alles erzählen. Sie wird lachend an seinem Hals hängen und ihm alles erzählen.« Und der plötz- liche Wunsch, Jasper zu vernichten, bemächtigte sich seiner mit einer solchen Kraft, daß er beinahe den Verstand verlor. Er konnte weder sprechen noch sehen. Einen Moment lang vermochte er Jasper beim besten Willen nicht zu erkennen. Aber er hörte ihn fragen, als käme seine Stimme aus dem Nichts: »Ich verstehe Sie also richtig, daß die Brigg festgehalten wird?« Ein Aufwallen gehässiger Befriedigung brachte Heems- kirk wieder zu sich. »So ist es. Ich werde sie rauf nach Makassar in Schlepp nehmen.«

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»Die Gerichte werden über die Rechtmäßigkeit dieser Ak- tion zu befinden haben«, sagte Jasper, dem durchaus bewußt war, daß die Sache ernst wurde, mit gespielter Gelassenheit. »Ja, natürlich, die Gerichte! Klar doch. Und was Sie an- geht, ich werde Sie hier an Bord behalten.« Jaspers Verzweiflung darüber, daß er von seinem Schiff getrennt würde, verriet sich in einer steinernen Erstarrung. Sie dauerte nur einen winzigen Augenblick. Dann wandte er sich ab und rief zur Brigg hinüber. Schultz antwortete: »Jawoll, Sir.« »Machen Sie alles klar zur Übernahme einer Schleppleine vom Kanonenboot! Sie bringen uns nach Makassar.« »Um Gottes willen! Warum das, Sir?« kam leise ein be- sorgter Ruf zurück. »Reine Freundlichkeit, nehme ich an«, rief Jasper seine ironische, wohlbedachte Antwort zurück. »Wir hätten hier – vielleicht tagelang – in der Flaute gelegen. Und Gastfreund- schaft. Man hat mich eingeladen – hier an Bord zu bleiben.« Die Antwort auf diese Mitteilung war ein lauter Schrei des Entsetzens. Jasper dachte besorgt: »Meine Güte, jetzt hat der Kerl ganz die Nerven verloren«; und mit einem seltsamen Unbehagen, wie er es bislang nicht gekannt hatte, sah er auf- merksam hinüber zur Brigg. Der Gedanke, von ihr getrennt zu sein – das erste Mal, seit sie einander begegnet waren –, erschütterte die scheinbar selbstverständliche Stabilität sei- nes Charakters in ihren Grundfesten, und die waren tief ver- ankert. Die ganze Zeit hatten weder Heemskirk noch sein pechschwarzer Schatten sich auch nur im geringsten gerührt. »Ich werde gleich ein Boot losschicken, um ein paar Mann Besatzung und einen Offizier auf Ihr Schiff bringen zu las- sen«, sagte er, an niemand Bestimmtes gerichtet. Jasper riß

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sich aus der Betrachtung seiner Brigg los, in die er ganz ver- sunken war, drehte sich um und begann leidenschaftslos, fast ohne Ausdruck in der Stimme, seinen Protest gegen das gesamte Vorgehen zu äußern. Vor allem dachte er dabei an die Verspätung. Er zählte die Tage. Makassar lag im Grunde auf seiner Route; und der Schlepp dorthin würde ihm sogar Zeit sparen. Andererseits würde er ein paar ärgerliche For- malitäten über sich ergehen lassen müssen. Aber das Ganze war einfach lächerlich. »Die Küchenschabe ist durchge- dreht«, dachte er. »Ich werde sofort freigelassen. Und wenn nicht, muß Mesman für mich bürgen.« Mesman war ein holländischer Kaufmann, mit dem Jasper viel Geschäft machte, eine bedeutende Persönlichkeit in Makassar. »Sie haben was einzuwenden? Hm!« brummte Heemskirk und blieb noch einen Moment reglos stehen, breitbeinig und mit gesenktem Kopf, als würde er seinen eigenen komi- schen, tief gespaltenen Schatten betrachten. Dann machte er dem dickbäuchigen Geschützoffizier ein Zeichen, der die ganze Zeit mit leblosem Gesicht und kleinen glänzen- den Augen, ohne sich zu rühren, in der Nähe bereitgestan- den hatte wie das miserabel ausgestopfte Exemplar eines fetten Mannes. Der Bursche trat hinzu und nahm Haltung an. »Sie gehen mit ein paar Leuten an Bord der Brigg!« »Jawohl, Mynheer!« »Einer von Ihren Männern geht ans Ruder, die ganze Zeit«, fuhr Heemskirk fort, wobei er seine Anweisungen auf Englisch gab, wahrscheinlich, damit Jasper auch etwas davon hatte. »Verstanden?« »Jawohl, Mynheer.« »Sie bleiben die ganze Zeit an Deck und auf Wache.« »Jawohl, Mynheer.«

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Jasper hatte das Gefühl, indem man ihm das Kommando über seine Brigg entzog, ihm werde das Herz aus der Brust gerissen. Heemskirk fragte in verändertem Tonfall: »Was haben Sie für Waffen an Bord?« Es hatte eine Zeit gegeben, da erhielten alle Schiffe, die im Chinesischen Meer Handel trieben, eine Lizenz zum Besitz einer bestimmten Anzahl von Feuerwaffen zur Selbstvertei- digung. Jasper antwortete: »Achtzehn Gewehre samt Bajonetten, die schon an Bord waren, als ich das Schiff vor vier Jahren kaufte. Sie sind de- klariert.« »Wo bewahren Sie sie auf?« »Vorpiek. Der Bootsmann hat den Schlüssel.« »Die nehmen Sie unter Verschluß«, sagte Heemskirk zu dem Geschützoffizier. »Jawohl, Mynheer.« »Was soll das? Worauf wollen Sie hinaus?« rief Jasper; dann biß er sich auf die Lippe. »Das ist ungeheuerlich!« mur- melte er. Heemskirk bedachte ihn flüchtig mit einem schwermüti- gen Blick, als würde er furchtbar leiden. »Sie können losfahren«, sagte er zu seinem Geschützoffi- zier. Der dicke Mann salutierte und verschwand. Während der nächsten dreißig Stunden wurde die gleich- mäßige Schleppfahrt nur einmal unterbrochen. Von der Brigg wurde ein Signal gegeben, indem auf dem Vordeck jemand eine Flagge schwenkte, und das Kanonenboot stoppte. Das miserabel ausgestopfte Exemplar von Deckof- fizier stieg in sein Boot, erschien an Bord der Neptun und eilte unverzüglich in die Kajüte des Kommandanten, wobei sein Augenklimpern die Erregung über etwas verriet, das es nun zu berichten galt. Die beiden sprachen eine Weile unter

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vier Augen, und derweil stand Jasper an der Heckreling und versuchte herauszubekommen, ob sich an Bord der Brigg ir- gend etwas Außergewöhnliches ereignet hatte. Doch alles schien in Ordnung zu sein. Trotzdem hielt er Ausschau nach dem Geschützoffizier; und obwohl er es, seit er mit Heems- kirk fertig war, vermieden hatte, mit irgend jemandem zu sprechen, fing er den Mann ab, als er wieder an Deck kam, und erkundigte sich, wie es seinem Bootsmann ging. »Er fühlte sich nicht ganz wohl, als ich von Bord ging«, sagte er zur Erklärung. Der fette Deckoffizier, dessen Erscheinung die Vermu- tung nahelegte, daß die Mühen, mit denen er seinen riesigen Bauch vor sich hertrug, eine starre Körperhaltung verlang- ten, schien Jasper kaum zu verstehen. In seinem Gesicht zeigte sich nicht die winzigste Regung, bis schließlich seine kleinen Augen heftig zu blinzeln anfingen. »Oh, ja! Der Bootsmann. Ja, ja! Es geht ihm ausgezeich- net. Aber, meine Güte, das ist schon ein sehr seltsamer Mensch!« Jasper kam nicht mehr dazu, sich die Hintergründe dieser Bemerkung erklären zu lassen, denn der Holländer stieg eilig ins Boot und fuhr zurück zur Brigg. Aber er tröstete sich da- mit, daß dieses unangenehme und höchst absurde Erlebnis sehr bald ausgestanden sein würde. Die Reede von Makassar war bereits in Sicht. Heemskirk, auf dem Weg zur Brücke, ging an ihm vorbei. Zum erstenmal betrachtete der Leutnant Jasper mit spürbarer Aufmerksamkeit; und sein sonderbares Augenrollen hatte etwas dermaßen Komisches – Jasper und Freya waren sich schon seit langem darin einig, daß der Leutnant ein komischer Mensch war – in jener Mischung aus Begeisterung und Zufriedenheit, wie wenn sich je- mand einen besonderen Leckerbissen auf der Zunge

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zergehen läßt, daß Jasper sich ein breites Grinsen nicht verkneifen konnte. Und dann wandte er sich wieder um zu seiner Brigg. Sie so zu sehen, seine kostbare Erwerbung, belebt mit ei- nem Stück Seele seiner Freya, diese einzige Zuflucht zweier Wesen auf der weiten Welt, diese Garantin seiner Leiden- schaft, diese Gefährtin im Abenteuer, die ihm die Macht ver- lieh, die stille, anbetungswürdige Freya an seine Brust zu reißen und sie fortzutragen ans Ende der Welt; sie so zu sehen, diese wundervolle, würdige Verkörperung seines Stolzes und seiner Liebe, sie so zu sehen, gefesselt an das Ende einer Schleppleine, das war gewiß keine angenehme Erfahrung. Es war ein wenig wie ein Albtraum, ein Albtraum etwa von einem wilden Seevogel, der mit Eisenketten be- laden ist. Aber wohin sonst hätte er seinen Blick richten sollen? Bis- weilen ergriff ihre Schönheit sein Herz mit solch überirdi- scher Kraft, daß er vergaß, wo er war. Und jenes Gefühl von Überlegenheit, das einen jungen Mann befällt angesichts der Gewißheit, geliebt zu werden, jener Irrglaube, daß einen der zärtliche Blick aus den Augen einer Frau über das Schicksal erhebe, waren ihm, nachdem er den ersten Schreck über- wunden hatte, eine zusätzliche Hilfe, all diese Ereignisse mit amüsiertem Selbstvertrauen durchzustehen. Denn was konnte dem Erwählten Freyas schon Schlimmes passieren? Inzwischen war es Nachmittag geworden, und die beiden Schiffe hatten bei der Ansteuerung des Hafens die Sonne im Rücken. »Die Küchenschabe dürfte ihren mickrigen Streich bald ausgespielt haben«, dachte Jasper ohne besonderen Groll. Als Seemann, der sich in diesen Gewässern gut aus- kannte, genügte ihm ein flüchtiger Blick, um die Situation einschätzen zu können. »Oha«, dachte er, »er geht durch die

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Spermonde-Rinne. Dann müssen wir jeden Moment das Tamissa-Riff passieren.« Und wieder versank er in der Betrachtung seiner Brigg, die der Grundpfeiler seiner mate- riellen und emotionalen Existenz war und über die er bald wieder das Kommando haben würde. In der spiegelglatten See breitete sich der hohe, weiche Schwell ihrer Bugwelle zu beiden Seiten fächerförmig aus, denn die kräftige Neptun legte ein Schlepptempo vor, als gelte es, eine Wette zu ge- winnen. Der holländische Geschützoffizier erschien mit ein paar Leuten auf dem Vorschiff der Bonito, Sie standen da und sahen hinüber zur Küste, und Jasper versank wieder in sei- nen Liebesträumen. Der tiefe Signalton aus der Dampfpfeife des Kano- nenbootes kam so überraschend, daß Jasper zusammen- schreckte. Langsam ließ er den Blick schweifen. Blitzschnell stürzte er dann mit großen Sätzen über Deck nach vorne. »Sie sitzen gleich auf dem Tamissa-Riff«, schrie er. Hoch oben auf der Brücke sah Heemskirk gelangweilt über die Schulter nach achtern; zwei Matrosen wirbelten das Rad herum, und schon drehte die Neptun mit rascher Fahrt weg von der hellen Kante im Wasser, die die Gefahrenstelle anzeigte. Ha! Das war knapp. Sofort wandte sich Jasper nach achtern, um zu sehen, was mit seiner Brigg war; und noch ehe er begriff, daß – offenkundig in Befolgung eines Befehls, den Heemskirk zuvor dem Geschützoffizier gegeben hatte

– beim Signal der Dampfpfeife die Schleppleine losgewor- fen worden war, noch ehe er losschreien oder sich von der Stelle rühren konnte, mußte er zusehen, wie sie aus dem Ru- der lief und mit der ihr verbliebenen Fahrt hinter dem Heck des Kanonenbootes vorbeischoß. Mit ungläubig aufgerisse- nen Augen und entsetztem Blick folgte er dem elegant da- hingleitenden Rumpf. Die Schreie an Bord der Brigg dran-

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gen nur als ein gräßliches und wirres Gemurmel durch das laute Pochen des Blutes in seinem Ohr, und derweil fuhr sie weiter und weiter. In stolzer Haltung fuhr sie dahin und ent- faltete in jener unvergleichlichen Lebendigkeit und Anmut auf fürchterliche Weise ihr Vermögen an Geschwindigkeit. Sie fuhr weiter, bis die spiegelglatte Wasseroberfläche unter ihrem Bug, als habe ein gewaltiger Sog sie von unten erfaßt, plötzlich abzusinken schien; und mit einem sonderbaren, heftigen Erbeben ihrer Toppen kam sie zum Stehen, dann neigte sie ein wenig ihre Masten und blieb reglos liegen. Reg- los lag sie auf dem Riff, während die Neptun einen weiten Bo- gen beschrieb und dann mit voller Kraft durch die Sper- monde-Rinne Richtung Stadt dampfte. Sie lag reglos da, vollkommen reglos, und es hatte etwas Bedrohliches und Unnatürliches, wie sie da lag. Von einem Moment auf den anderen war im strahlenden Sonnenlicht jene Melancholie auf sie herabgesunken, die dem Verfall geweihten Dingen eigen ist; sie war nichts weiter mehr als ein winziges Partikel in der funkelnden Leere des Raums, bereits einsam, bereits verlassen. »Festhalten!« rief eine Stimme von der Brücke. Wie ein Mensch, der losstürzt, um ein lebendiges, atmen- des, geliebtes Wesen eigenhändig dem Verderben zu ent- reißen, war Jasper Hals über Kopf losgestürzt, um seine Brigg zu retten. »Festhalten! Nicht loslassen!« brüllte der Leutnant von der obersten Stufe des Brückenaufgangs, während Jasper wortlos und wie rasend um sich schlug, nachdem sich die Matrosen der Neptun befehlsgemäß auf ihn gestürzt und alles außer seinem Kopf unter ihren wo- genden Leibern begraben hatten. »Festhalten – unter den gegebenen Umständen möchte ich auf keinen Fall, daß der Bursche ins Wasser springt und ertrinkt!«

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Jasper gab seinen Widerstand auf. Einer nach dem anderen ließen sie von ihm ab; langsam und in angespanntem Schweigen wichen sie immer weiter zurück, bis er alleine in der Mitte eines geräumigen Kreises stand, als brauche er genügend Platz, um nach beendetem Kampf malerisch zu Boden sinken zu können. Aber er war nicht einmal merklich ins Wanken geraten. Als die Neptun eine halbe Stunde später vor der Stadt Anker warf, hatte er sich noch immer nicht von der Stelle gerührt, hatte weder Kopf noch Glieder auch nur um Haaresbreite bewegt. Kaum war auf dem Kanonenboot das Gerumpel der An- kerkette verstummt, kam Heemskirk mit schwerem Schritt von der Brücke. »Rufen Sie ein Sampan«, befahl er dem Wachgänger in dü- sterem Ton, als er am Fallreep vorbeikam, und ging langsam weiter zu der Stelle, wo Jasper, von vielen mit scheuem Blick gemustert, stand und gedankenverloren aufs Deck starrte. Heemskirk trat dicht an ihn heran und betrachtete ihn nach- denklich, die Finger an die Lippen gelegt. Da stand er, der auserwählte Vagabund, der einzige Mensch, dem das nieder- trächtige Mädchen die Geschichte wahrscheinlich erzählen würde. Aber er würde sie nicht komisch finden. Die Ge- schichte, wie Leutnant Heemskirk – nein, er würde nicht darüber lachen. Er sah aus, als würde er für den Rest seines Lebens über gar nichts mehr lachen. Plötzlich sah Jasper auf. Als er dem abschätzenden und finsteren Blick Heemskirks begegnete, lag in seinen Augen nichts als grenzenlose Verwirrung. »Aufs Riff gelaufen!« sagte er leise und mit einem Ton der Verwunderung. »Auf – das – Riff!« wiederholte er noch leiser, und es schien, als würde er der Geburt eines schreck- lichen und erstaunlichen Gefühls beiwohnen.

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»Genau bei Hochwasser, Springtide«, ergänzte Heems- kirk mit einer gehässigen und hämischen Brutalität, die nur kurz aufflammte und sogleich erlosch. Er hielt inne, als sei er erschöpft, und musterte Jasper mit seinem überheblichen Blick, der überschattet war von einer insgeheimen Ernüch- terung, jener unentrinnbaren Begleiterscheinung aller Lei- denschaft, wie von einer düsteren Wolke. »Genau bei Hoch- wasser«, wiederholte er, richtete sich auf, riß sich die betreßte Mütze vom Kopf und wies mit waagerecht ausgestrecktem Arm und einer höhnisch verschnörkelten Geste in Richtung Fallreep. »Und jetzt gehen Sie von mir aus an Land und vor Gericht, Sie verfluchter Engländer!« sagte er.

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Der Fall Bonito wurde in Makassar, der hübschesten und vielleicht auch saubersten Stadt in den Inseln die allerdings einen Mangel an aufregenden Ereig-

nissen zu beklagen hatte, zwangsläufig zur Sensation. Am »Ufer«, wo ein ganz bestimmter Menschenschlag wohnte, wußte man schon sehr bald, daß etwas geschehen war. Län- gere Zeit hatte man weit draußen auf See einen Dampfer be- obachtet, der einen Segler im Schlepp hatte, und daß der Dampfer dann alleine einlief und den anderen draußen ließ, erregte eine gewisse Aufmerksamkeit. Was steckte dahinter? Alles was man sah, waren, nach Süden hin, zwei Masten – mit aufgetuchten Segeln –, die sich nicht von der Stelle be- wegten. Und schon bald verbreitete sich auf der belebten Uferstraße das Gerücht, auf dem Tamissa-Riff liege ein Schiff. Die Betreffenden hatten das, was sie sahen, richtig ge- deutet. Die Hintergründe freilich konnten sie nicht durch- schauen, denn wer hätte ein Mädchen, das neunhundert Meilen weit weg war, mit der Strandung eines Schiffes auf dem Tamissa-Riff in Verbindung bringen sollen, wer hätte die Psyche mindestens dreier Menschen im Zusammenhang mit just diesem Ereignis analysiert, auch wenn einer der drei, nämlich Leutnant Heemskirk, gerade mitten unter ihnen war, weil er sich auf dem Weg zu den zuständigen Dienst- stellen befand, um dort Bericht zu erstatten. Nein; für derartige Überlegungen waren die Leute vom »Ufer« nicht zuständig, aber dafür wurden dort viele Hände

– braune Hände, gelbe Hände, weiße Hände – schützend

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über viele Augenpaare gehalten, die hinaus aufs Meer blick- ten. Das Gerücht verbreitete sich in Windeseile. Chinesische Ladenbesitzer traten vor ihre Türen, und auch manch einer unter den weißen Geschäftsleuten erhob sich von seinem Schreibtisch, um aus dem Fenster zu sehen. Ein Schiff auf Tamissa, das gab es schließlich nicht alle Tage. Und binnen kürzester Zeit nahm das Gerücht deutlichere Formen an. Ein englischer Handelssegler – wegen verdächtigen Verhal- tens auf See von der Neptun aufgebracht – Heemskirk nahm ihn in Schlepp, um die Sache hier untersuchen zu lassen, und durch irgendeinen sonderbaren Zufall – Später wurde auch der Name bekannt. »Die Bonito – was! Ausgeschlossen! Doch – doch, die Bonito. Sieh doch hin! Man kann es von hier erkennen; nur zwei Masten. Das ist eine Brigg. Wer hätte das gedacht, daß der Mann sich jemals erwischen lassen würde. Heemskirk ist auch nicht von ge- stern. Unter Deck soll sie wie eine vornehme Yacht einge- richtet sein, heißt es. Und der Allen tut ja auch ganz schön vornehm. Ein ziemlicher Großprotz.« Ein junger Mann betrat forsch das am »Ufer« gelegene Kontor von Messrs. Mesman Brothers und konnte mit wei- teren Neuigkeiten aufwarten. »Oh, ja; daß es die Bonito ist, steht fest! Aber Sie kennen die Geschichte noch nicht, die ich gerade gehört habe. Der Bursche scheint den Fluß seit ein oder zwei Jahren mit Feu- erwaffen zu versorgen. Und nachdem er die ganze Zeit un- geschoren davongekommen ist, hat ihn jetzt wohl der große Leichtsinn gepackt, und er hat es tatsächlich riskiert, die re- gistrierten Bordgewehre zu verkaufen. Tatsache! Die Ge- wehre sind nicht mehr an Bord. Eine Unverfrorenheit! Bloß hat er nicht gewußt, daß eines von unseren Kriegsschiffen vor der Küste lag. Aber diese Engländer sind dermaßen un-

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verschämt, daß er vielleicht gedacht hat, wegen so was kann ihm nichts passieren. Unsere Gerichte lassen viel zu viele von diesen Kerlen unter irgendwelchen fadenscheinigen Vorwänden laufen. Aber wie dem auch sei, für die berühmte Bonito ist der Spaß jetzt vorbei. Im Hafenamt hab ich gerade gehört, daß sie genau bei Springhochwasser aufgelaufen ist; und dann fuhr sie auch noch in Ballast. Die meinen, daß keine Macht der Erde sie da wieder runterkriegt, wo sie jetzt ist. Hoffen wir, daß sie recht haben. Es wäre doch herrlich, wenn uns die berüchtigte Bonito da oben auf dem Riff erhal- ten bliebe, als Mahnmal für andere.« Herr J. Mesman, ein in den Kolonien geborener Hollän- der, ein netter, väterlicher alter Mann mit einem glattrasier- ten, friedlichen, schönen Gesicht und prächtigem stahl- grauen Haar, das sich über dem Kragen ein wenig kräuselte, nahm Jasper oder die Bonito mit keinem Wort in Schutz. Plötzlich erhob er sich aus seinem Lehnstuhl. Er war sicht- lich beunruhigt. Irgendwann einmal, bei einem Geschäfts- gespräch über dieses und jenes, über den Inselhandel, über Geldangelegenheiten und anderes, hatte ihm Jasper auch zum Thema Freya sein Herz ausgeschüttet; und der vor- treffliche Mann, der mit dem alten Nelson vor Jahren gut bekannt gewesen war und sich sogar an Freya noch schwach erinnern konnte, hatte sich gewundert und amüsiert über den späteren Gang der Dinge. »So, so, so! Nelson! Ja; natürlich. Ein hochanständiger Mann. Und ein kleines Mädchen mit strohblondem Haar. Oh, ja! Ich erinnere mich genau. Und aus ihr ist also eine wunderbare junge Frau geworden, ganz selbstsicher, ganz –« Und er hatte sich kaum halten können vor Lachen. »Also, und wenn Sie dann glücklich durchgebrannt sind mit Ihrer zukünftigen Frau, Captain Allen, müssen Sie unbedingt Ma-

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kassar anlaufen, damit wir sie hier willkommen heißen kön- nen. Ein kleines blondes Mädchen! Ich erinnere mich. Ich erinnere mich.« Diese Erinnerung war es, die ihm den Ausdruck der Be- unruhigung ins Gesicht schrieb, als die Nachricht von dem Schiffbruch ihn erreichte. Er griff nach seinem Hut. »Wo wollen Sie hin, Herr Mesman?« »Ich muß Allen suchen, Ich nehme an, er ist an Land. Weiß jemand Näheres?« Von den Anwesenden wußte niemand etwas. Und Herr Mesman ging raus aufs »Ufer«, um sich umzuhören. In den anderen Teil der Stadt, den Teil um Kirche und Fe- stung, gelangte die Neuigkeit auf einem anderen Weg. Der erste erkennbare Hinweis war Jasper selbst, der mit seinem hastigen Gang den Eindruck erweckte, er werde verfolgt. Und in der Tat, ein Chinese, ganz offensichtlich ein Sampan- Besitzer, folgte ihm im gleichen stürmischen Schritt. Als sie am Oranienhof vorbeikamen, schwenkte Jasper plötzlich nach rechts und ging hinein, oder richtiger, er stürzte hinein und erschreckte Gomez, den Hotelportier, schier zu Tode. Aber ein Chinese, der an der Tür einen unerhörten Lärm veranstaltete, beanspruchte gleich darauf Gomez’ ganze Aufmerksamkeit. Er beschwerte sich darüber, daß der weiße Mann, den er vom Kanonenboot abgeholt und an Land ge- bracht hatte, ihm das Fahrgeld verweigerte. Er war ihm bis hierher gefolgt und hatte während des ganzen Weges immer wieder auf Zahlung gedrungen. Aber der weiße Mann war auf seine berechtigte Forderung nicht eingegangen. Gomez fand den Kuli mit ein paar Kupfermünzen ab und machte sich auf, nach Jasper zu sehen, der ihm bestens bekannt war. Er entdeckte ihn wie erstarrt neben einem kleinen runden Tisch stehend. Ein paar Männer am anderen Ende der

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Veranda hatten ihr Gespräch unterbrochen und sahen ihn schweigend an. Zwei Billardspieler standen, ihre Queues in der Hand, in der Tür zum Billardzimmer und sahen eben- falls zu ihm hinüber. Als Gomez sich näherte, hob Jasper eine Hand und deu- tete sich auf die Kehle. Gomez fiel auf, wie schmutzig seine weißen Sachen waren, und nachdem er einen Blick auf sein Gesicht geworfen hatte, eilte er hinaus, um den Drink zu be- stellen, den Jasper zu verlangen schien. Wo er eigentlich hinwollte – mit welcher Absicht – wohin er vielleicht auch bloß unterwegs zu sein glaubte, als eine plötzliche Eingebung oder ein vertrauter Anblick ihn veran- laßte, in den Oranienhof zu gehen –, das läßt sich unmöglich sagen. Er stützte sich mit den Fingerspitzen ganz leicht auf dem kleinen Tisch ab. Auf der Veranda saßen zwei Männer, die er gut kannte, aber sein Blick, den er unruhig umher- schweifen ließ, als sei er auf der Suche nach einem Flucht- weg, wischte wieder und wieder über die beiden hinweg, ohne daß er sie zu erkennen schien. Die beiden Herren ih- rerseits sahen ihn an und trauten ihren Augen nicht. Nicht, daß sein Gesicht entstellt gewesen wäre. Im Gegenteil, es war ruhig, es war gefaßt. Aber sein Ausdruck war vollkom- men fremd. Ist er das wirklich? fragten sie sich beklommen. In seinem Kopf herrschte ein wildes Durcheinander von klaren Gedanken. Glasklaren Gedanken. Doch seine völlige Unfähigkeit, einen einzigen dieser Gedanken festzuhalten, machte deren Klarheit gänzlich unerträglich. Er redete auf sich ein, oder auf sie: »Ganz ruhig, ganz ruhig.« Ein chinesi- scher Boy kam mit einem Glas auf einem Tablett. Er schüt- tete den Drink runter und lief hinaus. Sein Verschwinden er- löste die Anwesenden aus dem Bann des Zweifels. Einer der Männer sprang auf und eilte zur anderen Seite der Veranda,

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von wo aus man fast die ganze Reede überblicken konnte. In dem Moment, als Jasper aus der Tür des Oranienhofes kam und unten auf der Straße vorbeiging, rief der Mann den an- deren aufgeregt zu: »Natürlich war das Allen! Aber wo ist seine Brigg?« Jasper hörte die Worte mit überraschender Deutlichkeit. Der ganze Himmel schien von ihnen widerzuhallen, als sei er aufgerufen, Rechenschaft abzulegen; denn es waren ge- nau die Worte, die Freya benutzen würde. Die Frage war vernichtend; sie traf sein Bewußtsein wie ein Schlag und hüllte, mitten im Gehen, das Durcheinander seiner Gedan- ken in plötzliche Nacht. Er blieb nicht stehen. Im völligen Dunkel machte er noch drei Schritte, dann fiel er. Der gute Mesman mußte ganz bis ins Krankenhaus lau- fen, ehe er ihn fand. Der Arzt dort sprach von einem leich- ten Hitzschlag. Nichts Ernstes. In drei Tagen wieder auf den Beinen … Zugegeben, der Arzt hatte recht. Nach drei Tagen kam Jasper Allen aus dem Krankenhaus und war nun für je- dermann in der Stadt sichtbar – ausgesprochen gut sichtbar sogar –, und so sollte es auch eine ganze Weile bleiben; lange genug jedenfalls, um ihn schon fast zum gewohnten Teil des Stadtbildes werden zu lassen; lange genug, um am Ende von kaum jemandem mehr beachtet zu werden; lange genug, um den Leuten im Archipel mit seiner geisterhaften Erschei- nung noch heute lebhaft in Erinnerung zu sein. Das Gerücht am »Ufer« und Jaspers Auftritt im Oranien- hof stehen am Anfang des berühmten Bonito-Falles und sind aufschlußreich für seine beiden wesentlichen Aspekte – den praktischen und den psychologischen. Ein Fall für die Gerichte und ein Fall für das Mitgefühl; und letzterer von beiden war auf furchtbare Weise augenfällig und doch unbe- greiflich.

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Er ist, muß man wissen, auch für meinen Freund unbe- greiflich geblieben, der mir jenen Brief schrieb, den ich am Anfang dieses Berichtes erwähne. Er war damals angestellt bei Mesman und begleitete den alten Herrn bei seiner Suche nach Jasper. Seinem Brief entnahm ich die beiden wesent- lichen Aspekte und einige der Episoden, die zu dem Fall gehören. Heemskirk bezeugte tiefe Dankbarkeit dafür, daß er sein eigenes Schiff nicht verloren hatte, und damit genug. Dunst über der Küste war seine Erklärung dafür, daß er so dicht an das Tamissa-Riff herangeraten war. Er habe sein Schiff gerettet, und alles andere kümmere ihn nicht. Und der fette Geschützoffizier erklärte schlicht und ergreifend, daß er in jenem Moment meinte, das einzig Richtige zu tun, in- dem er das Schleppseil loswarf, aber er gab auch zu, daß ihn die Plötzlichkeit der Gefahrenlage zutiefst verwirrt habe. In Wahrheit hatte er nach strikten Anweisungen von Heemskirk gehandelt, zu dessen ergebenem Gefolgsmann er im Laufe der gemeinsamen Dienstjahre im Osten gewor- den war. Das Bemerkenswerteste an der Requirierung der Bonito war seine Schilderung, wie er befehlsgemäß die Ge- wehre beschlagnahmen wollte und feststellen mußte, daß es an Bord gar keine Gewehre gab. Das einzige, was er in der Vorpiek fand, war eine leere Halterung für die registrierten achtzehn Gewehre, aber von den Gewehren selbst gab es auf dem ganzen Schiff keine Spur. Der Bootsmann der Brigg, der ziemlich krank aussah und sich eigenartig hektisch be- nahm, als sei er nicht ganz normal, wollte ihn glauben ma- chen, daß Captain Allen davon nichts wüßte; daß er, der Bootsmann, es gewesen sei, der kürzlich in tiefschwarzer Nacht oben am Fluß die Gewehre an eine gewisse Person verkauft habe. Zum Beweis für diese Geschichte holte er einen Beutel mit Silberdollars hervor, den er ihm, dem

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Geschützoffizier, geradezu aufzudrängen versuchte. Dann schleuderte er den Beutel plötzlich aufs Deck und fing an, sich mit beiden Fäusten gegen den Kopf zu hämmern, wo- bei er seine eigene Seele mit den furchtbarsten Verwün- schungen überhäufte und sich einen undankbaren Schuft schimpfte, der es nicht wert sei zu leben. All das berichtete der Geschützoffizier unverzüglich sei- nem Vorgesetzten. Was Heemskirk im Schilde geführt haben mochte, als er sich entschloß, die Bonito aufzubringen, ist schwer zu sagen, wenn man einmal davon absieht, daß er dem Mann, den Freya auserwählt hatte, das Leben schwermachen wollte. Bei Jaspers Anblick hatte er den heftigen Wunsch verspürt, die- sen Mann der Küsse und Umarmungen zu vernichten. Die Frage war: Wie konnte er das tun, ohne selbst mit in den Abgrund gerissen zu werden? Aber was ihm der Geschütz- offizier berichtet hatte, war eine verdammt ernste Sache. An- dererseits hatte Allen Freunde – und wer weiß, vielleicht würde er es schaffen, sich irgendwie aus der Geschichte rauszuwinden? Der Einfall, die nunmehr unter schwerem Verdacht stehende Brigg einfach auf das Riff zu schleppen, kam ihm, während er in seiner Kammer dem Bericht des fet- ten Geschützoffiziers lauschte. Die Gefahr, daß man ihm Vorwürfe machte, war nach Lage der Dinge gering. Und außerdem sollte es aussehen wie ein Unfall. Als er an Deck kam, hatte er sein ahnungsloses Opfer mit einem derart finsteren Augenrollen, einem derart merkwür- dig verzerrten Mund gemustert, daß sich Jasper ein Lächeln nicht verkneifen konnte. Und der Leutnant war auf die Brücke gegangen und hatte bei sich gedacht: »Wart’s ab. Ich werde dir den Geschmack an diesen süßen Küssen noch gründlich verderben. Wenn du in Zukunft von

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Leutnant Heemskirk hörst, wird dir das Grinsen vergehen, das schwör ich dir. Ich hab dich in der Hand.« Und diese Möglichkeit hatte sich ganz unerwartet eröff- net, man könnte fast sagen naturgewollt, als hätten sich die Ereignisse auf geheimnisvolle Weise den Absichten einer unheilvollen Leidenschaft unterworfen. Die ausgeklügelt- sten Pläne hätten Heemskirk nicht dienlicher sein können. Er kam in den Genuß, eine übernatürliche, eine unvorstell- bare Vollkommenheit der Rache zu kosten; dem Herzen des ihm verhaßten Menschen den tödlichen Stoß zu versetzen und dann zuzusehen, wie er mit dem Dolch in der Brust her- umlief. Denn anders läßt sich Jaspers Zustand nicht beschreiben. Er bewegte sich, er tat das Seine mit trägem Blick, mit hage- rem Gesicht, abgemagert und rastlos, mit brüsken Bewe- gungen und heftigen Gesten; er redete ununterbrochen wirr und erschöpft daher, aber im Grunde wußte er, daß nichts und niemand ihm jemals seine Brigg zurückgeben würde, so wie nichts und niemand sein durchbohrtes Herz würde heilen können. Seine Seele, die in den Stürmen der Liebe stets von der unerschütterlichen Freya besänftigt worden war, hatte etwas von einer überspannten Saite im ruhenden Zustand gehabt. Der Schock hatte sie in Schwingungen ver- setzt, und die Saite war gerissen. Zwei Jahre lang hatte er in völlig berauschter Zuversicht auf einen Tag gewartet, der nun niemals mehr kommen würde für einen Mann, der mit dem Verlust der Brigg für den Rest seines Lebens ent- waffnet, dem, so kam es ihm vor, die Fähigkeit zur Liebe auf ewig genommen war, da er ihr keine Zuflucht mehr bieten konnte. Tag für Tag lief er quer durch die ganze Stadt, ging am Ufer entlang, kam zu jener Landspitze, die dem Teil des Riffs

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gegenüberlag, auf dem seine Brigg gestrandet war, und be- trachtete über das Wasser hinweg mit ruhigem Blick ihren heißgeliebten Rumpf, der einst Heimat einer überschweng- lichen Hoffnung gewesen und nun, da er in seiner Schräg- lage, in seiner Verlassenheit und Reglosigkeit über dem ein- samen Meereshorizont thronte, Symbol der Verzweiflung war. Die Mannschaft hatte zu gegebener Zeit in den eigenen Rettungsbooten das Schiff verlassen, die, sobald sie in der Stadt eintrafen, dort von den Hafenbehörden beschlagnahmt wurden. Auch die Brigg selbst galt für die Dauer des Verfah- rens als beschlagnahmt; aber eben diese Behörden hielten es nicht für nötig, an Bord eine Wache zu postieren. Denn in der Tat, wer oder was sollte sie dort wegholen? Nichts, höchstens ein Wunder; nichts, höchstens Jaspers Blick, den er stunden- lang starr auf sie richtete, als hoffte er, sie mit der bloßen Kraft seiner Vorstellung an seine Brust zu reißen. Diese ganze Geschichte, die ich dem äußerst plauderhaf- ten Brief meines Freundes entnahm, erschreckte mich nicht eben wenig. Aber wahrhaft schrecklich zu lesen war seine Schilderung, wie Schultz, der Bootsmann, überall herumlief und mit verzweifelter Beharrlichkeit bekundete, daß er allein es war, der die Gewehre verkauft hatte. »Ich hab sie gestoh- len«, beteuerte er. Natürlich glaubte ihm niemand. Nicht ein- mal mein Freund glaubte ihm, obwohl er natürlich seine Selbstaufopferung bewunderte. Aber eine Menge Leute hiel- ten es für übertrieben, daß jemand sich, um seinem Freund zu helfen, selbst des Diebstahls bezichtigte. Andererseits handelte es sich so offenkundig um eine Lüge, daß es am Ende vielleicht nichts ausmachte. Ich, der ich die psychische Konstitution von Schultz kannte, wußte, daß er die Wahrheit sagte und muß zugeben,

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daß ich entsetzt war. Auf solche Weise also suchte sich ein heimtückisches Schicksal seinen Vorteil in einer großzügi- gen Regung! Und ich fühlte mich als Komplize in dieser Heimtücke, denn ich hatte Jasper bis zu einem gewissen Grade zugeraten. Allerdings hatte ich ihn auch gewarnt. »Diese Sache scheint sich bei dem Mann zur fixen Idee ausgewachsen zu haben«, schrieb mein Freund. »Er ist mit seiner Geschichte zu Mesman gegangen. Er behauptet, daß irgendein widerlicher weißer Mann, der oben am Fluß bei den Eingeborenen lebt, ihn eines Abends mit Gin betrun- ken und sich dann über ihn lustig gemacht habe, weil er im- mer ohne Geld sei. Nachdem er dann darauf bestanden hatte, er sei ein ehrlicher Mann, dem wir glauben müßten, schilderte er uns, wie er zum Dieb würde, sobald er einen Tropfen zuviel trank, und wie er in jener Nacht an Bord ge- gangen und ohne einen Hauch von Gewissensbissen die Ge- wehre eines nach dem anderen in ein Kanu hinübergereicht habe, das längsseits gekommen war, und daß er pro Stück zehn Dollar erhalten habe. Am nächsten Tag sei er vor Scham und Kummer ganz krank gewesen, habe aber nicht den Mut gehabt, seinem Wohltäter den Fehltritt zu beichten. Als das Kanonenboot die Brigg stoppte und er sich die drohenden Folgen aus- malte, wäre er am liebsten gestorben, und wenn er damit, daß er sein Leben opferte, die Gewehre hätte wiederbe- schaffen können, wäre er sogar mit Freuden gestorben. In der Hoffnung, daß die Brigg sogleich wieder freigegeben würde, habe er Jasper von alledem nichts gesagt. Als es jedoch anders gekommen und sein Kapitän an Bord des Kanonenbootes festgehalten worden sei, habe er sich vor Verzweiflung beinahe das Leben genommen; nur habe er es als seine Pflicht empfunden weiterzuleben, um die Wahrheit

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berichten zu können. ›Ich bin ein ehrlicher Mensch! Ich bin ein ehrlicher Mensch!‹ rief er immer wieder mit einer Stimme, die uns die Tränen in die Augen trieb, ›Sie müssen mir glauben, daß ich ein Dieb bin – ein niederträchtiger, mieser, verschlagener, nichtswürdiger Dieb, sobald ich ein, zwei Gläser intus habe. Bringen Sie mich irgendwohin, wo ich die Wahrheit unter Eid aussagen kann.‹ Als wir ihn schließlich davon überzeugt hatten, daß seine Geschichte Jasper nicht würde nützen können – denn wel- ches holländische Gericht würde, wenn es erst mal eines englischen Händlers habhaft geworden ist, eine solche Er- klärung gelten lassen; und in der Tat, wie, wann und wo konnte man erwarten, für eine solche Geschichte Beweise zu finden? –, gebärdete er sich, als wolle er sich das Haar büschelweise ausreißen, doch nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, sagte er: ›Dann auf Wiedersehen, meine Herren‹, und verließ derart niedergeschmettert den Raum, daß er kaum in der Lage schien, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Noch in derselben Nacht beging er Selbstmord, indem er sich im Haus jenes Mischlings, bei dem er seit der Strandung an Land gewohnt hatte, die Kehle durchschnitt.« Die Kehle, dachte ich mit Schaudern, die jene zarte, un- widerstehliche, männliche aber dennoch verführerische Stimme hervorgebracht hatte, mit der Jaspers handfestes Mitgefühl geweckt und Freyas Zuneigung gewonnen wor- den waren! Wer hätte jemals gedacht, daß den unsäglichen, den herzensguten Schultz mit seinem Hang zu kindischen Klauereien, die so lächerlich durchschaubar waren, daß sie selbst unter den Leidtragenden nichts als eine Art belustig- ten Ärgers hervorriefen, daß diesen Schultz ein solches Ende erwartete? Er war wirklich unsäglich. Er hätte ohne Zweifel das Los einer armseligen, geheimnisvollen, aber

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durchaus nicht tragischen Existenz als sanftäugiger, harm- loser Strandstreicher am Rande der Zivilisation verdient. Es gibt Fälle, in denen die Ironie des Schicksals, die manche Leute im Gang unseres Lebens zu entdecken behaupten, Züge von grausamer und brutaler Narretei trägt. Ich schüttelte den Kopf über Schultz und seine Manen und fuhr fort mit der Lektüre des Briefes meines Freundes. Ich las dort, wie die Brigg auf dem Riff von den Eingebore- nen aus den Küstendörfern geplündert wurde und allmäh- lich das jämmerliche Aussehen, das Fahl-Gespenstische eines Wracks annahm; wie derweil Jasper, der täglich mehr zum bloßen Schatten seiner selbst wurde, mit entsetzlich lebhaften Augen und einem müden, erstarrten Lächeln auf den Lippen, entschiedenen Schrittes das »Ufer« entlangmar- schierte, um dann den ganzen Tag auf der Spitze einer ein- samen Landzunge zu hocken und gebannt zu ihr hinüber- zustarren, als erwartete er, daß an Bord irgendeine Gestalt auftauchen und ihm über die verrottende Reling hinweg ir- gendein Zeichen geben würde. Die Mesmans kümmerten sich um ihn, so gut es ging. Der Fall Bonito war nach Batavia weitergeleitet worden, wo er zweifellos im Wust der Akten untergehen würde … Es war erschütternd, das alles zu lesen. Leutnant Heemskirk, dieser von Tatendrang strotzende, be- flissene Offizier, dessen mürrische, von tief gekränkter Selbstüberschätzung gezeichnete Miene sich auch ange- sichts der inoffiziellen Mitteilung, daß sein Handeln gutge- heißen werde, nicht aufhellte, war unterwegs zu den Moluk- ken, um dort wieder Posten zu beziehen … Und am Ende dieses umfangreichen, nettgemeinten Brie- fes, der mindestens ein halbes Jahr Inselleben zum Thema hatte, schrieb mein Freund: »Vor ein paar Monaten ist der alte Nelson hier aufgetaucht, er kam mit dem Postschiff aus

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Java. Es scheint, er wollte Mesman sprechen. Ein ziemlich rätselhafter Besuch, und ausgesprochen kurz, wenn man die lange Anreise bedenkt. Er blieb ganze vier Tage im Ora- nienhof und schien nichts Bestimmtes zu tun zu haben, und dann nahm er das nächste Schiff, das runter nach Süden Richtung Straits fuhr. Ich kann mich daran erinnern, daß irgendwann mal jemand gesagt hat, Allen sei in die Tochter des alten Nelson verliebt gewesen, das Mädchen, das bei Mrs. Harley aufgewachsen und dann rübergegangen ist auf die Sieben Inseln, um dort bei ihrem Vater zu leben. Du er- innerst dich doch bestimmt noch an den alten Nelson –« Den alten Nelson! Weiß Gott! Weiter erfuhr ich aus dem Brief, daß der alte Nelson sich immerhin auch an mich zu erinnern schien, denn einige Zeit nach seinem Blitzbesuch in Makassar hatte er an die Mes- mans geschrieben, um meine Londoner Adresse zu erfra- gen. Sollte dieser alte Nelson (oder Nielsen), dessen hervor- stechendes Persönlichkeitsmerkmal jene völlige, unbeirr- bare Teilnahmslosigkeit gegenüber seiner gesamten Umge- bung war, tatsächlich einen Brief schreiben wollen oder irgend etwas an irgend jemanden zu schreiben wissen, so war dies schon an und für sich ein Grund zur Verwunderung. Und dann noch ausgerechnet an mich? Ich wartete beklom- men und voller Ungeduld auf die Enthüllung, die dieser von Natur aus unbedarfte Geist für mich bereithielt, doch meine Ungeduld hatte Gelegenheit, wieder abzuklingen, bis meine Augen die zittrige, mühsam gemalte, zugleich senile und kindliche Handschrift des alten Nelson auf einem Umschlag erblickten, auf dem außerdem eine Penny-Marke klebte, die am Postamt von Notting Hill abgestempelt war. Ich wartete mit dem Öffnen des Briefes, um zunächst

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dem Ereignis den gebührenden Tribut an Erstaunen zu zollen, indem ich die Hände über dem Kopf zusammen- schlug. So war er also heimgekehrt nach England, um endgültig Nelson sein zu können; oder er war auf dem Weg nach Dänemark, wo er sich ein für allemal in den ursprüng- lichen Nielsen zurückverwandeln würde! Aber sich den alten Nelson (oder Nielsen) außerhalb der Tropen vorzustellen war unmöglich. Und dennoch war er hier, und er bat um meinen Besuch. Er wohnte in einer Pension in einer jener Ecken von Bayswater, wo man früher dem Wohlleben frönte und wo man heutzutage seinen Lebensunterhalt sauer verdienen mußte. Er war aufgrund einer Empfehlung hier gelandet. Es war ein typischer Londoner Januartag, als ich mich zu ihm auf den Weg machte, einer jener Wintertage, die sich aus vier teuflischen Elementen zusammensetzen, als da sind Kälte, Nässe, Matsch und Ruß, und dazu kommt eine ganz einzig- artige Klebrigkeit der Luft, die sich wie ein schmutziges Ge- webe über die eigene Seele legt. Doch als ich mich seiner Un- terkunft näherte, sah ich, wie ein Flackern weit hinter dem schmutzigen Schleier aus den vier Elementen, das träge und herrliche Glitzern eines blauen Meeres, auf dem wie winzige Pünktchen die Sieben Inseln schwammen, deren kleinste von dem roten Dach des Bungalows gekrönt war. Dieses Er- innerungsbild verstörte mich zutiefst. Mit unsicherer Hand klopfte ich an die Tür. Der alte Nelson (oder Nielsen) erhob sich von dem Tisch, an dem er, vor sich eine abgewetzte Brieftasche voller Pa- piere, gesessen hatte. Er nahm die Brille ab, bevor er mir die Hand schüttelte. Eine Weile sagte keiner von uns ein Wort; dann, als er meinen irgendwie erwartungsvoll umherirren- den Blick bemerkte, brummte er ein paar Worte, von denen

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ich nur »Tochter« und »Hong Kong« verstand, schlug die Augen nieder und seufzte. Sein Schnurrbart, der struppig in die Gegend ragte wie immer, war ziemlich weiß geworden. Seine greisen Wangen waren sanft gerundet und ein wenig gerötet; schon eigenar- tig, daß ein kindlicher Zug, der in seinem Gesicht immer er- kennbar war, nun sehr viel stärker hervortrat. Wie seine Handschrift, so wirkte auch er kindlich und senil zugleich. Sein Alter kam am stärksten in seiner dümmlich gerunzelten, besorgten Stirn und in seinen runden, unschuldigen Augen zum Ausdruck, die mir schwach und stumpf und wässrig vorkamen; oder waren es Tränen? … Den alten Nelson in jeder Hinsicht bestens informiert zu erleben war für mich eine neue Erfahrung. Und nachdem die anfängliche Befangenheit verflogen war, erzählte er bereit- willig, und es bedurfte nur der einen oder anderen Frage, um ihn aus dem gelegentlichen Schweigen zu befreien, das immer ganz plötzlich über ihn kam, und dann faltete er die Hände auf seiner Weste, und ich fühlte mich an die Ost- veranda erinnert, wo er vor, wie es mir heute scheint, lan- ger langer Zeit gesessen und entspannt geplaudert und die Backen gebläht hatte. Er sprach in überlegtem, ein wenig be- sorgtem Ton. »Nein, nein. Wochenlang wußten wir von nichts. In unse- rer Abgeschiedenheit war das natürlich auch weiter kein Wunder. Kein regelmäßiger Postdienst nach den Sieben In- seln. Aber eines Tages fuhr ich in meinem großen Segelboot rüber nach Banka, um unsere Post zu holen, und da bekam ich eine holländische Zeitung in die Hände. Aber es las sich wie die typischen Nachrichten für die Schiffahrt: Englische Brigg Bonito vor Reede von Makassar auf Grund gelaufen. Das war alles. Ich brachte die Zeitung mit nach Hause und

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zeigte sie ihr. ›Das werde ich ihm nie verzeihen!‹ schreit sie mit ihrer alten Leidenschaft. ›Meine Liebe‹, sagte ich, ›du bist ein vernünftiges Mädchen. Auch der Beste kann ein Schiff verlieren. Aber wie steht es mit deiner Gesundheit?‹ Ihr Aus- sehen begann mich zu beunruhigen. Bis dahin durfte ich nicht einmal davon reden, daß wir vielleicht am besten mal nach Singapore fahren würden. Aber im Ernst, ein vernünf- tiges Mädchen wie sie konnte doch nicht sein Leben lang al- lem widersprechen. ›Mach, was du willst, Papa‹, sagte sie. Gar nicht so einfach, so was. Ich mußte einen Dampfer auf hoher See abfangen, aber ich hab sie heil rübergebracht. Dann natürlich zum Arzt. Fieber. Anämie. Sie mußte ins Bett. Zwei oder drei Frauen, die sich rührend um sie küm- mern. Natürlich dauerte es nicht lange, bis die ganze Ge- schichte in unseren Zeitungen stand. Sie liegt auf der Couch und liest alles bis zur letzten Zeile; dann gibt sie mir die Zei- tung zurück, flüstert ›Heemskirk‹ und verliert das Bewußt- sein.« Er blinzelte mich lange an, und seine Augen füllten sich wieder mit Tränen. »Am nächsten Tag«, begann er wieder, ohne Erregung in der Stimme, »ging es ihr besser, und wir hatten ein langes Gespräch. Sie hat mir alles erzählt.« Und dann schilderte mir der alte Nelson mit niederge- schlagenen Augen die ganze Heemskirk-Episode in Freyas Worten; dann fuhr er fort in seiner sprunghaften Art und hob dabei unschuldig den Blick: »›Meine Liebe‹, habe ich gesagt, ›du hast dich im großen und ganzen wie ein vernünftiges Mädchen aufgeführt.‹ – ›Furchtbar hab ich mich benommen‹, ruft sie, ›und ihm bricht es dort drüben das Herz.‹ Na ja, immerhin war sie ver- nünftig genug, um zu wissen, daß sie in ihrem Zustand nicht

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reisen konnte. Aber ich bin gefahren. Sie wollte, daß ich fahre. Sie wurde sehr gut versorgt. Anämie. Auf dem Wege der Besserung, sagten sie.« Er machte eine Pause. »Haben Sie ihn gesehen?« fragte ich leise. »Oh, ja; ich habe ihn gesehen«, fuhr er fort, jetzt wieder in überlegtem Ton, als würde er irgendeine sachliche Frage erörtern. »Ich habe ihn gesehen. Ich bin ihm zufällig über den Weg gelaufen. Die Augen tief eingesunken; das Gesicht nur Haut und Knochen, ein Skelett in schmutzigen weißen Sachen. So hat er ausgesehen. Was Freya … Aber sie hat ja nie – nein, nicht wirklich. Da saß er, an der ganzen Küste meilenweit das einzige lebendige Wesen, auf einem ange- schwemmten Stück Treibholz. Sie hatten ihm im Kranken- haus das Haar kurzgeschoren, und es war noch nicht wieder nachgewachsen. Er hatte das Kinn in die Hand gestützt und starrte vor sich hin, und zwischen ihm und dem Horizont war nichts als dieses Wrack. Als ich zu ihm ging, drehte er le- diglich ein wenig den Kopf. ›Sind Sie das, alter Mann?‹ sagt er – einfach so. Wenn Sie ihn gesehen hätten, es wäre Ihnen auf der Stelle klar gewesen, daß Freya diesen Mann unmöglich geliebt haben konnte. Na ja, na ja. Ich will nichts gesagt haben. Viel- leicht irgendwie doch – ein bißchen. Wissen Sie, sie war ein- sam. Aber daß sie tatsächlich mit ihm gegangen wäre! Nie- mals! Wahnsinn. Dafür war sie viel zu vernünftig … Ich fing an, ihm ein paar vorsichtige Vorwürfe zu machen. Und all- mählich kam er in Fahrt. ›Ihnen schreiben! Worüber? Sie be- suchen kommen! Womit? Wenn ich ein ganzer Mann gewe- sen wäre, hätte ich sie mit mir genommen, aber sie hat ein Kind aus mir gemacht, ein glückliches Kind. Sagen Sie ihr, daß ich an dem Tag, an dem das einzige auf der Welt, das

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ganz mir gehörte, auf diesem Riff zugrunde gegangen ist, feststellen mußte, daß ich über sie keine Macht habe … Ist sie mit Ihnen hier?‹ brüllt er, und aus seinen hohlen Augen loderten plötzlich die Blicke. Ich schüttelte den Kopf. Mit mir hier, also wirklich! Anämie! ›Aha! Sehen Sie? Dann ge- hen Sie schon, alter Mann, und lassen Sie mich hier allein mit diesem Gespenst‹, sagt er und deutet mit dem Kopf zu dem Wrack seiner Brigg. Wahnsinnig! Es wurde allmählich dunkel. Ich hatte nicht das Bedürfnis, noch länger ganz allein mit diesem Mann an diesem einsamen Ort zu bleiben. Ich würde ihm nichts von Freyas Krankheit erzählen. Anämie! Wozu auch? Wahnsin- nig! Und was für einen Ehemann hätte er für ein vernünf- tiges Mädchen wie Freya schon abgegeben? Na, und nicht einmal meinen kleinen Besitz hätte ich ihnen überlassen können. Die holländischen Behörden hätten niemals akzep- tiert, daß sich dort ein Engländer niederläßt. Ich hatte da- mals noch nicht verkauft. Mein Diener Mahmat, Sie erin- nern sich, sah für mich nach dem Rechten. Später habe ich den Besitz für ein Zehntel seines Wertes an einen holländi- schen Mischling verkauft. Aber egal. Damals bedeutete er mir schon nichts mehr. Ja; ich habe ihn allein zurückgelas- sen. Ich nahm das nächste Postschiff. Ich habe Freya alles erzählt. ›Er ist wahnsinnig‹, sagte ich, ›und, meine Liebe, das einzige, was er geliebt hat, war seine Brigg.‹ ›Vielleicht‹, sagt sie wie zu sich und sieht ins Leere – ihre Augen waren fast ebenso tief eingesunken wie seine – ›viel- leicht stimmt das. Ja! Ich hätte niemals zugelassen, daß er Macht über mich gewinnt.‹« Der alte Nelson hielt inne. Ich saß da wie gebannt, und ich fröstelte ein wenig, obgleich im Kamin ein kräftiges Feuer brannte.

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»Sie sehen also«, fuhr er fort, »sie hat sich nie wirklich et- was aus ihm gemacht. Viel zu vernünftig. Ich bin mit ihr nach Hong Kong gegangen. Klimawechsel, haben sie gesagt. Ach, diese Ärzte! Mein Gott! Mitten im Winter! Wir hatten zehn Tage mit kaltem Nebel und Wind und Regen. Lungenent- zündung. Aber ich sag Ihnen! Wir haben viel miteinander ge- redet. Am Tag und am Abend. Wen hatte sie denn sonst? … Sie hat viel mit mir geredet, mein kleines Mädchen. Manch- mal hat sie auch ein bißchen gelacht. Hat mich angesehen und ein bißchen gelacht –« Ich schauderte. Geistesabwesend, mit einem Ausdruck kindlicher, verstörter Traurigkeit, sah er auf. »Und sie sagte: ›Ich wollte dir wirklich keine schlechte Tochter sein, Papa.‹ Und ich sagte: ›Das weiß ich doch, mein Liebes. Natürlich wolltest du das nicht.‹ Sie lag ganz ruhig da und sagte dann: ›Wer weiß?‹ Und manchmal gab es Mo- mente, wo sie zu mir sagte: ›Ich war ein echter Feigling.‹ Wis- sen Sie, wenn man krank ist, sagt man ja so manches. Und so sagte sie denn auch: ›Ich war eingebildet, trotzig, launisch. Ich hatte nur mein eigenes Glück im Blick. Ich war entwe- der egoistisch, oder ich hatte Angst.‹… Aber wenn man krank ist, wissen Sie, da redet man ja alles mögliche. Und ein- mal, nachdem sie fast den ganzen Tag dagelegen und ge- schwiegen hatte, sagte sie: ›Ja; vielleicht wäre ich, wenn es so- weit gewesen wäre, gar nicht mitgegangen. Vielleicht! Ich weiß es nicht‹, rief sie. ›Zieh den Vorhang zu, Papa. Sperr das Meer aus. Es wirft mir meine Torheit vor.‹« Er seufzte und schwieg. »Sie sehen also«, fuhr er leise fort. »Sehr krank, wirklich sehr krank. Lungenentzündung. Ganz plötzlich.« Er deutete mit dem Finger auf den Teppich, während mir der Gedanke an das arme Mädchen, das in seinem Kampf mit den Idio-

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tien dreier Männer unterlegen war und schließlich sogar an sich selbst zweifelte, vor Mitleid schier das Herz zerriß. »Sie sehen also selbst«, begann er wieder ganz niederge- schlagen. »Sie kann ihn unmöglich … Sie hat ein paarmal von Ihnen gesprochen. Guter Freund. Vernünftiger Mann. Darum wollte ich es Ihnen selbst erzählen – damit Sie die Wahrheit erfahren. Ein Kerl wie der! Wie konnte das bloß passieren? Sie war einsam. Und vielleicht war eine kurze Zeit

… Rein gar nichts. Nie und nimmer hätte da von Liebe die Rede sein können, bei meiner Freya – so ein vernünftiges Mädchen –« »Mensch!« schrie ich und sprang zornig auf, »begreifen Sie nicht, daß es das ist, woran sie gestorben ist?« Auch er war aufgestanden. »Nein! Nein!« stammelte er fast ärgerlich. »Die Ärzte! Lungenentzündung. Geschwäch- ter Körper. Die Entzündung der … Haben sie gesagt. Lun- gen –« Er sprach das Wort nicht aus. Es endete in einem Schluch- zen. Er warf in einer Geste der Verzweiflung die Arme hoch und nahm Abschied von dem grausigen Selbstbetrug, indem er mit einem leisen, herzzerreißenden Schrei ausrief: »Und ich dachte immer, sie ist so vernünftig!«

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ANHANG

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Nachbemerkung des Übersetzers

Wer sich anheischig macht, eine Geschichte der Weltliteratur, eine Geschichte von Joseph Conrad, die zudem bereits in (soweit mir bekannt ist) drei sehr schönen, sehr anständigen deutschen Fas- sungen vorliegt, noch einmal neu zu übersetzen, der muß ver- dammt gute Gründe haben. Ich hatte, als ich mit diesem kühnen Ansinnen an den Haffmans Verlag herantrat, in der Tat zwei ver- dammt gute Gründe: Ich liebte den Autor über alles, und ich liebte diese kleine Geschichte über alles (beide Lieben haben die mehr- jährige Zeit der Übersetzung überlebt). Aber ob das wirklich Gründe genug waren, das vermochte ich damals nicht zu sagen, denn ich hatte Conrads Text nie im Original gelesen, und da die seinerzeit im Handel erhältliche Übersetzung aus dem Jahre 1976 ja schließlich meine Liebe geweckt hatte, konnte sie gar so schlecht nicht sein. Durfte ich es also überhaupt wagen? Ein befreundeter Übersetzer aus München sagte mir, als ich ihm von meinem Vor- haben erzählte: »Joseph Conrad, das würde ich mir niemals zu- trauen« – und dabei übersetzte er ausschließlich Autoren, denen ich mich vor lauter Ehrfurcht nicht im Traume übersetzerisch zu nähern gewagt hätte. Mit einem Wort – ich war gründlich verun- sichert, die Voraussetzungen für die Übersetzung waren denkbar schlecht. Im Nachwort zu einer der drei deutschen Freya-Ausgaben ist die Rede von Göttern, von Schurken, von Liebenden, von Kom- plott, von Idylle, Ekel, Schuldlosigkeit – also von Gut und Böse, von Richtig und Falsch. Der Verfasser des Nachworts reklamiert Conrad und seine Prosa für die eigenen moralischen Wertesysteme und Kategorien. Und so war Conrad, zumindest die Geschichte von der Freya, wie ich bei der Lektüre auch der anderen Überset- zungen im Vergleich zum Original nach und nach feststellen konnte, in Deutschland seit ihrer Entstehung 1912 offensichtlich

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immer gerne rezipiert worden. Und diese Rezeption spiegelt sich im affirmativen Ton der bislang vorliegenden Übersetzungen wider, einem Ton, der keinen Zweifel daran läßt, daß der Autor in jedem Moment weiß, was gut und was böse, was richtig und was falsch ist. Doch weit gefehlt – über diese Gewißheit verfügen allein die Übersetzer, während Conrad mit der Freya ein kleines Meisterwerk des Menschseins geschaffen hat, inklusive aller Un- gewißheiten, aller Zweifel am eigenen Tun, aller Fähigkeit zum Bösen und aller Vernichtung, die damit einhergeht, wenn wir mit unserem So-Sein scheitern. Die Geschichte der Freya, die ja, wie im Untertitel behauptet, eine Geschichte von seichten Gewässern sein soll, ist deswegen so bodenlos, weil Conrad sie einem Ich-Erzähler in den Mund legt, der selber einst unglücklich in Freya verliebt war und darum die späteren Verwicklungen mit einer Mischung aus geheucheltem Verständnis, aus später Genugtuung und billiger Besserwisserei darstellen kann. Wenn Conrad die Figur des Ich-Erzählers gelungen ist – und ich zweifle keinen Augenblick, daß sie ihm gelungen ist –, so stehen der Leser und der Übersetzer vor einem entsetzlichen Problem: Sie können sich nämlich nicht darauf verlassen, daß das, was im Text steht, was ein Wort bedeutet, auch gemeint ist (gemeint ist nicht von dem, der es sagt – das wäre vergleichsweise einfach zu ent- schlüsseln –, sondern von dem, der es berichtet). In diesem Text ist nichts wirklich zuverlässig, alles ist mehrfach gebrochen durch die subjektiven Interessen und Empfindungen der handelnden Perso- nen und des Erzählers. Das ist deswegen so tückisch, weil die ganze Geschichte ansonsten mit einer einlullenden, in falscher Sicherheit wiegenden Schlichtheit daherkommt – die Versuchung, dem Ich- Erzähler mit seiner Interpretation des Geschehens und seiner Zu- schreibung von Werten auf den Leim zu gehen, ist groß, doch wenn man dies tut, wird die Geschichte klein. Wie gesagt, meine Voraussetzungen für die Übersetzung der Freya waren denkbar schlecht, und wenn mir die filigranen Schwierigkeiten – denn um solche handelt es sich –, auf die ich stoßen mußte, von Anfang an bewußt gewesen wären, hätte ich

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vielleicht doch einen Rückzieher gemacht. Rückblickend kann ich nur sagen, daß es mir bei der Arbeit in allererster Linie darauf an- kam, diesem Text in der deutschen Übertragung das zu bewahren, was ihn im englischen Original auszeichnet. Er ist wie Treibsand. Gedankt sei an dieser und an erster Stelle Antje Landshoff, die die Geschichte von der Freya verstanden hat wie keine andere und von deren unbekümmerter, begriffssicherer und selbstloser Vor- übersetzung der hier vorliegende Text erheblich profitiert hat. Außerdem danke ich Corinna Brocher, deren kritischer Kommen- tar mich nicht zum ersten Mal ermutigt hat, aus einer Rohüberset- zung tatsächlich eine Endfassung zu machen, die aus der Hand zu geben mir nicht unangenehm war. Und schließlich danke ich Stefa- nie Viereck, die manche Schwachstelle der Übersetzung benannt hat, aber im Laufe der Lektüre verfiel sie dem Sog der Geschichte bis zur Kritiklosigkeit, wofür auch Joseph Conrad sie geliebt haben würde.

Nikolaus HansenHamburg, im Februar 1996

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Glossar der nautischen Begriffe

achterdeck: hinterer Teil des obersten durchlaufenden Decks eines Schiffesachterlich: ein Sektor von je 45° beiderseits der Schiffslängsachse, vom Heck aus gesehenankertrosse: starkes Tau oder Drahtseil, das statt einer Kette als Ver- bindung zwischen Schiff und Anker benutzt wirdaufbringen: ein Schiff auf offener See mit einem oder mehreren an- deren Schiffen unter eine fremde Gewalt bringen – ein Akt von großer Tragweite, weil Schiffe, wo immer sie fahren, unter das Ho- heitsrecht des Landes gestellt sind, dessen Flagge sie führenauftuchen: die geborgenen Segel zusammenlegen und festbinden

backstagsbrise: Wind aus dem achterlichen Sektor, der das Schiff in ei- nem Winkel von ca. 45° von hinten trifftbrassen: das Hinstellen der Rahen zur Windrichtungbrigg: Segelschiff mit zwei Masten, Fock- und Großmast, die mit Rahen getakelt sindbrückennock: äußeres Ende der Kommandobrücke eines Schiffesbugwelle: von einem fahrenden Schiff selbst verursachter Wellenberg vor dessen Bug

dinghi: kleines Beiboot, das auch mit einem Segel versehen werden kanndippen: die Flagge zum Gruß halb niederholen und wieder heißen dschunke: chinesisches Segelschiff mit zwei bis drei Pfahlmasten, an denen Mattensegel gefahren werden, die mit Leisten versteift sind

Fallreep: Strickleiter, die dazu dient, über die senkrechte Außenwand an oder von Bord eines Schiffes zu kletternFockmast: bei Segelschiffen mit mehreren Masten der vorderste Mast

Gaffelpiek: oberes Ende der oberen Querspiere des trapezförmigen Gaffelsegels

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Gig: Übersetzboot des Kapitäns oder KommandantenGöhle: farbig oder golden ausgemalte fingerbreite Nut im Rumpf von Yachten, die sich als schmaler Streifen vom Bug zum Heck zieht und die Form des Schiffes ›unterstreicht‹Großmast: der höchste Mast eines SegelschiffesGroßwant: Tauwerk zum seitlichen Festhalten des Großmasts

Jolle: ein offenes Boot mit einfacher Besegelung

Kanonenboot: kleineres Kriegsfahrzeug im Küstendienst mit einfa- cher BewaffnungKartenraum: Räumlichkeit auf der Brücke mit Kartentisch und Navi- gationsinstrumentenkillende segel: flatternde Segel, wenn der Wind nicht voll ausgenutzt wird und der Anstellwinkel des Segels zum Wind falsch ist und kor- rigiert werden muß; bei bestimmten Manövern, wie z. B. beim Anle- gen, läßt man die Segel killen, um die Fahrt des Schiffes zu vermindernKlipper: rahgetakelter Schnellsegler

löschen: das Frachtgut eines Schiffes entladen

proa: außerordentlich schnelles Boot, dessen schlanker Rumpf durch einen Parallelrumpf stabilisiert wird und das mit einem Dreiecks- segel getakelt ist

Quartermeister: in der Handelsschiffahrt ein Vollmatrose und Steu- ermann

rah: Rundholz, das waagrecht vor dem Mast hängt und an dem ein Rahsegel befestigt wirdrahnock: das Ende einer Rahrahsegel: rechteckiges Segel, das an einer Rah gefahren wirdreede: offener, mehr oder weniger geschützter Ankerplatz vor dem Hafenrigg: Gesamtheit der Spieren und Masten sowie der Drähte und Taue, die zu deren Befestigung dienenruder legen: Veränderung der Mittschiffslage des Ruders nach Back- bord oder Steuerbord, um eine Kursänderung vorzunehmen

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sampan: kleines chinesisches Ruder- oder Segelbootschoner: Segelschiff mit mehreren Masten und einer Mischbesegelung bestehend aus Gaffelsegeln, Rahsegeln und Dreieckssegelnschwell: durch die Fahrt eines Schiffes selbst erzeugte Dünungspieren: Rundhölzer (zur Befestigung der Segel oder zur Bezeichnung von Untiefen)springtide: extremes Hoch- oder Niedrigwasser bei Voll- oder Neu- mondstag: starke Taue oder Drahtseile zum Halten der Masten nach vorn und achternüber stag gehen: das Schiff wenden, wobei die Segel von der einen auf die andere Seite gebracht werden müssen, weil der Wind von der anderen Seite einfälltsteuerbord-buganker: rechter vorderer Anker

Takelage: s. BriggToppen: oberste Spitzen der Masten

verholen: ein Schiff auf einen anderen Platz verlegenvierkant: im rechten Winkelvorpiek: der vorderste, wegen der Bugform meist spitz zulaufende Raum eines Schiffes

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Und so passierten wir im ersten dämmer - licht das Kanonenboot, das schwarz und reg- los und totenstill am ausgang der spiegel- glatten bucht lag. doch mit tropischer schnelle war die sonne auf höhe ihres zwei- fachen durchmessers über dem horizont em- porgeklettert, noch ehe wir das riff umfahren hatten und wieder auf höhe der Landspitze waren. dort, auf dem größten Felsbrocken, stand Freya ganz in Weiß, den Tropenhelm auf dem Kopf, und sie glich der statue einer Kriegerin mit rosigem Gesicht, wie ich durch mein Fernglas gut erkennen konnte. sie winkte mit einem weithin sichtbaren Taschen- tuch, und Jasper kletterte blitzschnell in den Großmast der weißen streitbaren brigg und schwenkte zur antwort seine Mütze.